AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Europa wählt - Bundeszentrale für politische Bildung

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69. Jahrgang, 4–5/2019, 21. Januar 2019

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
   Europa wählt
           Claus Leggewie                     Bernd Schlipphak · Oliver Treib
 NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE!                   LEGITIMIERT EINGREIFEN.
      EUROPA VOR EINER                    DAS INTERVENTIONSPARADOX
  RICHTUNGSENTSCHEIDUNG                      DER EU UND WIE MAN
                                            ES VERMEIDEN KÖNNTE
 Nicolai von Ondarza · Felix Schenuit
  DIE EUROPAWAHLEN 2019                              Jan Georg Plavec
   UND DAS EUROPÄISCHE                         GEMÜTLICHE BLASE?
       PARTEIENSYSTEM                            ZUR BRÜSSELER
                                             KOMMUNIKATIONSKULTUR
   Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
      ZUKUNFTSDEBATTEN
          IN DER EU

                      ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                           FÜR POLITISCHE BILDUNG
                  Beilage zur Wochenzeitung
Europa wählt
                                    APuZ 4–5/2019
CLAUS LEGGEWIE                                     BERND SCHLIPPHAK · OLIVER TREIB
NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE!                           LEGITIMIERT EINGREIFEN.
EUROPA VOR EINER                                   DAS INTERVENTIONSPARADOX DER EU
RICHTUNGSENTSCHEIDUNG                              UND WIE MAN ES VERMEIDEN KÖNNTE
Die Europawahlen bieten den besten Anlass          EU-Interventionen gegen den Abbau von
für eine breite Debatte darüber, welchen Weg       Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten
Europa einschlagen soll: Rückbau in Natio-         führen meist zu einer Stärkung der betreffenden
nalstaaten, Durchwursteln mit den bewährten        Regierungen, da diese die Maßnahmen häufig als
Kräften der Mitte oder doch ein „gemeinsamer       illegitime Einmischung darstellen. Doch dieses
Sprung“ in die europäische Republik.               Paradox ließe sich vermeiden.
Seite 04–10                                        Seite 26–31

NICOLAI VON ONDARZA · FELIX SCHENUIT               JAN GEORG PLAVEC
DIE EUROPAWAHLEN 2019 UND                          GEMÜTLICHE BLASE?
DAS EUROPÄISCHE PARTEIENSYSTEM                     ZUR BRÜSSELER KOMMUNIKATIONSKULTUR
Sollte es den EU-skeptischen Parteien gelingen,    Eine Befragung von Politikern und Journalisten
eine große Fraktion im Europaparlament zu          in Brüssel zeigt, dass beide Gruppen zu einer
bilden, könnte dies zu einer Neuausrichtung        spezifischen europäischen Kommunikations-
des Integrationsprojektes insgesamt führen.        kultur beitragen. Sie bewegen sich dabei in
Wahrscheinlich ist das nicht: Durch den Brexit     einem Spannungsverhältnis zu ihren jeweiligen
verlieren gerade diese Parteien viele Sitze.       nationalen Bezugsöffentlichkeiten.
Seite 11–18                                        Seite 32–38

GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET
ZUKUNFTSDEBATTEN IN DER EU
Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU
reichen von visionären Entwürfen bis hin zu
kleinteiligen Reformvorschlägen. Beides ist
notwendig, um die „Polykrise“ der vergangenen
Jahre zu überwinden und neue Horizonte für
das europäische Integrationsprojekt zu eröffnen.
Seite 19–25
EDITORIAL
Vom 23. bis 26. Mai 2019 wird das neue Europäische Parlament gewählt. Die
diesjährige Wahl steht unter besonderen Vorzeichen: Nach Lage der Dinge
wird die EU dann nur noch aus 27 Mitgliedstaaten bestehen, weil das Vereinigte
Königreich von Großbritannien und Nordirland acht Wochen vorher, am
29. März, den „Brexit“ vollziehen, also aus der EU austreten wird. Erstmals
verlässt ein Mitglied die Union; ohne die Stimmen der bisher 73 britischen
Abgeordneten wird das Parlament ein anderes sein. Statt 751 wird es künftig nur
noch 705 Sitze haben, auch auf das Stimmgewicht der einzelnen Fraktionen wird
sich der Abschied der Briten auswirken.
   Zudem besteht die realistische Aussicht, dass sich die jüngeren Wahlerfolge
EU-skeptischer und rechtspopulistischer Parteien auf europäischer Ebene
fortsetzen. Sollte es diesen Parteien außerdem gelingen, nach der Wahl eine
gemeinsame, große Fraktion zu bilden – bisher sind sie in mehrere zersplittert –,
könnte dies die Agenda des Parlaments deutlich verändern und den langjähri-
gen Kurs der vertieften europäischen Integration und Zusammenarbeit infrage
stellen. Doch haben auch diejenigen, die sich für ein liberales, vereintes und
politisch zunehmend integriertes Europa einsetzen, in den vergangenen zwei
Jahren verstärkt mobilisiert. Trotz erwarteter Einbußen dürften die Verfechter
der europäischen Idee weiterhin die Mehrheit im Parlament stellen.
   In der derzeitigen, angespannten Situation liegt gerade auch für sie eine
Chance: Die europapolitische Diskussion verbreitert und intensiviert sich zuse-
hends, und die Dringlichkeit von mutigen Reformschritten leuchtet angesichts
des internationalen Umfelds unmittelbar ein. Welchen Weg die Europäische
Union in den nächsten Jahren einschlägt, liegt zunächst jedoch ganz wesentlich
in der Hand der rund 400 Millionen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger.

                                                  Johannes Piepenbrink

                                                                               03
APuZ 4–5/2019

                                               ESSAY

                NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE!
                                    Europa vor
                           einer Richtungsentscheidung
                                        Claus Leggewie

Das Europäische Parlament, 1979 zum ersten Mal      von den insgesamt 751 Sitzen mit dem Brexit frei
direkt gewählt und seither auf dem gewundenen       werden, sollen 27 auf Länder verteilt werden, de-
Weg zum „Vollparlament“, erscheint vielen Eu-       ren Bevölkerung zugenommen hat, 46 Sitze blei-
ropäerinnen und Europäern bedeutungslos. Ent-       ben für potenzielle EU-Neumitglieder reserviert.
sprechend gelten Europawahlen als „Nebenwah-        Der weiter gehende Vorschlag des französischen
len“, die Wahlbeteiligung lag 2014 bei historisch   Staatspräsidenten Emmanuel Macron, sie für
niedrigen 42,6 Prozent.01 Auch die Parteien ha-     transnationale Listen zu verwenden, wurde nicht
ben nicht immer ihre besten Köpfe nach Brüssel      aufgegriffen. Er hätte zum Einzug von Abgeord-
und Straßburg geschickt. „Hast du einen Opa,        neten mit einer originär europäischen Agenda ins
schick ihn nach Europa“, lautete der respektlo-     Parlament führen können – eigentlich eine logi-
se Abschiedsgruß an daheim nicht mehr benö-         sche Konsequenz der Ausrufung von Spitzen-
tigte oder erwünschte Politiker. Zugleich waren     kandidaten und der entsprechenden Bestellung
„Brüssel“ und „Straßburg“ immer ein Experi-         des EU-Kommissionspräsidenten.
mentierfeld für Wähler und Abgeordnete. Er-             Gescheitert ist die Idee am Widerstand der
muntert durch fehlende oder niedrige Sperrklau-     mit 218 Sitzen größten Fraktion im Europäi-
seln trauen sich Erstere, ihr Kreuz versuchsweise   schen Parlament, der Europäischen Volkspartei
an anderer Stelle zu machen; Letztere gehen un-     (EVP), deren Abgeordneter Elmar Brok (CDU)
konventionelle Allianzen ein und legen korpora-     darin einen Angriff auf den Föderalismus sah:
tives Selbstbewusstsein gegenüber Kommission        „Ich möchte nicht auf einer Liste von Helsinki
und Rat an den Tag, aber auch gegenüber ihren       bis Lissabon gewählt werden, wo kein Bürger
Herkunftsländern und Nationalstaaten generell.      mich als sein Ansprechpartner sieht. Ich möch-
So übernahm das Europäische Parlament eine          te als Abgeordneter zuhause in Ostwestfalen-
transnationale Vorreiterrolle.                      Lippe gewählt werden, Legitimation entsteht
    Ende Mai 2019 sind rund 400 Millionen Euro-     durch Bürgernähe und nicht durch Ferne.“03
päer, denen etwa das deutsche Bundesverfassungs-    Dies hätte freilich für das Gros der EU-Ab-
gericht die Qualität eines Staatsvolkes nicht zu-   geordneten weiter gegolten. Dass selbst ein so
erkennen will, aber auch nicht ganz absprechen      ein erfahrener und engagierter Europäer in die-
mag,02 zu einer echten Schlüsselwahl aufgerufen.    ser Situation derart provinziell daherkam, war
Wer in Brüssel und Straßburg die Mehrheit der       enttäuschend. Die damalige CDU-Vorsitzende
Parlamentssitze erobern wird, ist ebenso bedeut-    Angela Merkel wollte die Tür zu Macron hin-
sam für Europas Zukunft wie der für März 2019       gegen nicht ganz zuschlagen, betonte aber, dass
angesetzte „Brexit“. Durch einen erneuten Erfolg    die Aufstellung von europäischen Spitzenkan-
der EU-feindlichen Kräfte geriete die Union, wie    didaten auf Dauer nur funktionieren werde,
wir sie kennen, in eine bedrohliche Schieflage.     „wenn der Spitzenkandidat auf einer transnati-
                                                    onalen Liste steht, also wirklich in allen Län-
                EROSION DER MITTE                   dern gewählt werden kann“. 04 Ansonsten aber
                                                    hat auch sie sich nicht wirklich als zupackende
Am Wahlmodus hat sich seit der Wahl 2014 we-        Europapolitikerin erwiesen und Macron im Re-
nig verändert. Von den 73 britischen Sitzen, die    gen stehen lassen.

