Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die (außen-) politische Handlungsfähigkeit von Staaten
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1 Rolf Mützenich Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die (außen-) politische Handlungsfähigkeit von Staaten Deutsche Außenpolitik im Schatten der Finanzkrise Europa erlebt eine tiefgreifende Zäsur – wenn nicht gar eine Zeitenwende. Die europäische Finanzkrise ist zu einer Überlebensfrage der europäischen Integration geworden, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der politischen Struktur und im inneren Kräfteverhältnis der EU führt. Von ihrer Bewältigung oder Nichtbewältigung wird auch die künftige Rolle und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union als internationaler Akteur auf globaler Ebene abhängen. Ohne Zweifel ist die gegenwärtige Krise der europäischen Integration eine der schwersten in ihrer über 60-jährigen Geschichte. Seit 2009 findet deutsche und europäische Außenpolitik zunehmend im Schatten der Finanzkrise statt, die die Ressourcen und das Personal bis aufs Äußerste in Anspruch nimmt. Nicht nur die Bevölkerung, auch viele Experten und Parlamentarier können alleine nicht mehr alle Details erkennen und verstehen. Unvorstellbare Summen werden garantiert, „gehebelt“ und verliehen. Im Wust der Hilfs- und Rettungsmechanismen, Milliarden-Risiken und Expertenmeinungen scheinen nur noch Wenige den Überblick zu haben. Und die, die ihn noch haben, sind immer weniger dazu in der Lage zu erklären, was sie da überblicken. Das Management der europäischen Finanzkrise hat zu zwei großen Machtverschiebungen geführt: Das EU-Krisenmanagement liegt nun nahezu vollständig in den Händen des Europäischen Rates, dem exklusiven Club der Staats- und Regierungschefs. Diese verfolgen naturgemäß neben der europäischen auch eine primäre nationale Agenda und sei es aus dem schlichten Grund, dass sie zu Hause ihre Wahlen gewinnen möchten. Die zweite Machtverschiebung betrifft die Rolle der nationalen Parlamente, die ständig mit den großen und hochkomplexen europäischen Themen und den damit verbundenen Entscheidungen konfrontiert werden, dabei aber auch ständig ihre nationalen und parteipolitischen Interessen und Bedürfnisse im Blick behalten müssen, denn auch die Parlamentarier wollen wiedergewählt werden.
2 Die Konstruktionsfehler des Euro und die Ursachen der Finanzkrise In einem sind sich fast alle Experten einig: Mittelfristig muss die EU den grundlegenden Konstruktionsfehler von Maastricht überwinden, auf den sich die Regierungen der Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft zwischen 1990 und 1992 geeinigt hatten. So wird mittlerweile von niemandem mehr ernsthaft bestritten, dass es ein Fehler war, eine Währungsunion zu gründen, ohne zuvor das Fundament einer gemeinsamen Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik gelegt zu haben. Über die damals verpassten Chancen zu lamentieren, heißt jedoch über verschüttete Milch zu klagen. Fest steht, dass die an dem Vorhaben beteiligten Staaten damals zu dem damit verbundenen Souveränitätsverzicht nicht bereit waren – viele EU-Mitglieder sind es im Übrigen bis heute nicht. Fakt ist auch, dass das „Projekt Euro“ mindestens so sehr aus politischen Motiven vorangetrieben wurde wie aus ökonomischen. