AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Europa wählt - Bundeszentrale für politische Bildung
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69. Jahrgang, 4–5/2019, 21. Januar 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Europa wählt Claus Leggewie Bernd Schlipphak · Oliver Treib NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE! LEGITIMIERT EINGREIFEN. EUROPA VOR EINER DAS INTERVENTIONSPARADOX RICHTUNGSENTSCHEIDUNG DER EU UND WIE MAN ES VERMEIDEN KÖNNTE Nicolai von Ondarza · Felix Schenuit DIE EUROPAWAHLEN 2019 Jan Georg Plavec UND DAS EUROPÄISCHE GEMÜTLICHE BLASE? PARTEIENSYSTEM ZUR BRÜSSELER KOMMUNIKATIONSKULTUR Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ZUKUNFTSDEBATTEN IN DER EU ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Europa wählt APuZ 4–5/2019 CLAUS LEGGEWIE BERND SCHLIPPHAK · OLIVER TREIB NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE! LEGITIMIERT EINGREIFEN. EUROPA VOR EINER DAS INTERVENTIONSPARADOX DER EU RICHTUNGSENTSCHEIDUNG UND WIE MAN ES VERMEIDEN KÖNNTE Die Europawahlen bieten den besten Anlass EU-Interventionen gegen den Abbau von für eine breite Debatte darüber, welchen Weg Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten Europa einschlagen soll: Rückbau in Natio- führen meist zu einer Stärkung der betreffenden nalstaaten, Durchwursteln mit den bewährten Regierungen, da diese die Maßnahmen häufig als Kräften der Mitte oder doch ein „gemeinsamer illegitime Einmischung darstellen. Doch dieses Sprung“ in die europäische Republik. Paradox ließe sich vermeiden. Seite 04–10 Seite 26–31 NICOLAI VON ONDARZA · FELIX SCHENUIT JAN GEORG PLAVEC DIE EUROPAWAHLEN 2019 UND GEMÜTLICHE BLASE? DAS EUROPÄISCHE PARTEIENSYSTEM ZUR BRÜSSELER KOMMUNIKATIONSKULTUR Sollte es den EU-skeptischen Parteien gelingen, Eine Befragung von Politikern und Journalisten eine große Fraktion im Europaparlament zu in Brüssel zeigt, dass beide Gruppen zu einer bilden, könnte dies zu einer Neuausrichtung spezifischen europäischen Kommunikations- des Integrationsprojektes insgesamt führen. kultur beitragen. Sie bewegen sich dabei in Wahrscheinlich ist das nicht: Durch den Brexit einem Spannungsverhältnis zu ihren jeweiligen verlieren gerade diese Parteien viele Sitze. nationalen Bezugsöffentlichkeiten. Seite 11–18 Seite 32–38 GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET ZUKUNFTSDEBATTEN IN DER EU Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU reichen von visionären Entwürfen bis hin zu kleinteiligen Reformvorschlägen. Beides ist notwendig, um die „Polykrise“ der vergangenen Jahre zu überwinden und neue Horizonte für das europäische Integrationsprojekt zu eröffnen. Seite 19–25
EDITORIAL Vom 23. bis 26. Mai 2019 wird das neue Europäische Parlament gewählt. Die diesjährige Wahl steht unter besonderen Vorzeichen: Nach Lage der Dinge wird die EU dann nur noch aus 27 Mitgliedstaaten bestehen, weil das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland acht Wochen vorher, am 29. März, den „Brexit“ vollziehen, also aus der EU austreten wird. Erstmals verlässt ein Mitglied die Union; ohne die Stimmen der bisher 73 britischen Abgeordneten wird das Parlament ein anderes sein. Statt 751 wird es künftig nur noch 705 Sitze haben, auch auf das Stimmgewicht der einzelnen Fraktionen wird sich der Abschied der Briten auswirken. Zudem besteht die realistische Aussicht, dass sich die jüngeren