04
Europa wählt APuZ

    Gleichwohl stehen dem Parlament 2019 gra-                           das zwar noch nicht, aber der Zuspruch jüngerer
vierende Veränderungen bevor: erstens durch die                         Bürgerinnen und Bürger weist darauf hin, dass es
Erosion des faktischen Duopols der rechten und                          für eine erneute europäische De-facto-„GroKo“
linken Mitte, zweitens durch den Bedeutungszu-                          eng werden dürfte.
wachs locker gefügter Bewegungsparteien und                                 Prognosen zur Europawahl sind erfahrungs-
drittens durch die wahrscheinliche Konzentrati-                         gemäß besonders unsicher, aber ein ungefähres
on der äußersten Rechten. Damit deuten sich tek-                        Bild lässt sich zeichnen:05 Die linke Mitte wird
tonische Verschiebungen der politischen Land-                           nicht nur den Wegfall der 20 britischen Labour-
schaft Europas an.                                                      Abgeordneten, sondern voraussichtlich auch ei-
    Das Europäische Parlament war wie die meis-                         nen Einbruch der sozialdemokratischen und so-
ten nationalen Parteiensysteme lange Zeit von                           zialistischen Parteien vor allem in Italien (derzeit
Volks- beziehungsweise Großparteien der rech-                           31 Abgeordnete), Frankreich (12), Schweden (6)
ten und linken Mitte dominiert. Das Tandem der                          und den Niederlanden (3) zu verkraften haben.
durchgängig stärkeren EVP aus dem christdemo-                           Auch die SPD (27) muss mit Einbußen rechnen.
kratischen und konservativen Spektrum und der                               Eine ähnliche Schwächung dürfte der Frakti-
Fraktion der Sozialdemokraten (S&D, von der                             on der EVP bevorstehen, die europapolitisch be-
englischen Bezeichnung Progressive Alliance of                          reits gespalten ist. Die Fidesz-Partei des ungari-
Socialists & Democrats) stellte stets mindestens                        schen Ministerpräsidenten Victor Orbán ist ein
zwei Drittel der Abgeordneten. Beide brachten                           Mitglied auf Abruf, wenn sie die EVP nicht ins-
so in einer Art „informellen Großen Koalition“                          gesamt nach rechts rückt. Dem kommt die ma-
ihre programmatischen und personellen Ambiti-                           nifeste Rechtsdrift der französischen Republi-
onen arbeitsteilig voran.                                               kaner (20) und der italienischen Konservativen
    In den vergangenen Jahren sind jedoch alle                          (15) entgegen, ebenso des Partido Popular (17)
politischen Lager sprichwörtlich „in Bewegung“                          in Spanien. Unklar ist das Schicksal der polni-
geraten. Mit ganz unterschiedlichen Ambitio-                            schen Abgeordneten von der Platforma Obywa-
nen und Methoden stehen dafür Sammlungsbe-                              telska (PO, Bürger-Plattform, 18) und der Pols-
wegungen wie der „Europäische Frühling“ des                             kie Strinnictwo Ludowe (PSL, Bauernpartei, 4)
griechischen Sozialisten Yanis Varoufakis, der                          sowie einzelner Abgeordneter aus anderen osteu-
Europa-Ausleger der französischen Präsidial-                            ropäischen Staaten, wo nationalpopulistische Be-
bewegung „La République en Marche!“ unter                               wegungen stärker sind als klassische Konservati-
dem Namen „Europe en Marche“ oder auch die                              ve und Liberale. Entscheidend wird sein, wohin
rechtspopulistische Stiftung „The Movement“,                            sich die voraussichtlich gestärkte polnische Pra-
des US-amerikanischen Publizisten und ehema-                            wo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtig-
ligen Präsidentenberaters Steve Bannon. Bewe-                           keit, 14) orientieren wird, die derzeit noch mit
gung statt Partei – dieser Trend zur Umgehung                           den britischen Tories (Conservative Party, 18)
etablierter intermediärer Instanzen ist lagerüber-                      eine Fraktion bildet.
greifend zu beobachten und Ausdruck einer po-                               War es bisher so, dass sich eine liberal-kon-
pulistischen Generalmobilmachung. Ein grund-                            servative Mitte mit einer Minderheit weiter rechts
stürzender Umbau der politischen Systeme ist                            stehender Strömungen zurechtfinden musste, ist
                                                                        Orbáns Vision jetzt, eine dezidiert „illiberale“
01 Vgl. Europäisches Parlament, Ergebnisse der Europawahl               Rechte mehrheitsfähig zu machen. Die bisheri-
2014, www.europarl.europa.eu/elections2014-results/de/turn-             gen Zwerge möchten Riesen sein. Der für moder-
out.html; Michael Kaeding/Niko Switek, Europawahl 2014: Spit-           ne Parlamente seit Beginn des 19. Jahrhunderts
zenkandidaten, Protestparteien und Nichtwähler, in: dies. (Hrsg.),
                                                                        konstitutive Rechts-Links-Gegensatz wäre damit
Die Europawahl 2014, Wiesbaden 2015, S. 17–30, hier S. 25.
02 Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts),
                                                                        nicht gänzlich verschwunden, doch hat er sich in
123, 267 (Lissabon), 30. 6. 2009; Dieter Grimm, Europa ja – aber wel-   den vergangenen Jahren – vor allem an der Ein-
ches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016.         wanderungsfrage – zu einem Gegensatz zwischen
03 Zit. nach Ursula Welter, Wenn die Kanzlerin orakelt,
5. 6. 2018, www.deutschlandfunk.de/transnationale-listen-wenn-
die-kanzlerin-orakelt.795.de.html?dram:article_id=419578.               05 Siehe etwa den Blog „Der (europäische) Föderalist“ des
04 Merkel im Interview mit Thomas Gutschker/Eckart Lohse,               Publizisten Manuel Müller, www.foederalist.eu/p/europawahl-​um-
„Europa muss handlungsfähig sein – nach außen und innen“,               fragen.html. Für eine Übersicht über die aktuellen Abgeordneten
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. 6. 2018.                     siehe www.europarl.europa.eu/meps/de/search/advanced.