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung sollte die europäische Einigung "unumkehrbar" (Helmut Kohl) gemacht werden, ebenso war die Einbindung der Wirtschafts- und Währungsmacht des vereinten Deutschlands ein wichtiges Motiv. Wenn man die Rückkehr zum monetären Nationalismus ebenso vermeiden will, wie eine Euro-Krise auf Dauer, muss deshalb der Schritt nachgeholt werden, der bei der Einführung der gemeinsamen Währung versäumt wurde: nämlich, die Weichen für eine politische Union zu stellen. Eine gemeinsame Geldpolitik erfordert zwingend auch die Vergemeinschaftung wichtiger Teile der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Auch ein weiteres Gründungs- und Grundproblem der Währungsunion hat die Politik bisher nicht in den Griff bekommen: Es gibt keinen Ausgleich zwischen exportstarken und schwachen Ländern. Jahr für Jahr exportiert die Bundesrepublik weitaus mehr als sie importiert. Dieser Zahlungsbilanzüberschuss taucht bei den Handelspartnern zwangsläufig als Schulden wieder auf. Die deutschen Exportweltmeister, die mit ihren Leistungsbilanzüberschüssen inzwischen als die „Chinesen Europas“ tituliert werden, müssen sich deshalb mit der Frage beschäftigen, wie unausgeglichen der Handel in Europa sein darf. Die Annahme, man könne von einem Binnenmarkt profitieren, der im Grunde nur dafür gut ist, dass darauf deutsche Produkte verkauft werden, hat sich als Irrtum erwiesen. Der Verzicht auf eine gemeinsame Finanz-,
3 Steuer- und Wirtschaftspolitik in der Währungsunion hat in Wahrheit die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden lassen. Damit sollen die Fehler und mangelnden Reformen der europäischen Krisenländer nicht schön geredet werden. Der Euro, der als Friedensprojekt begründet worden war, erwies sich auch als Unruhestifter, weil ihn einige Mitgliedsländer – allen voran Griechenland – als goldene Kreditkarte begriffen. Wahr ist aber auch, dass mittlerweile fast alle Länder des Südens ehrgeizige Reformprogramme auf den Weg gebracht haben, gegen die sich die Agenda 2010 in Deutschland wie ein Spaziergang ausnimmt. Die Löhne sinken, die Staatsausgaben werden gekürzt, die Steuern erhöht. Die Anpassung läuft also. Trotzdem werden sie von den Finanzmärkten abgestraft, die nicht bereit sind, den Krisenländern zu annehmbaren Konditionen Geld zu leihen – weil Reformen erst mit Verzögerung wirken und die Sparmaßnahmen die Konjunktur kurzfristig sogar bremsen. Eine weitere Ursache der Banken- und Schuldenkrise liegt auch in der seit vielen Jahren wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen begründet. Dies führte dazu, dass Europas Vermögende ihr Geld in gut verzinste Bank-, Immobilien- und Staatsanleihen aus Irland, Portugal, Griechenland und Spanien anlegten und damit gigantische Fehlinvestitionen in leer stehende Immobilien, ungenutzte Autobahnen oder aberwitzige Rüstungsprojekte mitfinanzierten. Die Überbrückungskredite aus den Krisenfonds der Euro-Zone haben auch den Zweck, diese Staaten und ihre Banken zahlungsfähig zu halten, damit diese wiederum ihre Schulden bei den Fehlinvestoren bedienen können. M.a.W.: „Nicht die Deutschen (oder Holländer, Finnen usw.) retten die Griechen, Iren oder Spanier, sondern die steuerzahlende europäische Mittelschicht rettet das Vermögen der europäischen Reichen.“ 1 Parlamentarier, „Experten“ und Populisten »Mit Ihnen möchte ich nicht tauschen«, das ist der Satz, den Abgeordnete am häufigsten hören, wenn sie mit Vertretern der Wirtschaft und des Finanzsektors sprechen. Man muss sich nur in die Lage eines Bundestagsabgeordneten versetzen, der den Bürgern daheim in seinem Wahlkreis erklären soll, warum er 1 Vgl. Harald Schumann, Vermögende besteuern, europaweit, in: Der Tagesspiegel, 07.08.2012
4 milliardenschweren Hilfen für südliche Euro-Länder zustimmt, während in seiner Stadt Schwimmbäder schließen und Kindergärten dicht machen. Populisten, Wirtschaftswissenschaftler, Juristen und empörte Bürger überschwemmen die Büros der Abgeordneten mit Massenmails. Der Ausverkauf deutscher Interessen wird dort angeprangert, ATTAC spricht in Bezug auf die Abstimmungen über die europäischen Rettungsschirme gar von einem „Ermächtigungsgesetz“. Auch die beiden deutschen Großintellektuellen Habermas und Enzensberger formulieren ihre demokratietheoretischen Bedenken über das „sanfte Monster Brüssel“.2 Die Parlamentarier befinden sich zweifellos unter einem