Wahlerfolge EU-skeptischer und rechtspopulistischer Parteien auf europäischer Ebene fortsetzen. Sollte es diesen Parteien außerdem gelingen, nach der Wahl eine gemeinsame, große Fraktion zu bilden – bisher sind sie in mehrere zersplittert –, könnte dies die Agenda des Parlaments deutlich verändern und den langjähri- gen Kurs der vertieften europäischen Integration und Zusammenarbeit infrage stellen. Doch haben auch diejenigen, die sich für ein liberales, vereintes und politisch zunehmend integriertes Europa einsetzen, in den vergangenen zwei Jahren verstärkt mobilisiert. Trotz erwarteter Einbußen dürften die Verfechter der europäischen Idee weiterhin die Mehrheit im Parlament stellen. In der derzeitigen, angespannten Situation liegt gerade auch für sie eine Chance: Die europapolitische Diskussion verbreitert und intensiviert sich zuse- hends, und die Dringlichkeit von mutigen Reformschritten leuchtet angesichts des internationalen Umfelds unmittelbar ein. Welchen Weg die Europäische Union in den nächsten Jahren einschlägt, liegt zunächst jedoch ganz wesentlich in der Hand der rund 400 Millionen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 4–5/2019 ESSAY NEBENWAHLEN? HAUPTSACHE! Europa vor einer Richtungsentscheidung Claus Leggewie Das Europäische Parlament, 1979 zum ersten Mal von den insgesamt 751 Sitzen mit dem Brexit frei direkt gewählt und seither auf dem gewundenen werden, sollen 27 auf Länder verteilt werden, de- Weg zum „Vollparlament“, erscheint vielen Eu- ren Bevölkerung zugenommen hat, 46 Sitze blei- ropäerinnen und Europäern bedeutungslos. Ent- ben für potenzielle EU-Neumitglieder reserviert. sprechend gelten Europawahlen als „Nebenwah- Der weiter gehende Vorschlag des französischen len“, die Wahlbeteiligung lag 2014 bei historisch Staatspräsidenten Emmanuel Macron, sie für niedrigen 42,6 Prozent.01 Auch die Parteien ha- transnationale Listen zu verwenden, wurde nicht ben nicht immer ihre besten Köpfe nach Brüssel aufgegriffen. Er hätte zum Einzug von Abgeord- und Straßburg geschickt. „Hast du einen Opa, neten mit einer originär europäischen Agenda ins schick ihn nach Europa“, lautete der respektlo- Parlament führen können – eigentlich eine logi- se Abschiedsgruß an daheim nicht mehr benö- sche Konsequenz der Ausrufung von Spitzen- tigte oder erwünschte Politiker. Zugleich waren kandidaten und der entsprechenden Bestellung „Brüssel“ und „Straßburg“ immer ein Experi- des EU-Kommissionspräsidenten. mentierfeld für Wähler und Abgeordnete. Er- Gescheitert ist die Idee am Widerstand der muntert durch fehlende oder niedrige Sperrklau- mit 218 Sitzen größten Fraktion im Europäi- seln trauen sich Erstere, ihr Kreuz versuchsweise schen Parlament, der Europäischen Volkspartei an anderer Stelle zu machen; Letztere gehen un- (EVP), deren Abgeordneter Elmar Brok (CDU) konventionelle Allianzen ein und legen korpora- darin einen Angriff auf den Föderalismus sah: tives Selbstbewusstsein gegenüber Kommission „Ich möchte nicht auf einer Liste von Helsinki und Rat an den Tag, aber auch gegenüber ihren bis Lissabon gewählt werden, wo kein Bürger Herkunftsländern und Nationalstaaten generell. mich als sein Ansprechpartner sieht. Ich möch- So übernahm das Europäische Parlament eine te als Abgeordneter zuhause in Ostwestfalen- transnationale Vorreiterrolle. Lippe gewählt werden, Legitimation entsteht Ende Mai 2019 sind rund 400 Millionen Euro- durch Bürgernähe und nicht durch Ferne.