Sonderthema dOCUMENTA (13)

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Sonderthema dOCUMENTA (13)
JULI / AUG. 2012
                 SCHUTZGEBÜHR
                 EUR 4,80 / CHF 7,80

                                       Sonder thema
                                       dOCUMENTA (13)

                                           Künstlerpor trait
                                           Herber t Maier

                                           Augen-Blick
                                           Goethe und das
                                           Straßburger Münster

                                           Ausstellung
                                           Architekturmodelle
                                           im DAM Frankfur t
ISSN 1868-7946

                                           Das Museum
                                           75 Jahre Haus
                                           der Kunst München
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

    Malerei als sehendes Denken
      Herber t Maier erzeugt
       Dinglichkeit durch Transparenz
        von Anita Brockmann

        Betrachtet man die Ölgemälde des Malers Herbert Maier, so
        nehmen sie nicht nur durch ihre beeindruckende Größe ge-
4       fangen. Es ist vielmehr der perlmutterne Schimmer, der den
        Betrachter fesselt. Unwillkürlich zieht dieser Glanz den Blick
        auf sich und in die Tiefe der Bildfläche, beginnt sich die Fläche
        in Raum aufzulösen und gerät in Bewegung.

        Diese Faszination entsteht unter anderem aus dem Wider-
        spruch, „dass in meinen Arbeiten eine Fläche haptisch ding-
        fest gemacht wird, die aus einer ungreifbaren Farbe, die trans-
        parent ist, entsteht. Bei der Lasurtechnik bricht sich das Licht
        nicht an der Bildoberfläche, sondern geht durch die Farbe
        hindurch und reflektiert am Bildgrund“, erklärt Maier.

        Das zu erreichen, bedarf es eines langwierigen Arbeitsprozes-
        ses, dessen Verlauf der Künstler mit der Tätigkeit eines Gärt-
        ners vergleicht, der den Wuchs der Pflanzen auf dem von ihm
        vorbereiteten Boden unter bestimmten Witterungsbedin-
        gungen beobachtet und fördert: Auf direkten Untermalungen

                                                                            Foto: Klaus Zinser
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

                                                                        entstehen rote, gelbe, grüne, blaue, graue und schwarze Farb-
                                                                        flächen, indem die Ölfarbe in einem aufwendigen Prozess
                                                                        hauchzart und dünnflüssig immer wieder lasierend in
                                                                        Schichten übereinander aufgetragen wird. Dabei geht nichts
                                                                        verloren. „Die eingeschriebenen und über Monate eingemal-
                                                                        ten Schichten und Raum-Zeit-Ebenen verbinden sich mit-
                                                                        und zueinander und werden füreinander durchlässig (das Auge
                                                                        gleitet unbemerkt von einer Ebene in eine andere)“, schreibt
                                                                        Maier in seinem Skizzenbuch 2012.1 – Lissabon/Paris. Anders
                                                                        als bei der Collage, wo die zueinandergesetzten Elemente sich
                                                                        addieren, spricht er daher bei seinen Werken von einer Multi-
                                                                        plikation der Ebenen.

                                                                        Da die Arbeit an einem Bild bis zu 70 Lagen umfassen kann
                                                                        und jede einzelne etwa eine Woche Trockenzeit benötigt, kann
                                                                        es schon einmal länger als ein Jahr dauern, bis ein Werk fer-
                                                                        tiggestellt ist. Der abschließenden ganzflächigen Lasurschicht
                                                                        fügt der Künstler dann durch Harzsubstanzen etwas Glanz
                                                                        bei, ohne den das Licht nicht ins Bild käme. Die Farbbrillanz
                                                                        und das Farbspektrum, die auf diese Weise in Maiers Bilder
                                                                        einziehen, sind überwältigend. „Ich selbst behandele die Far-
                                                                        be aber immer gleichwertig, neben dem Licht sind es die sub-
                                                                        traktive Farbmischung und das Übereinanderschichten der
                                                                        Lasuren, die die Farbe beeinflussen“, erläutert er deren unge-
                                                                        wohnte und reizvolle Wirkung, durch die etwa Gelbocker wie
                                                                        Gold anmuten kann. In der vormodernen Malerei wurde
                                                                        diese Farbe für Kelche und prachtvolle Brokatgewänder ver-
                                                                        wendet, bei Maier entziehen sich die Glanzfarben der tradi-
                                                                        tionellen Verwendung, die jeder Betrachter in sich gespeichert
                                                                        hat. Sie sind befreit von bekannten Oberflächen und präsen-
                                                                        tieren lediglich sich selbst.