enormen Druck. Die wachsende Unübersichtlichkeit bei extrem hoher Komplexität führt dazu, dass im Grunde alle nur auf Sicht fahren. Die Notwendigkeit schneller Entscheidungen korreliert mit langfristigen Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen im EU- Rahmen. Bundestag, Bundesrat, Kommunen und das Bundesverfassungsgericht sind ebenfalls Akteure, die mit bedacht werden müssen. Insofern gebietet es die Fairness, zuzugestehen, dass diese Bundesregierung auch enorme politische Herausforderungen zu bestehen hat. An Rezepten und Lösungsvorschlägen mangelt es nicht. Die Vorschläge zur Bewältigung der Eurokrise sind mittlerweile Legion. In unzähligen öffentlichen Anhörungen verbreiten ungezählte Wirtschafts- und Finanzexperten ihre Rezepte, um aus der Krise zu kommen. Mehr sparen, mehr investieren, eine Wirtschaftsregierung, Austritt aus dem Euro, die Einführung des Nord-Euro usw. usf.. Noch wichtiger aber ist: In den endlosen Debatten um Geld und Rettungsschirme tauchen plötzlich all jene Stereotypen, Ressentiments und nationale Egoismen wieder auf, die längst überwunden schienen. In Griechenland, Spanien und Italien reden sie von den angeblich herrschsüchtigen Deutschen, in Deutschland von den angeblich faulen Südeuropäern. Die ewigen Besserwisser und Kleingeister organisieren sich gegen Europa, gegen die Nachbarn, gegen ein gutes Miteinander. Zwei Zerrbilder halten sich dabei besonders hartnäckig: Zum einen die offenbar durch nichts zu erschütternde und von der Bundesregierung durchaus beförderte Überzeugung der Deutschen, die Krise sei ausschließlich dadurch entstanden, dass faule Südeuropäer über ihre Verhältnisse gelebt haben. Demgegenüber verfestigt 2 Vgl. Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Frankfurt a.M. 2011 sowie Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel, in: DER SPIEGEL 9/2011, S. 109.
5 sich bei vielen Europäern die Ansicht, die Deutschen lebten als Profiteure des Euro prächtig auf Kosten der anderen Europäer. Diese politischen Totengräber der europäischen Idee dürfen nicht die Oberhand gewinnen. Die Europäische Union ist mehr als eine Währungsunion und sollte nicht leichtfertig und ohne Not zerredet werden. Es spricht Bände über die Qualität der politischen Führung in Deutschland, dass die größten verbalen Brandstifter dabei nicht in der Opposition, sondern in den Regierungsfraktionen zu finden sind. Rösler und Seehofer machen aus wahltaktischen Gründen auf billigen Populismus zu Lasten der europäischen Idee, während Sozialdemokraten und Grüne sich ihrer europapolitischen Verantwortung bewusst sind und der Kanzlerin zu Mehrheiten verhelfen, die sie in ihren Regierungsfraktionen längst nicht mehr hat. Das deutsche Krisenmanagement Auf der deutschen Politik lastet große Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union. Dabei sind die Anforderungen und Erwartungen an Deutschland als stärkste Wirtschafts- und politische Führungsmacht der Europäischen Union gestiegen. Dies geht einher mit Befürchtungen, und Ängsten über eine deutsche Hegemonie. Im Sog der Finanzkrise gerät die deutsche Außenpolitik in den Sog von Handlungszwängen, die die Entscheidungsspielräume zunehmend einschränkte. Dabei verfestigt sich der Eindruck, dass Europas Regierende zunehmend von Finanzmärkten und Ratingagenturen von Gipfel zu Gipfel und von Rettungsschirm zu Rettungsschirm getrieben werden. Von Griechenland über Portugal, Irland bis Spanien und Zypern fällt ein Dominostein nach dem anderen. Im Verlauf der Krise gewann – nicht zuletzt aufgrund der Mahnungen des Bundesverfassungsgerichts – auch der Bundestag an Gewicht und Einfluss. Auf den ersten Blick konnte die Bundesregierung zwar mit einer breiten Mehrheit für ihre Politik der Vertiefung der EU zur Fiskalunion rechnen, aber die Unterstützung in den Koalitionsfraktionen war durchaus brüchig. Zwar gelang es der Bundeskanzlerin, sie auf ihre Linie einzuschwören, und in der FDP scheiterte ein parteiinterner Vorstoß, die Parteiführung über einen Mitgliederentscheid gegen weitere Hilfsmaßnahmen zu