“03 päer, denen etwa das deutsche Bundesverfassungs- Dies hätte freilich für das Gros der EU-Ab- gericht die Qualität eines Staatsvolkes nicht zu- geordneten weiter gegolten. Dass selbst ein so erkennen will, aber auch nicht ganz absprechen ein erfahrener und engagierter Europäer in die- mag,02 zu einer echten Schlüsselwahl aufgerufen. ser Situation derart provinziell daherkam, war Wer in Brüssel und Straßburg die Mehrheit der enttäuschend. Die damalige CDU-Vorsitzende Parlamentssitze erobern wird, ist ebenso bedeut- Angela Merkel wollte die Tür zu Macron hin- sam für Europas Zukunft wie der für März 2019 gegen nicht ganz zuschlagen, betonte aber, dass angesetzte „Brexit“. Durch einen erneuten Erfolg die Aufstellung von europäischen Spitzenkan- der EU-feindlichen Kräfte geriete die Union, wie didaten auf Dauer nur funktionieren werde, wir sie kennen, in eine bedrohliche Schieflage. „wenn der Spitzenkandidat auf einer transnati- onalen Liste steht, also wirklich in allen Län- EROSION DER MITTE dern gewählt werden kann“. 04 Ansonsten aber hat auch sie sich nicht wirklich als zupackende Am Wahlmodus hat sich seit der Wahl 2014 we- Europapolitikerin erwiesen und Macron im Re- nig verändert. Von den 73 britischen Sitzen, die gen stehen lassen. 04
Europa wählt APuZ Gleichwohl stehen dem Parlament 2019 gra- das zwar noch nicht, aber der Zuspruch jüngerer vierende Veränderungen bevor: erstens durch die Bürgerinnen und Bürger weist darauf hin, dass es Erosion des faktischen Duopols der rechten und für eine erneute europäische De-facto-„GroKo“ linken Mitte, zweitens durch den Bedeutungszu- eng werden dürfte. wachs locker gefügter Bewegungsparteien und Prognosen zur Europawahl sind erfahrungs- drittens durch die wahrscheinliche Konzentrati- gemäß besonders unsicher, aber ein ungefähres on der äußersten Rechten. Damit deuten sich tek- Bild lässt sich zeichnen:05 Die linke Mitte wird tonische Verschiebungen der politischen Land- nicht nur den Wegfall der 20 britischen Labour- schaft Europas an. Abgeordneten, sondern voraussichtlich auch ei- Das Europäische Parlament war wie die meis- nen Einbruch der sozialdemokratischen und so- ten nationalen Parteiensysteme lange Zeit von zialistischen Parteien vor allem in Italien (derzeit Volks- beziehungsweise Großparteien der rech- 31 Abgeordnete), Frankreich (12), Schweden (6) ten und linken Mitte dominiert. Das Tandem der und den Niederlanden (3) zu verkraften haben. durchgängig stärkeren EVP aus dem christdemo- Auch die SPD (27) muss mit Einbußen rechnen. kratischen und konservativen Spektrum und der Eine ähnliche Schwächung dürfte der Frakti- Fraktion der Sozialdemokraten (S&D, von der on der EVP bevorstehen, die europapolitisch be- englischen Bezeichnung Progressive Alliance of reits gespalten ist. Die Fidesz-Partei des ungari- Socialists & Democrats) stellte stets mindestens schen Ministerpräsidenten Victor Orbán ist ein zwei Drittel der Abgeordneten. Beide brachten Mitglied auf Abruf, wenn sie die EVP nicht ins- so in einer Art „informellen Großen Koalition“ gesamt nach rechts rückt. Dem kommt die ma- ihre programmatischen und personellen Ambiti- nifeste Rechtsdrift der französischen Republi- onen arbeitsteilig voran. kaner (20) und der italienischen Konservativen In den vergangenen Jahren sind jedoch alle (15) entgegen, ebenso des Partido Popular (17) politischen Lager