                                                                        Neue Bildweisen durch
                                                                        traditionelle Technik
                                                                        Das sind die maltechnischen Voraussetzungen für Experimente
                                                                        und Erfahrungen mit der Wahrnehmung. Sie fußen auf den
[2]

[2] Speicher/Naturzeit – Gebautezeit, 2006/2007, Öl auf Leinwand, 240 x 200 cm in der Ausstellung
im Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg, 2009/2010, Foto: Rüdiger Buhl
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

                                                                                                                                        [3]

„Farbfeldmalereien“ in den Gemälden florentinischer und nie-          Sehzeit
derländischer Maler, insbesondere in den Werken Jan van Eycks,                                                                                7
dessen Technik Maier weiterentwickelt und perfektioniert.             In den Lasurschichten bleiben die einzelnen Pinselstriche
Im Zuge einer Schaffenskrise Ende der 1990er-Jahre keimte             nachvollziehbar. Sie sind als eigenständiges Element raum-
in ihm das Bedürfnis nach mehr Komplexität und Transparenz            konstituierend am strukturellen Aufbau der Bilder beteiligt:
in den Bildern. Gleichzeitig suchte er nach Möglichkeiten,            Als Linien, die horizontal oder vertikal über die Leinwand-
die Fläche als Ausgangspunkt der Malerei in ihrer elementa-           fläche gestrichen werden oder sich in Wellenbewegungen kreu-
ren Wesenheit darzustellen und das Erbe der Malerei in seine          zen, erzeugen sie verschiedene Ebenen, die trotz des Fehlens
Bilder zu integrieren, ohne direkt darauf Bezug zu nehmen.            einer perspektivischen Konstruktion auf der Bildfläche Räu-
Das führte ihn zu der altmeisterlichen Lasurtechnik. Er be-           me entstehen lassen. Diese Räume sind mit dem Blick des
gann im Hinblick auf die Fragestellungen „Ist diese Technik           Betrachters begehbar und werden lediglich durch einen zu-
auf heutige Bildsprachen anwendbar?“ und „Kann ich mit ihr            meist hell abgesetzten Streifen an den Bildrändern umfasst.
neue Bildweisen schaffen?“ (Skizzenbuch 2008.4 – Refle-               Maier nennt diese Streifen „die harte Grenze“. Es ist die
xionen) mit ihr zu experimentieren. „Schließlich habe ich die         Schnittstelle, die dem Betrachter einerseits den Raum eröff-
ursprüngliche Absicht dieser Technik in ihr Gegenteil ver-            net, ihn jedoch andererseits auch wieder auf die Flächigkeit
kehrt“, stellt Maier fest. „Wo die Lasur früher für mehr Vo-          des Malgrundes zurückführt. So ergibt sich eine eigenwillige
lumen und Plastizität sorgen sollte, erreiche ich mittels Schich-     Dynamik: Obwohl vom Maler fertiggestellt, scheinen sich die
tenverschachtelung mehr Fläche durch Tiefe und Bewegung.“             Bilder weiter im Prozess des Entstehens zu befinden: Sie tre-

                            [3] Speicher/New York – Bamako II, 2005–2007, Öl auf Leinwand, 200 x 650 cm, fünfteilig, Foto: Bernhard Strauss
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KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