6 positionieren. Dennoch wurde deutlich, dass in beiden Parteien erhebliche Widerstände gegen die eingeschlagene Politik bestanden. Das Handeln der Bundesregierung ist bislang von zwei grundlegenden Interessenkalkülen geprägt: der europäische Imperativ und die Sorge um die Grenzen der deutschen Belastbarkeit. Um dieser Sorge gerecht zu werden, drängt die Bundesregierung auf strukturelle europäische Reformen nach deutschem Vorbild: solide Haushaltspolitik, Wahrung der Geldwertstabilität, Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die Größe der deutschen Volkswirtschaft und die Interdependenz zwischen ihr und den umliegenden Ökonomien sorgen für Instabilität innerhalb Europas. Deutschland ist innerhalb der EU zwar wirtschaftlich so mächtig, aber auch politisch so isoliert wie nie zuvor. Tatsächlich ist Deutschland stärker denn je der dominierende Machtfaktor in Europa. Umso wichtiger wäre es, wenn die Bundesregierung ein Mindestmaß an Empathie auch für die kleineren Staaten der Europäischen Union aufbringen würde. Dort herrscht nicht nur die Sorge über ein deutsch-französisches Kondominium, sondern es ist durchaus auch eine Gegenmachtbildung zu beobachten, bei der Italien eine gewisse Führungsrolle zu übernehmen scheint. Das Erfolgsrezept der deutschen Außenpolitik, das Mitnehmen auch der kleineren Länder ist jedenfalls – trotz der vollmundigen Ankündigungen von Außenminister Westerwelle – weitgehend auf der Strecke geblieben. Bei den europäischen Nachbarn wächst die Furcht, dass Berlin nicht mehr ein europäisches Deutschland, sondern ein deutsches Europa anstrebt. In der aktuellen Debatte über die mit der Euro-Rettung verbundenen Kosten rückt der Mehrwert der Euro-Mitgliedschaft für die Bürgerinnen und Bürger leider zunehmend in den Hintergrund. Zu einer ehrlichen Bilanz gehört aber auch, Belastungen und Vorteile gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Wer das beherzigt, erkennt, dass Deutschland nicht nur der „Zahlmeister Europas“, sondern auch der größte Gewinner der Währungsunion ist. Etwa 40 Prozent der deutschen Exporte gehen in die Eurozone, wodurch in Deutschland mehr als drei Millionen Arbeitsplätze gesichert werden. Im Jahr 2010 belief sich der positive Effekt der Währungsunion für die deutsche Wirtschaft auf 165 Milliarden Euro, das entspricht 6,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. Deutschland profitiert auch von der Krise und gilt als sicherer Hafen. Anleger sind deshalb bereit, auf Rendite zu verzichten, wenn sie Deutschland Geld leihen. Seit geraumer Zeit muss der Bund für neue Kredite kaum noch Zinsen
7 bezahlen. Auch wenn die Kreditbürgschaften für Europas Krisenländer zweifelsohne gewaltig sind, haben sie Deutschland bislang keinen Cent gekostet. Im Gegenteil: Es nimmt für die Hilfsgelder Zinsen ein. Allein für die Griechenland-Hilfen kassierte die Bundesrepublik bis zum Frühjahr knapp 400 Millionen Euro an Zinszahlungen. Teuer würde es erst, wenn ein Krisen-Land seine Kredite nicht mehr bedienen könnte. Wie wahrscheinlich es ist, dass Deutschland für die Kredite an die Krisenländer einstehen muss, für die es gebürgt hat, kann keiner sagen. Wie groß das Haftungsrisiko für die Steuerzahler inzwischen tatsächlich ist, darüber streiten sich die Experten, weil das undurchschaubare System von verschiedenen Rettungsschirmen mit staatlichen Garantien, Krediten, Rekapitalisierungen, Risikoübernahmen die wahren Belastungen verschleiert. Das Paradoxe daran ist, dass es durchaus sein könnte, dass das Haftungsrisiko umso geringer ausfällt, je mehr Haftung Deutschland übernimmt. Bisher haben die Deutschen einigermaßen entspannt zugeschaut, wie