sprichwörtlich „in Bewegung“ in Spanien. Unklar ist das Schicksal der polni- geraten. Mit ganz unterschiedlichen Ambitio- schen Abgeordneten von der Platforma Obywa- nen und Methoden stehen dafür Sammlungsbe- telska (PO, Bürger-Plattform, 18) und der Pols- wegungen wie der „Europäische Frühling“ des kie Strinnictwo Ludowe (PSL, Bauernpartei, 4) griechischen Sozialisten Yanis Varoufakis, der sowie einzelner Abgeordneter aus anderen osteu- Europa-Ausleger der französischen Präsidial- ropäischen Staaten, wo nationalpopulistische Be- bewegung „La République en Marche!“ unter wegungen stärker sind als klassische Konservati- dem Namen „Europe en Marche“ oder auch die ve und Liberale. Entscheidend wird sein, wohin rechtspopulistische Stiftung „The Movement“, sich die voraussichtlich gestärkte polnische Pra- des US-amerikanischen Publizisten und ehema- wo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtig- ligen Präsidentenberaters Steve Bannon. Bewe- keit, 14) orientieren wird, die derzeit noch mit gung statt Partei – dieser Trend zur Umgehung den britischen Tories (Conservative Party, 18) etablierter intermediärer Instanzen ist lagerüber- eine Fraktion bildet. greifend zu beobachten und Ausdruck einer po- War es bisher so, dass sich eine liberal-kon- pulistischen Generalmobilmachung. Ein grund- servative Mitte mit einer Minderheit weiter rechts stürzender Umbau der politischen Systeme ist stehender Strömungen zurechtfinden musste, ist Orbáns Vision jetzt, eine dezidiert „illiberale“ 01 Vgl. Europäisches Parlament, Ergebnisse der Europawahl Rechte mehrheitsfähig zu machen. Die bisheri- 2014, www.europarl.europa.eu/elections2014-results/de/turn- gen Zwerge möchten Riesen sein. Der für moder- out.html; Michael Kaeding/Niko Switek, Europawahl 2014: Spit- ne Parlamente seit Beginn des 19. Jahrhunderts zenkandidaten, Protestparteien und Nichtwähler, in: dies. (Hrsg.), konstitutive Rechts-Links-Gegensatz wäre damit Die Europawahl 2014, Wiesbaden 2015, S. 17–30, hier S. 25. 02 Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts), nicht gänzlich verschwunden, doch hat er sich in 123, 267 (Lissabon), 30. 6. 2009; Dieter Grimm, Europa ja – aber wel- den vergangenen Jahren – vor allem an der Ein- ches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016. wanderungsfrage – zu einem Gegensatz zwischen 03 Zit. nach Ursula Welter, Wenn die Kanzlerin orakelt, 5. 6. 2018, www.deutschlandfunk.de/transnationale-listen-wenn- die-kanzlerin-orakelt.795.de.html?dram:article_id=419578. 05 Siehe etwa den Blog „Der (europäische) Föderalist“ des 04 Merkel im Interview mit Thomas Gutschker/Eckart Lohse, Publizisten Manuel Müller, www.foederalist.eu/p/europawahl-um- „Europa muss handlungsfähig sein – nach außen und innen“, fragen.html. Für eine Übersicht über die aktuellen Abgeordneten Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. 6. 2018. siehe www.europarl.europa.eu/meps/de/search/advanced. 05