    [4]                                                                     [5]

    ten nach vorne, verschränken sich für einen kurzen Augen-               der heutigen Physik Raum nicht denkbar. Bei Herbert Maier
8   blick, gehen dann wieder in die Tiefe, um sich erneut nach              öffnet sich durch die Zeitlichkeit des Sehens die Zeit zum
    vorne zu drängen. „Diese Räume, die sich vor dem Betrachter             Raum. Was das konkret bedeutet, lässt sich an den neueren
    auf der Fläche der Bilder ohne die illusionäre Konstruktion             Werken aus der Serie der „Scheibenräume“ nachvollziehen,
    der Perspektive aufbauen, sind keine statischen Räume, schon            die derzeit in seinem Freiburger Atelier entstehen. Schon der
    gar nicht Räume von einer festen hierarchischen Ordnung:                widersprüchliche Titel deutet die bildimmanente Dualität an:
    Wo hinten war, ist vorne, wo das Zentrum sich zu bilden                 Was oberflächlich wie das Bild einer Scheibe erscheint, öffnet
    schien, breitet sich die Leere aus“, beschreibt Noemi Smolik            sich zum Raum. Maier notiert in seinem Skizzenbuch 2012.1
    den Prozess der Betrachtung. „Die Zeit ist gegenwärtig. Die             – Lissabon/Paris: „Scheibenraum  Raumkörper  Raum-
    Bilder sind nicht einfach da, sie geschehen und um dieses Ge-           zeitkörper: „Die Inwendigkeit der Körper als Raum- und
    schehen verfolgen zu können, braucht das betrachtende Auge              Körpererfahrung aus der (Seh)zeit heraus.“ Was geschieht beim
    Zeit, viel Zeit.“ Herbert Maier nennt das ‚Sehzeit'. Sie steht          Betrachten eines solchen Bildes? Je länger sich der Betrachter
    in Relation zur Entstehungsdauer der Bilder.                            in es versenkt und je nachdem, wie er seinen Blick steuert,
                                                                            ob er ihn fixiert oder weitet, erhält die Scheibe Volumen
                                                                            und Struktur. Das Auge bildet daraus einen Raum, der sich
    Scheibenraum  Raumkörper                                              entweder zur bildinneren Ferne hin öffnet oder in den
    Raumzeitkörper                                                          Betrachterraum erstreckt. Weil es keinen Fluchtpunkt gibt,
                                                                            läuft der Betrachter regelrecht in das Bild hinein und kommt
    In der Sehzeit spiegelt sich auch das Interesse des Malers an           zu keinem Ende – erst wenn der Blick an die harte Grenze
    den Naturwissenschaften, speziell der Physik. Ohne Zeit ist in          der Scheibe stößt, zerfällt der Raum und das Auge wird wie-

    [4] Speicher/Scheibenraum 6 und [5] Speicher/Scheibenraum 7, jeweils 2011-2012, Öl auf Leinwand, 130 x 140 cm, Fotos: Bernhard Strauss
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

                                                                                                                                        [6]

der der Fläche gewahr. Doch sogleich öffnet sich wieder der          Speicher
Raum ... In dieser Kontinuität und Wechselhaftigkeit wird                                                                                     9
Sehen zu einem konstitutiv erfahrenen Akt.                           Die Polarität seiner Arbeiten spiegelt sich auch in den Benen-
                                                                     nungen, die Maier für seine Serien wählt. Schon als er noch
                                                                     pastos malte, hatte er den Begriff „Speicher“ gefunden, um
Polarität                                                            seine Vorstellung von der Malerei adäquat in einem Bildtitel
                                                                     zu fassen. Dabei ist der Prozess des Speicherns niemals als
Dass Herbert Maier dies gelingt, ist neben dem lasierten Farb-       abgeschlossen zu verstehen. Er unterliegt keinerlei Grenzen
auftrag auch auf die Spannungsbögen zurückzuführen, die er           und ist wie Herbert Maiers Malerei ein nie endender Prozess,
in seine Bilder bringt. Dabei gilt es ihm, „möglichst viele          der sich immer weiter fortsetzt. Er impliziert den Gedanken
Widersprüche ins Bild zu setzen, sie einerseits nicht in einem       eines Speichers von Zeit, eines Speichers von Erinnerungen,
neutralen, lavierenden Einerlei ihrer Kraft zu berauben“,            eines Speichers von Erfahrungen, eines Speichers von Ener-
andererseits aber auch nicht im bloßen Nebeneinander-                gie. – Im Ansammeln und Verdichten von Ereignissen, Ab-
setzen von Dualismen die bildnerische Lösung zu sehen.               läufen oder Lebenserfahrung sind die Speicher somit maleri-
Paare wie Raum – Fläche, Form – Farbe, Geometrisches –               sche Verdinglichung von Zeiten und Räumen und enthalten
Vegetabilität, Figur – Grund, Wärme – Kälte, Oberfläche –            als solche auch die Informationen, mit denen der Maler vor-
Tiefe, Entrückung – Annäherung, Statik – Dynamik, Flüssiges          gibt, welche Bilder er im Betrachter auslöst.
– Festes, Licht – Schatten, Transparenz – Verhüllung,Vorher –
Nachher, Fülle – Reduktion versteht er als komplementäre             Kaum ein Bild vereint die Vielschichtigkeit der maierschen
Pole ein und derselben Sache.                                        Bildtheorie so augenfällig wie das dreiteilige Monumentalge-