                                                                                                                                     05
APuZ 4–5/2019

Abbildung: Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach Fraktionen, 2014–2019
                                                   187                        74
                                                                                        68

                                                                                              52

                                                                                                   52
                    218
                                                                                                     43
                                                                                                        34
                                                            Insgesamt
                                                               751
                                                                                                        23

       Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP)
       Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D)
       Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR)
       Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE)
       Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke (GUE/NGL)
       Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz (Grüne/EFA)
       Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD)
       Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF)
       Fraktionslos
Quelle: www.europarl.europa.eu, Dezember 2018, eigene Darstellung.

den Leitbildern der offenen und der geschlosse-                      det, um gemeinsam mindestens vierte Kraft zu
nen Gesellschaft beziehungsweise in eine Antino-                     werden. Dazu zählen die Ciudadanos, die sowohl
mie zwischen liberaler und „illiberaler“ Demo-                       im spanischen als auch im katalonischen Parla-
kratie verschoben. Orbáns Wiederwahl im April                        ment nennenswerte Stimmenanteile haben, die ös-
2018 zeigt an, dass ein „kompetitiver Autoritaris-                   terreichische Partei NEOS (Das Neue Österreich
mus“, eine durch Wahlen gestützte Autokratie, in                     und Liberales Forum) sowie einzelne Sozialdemo-
Teilen der EU inzwischen mehrheitsfähig ist.                         kraten wie der ehemalige italienische Regierungs-
    Kleinere „Etablierte“ haben von der Erosi-                       chef Matteo Renzi. Eine kräftige transnationale
on der linken und rechten Mitte wenig profitie-                      Bewegung im Zentrum wäre im Prinzip auch für
ren können. Die „europakritische“ Linke (GUE/                        Grüne attraktiv, die aber nationale Kandidaturen
NGL, derzeit angeführt von Gabi Zimmer) steht                        auf diversen Listen aufbieten und europaweit vom
ebenfalls unter dem Druck von Bewegungspartei-                       aktuellen Höhenflug der deutschen Grünen pro-
en – etwa von „La France insoumise“ des franzö-                      fitieren wollen, in den meisten Ländern aber sehr
sischen Abgeordneten Jean-Luc Mélenchon, der                         viel schlechter dastehen als in Deutschland.
deutschen „Aufstehen“-Kampagne Sahra Wa-
genknechts oder dem erwähnten „Europäischem                                          GEGENWIND
Frühling“, dem sich der französische Sozialist                                     VON RECHTSAU ẞ EN
Benoît Hamon, tschechische Piraten sowie die
slowenische Levica-Partei angeschlossen ­haben.                      Die Linke ist uneinig, die alte wie neue Mit-
    Unterdessen haben die Liberalen mit der Ma-                      te ohne Durchschlagskraft – es ist nicht überra-
cron-Bewegung ein Zentrumsbündnis geschmie-                          schend, dass die radikale Rechte nach Erfolgen

06
Europa wählt APuZ

auf nationaler Ebene nun auch auf europäischer                    Tabelle: Sitzverteilung im EP nach Ländern
Ebene Morgenluft wittert. Derzeit ist sie (noch)
in drei Fraktionen gespalten: Europäische Kon-                     LÄNDER                                 SITZE
servative und Reformer (EKR), Europa der Frei-                     Deutschland                                 96
heit und der direkten Demokratie (EFDD) und                        Frankreich                                  74
Europa der Nationen und der Freiheit (ENF).06
                                                                   Italien                                     73
    Mit 74 Abgeordneten ist die EKR die größ-
te dieser drei Fraktionen. In ihr sind außer den                   Vereinigtes Königreich                      73
britischen Konservativen Abgeordnete der polni-                    Spanien                                     54
schen PiS, rechtsgerichtete Abgeordnete aus Flan-
                                                                   Polen                                       51
dern und Osteuropa sowie die erstarkten skan-
dinavischen Rechtspopulisten vertreten. Deren                      Rumänien                                    32
anhaltender Erfolg ist damit zu erklären, dass sie                 Niederlande                                 26
sich von Steuerrebellen und Kritikern des Wohl-                    Belgien                                     21
fahrtsstaates zu islamfeindlichen Anti-Einwande-
rer-Parteien radikalisiert und ihre Basis vor allem                Griechenland                                21
unter bisherigen Nichtwählern verbreitert haben.                   Portugal                                    21
Die Schwedendemokraten, die Dänische Volks-                        Tschechien                                  21
partei und Die Finnen (vormals „Wahre Finnen“)
                                                                   Ungarn                                      21
haben in nationalen Wahlen allesamt an Einfluss
gewonnen und könnten im Europäischen Parla-                        Schweden                                    20
ment einen „nordischen Pol“ bilden (allerdings                     Österreich                                  18
ohne formelles Bündnis, da ihre Unterschiede zu
                                                                   Bulgarien                                   17
stark sind). Auf der anderen Seite könnte die PiS
mit dem Ausscheiden der Tories einen „Visegrád-                    Dänemark                                    13
(Habsburg-)Pol“ aus ungarischen, tschechischen,                    Finnland                                    13
slowakischen und eventuell österreichischen Ab-                    Slowakei                                    13
geordneten bilden. Die Schwerpunkte des euro-
päischen Liberal-Konservatismus entfernen sich                     Irland                                      11
jedenfalls von der bisher tragenden deutsch-fran-                  Kroatien                                    11
zösischen Achse und den Gründungsländern der                       Litauen                                     11
Römischen Verträge.
                                                                   Lettland                                     8
    Die noch weiter rechts angesiedelten Fraktio-
nen EFDD (42 Abgeordnete) und ENF (34) sind                        Slowenien                                    8
nicht weniger heterogen und instabil. Die EFDD                     Estland                                      6
wird bisher von der britischen United Kingdom
                                                                   Luxemburg                                    6
Independence Party (UKIP, 13) und dem italieni-
schen MoVimento 5 Stelle (M5S, 14) dominiert;                      Malta                                        6
zu ihr gehören auch Einzelabgeordnete wie Jörg                     Zypern                                       6
Meuthen (AfD) oder der ehemalige stellvertreten-                   Gesamt                                 751
de Front-National-Vorsitzende Florian Philippot.
    Die ENF wird angeführt vom Niederländer
Marcel de Graaff, der der Partij voor de Vrijheid
(PVV, 4) nahesteht, sowie von Nicolas Bay vom                     gischen Vlaams Belang (1) sowie einige Überläu-
französischen Rassemblement National (RN, vor-                    fer, darunter Marcus Pretzell aus Deutschland, der
mals Front National, 15). Weiter vertreten sind                   früher der AfD angehörte. Während Marine LePen
die auf erhebliche Zugewinne spekulierenden Ab-                   sich bei der Europawahl im Revanche-Duell gegen
geordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs                  Macron ausrechnet, mit dem RN stärkste Partei in
(FPÖ, 4), der italienischen Lega Nord (4), des bel-               Frankreich zu werden, stellt die Lega Nord mit ih-
                                                                  rem Anführer Matteo Salvini den „starken Mann“
06 Vgl. Nathalie Brack, Opposing Europe in the European Parlia-   in Italiens Regierung und den aggressivsten Ver-
ment: Rebels and Radicals in the Chamber, Basingstoke 2017.       fechter der rechtsradikalen Blockbildung.