sie mit Wachstum und geringer Arbeitslosigkeit durch die Krise kommen. Dies wird sich aber ändern, sobald die Krise auch Deutschland in Mitleidenschaft zieht. Herausforderungen für die europäische Sozialdemokratie In ganz Europa wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Wir brauchen neben einer gemeinsamen europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik auch eine gemeinsame Sozialpolitik. Auch nach den jüngsten Umfragen ist die Zustimmung zu Europa immer noch erstaunlich groß. Die Mehrheit der europäischen Bürger befürwortet nach wie vor die europäische Integration.3 Auch die Flucht zu anti-europäischen und nationalistischen Parteien hält sich noch in Grenzen. Man kann die Menschen nur mitnehmen, wenn sie das Gefühl haben, es geht gerecht in Europa zu. Den europäischen Bürgern muss vermittelt werden, dass von Europa nicht nur die Banken, die Finanzinstitute, die Reichen und die multinationalen Konzerne profitieren. Darin liegt m.E. die wichtigste Aufgabe für die europäische Sozialdemokratie – in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung. Die Akzeptanz gegenüber einer vertieften Integration wird dann wachsen, wenn diese Strukturen ein Mindestmaß an Schutz schaffen. 3 Vgl. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Eurobarometer 77, Frühling 2012, http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb77/eb77_first_de.pdf
8 Die SPD plädiert für eine gemeinschaftliche Haftung für die Schulden aller Euro- Staaten bei gleichzeitiger strenger gemeinsamer Haushaltskontrolle. Dafür müsste ein Verfassungskonvent eine Grundgesetzänderung erarbeiten, die dann den Bürgern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden solle. Die Tatsache, dass die Bundesregierung der Einführung der Finanztransaktionssteuer nach langem Hin und Her endlich zugestimmt hat, ist wesentlich auf den permanenten Druck von SPD und Grüne zurückzuführen. Dies gilt auch für das umfassende Wachstumspaket für Europa. Die aktuelle Krise wird absehbar zu weiteren politische Integrationsschritte in der Europäischen Union führen, wenn die EU ihre Rolle als globaler wirtschaftlicher und auch außenpolitischer Akteur bewahren bzw. stärken will. Die Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die Wirtschafts- und Finanzpolitik, ja sogar die Sozialpolitik europäisch koordiniert werden. Das darf aber nicht intransparenten Fachgremien überantwortet werden, sondern Ziel muss sein, eine demokratische Legitimation und Kontrolle auf europäischer Ebene herzustellen. Die SPD plädiert mittel- bis langfristig für folgende Schritte: Es muss eine Fiskalunion geschafft werden, also eine gemeinsame Haushaltspolitik, die alle Euro-Staaten zur Transparenz und Ausgabendisziplin zwingt. Eine solche führt dann konsequenterweise auch zu gemeinsamer Haftung, ob durch Euro-Bonds oder durch einen Schuldentilgungspakt. Notwendig ist ferner eine Bankenunion mit einer gemeinsamen Bankenaufsicht und einem Einlagensicherungsfonds für die gesamte Euro-Zone. Last but not least brauchen wir eine politische Union mit gemeinsamer Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Mit einem Europäischen Parlament als vollgültiger Legislative inklusive Haushaltsrecht und Gesetzgebungsinitiative, mit einer EU-Kommission als europäischer Regierung, mit dem Europäischen Rat als Zweiter Kammer. 4 Die deutsche Sozialdemokratie hat sich nachdrücklich für den Europäischen Wachstums- und Beschäftigungspakt eingesetzt. Wir haben erreicht, dass noch nicht verwendete EU-Strukturfondsmittel nun sinnvoll eingesetzt werden können und die Europäische Investitionsbank gestärkt wird. Auch unser wichtigstes Ziel, eine Finanztransaktionssteuer, wird in mindestens neun EU-Länder eingeführt. Die 4 Vgl. Peter Bofinger/ Jürgen Habermas/Julian Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie, in: FAZ, 04.08.2012, S. 33.