                                  [6] Speicher/Grosses Mexiko, 2008/2009, Öl auf Leinwand, 240 x 990 cm, dreiteilig, Foto: Bernhard Strauss
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

     [7]

     mälde „Speicher – Grosses Mexiko“. Angefangen bei den im                  LeereKörper
     Lasurauftrag entstandenen Pinselspuren und der Leuchtkraft
10   der Farbpigmente über die Assoziation an südamerikanische                 Beinahe genauso lange, also schon, bevor er mit der Lasur-
     Pyramiden, die sich aus der Anordnung der Farbriegel ergibt,              technik zu experimentieren begann, arbeitet Maier mit dem
     ohne dass ein Architekturbild beabsichtigt wäre, bis hin zum              Begriff der „LeereKörper“. Während einer Reise nach Ne-
     unvermittelten Vor- und Zurückspringen der Farbbalken, die                apel wurde ihm beim Anblick einer Grottenöffnung bewusst,
     die Wahrnehmung von Fläche und Raum fortwährend hin-                      dass auch die Leere, die Aussparung, das Nichts über Dichte,
     terfragen, offeriert es dem Betrachter zahlreiche Möglichkei-             Materie, Dinglichkeit verfügen kann. Diesen Gedanken greift
     ten, das Bild zu erfahren.                                                er in seinen Holzschnitten auf. Mit einem begrenzten Voka-
                                                                               bular von meist schwarzen gehaltenen blockhaft umgesetzten
     Obwohl in ihrer ästhetischen Anmutung, in Pinselduktus und                Gestalttypen auf weißem Papiergrund wachsen die Farb-
     Farbgebung gänzlich anders ausgerichtet, speisen sich auch                flächen in sich verräumlichende, verdringlichende (Seh)Zeit
     die zeitgleich in Freiburg entstandenen Speicher-Bilder des               aus, nehmen physische Präsenz an, wölben sich aus der Fläche
     Zyklus „Naturzeit – Gebautezeit“ aus einer variantenreichen               oder graben sich in den Malgrund.
     Verarbeitung gesammelter Formerscheinungen, schreibt Rü-
     diger Heinze im Ausstellungskatalog 2009. Ohne die gerins-                Die übergroßen Aquarelle heben als LeereKörper sogar den
     te Absicht zur mimetischen Darstellung zu offenbaren, verlei-             vermeintlichen Widerspruch von Transparenz, Durchlässig-
     ten sie zu der Vermutung, es könne sich dabei um Chro-                    keit und opaker, dinghafter Dichte auf, denn der Lasurenblock
     mosomen-Darstellung oder die Hell-Dunkel-Strukturen von                   kann beides gleichzeitig sein: Nichts und Körper/Raum, leer
     Birkenrinde handeln.                                                      und dicht wie Schwarze Löcher im Universum, schreibt

     [7] Aus der Serie „Speicher/Naturzeit – Gebautezeit“, 2006/2007, Öl auf Leinwand, die beiden Bilder links je 240 x 200 cm, die drei Bilder
     rechts je 240 x 330 cm, Ausstellung im Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg, 2009/2010, Foto-Panorama: Rüdiger Buhl
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