                                                                                                                    07
APuZ 4–5/2019

     Die extreme Rechte darf nicht überbewer-                                       WAS TUN?
 tet, sollte aber auch nicht unterschätzt werden.                                REFORMAGENDA
 Ihr Trumpf ist die überall virulent gewordene
 Migrations- und Sicherheitsthematik. Damit hat                  Seit Jahren blickt das politische Establishment
 sie den scheinbaren Gegensatz von „Volk“ und                    auf diese Entwicklung wie das Kaninchen auf
 „Establishment“ zur menschenfeindlichen Un-                     die Schlange. Der völkisch-autoritären Radika-
 terscheidung zwischen Eigenem und Fremdem,                      lisierung, die das Kräfteparallelogramm auch im
 Einheimischen und Einwanderern, Christen und                    Europäischen Parlament nach rechts bewegen
 Muslimen, Freund und Feind radikalisiert.07 Die-                kann, wird eher mit Resignation und Anpassung
 ser völkisch-autoritäre, zum Teil an faschistische              begegnet als mit mutiger diskursiver Auseinan-
 und „konservativ-revolutionäre“ Ideologeme der                  dersetzung. Die Linke, die für eine Europäisie-
 Zwischenkriegszeit anschließende Nationalismus                  rung des Wohlfahrtsstaates, die Regulierung von
 bildet bei allen bleibenden Rivalitäten, inneren                großen Unternehmen und Banken und eine pro-
 Widersprüchen und Eitelkeiten der Nationalisten                 gressive Steuerpolitik eingetreten ist, steht in
 eine gesamteuropäische Bewegung, die sich zum                   Versuchung, in einen „nationalen Sozialismus“
 Aufstand gegen die Erweiterung und Vertiefung                   zurückzufallen (exemplarisch dafür ist Mélen-
 der EU verbunden hat.                                           chons „La France insoumise“) und die Leitidee
     Das heißt aber auch: Ohne „Brüssel“ wären                   offener Grenzen ebenfalls durch die Stärkung
 die Nationalisten nur halb so stark. Diese Chif-                nationalstaatlicher Souveränität abzulösen. Li-
 fre des Unmuts bündelt sämtliche Anlässe von                    berale und Konservative kommen der Neuen
 Unzufriedenheit wie in einem Brennglas: die                     Rechten in der Frage der Einwanderung und der
 Kritik an der Volksferne von Politik und an bü-                 Islamophobie entgegen und stellen wieder die
 rokratischen Auswüchsen, die bereits alte, seit                 christlichen Wurzeln Europas heraus. Ein Bei-
 2015 panisch gewordene Angst vor „unkon­trol­                   spiel hierfür ist die defensive bis defätistische Re-
 lierter Masseneinwanderung“, die Sorge vor Kri-                 aktion mancher Konservativer, als der sogenann-
 minalität und das Gefühl der Perspektivlosigkeit                te UN-Migrationspakt (Global Compact for
 in „abgehängten“ Regionen. Die extreme Rech-                    Safe, Orderly and Regular Migration) kurz vor
 te profitiert von einer generalisierten Misere und              seiner Verabschiedung im Dezember 2018 skan-
 Missstimmung, ohne im Mindesten Abhilfe bie-                    dalisiert und von mehreren EU-Staaten nicht un-
 ten zu können. Die EU, die bei objektiver Be-                   terzeichnet wurde.
 trachtung durchweg für mehr Wohlstand und                            Eine Vertiefung der EU hat namentlich Em-
 Freizügigkeit gesorgt hat, wurde bei denen, die                 manuel Macon in Frankreich couragiert vertre-
 sich vom einen ausgeschlossen und vom ande-                     ten und damit 2017 noch einen beeindrucken-
 ren überfordert fühlen, zum allseits probaten                   den Wahlsieg gegen Marine LePen errungen. Als
­Sündenbock.                                                     Präsident hat er ein ehrgeiziges Reformprojekt
     Die Rechte versammelt auch die „Globalisie-                 vorgelegt; gegen linke wie rechte Souveränis-
 rungsverlierer“, die eigentlich die radikale Linke              ten und Identitäre verteidigte er die offene Ge-
 mobilisieren wollte. Sie fordern – der US-Prä-                  sellschaft im supranationalen Rahmen – die von
 sident Donald Trump mit seinem Dauerwahl-                       ihm erhoffte europäische Kooperation ist be-
 kampf ist hier das Vorbild – die segmentäre Ab-                 kanntlich von Berlin und der Mehrheit der EU-
 schottung gegen die funktionale Arbeitsteilung                  Länder abgeblockt worden. Mit der Rechts-
 der Weltwirtschaft und die globale populäre Kul-                wende in Italien und in Schweden sind auch der
 tur. Die schon seit den 1970er Jahren zunehmen-                 EU-Kommission Partner abhandengekommen,
 de Ungleichheit von Einkommen und Vermögen                      zumal sich auch Berlin in die Phalanx der Mi-
 und die Zunahme prekärer Arbeitsmarktlagen,                     grationsprotektionisten eingereiht hat. Die Eu-
 die im 19. und 20. Jahrhundert in soziale Klassen-              ropäisierung von Macrons Sammlungsbewe-
 kämpfe gemündet wären, werden (wie übrigens                     gung La Républiqe en Marche stagniert und
 in der faschistischen Ära) mit Fremdenfeindlich-                ist durch die „Gelbwesten“-Bewegung unter
 keit ­beantwortet.                                              Druck ­geraten.
                                                                      Die Attacke von rechts sollte jedoch nicht zur
07 Vgl. Claus Leggewie, Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitser-   Erstarrung und zu einer Fixierung auf den Status
klärung, Berlin 2017, S. 20–44.                                  quo führen. Und erst recht sollte man aus Angst

08
Europa wählt APuZ

vor dem Tod nicht Selbstmord begehen, indem            länder“, ein Durchwursteln mit den bewährten
man alle Themen und Projekte vermeidet, die „die       Kräften der linken und rechten Mitte oder doch
Rechte stärken könnten“. Man möge sich bitte da-       einen „gemeinsamen Sprung“ in die europäische
ran erinnern, welche Unwahrscheinlichkeit der su-      Republik.
pranationalen Utopie den Gründungsfiguren der              Zu befürchten steht, dass diese Debatte in
EU um 1950 bescheinigt wurde. Will die EU der          innenpolitischen Winkelzügen untergeht und
Regression widerstehen, gilt es, aktuelle Reform-      vor allem über Social-Media-Kanäle massiv ma-
vorhaben eher noch entschlossener anzugehen und        nipuliert wird. Genau deswegen ist es wichtig,
sie offensiver zu vermitteln als bisher. Vorgeschla-   dass sich eine vernehmbare proeuropäische Öf-
gene beziehungsweise überfällige Vertiefungsziele      fentlichkeit bildet. Zudem bedarf es einer poli-
sind (sozusagen von links nach rechts):                tischen Bildung, die den Horizont nationaler
                                                       Kirchtürme übersteigt. Das überkommene Nar-
  –– eine Sozialunion, die der wachsenden Un-          rativ der europäischen Einigung auf den Trüm-
     gleichheit von Einkommen, Vermögen und            mern des Zweiten Weltkrieges erreicht Jüngere
     Lebenschancen im Inneren der EU und ihrer         nicht mehr, sie benötigen ein „Europa, das uns
     Mitgliedsländer, dem Gefälle zwischen den         schützt“ (Macron), aber mehr noch eines, dass
     Regionen und zugleich der Externalisierung        ihnen sinnvolle Arbeit gibt, sie im Einklang mit
     europäischer Wohlstandskosten in die Län-         der Natur leben lässt und ein selbstbestimmtes
     der des „globalen Südens“ entgegentritt;          Leben ermöglicht. Gleichzeitig sind diese Jünge-
                                                       ren – und sind wir alle – gefordert, in der EU
  –– eine Fiskalunion, die Steuerflucht und -ver-      nicht nur eine selbstverständliche Dienstleis-
     meidung sowie problematische Finanz-              tungsmaschine zu sehen und sie als solche zu
     marktaktivitäten sanktioniert und zum Bei-        nutzen, sondern sich beziehungsweise uns ak-
     spiel mit einer Transaktionssteuer Quellen        tiv für ihren Bestand und Ausbau einzusetzen.
     zur Finanzierung von nachhaltigen Infra-          Es darf nicht passieren, dass sich weiterhin zwei
     strukturen und sozialpolitischen Korrektu-        Drittel der Europäer nicht an Parlamentswahlen
     ren erschließt;                                   beteiligen, bei denen so viel auf dem Spiel steht.
                                                       Aber auch außerparlamentarisch müssen sich die
  –– eine Umweltunion, die auf immer deutli-           proeuropäischen Kräfte rühren. Ohne Druck
     cher werdende Bedrohungen wie den ge-             von unten kann die europäische Demokratie kei-
     fährlichen Klimawandel und das Arten-             ne Fortschritte machen.
     sterben mit einer veritablen Energie- und
     Verkehrswende reagiert;                                            SICH BEWEGEN:
                                                                      EUROPA DER BÜRGER
  –– eine Digitalunion, die der Dominanz des Si-
     licon Valley (und Chinas) mit EU-Regulie-         Dass sich konstruktiver Druck von unten auf-
     rungen im Daten- und Verbraucherschutz            bauen und in Ansätzen in den parlamentari-
     begegnet und die Digitalisierung nicht als        schen Raum übertragen lässt, zeigt sich bereits.
     technische Naturgewalt hinnimmt, sondern          „Europa“ war lange kein Mobilisierungsthema
     menschen- und sozialverträglich gestaltet;        und die EU eher ein Anlass für destruktive Pro-
                                                       test- und Exit-Bewegungen. Tatsächlich bilden
  –– eine Sicherheitsunion, die Terror- und Cy-        Gegner der EU in den meisten Ländern jedoch
     berattacken wirksam abwehren kann und             keine echte Mehrheit in der Bevölkerung,08 Be-
     auf die Erosion der NATO friedenspoli-            fürworter und Indifferente sind nur häufig
     tisch reagiert.                                   stumm geblieben. Dies beginnt sich allmählich