APuZ 4–5/2019 Abbildung: Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach Fraktionen, 2014–2019 187 74 68 52 52 218 43 34 Insgesamt 751 23 Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz (Grüne/EFA) Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) Fraktionslos Quelle: www.europarl.europa.eu, Dezember 2018, eigene Darstellung. den Leitbildern der offenen und der geschlosse- det, um gemeinsam mindestens vierte Kraft zu nen Gesellschaft beziehungsweise in eine Antino- werden. Dazu zählen die Ciudadanos, die sowohl mie zwischen liberaler und „illiberaler“ Demo- im spanischen als auch im katalonischen Parla- kratie verschoben. Orbáns Wiederwahl im April ment nennenswerte Stimmenanteile haben, die ös- 2018 zeigt an, dass ein „kompetitiver Autoritaris- terreichische Partei NEOS (Das Neue Österreich mus“, eine durch Wahlen gestützte Autokratie, in und Liberales Forum) sowie einzelne Sozialdemo- Teilen der EU inzwischen mehrheitsfähig ist. kraten wie der ehemalige italienische Regierungs- Kleinere „Etablierte“ haben von der Erosi- chef Matteo Renzi. Eine kräftige transnationale on der linken und rechten Mitte wenig profitie- Bewegung im Zentrum wäre im Prinzip auch für ren können. Die „europakritische“ Linke (GUE/ Grüne attraktiv, die aber nationale Kandidaturen NGL, derzeit angeführt von Gabi Zimmer) steht auf diversen Listen aufbieten und europaweit vom ebenfalls unter dem Druck von Bewegungspartei- aktuellen Höhenflug der deutschen Grünen pro- en – etwa von „La France insoumise“ des franzö- fitieren wollen, in den meisten Ländern aber sehr sischen Abgeordneten Jean-Luc Mélenchon, der viel schlechter dastehen als in Deutschland. deutschen „Aufstehen“-Kampagne Sahra Wa- genknechts oder dem erwähnten „Europäischem GEGENWIND Frühling“, dem sich der französische Sozialist VON RECHTSAU ẞ EN Benoît Hamon, tschechische Piraten sowie die slowenische Levica-Partei angeschlossen haben. Die Linke ist uneinig, die alte wie neue Mit- Unterdessen haben die Liberalen mit der Ma- te ohne Durchschlagskraft – es ist nicht überra- cron-Bewegung ein Zentrumsbündnis geschmie- schend, dass die radikale Rechte nach Erfolgen 06
Europa wählt APuZ auf nationaler Ebene nun auch auf europäischer Tabelle: Sitzverteilung im EP nach Ländern Ebene Morgenluft wittert. Derzeit ist sie (noch) in drei Fraktionen gespalten: Europäische Kon- LÄNDER SITZE servative und Reformer (EKR), Europa der Frei- Deutschland 96 heit und der direkten Demokratie (EFDD) und Frankreich 74 Europa der Nationen und der Freiheit (ENF).06 Italien 73 Mit 74 Abgeordneten ist die EKR die größ- te dieser drei Fraktionen. In ihr sind außer den Vereinigtes Königreich 73 britischen Konservativen Abgeordnete der polni- Spanien 54 schen PiS, rechtsgerichtete Abgeordnete aus Flan- Polen 51 dern und Osteuropa sowie die erstarkten skan- dinavischen Rechtspopulisten vertreten. Deren Rumänien 32 anhaltender Erfolg ist damit zu erklären, dass sie Niederlande 26 sich von Steuerrebellen und Kritikern des Wohl- Belgien 21 fahrtsstaates zu islamfeindlichen Anti-Einwande- rer-Parteien radikalisiert und ihre Basis vor allem Griechenland 21 unter bisherigen Nichtwählern verbreitert haben. Portugal 21 Die Schwedendemokraten, die Dänische Volks- Tschechien 21 partei und Die Finnen (vormals „Wahre Finnen“) Ungarn 21 haben in nationalen Wahlen allesamt an Einfluss gewonnen und könnten im Europäischen Parla- Schweden 20 ment einen „nordischen Pol“ bilden (allerdings Österreich 18 ohne formelles Bündnis, da ihre Unterschiede zu Bulgarien 17 stark sind). Auf der anderen Seite könnte die PiS mit dem Ausscheiden der Tories einen „Visegrád- Dänemark 13 (Habsburg-)Pol“ aus ungarischen, tschechischen, Finnland 13 slowakischen und eventuell österreichischen Ab- Slowakei 13 geordneten bilden. Die Schwerpunkte des euro- päischen Liberal-Konservatismus entfernen sich Irland 11 jedenfalls von der