Herbert Maier im Skizzenbuch 2008.5 – Kreta. Durch die           Repertoire gehören neben Öl- und Aquarellmalerei sowie
Schichtung, die sukzessive sich verdichtende Flüssigkeit, ver-   Holzschnitt unter anderem auch Fotografie, Radierung und
tiefen sich die Blätter nach innen, und „der Betrachter schaut   Skizzenbuch: Sie alle stehen für ihn gleichberechtigt neben-     11
förmlich in die Bilder hinein, als wären sie räumlich“, um-      einander. Dabei denkt er immer von den Bedingungen des
schreibt Volker Bauermeister die Wirkung. „Selbst wenn sie       Materials aus, die Bilder müssen sich aus ihrer Stofflichkeit
sich oberflächlich zu verschließen scheinen, ist Öffnung ihre    erklären.Wäre die Arbeit in einer Gattung ersetzbar durch die
Potenz.“                                                         in einer anderen, würde er sie nicht weiterverfolgen. Indem
                                                                 er die spezifischen Unterschiede der jeweiligen Techniken
Die Lasurmalerei in Öl ist letztlich eine Synthese aus der       herausarbeitet, kommt auch hier wieder das Speicherprinzip
Transparenz der Aquarellmalerei, Leere und Körper kommen         zum Tragen: Die Gattungen fungieren wie Brennstrahlen, die
aus dem Holzschnitt.                                             auf einen Brennpunkt hin ausgerichtet sind. Was auf den
                                                                 ersten Blick wie Zerstreuung wirkt, baut lange aufeinander
                                                                 auf und fügt sich am Ende zusammen.
Parallelität
                                                                 So finden sich in Maiers Fotografien häufig Motive, die auf
Die Parallelität der Widersprüchlichkeiten, die sich in den      die Malerei zu verweisen scheinen, tatsächlich aber erst da-
einzelnen Arbeiten ausmachen lässt, ist auch ein Aspekt, der     nach entstanden sind. „Was die Fotografien betrifft, und darin
sich durch das Gesamtwerk von Herbert Maier zieht. Immer         liegt ihre Wichtigkeit auf meine malerische Arbeit bezogen,
arbeitet er gleichzeitig an mehreren Arbeiten, an unterschied-   so finde ich Motive auf Reisen oder im Alltag, die meine
lichen Serien, oft in verschiedenen Gattungen. Zu seinem         Malerei, die von ihren reinen Mitteln ausgeht (Fläche/Farbe)
Sonderthema dOCUMENTA (13)
KÜNSTLERPORTRAIT · HERBERT MAIER

     [8]

                                 [9]    und sich in Richtung der (sichtbaren) Wirklichkeit bewegt
                                        (...), die meine Malerei geradezu als empirische Wirklichkeit
                                        zu bestätigen scheinen, ohne dass ich auf ein Abbildhaftes zu-
12                                      rückgegriffen hätte“, erklärt er die Bedeutung dieser Gattung.

                                        Seine Skizzenbücher begleiten Herbert Maier seit Jahren. Sie
                                        haben ihren Ursprung im Text. In ihnen reflektiert er unter
                                        anderem seine Ideen und überprüft, ob und inwiefern sie mit
                                        den Bildern, an denen er arbeitet, übereinstimmen. Diese Re-
                                        flexionen stellt er häufig erst an, nachdem er eine Frage-
                                        stellung oder eine Serie abgeschlossen hat. So kommt es, dass
                                        Text und Bild zwar auf einer Skizzenbuchdoppelseite neben-
                                        einanderstehen, aber nicht zwingend in einem engen Zusam-
                                        menhang zueinander. Auch in den Radierungen, die ganz
                                        ohne Farbe auskommen und ein weiteres eigenständiges Feld
                                        seiner Arbeit darstellen, rekapituliert und reflektiert der Künst-
                                        ler die Malerei eines vorangegangenen Zyklus.