Die politischen Alternativen liegen also auf dem
Tisch, und die anstehenden Europawahlen bieten         08 Im April 2018 gaben 60 Prozent von über 27 000 befragten
                                                       EU-Bürgern an, dass die EU-Mitgliedschaft ihres Landes eine
den besten Anlass für eine breite Debatte darüber,
                                                       gute Sache ist. Vgl. Europäisches Parlament, Pressemittei-
welche Entwicklung beziehungsweise welches             lung zur Eurobarometer-Umfrage 89.2 „Democracy on the
Europa die Bürger bevorzugen: den Rückbau              Move“, 23. 5. 2018, www.europarl.europa.eu/news/de/press-
in Nationalstaaten und das „Europa der Vater-          room/20180430IPR02826.

                                                                                                                09
APuZ 4–5/2019

zu ändern: Offenbar bewegt das rabiate Auf-                           es eine systematische Verstetigung deliberati-
treten von Autokraten, die rasante transatlan-                        ver und konsultativer Bürgerbeteiligungsfo-
tische Entfremdung, das aggressive Auftreten                          ren, die mit ausreichend Ressourcen ausgestattet
Russlands in der Ukraine und im Cyberspace,                           sind und denen Legislative und Exekutive stär-
das Chaos der Brexit-Verhandlungen und das                            ker verpflichtet sind – und die über das zaghaf-
Gespenst einer neuen Ost-West-Spaltung mehr                           te Instrument der Europäischen Bürgerinitiative
Europäer zu einem Bekenntnis zu den in Arti-                          (EBI) deutlich hinausgehen. Mit anderen Wor-
kel 2 des EU-Vertrags niedergelegten Grund-                           ten: Konsultative Beteiligung sollte zur „vierten
werten (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie,                          Gewalt“ werden, von der lokalen bis zur supra-
Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrech-                        nationalen Ebene.10 Dies würde die Legitimation
te) sowie zum Engagement für den Zusammen-                            direkter wie indirekter Abstimmungen und die
halt der Union.                                                       Qualität politischer Entscheidungen erhöhen –
    Am sichtbarsten ist die überparteiliche Stra-                     und damit den erstarkenden Gegnern der EU ein
ßenmobilisierung bisher durch die Bewegung                            wichtiges Argument ­entziehen.
„Pulse of Europe“ (PoE), eine in Frankfurt am                             Die Wahlen zum Europäischen Parlament
Main gegründete Privatinitiative, die seit 2015                       verdienen eine hohe Wahlbeteiligung und eine
in vielen Städten und Gemeinden Tausende von                          seriöse Debatte. Im Wahlkampf kann sich eine
Menschen unter EU-Fahnen und zum Klang                                transnationale Öffentlichkeit Problemen und
der Europa-Hymne versammelt hat. Mitte 2018                           Chancen widmen, die die europäische Gesell-
startete PoE eine Kampagne zur Bildung von                            schaft als Ganze tangieren und die allein national-
„Hausparlamenten“: Bei diesen sind Bürgerin-                          staatlich nicht mehr gelöst und bearbeitet werden
nen und Bürger aufgefordert, als Gastgeber drei                       können. Alternative Programme der Vertiefung
bis sieben Personen aus ihrem privaten Umfeld                         wie des Rückbaus liegen vor, die Fronten sind
zu einer zweistündigen Europa-Debatte einzula-                        klar. Vor allem aber gilt es, die Risiken eines neu-
den und konkrete europapolitische Forderungen                         en Ethnonationalismus zu erkennen, der die alte
an ausgewählte Entscheidungsträger zu formu-                          Welt zweimal in die Katastrophe geführt hat und
lieren. PoE stellt Gesprächsleitfaden und Ab-                        heute vor allem auf Kosten der Jüngeren gehen
stimmungsunterlagen zur Verfügung und leitet                          wird. Deshalb muss die EU vor allem den nach
die Forderungen gesammelt an ausgewählte Ent-                         1990 geborenen Generationen eine zeitgemäße
scheidungsträger. In einem „Entscheidungspakt“                        Erzählung bieten und sie davon überzeugen, dass
verpflichten sich die angesprochenen Berufspoli-                      grenzüberschreitende Probleme mit einer weltof-
tiker, künftige Vorlagen und Entscheidungen im                        fenen Haltung und im supranationalen Rahmen
Licht der Ergebnisse den Hausparlamentariern                          besser zu lösen sind als mit dem Rückzug in die
zu begründen.09                                                       Wagenburg. Die Europawahl ist keine Neben-
    Kampagnen wie diese können dazu beitra-                           wahl. Sie ist Hauptsache.
gen, die europäische Demokratie voranzubrin-
gen, doch macht eine außerparlamentarische Be-
wegung noch keinen europäischen Frühling. Es
bedarf weiterer solcher Initiativen und zahlrei-
cher Europäerinnen und Europäer, die sich aktiv
und offensiv für die Demokratie in der EU ein-
setzen. Und da die konventionelle Beteiligung
der repräsentativen Demokratie auf suprana-
tionaler Ebene schwach entwickelt ist, braucht

09 Dazu jetzt Franziska Schader, Pulse of Europe. Analyse und
Einordnung einer politischen Bewegung, Masterarbeit FU Berlin         CLAUS LEGGEWIE
2018.                                                                 ist Professor für Politikwissenschaft und Inhaber der
10 Vgl. Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr
                                                                      Ludwig Börne-Professur am Zentrum für Medien
Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016; Carmen Gers-
tenmeyer/Julian Plottka, Die aktuelle Reform als letzte Chance zur
                                                                      und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität
Rettung der Europäischen Bürgerinitiative?, in: Integration 1/2018,   Gießen.
S. 26–48.                                                             claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de

10
Europa wählt APuZ

        DIE EUROPAWAHLEN 2019 UND
      DAS EUROPÄISCHE PARTEIENSYSTEM
                             Nicolai von Ondarza · Felix Schenuit