bisher tragenden deutsch-fran- Kroatien 11 zösischen Achse und den Gründungsländern der Litauen 11 Römischen Verträge. Lettland 8 Die noch weiter rechts angesiedelten Fraktio- nen EFDD (42 Abgeordnete) und ENF (34) sind Slowenien 8 nicht weniger heterogen und instabil. Die EFDD Estland 6 wird bisher von der britischen United Kingdom Luxemburg 6 Independence Party (UKIP, 13) und dem italieni- schen MoVimento 5 Stelle (M5S, 14) dominiert; Malta 6 zu ihr gehören auch Einzelabgeordnete wie Jörg Zypern 6 Meuthen (AfD) oder der ehemalige stellvertreten- Gesamt 751 de Front-National-Vorsitzende Florian Philippot. Die ENF wird angeführt vom Niederländer Marcel de Graaff, der der Partij voor de Vrijheid (PVV, 4) nahesteht, sowie von Nicolas Bay vom gischen Vlaams Belang (1) sowie einige Überläu- französischen Rassemblement National (RN, vor- fer, darunter Marcus Pretzell aus Deutschland, der mals Front National, 15). Weiter vertreten sind früher der AfD angehörte. Während Marine LePen die auf erhebliche Zugewinne spekulierenden Ab- sich bei der Europawahl im Revanche-Duell gegen geordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs Macron ausrechnet, mit dem RN stärkste Partei in (FPÖ, 4), der italienischen Lega Nord (4), des bel- Frankreich zu werden, stellt die Lega Nord mit ih- rem Anführer Matteo Salvini den „starken Mann“ 06 Vgl. Nathalie Brack, Opposing Europe in the European Parlia- in Italiens Regierung und den aggressivsten Ver- ment: Rebels and Radicals in the Chamber, Basingstoke 2017. fechter der rechtsradikalen Blockbildung. 07
APuZ 4–5/2019 Die extreme Rechte darf nicht überbewer- WAS TUN? tet, sollte aber auch nicht unterschätzt werden. REFORMAGENDA Ihr Trumpf ist die überall virulent gewordene Migrations- und Sicherheitsthematik. Damit hat Seit Jahren blickt das politische Establishment sie den scheinbaren Gegensatz von „Volk“ und auf diese Entwicklung wie das Kaninchen auf „Establishment“ zur menschenfeindlichen Un- die Schlange. Der völkisch-autoritären Radika- terscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, lisierung, die das Kräfteparallelogramm auch im Einheimischen und Einwanderern, Christen und Europäischen Parlament nach rechts bewegen Muslimen, Freund und Feind radikalisiert.07 Die- kann, wird eher mit Resignation und Anpassung ser völkisch-autoritäre, zum Teil an faschistische begegnet als mit mutiger diskursiver Auseinan- und „konservativ-revolutionäre“ Ideologeme der dersetzung. Die Linke, die für eine Europäisie- Zwischenkriegszeit anschließende Nationalismus rung des Wohlfahrtsstaates, die Regulierung von bildet bei allen bleibenden Rivalitäten, inneren großen Unternehmen und Banken und eine pro- Widersprüchen und Eitelkeiten der Nationalisten gressive Steuerpolitik eingetreten ist, steht in eine gesamteuropäische Bewegung, die sich zum Versuchung, in einen „nationalen Sozialismus“ Aufstand gegen die Erweiterung und Vertiefung zurückzufallen (exemplarisch dafür ist Mélen- der EU verbunden hat. chons „La France insoumise“) und die Leitidee Das heißt aber auch: Ohne „Brüssel“ wären offener Grenzen ebenfalls durch die Stärkung die Nationalisten nur halb so stark. Diese Chif- nationalstaatlicher Souveränität abzulösen. Li- fre des Unmuts bündelt sämtliche Anlässe von berale und Konservative kommen der Neuen Unzufriedenheit wie in einem Brennglas: die Rechten in der Frage der Einwanderung und der Kritik an