                                        [8] Aus dem „Skizzenbuch 2008.4 – Freiburg“, Foto: Bernhard Strauss
                                        [9] Aus der „Visuellen Bibliothek“, seit 2010, Aquarell, je 30 x 20 cm,
                                        Foto: Herbert Maier [10] Detail aus der „Visuellen Bibliothek“, seit
                                        2010, Aquarell, je 30 x 20 cm, Foto: Herbert Maier
BIOGRAPHIE

                                                                 1959       Geboren in Haslach / Schwarzwald
                                                                 1983       Rotary-Stipendium Paris
                                                                 1992       Regio-Preis für Bildende Kunst
                                                                 1994       Preis der Kritik, Internationale Graphik
                                                                            Triennale Prag, Tschechien
                                                                 seit 1994 Lehrauftrag für Radierung an der
                                                                           Pädagogischen Hochschule in Freiburg
                                                                 1997       Stipendium der Kunststiftung
                                                                            Baden-Wür ttemberg
                                                                 1999       Stipendium Cité Internationale
[10]                                                                        des Ar ts in Paris (2000/2001)
                                                                 2002       Workshop an der Pontificia Universidad
                                                                            del Peru, Facultad de Ar te, Lima, Peru
                                                                 2002/03    Dozent für Kunstgeschichte
Visuelle Bibliothek                                                         an der Hochschule Holzen

Neben den 20-30 Ölbildern, an denen er im Atelier parallel       2005       Ar tist in Residence der Edward F. Albee
malt und „die sich gegenseitig korrigieren“, wächst seit 2010               Foundation, Montauk, New York, USA         13
auch eine auf 500 Aquarelle angelegte Kulturgeschichte der       2004 + 2005 + 2008
Welt, die der Künstler „Visuelle Bibliothek“ nennt. Immer                  Ar tist in Residence of the
auf weißem Papier stehend, werden „Forminkunabeln der                      Josef and Anni Albers Foundation,
Menschheit“ zigmal mit Farblasur überschichtet. Die bekann-                Bethany, Connecticut, USA
ten Gesichter von Lebenden und Toten oder wegweisende
                                                                 2011       Arbeitsstipendium im Künstlerhaus Lukas
Erfindungen der Menschen aus aller Welt werden dadurch
                                                                            Ahrenshoop, geförder t durch das Land
flächig und leuchten von innen – es entsteht Ferne über Prä-
                                                                            Mecklenburg-Vorpommern
senz, Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, die der Betrachter
darüber hinaus durch eine unchronologische Hängung in
                                                                 lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau
mehreren Reihen erlebt.

In seinem Bestreben, „eine Parallelwelt, eine Art Gegenwelt
                                                                 AUSSTELLUNGEN 2012
zu dieser äußeren, empirischen, in sinnenhafter Wahrnehmung
und Empfindung sich mitteilenden Welt zu schaffen“, ent-         Juli 2012
wickelt Herbert Maier in dieser noch unvollendeten Serie         Based on AD (Albrecht Dürer)
eine weitere Facette seiner Raum-Zeit-Überlegungen: Mit der      Galerie Bode Nürnberg
ganzflächigen Lasur als Stilmittel der Volumenbildung erhalten
die aquarellierten Figuren und Köpfe wieder eine Flächen-        September/Oktober 2012
haftigkeit, durch die sie wie Scherenschnitte auf weißem         Kimreeaa Galley, Seoul/Korea
Papier ohne Hintergrund stehen und wie Stempel wirken.

                                                                 K O N TA K T
                                                                 www.herber tmaier.org
IM GESPRÄCH

                                                        Marcel fragt Herbert
                                                        Streng genommen fragt hier gar nicht Marcel Proust selbst – vielmehr hat der be-
                                                        rühmte Schriftsteller, dessen Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ als
                                                        einer der größten Romane der Weltliteratur gilt, dem berühmt gewordenen Frage-
                                                        bogen seinen Namen gegeben. Proust hat einen solchen Fragebogen wohl mindes-
                                                        tens zweimal selbst beantwortet – um die Wende zum 20. Jahrhundert galt das
                                                        Ausfüllen als beliebtes Gesellschaftsspiel in gehobenen Kreisen. Der erste Bogen, aus-
                                                        gefüllt vom heranwachsenden Proust während eines Festes, wurde posthum 1924
                                                        veröffentlicht. Den zweiten Fragebogen betitelte Proust mit „Marcel Proust par lui-
     Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust        même“ („Marcel Proust über sich selbst“). Die ursprünglich 33 Fragen wurden für
          (1871-1922), französischer Schriftsteller,    Kunst & material auf 29 reduziert – und bieten spannende und nachdenkliche Ein-
                        Kritiker und Intellektueller.   blicke in die Gedanken- und Gefühlswelt unserer Befragten.