Im Vorfeld der Europawahlen 2019 kristallisiert        terschiedliche nationale Parteien zur Wahl ste-
sich deren große Bedeutung immer deutlicher he-        hen. Parteien auf EU-Ebene sind auch weiterhin
raus. Ein fundamentaler Wandel im europäischen         nicht direkt mit nationalen Parteien vergleichbar.
Parteiensystem lässt sie zur Richtungswahl über        Zwar erkennt der EU-Vertrag Parteien auf euro-
die Zukunft der EU werden. Die bisher etablier-        päischer Ebene an, die „zur Herausbildung eines
ten Parteien verloren in den vergangenen Jahren        europäischen politischen Bewusstseins und zum
in nahezu allen Mitgliedstaaten deutlich an Zu-        Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bür-
stimmung, rechtspopulistische und EU-skepti-           ger der EU“ (Artikel 10 EU-Vertrag) beitragen.
sche Kräfte hingegen haben europaweit an Ein-          Anders als nationale Parteien gibt es auf europä-
fluss gewonnen. Die nach der Europawahlwahl            ischer Ebene aber fast ausschließlich Dachorga-
2014 in drei Fraktionen noch stark zersplitterten      nisationen der jeweiligen nationalen Parteien, die
EU-skeptischen Kräfte verfolgen mittlerweile das       keine oder nur sehr wenige individuelle Bürge-
Ziel, ab 2019 eine Sammelfraktion zu bilden. Zwar      rinnen und Bürger als Mitglieder haben. In der
sind diese Parteien selbst am stärksten vom Bre-       Folge sind europäische Parteien sehr viel losere
xit betroffen und ein deutlicher Anstieg der EU-       Bündnisse, die weniger programmatische Arbeit
skeptischen Abgeordneten ist nicht zu erwarten.        und auch nur begrenzt gemeinsame Wahlkämpfe
Eine zunehmende Harmonisierung des EU-skep-            machen. Sichtbar sind sie vor allem durch die Ar-
tischen Spektrums könnte aber mittel- bis lang-        beit ihrer Parlamentsfraktionen. Im politischen
fristig deutliche Veränderungen im politischen         System der EU erfüllen sie dennoch vier wichtige
Gefüge der EU nach sich ziehen. Hinzukommen            Funktionen:
Umwälzungen in den bisher etablierten Parteien,            Erstens sind die europäischen Parteien ein
etwa weil bei den europäischen Sozialdemokra-          wichtiges Forum für die transnationale Koordi-
ten einzelne nationale Parteien (fast) ganz von der    nation der Staats- und Regierungschefs und na-
Bildfläche verschwinden oder Emmanuel Macrons          tionaler Parteien. Diesem Interessensausgleich
La République en Marche! (LREM) einen neuen            könnte – insbesondere bei knapperen Mehrheiten
Gravitationspol im liberalen Spektrum bildet.          im Rat und Parlament – als Integrationsfaktor zu-
    Zusammengenommen haben diese Verände-              künftig eine wichtigere Rolle zukommen.
rungen das Potenzial, den bisherigen Charakter             Zweitens sind sie im Rahmen ihrer jeweili-
und die Arbeitsweisen des Europäischen Parla-          gen EP-Fraktion schon jetzt Hauptakteure bei
ments (EP), die einzig direkt demokratisch ge-         der Mehrheitsbeschaffung im Parlament. Weil es
wählte Institution auf EU-Ebene, deutlich zu           keine festen Koalitionen wie im Deutschen Bun-
verändern. Sollten die EU-skeptischen Parteien         destag gibt, müssen Mehrheiten immer im Ein-
eine gemeinsame große Fraktion bilden können,          zelfall gefunden werden. Trotz ihres Charakters
könnte dies langfristig sogar ein erster Schritt hin   als Dachverbände ist es dabei vor allem den gro-
zu einer Neuausrichtung des europäischen Inte­         ßen Parteien mit wenigen Ausnahmen gelungen,
gra­tions­projektes insgesamt sein.                    Fraktionsdisziplin im EP herzustellen.
                                                           Insbesondere die vergangene Wahl 2014 hat
        EUROPÄISCHE PARTEIEN VOR                       gezeigt, dass die Parteien drittens auch für die Be-
         UND NACH DEN WAHLEN                           setzung von EU-Spitzenpositionen immer wich-
                                                       tiger werden. Der Bedeutungsgewinn ergibt sich
Im Mai 2019 werden in den 27 Mitgliedstaa-             vor allem aus der Stärkung des EP durch den Ver-
ten nach wie vor nicht europäische, sondern un-        trag von Lissabon, aus dem sich unter anderem

                                                                                                        11
APuZ 4–5/2019

das 2014 zum ersten Mal angewandte Prinzip der                      Abbildung 1: Sitzverteilung im Europäischen
Spitzenkandidaten ableitet. Auch die Besetzung                      Parlament nach dem Brexit
der Posten des Ratspräsidenten und der Hohen
Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheits-
                                                                                                                       Neuverteilung
politik wurde bislang über den Parteienproporz                                                                         auf bisher
geregelt.                                                                                                              unterrepräsen-
    Viertens bieten europäische Parteien und ge-                                                                       tierte Länder
meinsame Fraktionen im EP zusätzliche Ressour-                                     Derzeit 751                 27         73 Sitze
cen und Legitimation für nationale Parteien und                                      Sitze im                             Groß-
ihre Politikerinnen und Politiker. Paradoxerweise                                 Europäischen                 46         britanniens
profitierten gerade die EU-skeptischen Parteien                                     Parlament
von den finanziellen Mitteln des EP und der dort                                                                       Verfügbar für
                                                                                Davon 678 Sitze                        Verkleinerung,
gebotenen Bühne. Nigel Farage beispielswei-                                                                            EU-Wahlkreis
se, damaliger Vorsitzender der United Kingdom                                     der EU-27                            oder Erweite-
Independence Party (UKIP), erregte mit seinen                                                                          rungen
Auftritten im EP immer wieder großes Aufsehen
und nutzte die Bühne, um seine Brexit-Agenda                        Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2018.
sowohl auf EU-Ebene als auch in Großbritan-
nien selbst zu forcieren. Auch wenn sich viele
EU-skeptische Parteien von den Austrittsforde-                      Tabelle: Sitzverluste der EP-Fraktionen nach dem
rungen ihres jeweiligen Landes à la UKIP verab-                     Brexit gemäß Wahlperiode 2014–2019
schiedet haben, wird das EP auch nach der Wahl                       FRAKTION               BISHERIGE           VERLUSTE
2019 eine wichtige Bühne und Ressourcenquelle                                                  SITZE            DURCH BREXIT
für die Kritiker der EU-Integration bleiben.
                                                                     EVP                         218                      –2
                   AUSWIRKUNGEN                                      S&D                         187                     –20
                     DES BREXITS
                                                                     EKR                          74                     –19
Voraussichtlich nur acht Wochen vor den Eu-
                                                                     ALDE                         68                      –1
ropawahlen wird das Vereinigte Königreich den
historischen Schritt vollziehen, aus der EU aus-                     GRÜNE                        52                      –6
zutreten und dem EU-Integrationsprozess da-
                                                                     GUE/NGL                      52                      –1
mit den Rücken kehren. Für die Wahlen zum EP
bedeutet das zunächst, dass das Parlament nach                       EFDD                         43                     –19
den Wahlen zum ersten Mal weniger Abgeordne-
te umfassen wird als zuvor, nämlich nur noch 705.                    ENF                          34                      –1
Nicht ausgeschlossen werden konnte zur Zeit des                      Fraktionslos                 23                      –4
Redaktionsschlusses jedoch, dass die Brexit-Ver-
                                                                    Quelle: Europäisches Parlament, eigene Berechnungen.
handlungen noch einmal jenseits der Europawah-
len verlängert werden – dann müssten auch in
Großbritannien Wahlen stattfinden, und das EP
bliebe vorerst bei der bisherigen Größe von 751                     ische Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten
Abgeordneten.                                                       (S&D) – stellt sich die EVP als klare Gewinnerin
    Ein wichtiger Effekt des Brexits betrifft die                   der Folgen des Brexits heraus: Seitdem die briti-
im EP vertretenen Fraktionen (Tabelle).01 Un-                       schen Konservativen 2009 zur Fraktion der Eu-
ter den beiden großen Fraktionen – Europä-                          ropäischen Konservativen und Reformer (EKR)
                                                                    wechselten, hatte die EVP, der auch die deutschen
                                                                    CDU/CSU-Abgeordneten angehören, keinen
01 Siehe dazu Nicolai von Ondarza/Felix Schenuit, Die Reform
                                                                    Kooperationspartner mehr in London. Dadurch
des Europäischen Parlaments. Nach dem Brexit werden die Sitze
neu verteilt – doch bleibt es (vorerst) bei einer kleinen Lösung,
                                                                    steht sie nun – basierend auf der bisherigen Sitz-
Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 11/2018, www.swp-    verteilung – als relative Gewinnerin da. Denn die
berlin.org/publikation/reform-des-eu-parlaments-nach-dem-brexit.    S&D verliert mit den 20 britischen Abgeordneten