9 konstruktive Mitarbeit und Zustimmung der SPD zeigt auch, dass wir unsere Verantwortung für ein solidarisches und handlungsfähiges Europa auch als Oppositionspartei ernst nehmen und nicht wie die LINKE sowie Teile von CDU/CSU und FDP in einen billigen Euro-Populismus verfallen. Denn diesen kann sich Europa in dieser dramatischen Lage nicht leisten. Die Krise als Chance nutzen Die europäische Integration ist die Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und auf das 21. Jahrhundert. Europa ist mehr als eine Wirtschafts- und Währungsunion. Der Wert Europas als Werte-, Friedens- und Schicksalsgemeinschaft ist vielen Bürgern so selbstverständlich geworden, dass darüber in Vergessenheit geraten ist, dass der europäische Einigungsprozess nicht unumkehrbar ist. Dies hat uns die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise in den letzten beiden Jahren dramatisch vor Augen geführt. Die größte Gefahr für den europäischen Integrationsprozess besteht in der bereits beginnenden Renationalisierung – nicht nur in der Wirtschafts- und Währungspolitik, sondern auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Hier hat die Bundesrepublik mit ihrer Enthaltung bei der Libyen-Resolution, als sie ohne Not ihre Außenpolitik innenpolitischen Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwarf, viel Vertrauen verspielt. Eine Konsequenz der Finanzkrise muss es sein, die Kräfte der EU auch nach Außen zu bündeln.5 Dies bedeutet den Auf- und Ausbau der Europäischen diplomatischen Dienstes, eine kohärentere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Schaffung von Synergie-Effekten der europäischen Rüstungsindustrien. Die europäische Finanzkrise kann dazu führen, dass die Europäer über pooling und sharing endlich Ernst machen mit dem Aufbau einer demokratisch kontrollierten europäischen Armee. Man sollte bei aller Notwendigkeit der europäischen Integration jedoch auch nicht vergessen, dass Europa kein homogener Akteur ist. Zwar besteht nach außen das gemeinsame Interesse der europäischen Nationalstaaten nach einer europäischen Stimme in der globalisierten Welt, nach innen konkurrieren jedoch dieselben 5 Nach wie vor geben die 27 EU-Staaten in etwa die Hälfte des Militärbudgets der USA aus, erreichen aber nur etwa 15 Prozent der Effizienz der amerikanischen Streitkräfte.
10 Nationalstaaten miteinander um wirtschaftliche und poltische Macht und Einfluss – auch wenn diese Konkurrenz kein Nullsummenspiel ist. Es besteht dennoch kein Anlass, bei jeder Krise gleich den Untergang des Abendlandes an die Wand zu malen. Krisen dienten immer auch als Motor der europäischen Integration. Bei der Außen- und Sicherheits-, der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik darf und muss man von Europas Politikern mehr Mut zu Visionen, mehr Bereitschaft zur harten Arbeit der Konsenssuche und weniger Nationalegoismus erwarten. Sie sollten nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren, sondern die Krise auch als Chance verstehen. Schließlich ist die Europäische Union das Produkt einer Katastrophe, entstanden aus der traumatischen Erfahrung zweier Weltkriege. Die Europäische Union ist eben nicht die Ursache des Übels, wie uns einige Kritiker glauben machen wollen, sondern vielmehr die Antwort auf die Fragen unserer Zeit und die Herausforderungen, die auf Europa in einer globalisierten Welt zukommen werden. Die Schlüsselfrage dabei lautet: Wie viel Souveränität wollen die Nationalstaaten zugunsten eines starken, geeinten Europa preisgeben? Die Alternative wäre nicht eine Rückkehr zu nationaler Souveränität und Währungen, sondern eine globale Wirtschaft, die von anderen Staaten (USA, China, Indien, Brasilien etc.) dominiert, und auf die Europa dann keinen Einfluss mehr haben wird. Es geht nicht um die falschen Alternativen „Supermacht Europa“ oder Renationalisierung, sondern darum die Europäische Union als Modell einer friedlicheren Weltordnung zu stärken.
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