                                                        Wo möchten Sie leben? Da wo ich lebe.          den am meisten? Dass sie meine Freunde
                                                        Wenn es mir zu eng wird, reise ich. Was        sind und sein wollen. Ihr größter Fehler?
                         Herbert Maier (*1959)          ist für sie das vollkommene irdische Glück?    Ich werde mich hüten; also gut: Miss-
               Maler und Radierer in Freiburg i. Br     Kein Kuhhandel mit dem Glück, es sind          trauen zuweilen. Ihr Traum vom Glück?
                                                        stille wunderbare Momente, in denen alles      Wie schon gesagt, kein Kuhhandel mit
                                                        stimmig ist. Welche Fehler entschuldigen       dem Glück! Es stellt sich spontan ein
                       „Offen und in                    Sie am ehesten? Jeden der geklärt wer-         wie Regen. Der kann lange ausbleiben
               Fragestellung bleiben“                   den kann. Was ist für Sie das größte Un-       und kommt doch sicher immer wieder.
78                                                      glück? Ein Leben in Unfreiheit und             Ihre Lieblingsfarbe? Jeder Farbe ihren
                                                        Fremdbestimmung. Ihre liebsten Roman-          Wirkraum. Ihre Lieblingsblume? Ein
                                                        helden? Die wechseln, meist menschli-          blühender Garten,Vielfalt mit blutroten
                                                        che Antihelden. Ihre Lieblingsgestalt in       Mohnblumen. Ihr Lieblingsvogel? Jedes
                                                        der Geschichte? Es gibt einfach viele. Zu      Gezwitscher. Ihre Helden der Wirklich-
                                                        den Lieblingsfragen hier kann ich sagen,       keit? Den Heldenbegriff mag ich nicht.
                                                        dass mich mit Entschiedenheit Unter-           Wie Menschen eine Familie durchbrin-
                                                        schiedlichstes interessiert, auf einen Lieb-   gen ist schon beachtenswert. Ihre Lieb-
                                                        ling ist das nicht zu reduzieren. Trotz-       lingsnamen? Jeder Name, den ich ganz
                                                        dem: Heraklit, Gandhi. Ihr Lieblings-          subjektiv zu einem Gesicht oder einer
                                                        maler? Giorgio Morandi, Edouard Ma-            Gestalt passend finde. Was verabscheuen
                                                        net u.a. Ihr Lieblingsautor? Jean-Philippe     Sie am meisten? Ungerechtigkeit. Welche
                                                        Toussaint, John Berger u.a. Ihr Lieblings-     geschichtlichen Gestalten verabscheuen
                                                        komponist? Anton Bruckner und Miles            Sie am meisten? Jeden Diktator. Welche
                                                        Davis gehören dazu. Welche Eigenschaf-         Reform bewundern Sie am meisten? Zu-
                                                        ten schätzen Sie bei einem Menschen am         erst eine Doktrin, dann eine Reform, also
                                                        meisten? Inspiriertes Einfühlungsver mö-       wieder eine Doktrin. Welche natürliche
                                                        gen, Großzügigkeit. Ihre Lieblingstugend?      Gabe möchten Sie besitzen? Es geht um
                                                        Zuviel Tugenden auf der Welt und also          die Verfeinerung derer, die ich habe. Wie
                                                        zuviel Heuchelei. Ihre Lieblingsbeschäf-       möchten Sie gern sterben? Malen können
                                                        tigung? Malen, lesen und in Cafes rum-         bis zum letzten Tag und dann im letzten
                                                        sitzen, reisen. Wer oder was hätten Sie gern   Hauch mit dem Gelebten einig sein. Ihre
                                                        sein mögen? Was ich bin. Ihr Haupt-            gegenwärtige Geistesverfassung? Spannend,
                                                        charakterzug? Ich bin vielseitig interes-      was gerade passiert. Ihr Motto? Offen
                                                        siert. Was schätzen Sie bei Ihren Freun-       und in Fragestellung bleiben.
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