12
Europa wählt APuZ

der Labour Party eine der momentan europaweit        ne Führungsfigur. Zwar gerät Macron mit seiner
stärksten sozialdemokratischen Parteien. Die Al-     Bewegung LREM in Frankreich zunehmend un-
lianz der Liberalen und Demokraten für Europa        ter Druck, dürfte aber dennoch eine substanzielle
(ALDE), die Fraktion der Grünen/Freie Euro-          Anzahl an Abgeordneten stellen und als Partner
päische Allianz (Grüne/EFA) sowie die Konfö-         für andere proeuropäische Kräfte beziehungs-
derale Fraktion der Vereinigten Europäischen         weise neue Parteien der Mitte interessant sein. Bis
Linken/Nordische Grüne Liste (GUE/NGL)               dato hat sich LREM keiner der EU-Parteien an-
verlieren im Vergleich dazu deutlich weniger.        geschlossen, aber ein Bündnis mit der liberalen
    Für die Mehrheitsverhältnisse im EP hat das      ALDE angekündigt, einschließlich der Perspek-
entscheidende Folgen: Zusätzlich zu einer ohne-      tive, im kommenden EP eine gemeinsame Frak-
hin geschwächten Sozialdemokratie, die in gro-       tion zu bilden. Gelingt dies, hat die erweiterte
ßen Mitgliedstaaten wie Italien, Deutschland und     ALDE-Fraktion durchaus das Potenzial, nicht
Frankreich deutlich an Unterstützung verloren        nur zur drittgrößten Fraktion zu werden, son-
hat, wird auch der Brexit noch dazu beitragen,       dern als „Königsmacherin“ gemeinsam mit EVP
dass die EVP mit hoher Wahrscheinlichkeit die        und S&D eine Mehrheit zu stellen und damit Po-
größte Fraktion im zukünftigen EP stellen wird.      litikinhalte und Besetzung von Spitzenposten
Dies trägt auch zu einer parteiinternen Gewichts-    mitzubestimmen.
verschiebung bei. Traditionell bestand der Kern
der europäischen Sozialdemokraten aus den Ab-                      VERLUSTGESCHÄFT
geordneten aus Deutschland (SPD), Frankreich                        FÜR EU-KRITIKER
(PS) und Großbritannien (Labour). Labour fällt
durch den Brexit voraussichtlich weg, während die    Noch weitreichender sind die durch den Bre-
SPD und noch stärker die PS erhebliche Einbußen      xit angestoßenen Veränderungen und erwarte-
befürchten müssen. Im Gegensatz dazu könnten         ten Wahlveränderungen für das EU-skeptische
spanische und rumänische Sozialdemokraten zu         Lager im EP. Zuletzt waren etwa 20 Prozent der
den größten Gruppen in der Partei werden.            Abgeordneten diesem Lager zuzurechnen. Eine
    Durch diese EP-internen Veränderungen der        gemeinsame Fraktion konnten sie in der ver-
Kräfteverhältnisse ist damit schon vor der Wahl      gangenen Wahlperiode jedoch nicht bilden. Die
klar, dass der von der EVP gekürte Spitzenkan-       Differenzen zwischen den Parteien waren so
didat Manfred Weber beste Chancen hat, neuer         groß, dass sie sich auf drei Fraktionen und die
Präsident der Europäischen Kommission zu wer-        Gruppe der fraktionslosen Abgeordneten aufteil-
den. Damit gestaltet sich die Situation anders als   ten. In dieser Ausgangslage sorgte der frühere Be-
im Jahr 2014, als der Wettstreit vor den Wahlen      rater des US-Präsidenten Donald Trump, Stephen
als offen galt, und sich der damalige S&D-Spit-      Bannon, im Sommer 2018 für mediale Aufmerk-
zenkandidat Martin Schulz begründete Hoffnun-        samkeit, als er ankündigte, rechtspopulistische
gen auf einen Wahlsieg machen konnte. Vor al-        Bewegungen in Europa zu unterstützen.
lem aber dürfte eine Zusammenarbeit von EVP              Er verfolgt dabei das Ziel, im Rahmen der Eu-
und S&D 2019 allein nicht mehr ausreichen, um        ropawahlen eine große rechtspopulistische Frak-
den Kommissionspräsidenten zu wählen – denn          tion mit bis zu einem Drittel der Abgeordneten
übergreifend erwarten alle Umfragen, dass die        zu bilden. Zwar erregte Bannon mit seinem Vor-
beiden bislang größten Fraktionen 2019 erstmals      stoß große Aufmerksamkeit in Brüssel und den
in der Geschichte der EU ihre gemeinsame abso-       europäischen Hauptstädten – er schließt sich da-
lute Mehrheit im Parlament verlieren. Auch mit       mit aber nur einem ohnehin schon bestehenden
der EVP als voraussichtlich größte Fraktion im       politischen Projekt an: der französische Front
Rücken muss Weber noch den Europäischen Rat          National, die niederländische PVV (Partij voor
überzeugen, ihn zu nominieren, und eine Mehr-        de Vrijheid), der belgische Vlaams Belang (VB),
heit im EP zusammenstellen.                          die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und
    Umso wichtiger für die zukünftigen Macht-        die italienische Lega Nord hatten schon vor den
verhältnisse im EP und der EU insgesamt wer-         Europawahlen 2014 eine rechtspopulistische Zu-
den daher die Verschiebungen im liberalen Lager.     sammenarbeit vereinbart. Nachdem diese bei
Mit dem französischen Präsident Macron haben         der Wahl dann schlechter als erwartet abschnit-
proeuropäische, liberale Kräfte eine umstritte-      ten, bildeten sie im Jahr darauf die Fraktion Eu-

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APuZ 4–5/2019

ropa der Nationen und der Freiheit (ENF). Mit        sche PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Ge-
der AfD könnten diese vier in ihren nationalen       rechtigkeit) als einzige große Mitgliedspartei üb-
politischen System fest verankerten politischen      rig geblieben ist.
Kräfte nun noch eine Partei hinzugewinnen, die           Noch deutlich größer sind die Fragezei-
in einem für die europäische Integration zentra-     chen über der Fraktion Europa der Freiheit
len Mitgliedstaat die Ausrichtung des europäi-       und der direkten Demokratie (EFDD), mit
schen Integrationsprojektes grundlegend verän-       43 Abgeordneten die zweitkleinste Gruppe im
dern möchte.                                         EP. Sie wurde erst nach den Wahlen 2014 gebil-
    Dass die Koordination und Kooperation die-       det und hat kein gemeinsames Wahlprogramm.
ser Parteien weiterhin andauert und intensiviert     Von Beginn an war sie ein bloßes Zweckbünd-
wurde, zeigte beispielsweise ein Treffen der Par-    nis vor allem der UKIP und der italienischen
teispitzen 2017 in Koblenz. Mit dem Ziel, sich ge-   Fünf-Sterne-Bewegung. Der kleinste gemeinsa-
genseitig in den laufenden Wahlkämpfen zu un-        me Nenner bestand in der populistischen, EU-
terstützen und einen Politikwechsel in Europa        kritischen Grundhaltung und im Interesse an
zu forcieren, können diese Treffen als erste An-     den Ressourcen einer Fraktion. Mit dem Brexit
näherungsversuche auf Führungsebene der eu-          Ende März 2019 werden die 19 britischen Abge-
ropäischen EU-Skeptiker gesehen werden. Der          ordneten wegfallen, im Herbst 2018 sind gleich
Anspruch ist dabei zunehmend klar formuliert:        mehrere frühere Parteivorsitzende – einschließ-
Matteo Salvini, italienischer Innenminister und      lich Nigel Farage – aus der UKIP ausgetreten.
Parteichef der Lega Nord, will etwa ein „euro-       Damit könnten die beteiligten Parteien schon
päisches Bündnis“ schaffen, in dem sich alle EU-     vor den Europawahlen 2019 keinen Fraktions-
skeptischen, nationalkonservativen und rechtspo-     status mehr beanspruchen, weil ein notwen-
pulistischen Bewegungen Europas geeint für die       diges Kriterium, nämlich mindestens 25 Ab-
Schließung der EU-Grenzen und gegen das eu-          geordnete, nicht mehr erfüllt wäre. Ohnehin
ropäische Integrationsprojekt einsetzen. Es ist      agiert die zweite Säule der EFDD, die 14 Ab-
eine Kampfansage an die bestehende Ordnung in        geordneten der Fünf Sterne, mehr wie eine ei-
der Union.                                           genständige Fraktion denn als Teil der EFDD,
                                                     spätestens seit sie 2017 versuchten, sich der Al-
         EU-SKEPTISCHE FRAKTIONEN                    lianz der Liberalen und Demokraten für Europa
             UND ABGEORDNETE                         (ALDE) anzuschließen. In Italien hat die Par-
                                                     tei ihre EU-kritische Haltung zumindest rhe-
Von den drei Fraktionen, auf die sich die EU-        torisch abgeschwächt. Die kleineren Parteien in
skeptischen Parteien bisher aufteilen, sind zwei     der EFDD dürften sich daher spätestens nach
maßgeblich durch britische Abgeordnete geprägt.      den Europawahlen neu o    ­ rientieren.
Die größte dieser drei ist die Fraktion der Euro-        Die Fraktion Europa der Nationen und
päischen Konservativen und Reformer (EKR).           der Freiheit (ENF) hat 34 Abgeordnete, davon
Derzeit vereint sie 74 Abgeordnete aus 19 EU-        knapp die Hälfte aus der französischen Nationa-
Staaten. Neben der wirtschaftsliberalen Ausrich-     len Sammlungsbewegung (Rassemblement Nati-
tung folgte die EKR ursprünglich einem moderat       onal, früher Front National). Sie ist die kleinste
EU-skeptischen Leitbild. Demnach unterstützte        und jüngste Fraktion im EP. Ihre Mitgliedspar-
sie zwar mehrheitlich den Verbleib ihrer Länder      teien lehnen die EU insgesamt strikt ab und teilen
in der EU, forderte aber eine Rückbesinnung auf      rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen.
den Binnenmarkt und intergouvernementale Ent-        Als einzige der drei Fraktionen im EU-kritischen
scheidungsverfahren. Spätestens seit 2016 jedoch     Spektrum ist die ENF nicht direkt vom Brexit
setzten sich die britischen Konservativen, die       betroffen. Mehrere Vertreterinnen und Vertreter
die EKR dominierten, für den Brexit ein. Paral-      der Parteien in dieser Fraktion wollen die ENF
lel dazu nahm die Fraktion Abgeordnete auf, die      nach den Europawahlen zu einer Sammlungsbe-
eine härtere EU-skeptische Linie vertraten. Dazu     wegung EU-kritischer Parteien aufbauen.
zählen die Schwedendemokraten, die ein EU-               Schließlich sitzen im EP noch 23 fraktionslo-
Austrittsreferendum befürworten. Der Brexit          se Abgeordnete, von denen die meisten dem EU-
gefährdet jedoch die Zukunft der EKR, da nach        skeptischen Spektrum zuzuordnen sind. Hierzu
Wegfall der britischen Konservativen die polni-      gehören Mitglieder der deutschen NPD und der

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Europa wählt APuZ

ungarischen Jobbik, die aufgrund ihrer extremen        mauerte er während eines Treffens mit Salvini, bei
Positionen bisher auch in anderen EU-skepti-           dem sie sich gegenseitig die Zugehörigkeit zum
schen Fraktionen keinen Anschluss gefunden ha-         selben ideologischen Lager versicherten und eine
ben. Offen ist auch die Zukunft der AfD im EP,         gemeinsame „Antimigrationsfront“ ankündigten.
die angesichts ihrer Umfragewerte auf eine zwei-           Dass diese Konfliktlinie sowohl vor als auch
stellige Anzahl an Abgeordneten hoffen kann.           nach den Europawahlen im Mai relevant ist, zeigt
2014 war die AfD mit sieben Abgeordneten noch          auch ihre explizite Thematisierung im (Vor-)
als Teil der moderateren EKR gestartet. Nach           Wahlkampf von politischen Konkurrenten der
mehreren parteiinternen Spaltungen ist formell         EVP. So attackierte etwa Macron die EVP und be-
nur noch ein AfD-Mitglied im EP vertreten, in          tonte, eine europäische Partei könne nicht gleich-
der EFDD-Fraktion. Im Vorlauf der Wahl wird            zeitig das politische Zuhause von Angela Merkel
parteiintern ein Anschluss an die ENF diskutiert.      und Viktor Orbán sein. Auch ohne Orbáns Fi-
                                                       desz würde die EVP voraussichtlich immer noch
                  WAS MACHT                            größte Fraktion im EP bleiben, aber der symboli-
                   ORBÁN?                              sche Schaden wäre immens.

Die Pläne für eine EU-skeptische Sammelfrak-                                ERWARTBARE
tion im EP reichen bis in die EVP hinein. Un-                             VERÄNDERUNGEN
ter anderem Matteo Salvini, bis März 2018 selbst
EP-Abgeordneter in der ENF-Fraktion, hat den           Die Erfolgsaussichten der einzelnen Parteien bei
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán           den Europawahlen lassen sich mit demoskopi-
eingeladen, sich einer EU-skeptischen Sammel-          schen Mitteln bislang nur ungenau einschätzen.
fraktion anzuschließen; die AfD bezeichnet ihn         Erste Prognosen zeigen jedoch, dass die EU-kri-
als „natürlichen Verbündeten“. Orbáns Partei Fi-       tischen Fraktionen ENF und EFDD im Kontrast
desz ist seit dem Beitritt Ungarns Teil der EVP,       zu fast allen anderen Fraktionen an Sitzen hinzu-
die sich selbst als proeuropäische Partei definiert,   gewinnen könnten.02 Außer diesen beiden kann
die für Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokra-        nur die ALDE mit einem Zuwachs rechnen. Die
tie und Stärkung der Zivilgesellschaft steht. Die      hier vorgestellten Ergebnisse bieten kaum mehr
politische Ausrichtung der Fidesz in den vergan-       als eine erste vorsichtige Orientierung. Dennoch
genen Jahren würde einen Wechsel in das EU-            bestätigen diese Daten zunächst die Vermutung,
skeptische Lager durchaus nahelegen. Zuletzt           dass die informelle „große Koalition“ zwischen
verfolgte die ungarische Regierung das Ziel einer      EVP und S&D zum ersten Mal seit 1979 – den
„illiberalen Demokratie“ immer nachdrücklicher         ersten Direktwahlen zum EP – keine Mehrheit
und schränkte Pressefreiheit ebenso wie Tätigkei-      erreichen könnte. Zusammen mit einer Reihe
ten ausländischer Nichtregierungsorganisationen        weiterer Neuerungen könnte diese Veränderung
ein. Außerdem kritisiert Orbán die EU fortlau-         dazu führen, dass sich die Prozesse der Mehr-
fend für zu tiefe Eingriffe in die nationale Souve-    heitsfindung im EP schwieriger gestalten – insbe-
ränität. Darüber hinaus gibt es deutliche Schnitt-     sondere im Hinblick auf Vorschläge vertiefter eu-
mengen im Bereich der Migrationspolitik, in der        ropäischer Integration, für die das Parlament als
er mit den EU-skeptischen, rechtspopulistischen        „Motor der Integration“ traditionell bekannt ist.
Parteien das Ziel einer zunehmenden Abschot-               In der Abbildung 2 bildet Szenario A den
tung der EU teilt.                                     „Status quo“ der Fraktionszugehörigkeiten aus
     Noch bis 2018 setzte die EVP-Führung auf          der Wahlperiode 2014–2019 ab und bietet da-
Dialog und lehnte ein Rechtsstaatsverfahren nach
Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn ab. Im          02 Prognosen zu Europawahlen sind aufgrund ihres besonderen
September 2018 stimmte jedoch auch die Mehr-           Charakters noch schwerer zu erstellen als für nationale Wahlen. So
heit der EVP-Abgeordneten für die Einleitung           gibt es in den wenigsten EU-Mitgliedstaaten dezidierte Umfragen zu
eines solchen Verfahrens. Trotz anderslautender        den Europawahlen; Umfragen zu nationalen Wahlen bilden aber die
                                                       Wahlabsichten für die EP-Wahlen nur ungenau ab. Auch die Wahlbe-
Gerüchte blieb Fidesz auch nach der Abstim-
                                                       teiligung unterscheidet sich erfahrungsgemäß deutlich. Daher sind
mung Teil der EVP. Gleichwohl kokettierte Or-          diese Szenarien nur als Richtungsindikator zu sehen. Vergleichbare
bán anschließend mit einem Zusammenschluss             Prognosen zur Sitzverteilung werden unter anderem von „Politico
nationalkonservativer Kräfte. Diese Idee unter-        Europe“ veröffentlicht: www.politico.eu/2019-european-​elections.

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