der Volksferne von Politik und an bü- Islamophobie entgegen und stellen wieder die rokratischen Auswüchsen, die bereits alte, seit christlichen Wurzeln Europas heraus. Ein Bei- 2015 panisch gewordene Angst vor „unkontrol spiel hierfür ist die defensive bis defätistische Re- lierter Masseneinwanderung“, die Sorge vor Kri- aktion mancher Konservativer, als der sogenann- minalität und das Gefühl der Perspektivlosigkeit te UN-Migrationspakt (Global Compact for in „abgehängten“ Regionen. Die extreme Rech- Safe, Orderly and Regular Migration) kurz vor te profitiert von einer generalisierten Misere und seiner Verabschiedung im Dezember 2018 skan- Missstimmung, ohne im Mindesten Abhilfe bie- dalisiert und von mehreren EU-Staaten nicht un- ten zu können. Die EU, die bei objektiver Be- terzeichnet wurde. trachtung durchweg für mehr Wohlstand und Eine Vertiefung der EU hat namentlich Em- Freizügigkeit gesorgt hat, wurde bei denen, die manuel Macon in Frankreich couragiert vertre- sich vom einen ausgeschlossen und vom ande- ten und damit 2017 noch einen beeindrucken- ren überfordert fühlen, zum allseits probaten den Wahlsieg gegen Marine LePen errungen. Als Sündenbock. Präsident hat er ein ehrgeiziges Reformprojekt Die Rechte versammelt auch die „Globalisie- vorgelegt; gegen linke wie rechte Souveränis- rungsverlierer“, die eigentlich die radikale Linke ten und Identitäre verteidigte er die offene Ge- mobilisieren wollte. Sie fordern – der US-Prä- sellschaft im supranationalen Rahmen – die von sident Donald Trump mit seinem Dauerwahl- ihm erhoffte europäische Kooperation ist be- kampf ist hier das Vorbild – die segmentäre Ab- kanntlich von Berlin und der Mehrheit der EU- schottung gegen die funktionale Arbeitsteilung Länder abgeblockt worden. Mit der Rechts- der Weltwirtschaft und die globale populäre Kul- wende in Italien und in Schweden sind auch der tur. Die schon seit den 1970er Jahren zunehmen- EU-Kommission Partner abhandengekommen, de Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zumal sich auch Berlin in die Phalanx der Mi- und die Zunahme prekärer Arbeitsmarktlagen, grationsprotektionisten eingereiht hat. Die Eu- die im 19. und 20. Jahrhundert in soziale Klassen- ropäisierung von Macrons Sammlungsbewe- kämpfe gemündet wären, werden (wie übrigens gung La Républiqe en Marche stagniert und in der faschistischen Ära) mit Fremdenfeindlich- ist durch die „Gelbwesten“-Bewegung unter keit beantwortet. Druck geraten. Die Attacke von rechts sollte jedoch nicht zur 07 Vgl. Claus Leggewie, Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitser- Erstarrung und zu einer Fixierung auf den Status klärung, Berlin 2017, S. 20–44. quo führen. Und erst recht sollte man aus Angst 08
Europa wählt APuZ vor dem Tod nicht Selbstmord begehen, indem länder“, ein Durchwursteln mit den bewährten man alle Themen und Projekte vermeidet, die „die Kräften der linken und rechten Mitte oder doch Rechte stärken könnten“. Man möge sich bitte da- einen „gemeinsamen Sprung“ in die europäische ran erinnern, welche Unwahrscheinlichkeit der su- Republik. pranationalen Utopie den Gründungsfiguren der Zu befürchten steht, dass diese Debatte in EU um 1950 bescheinigt wurde. Will die EU der innenpolitischen Winkelzügen untergeht und Regression widerstehen, gilt es, aktuelle Reform- vor allem über Social-Media-Kanäle massiv ma- vorhaben eher noch entschlossener anzugehen und nipuliert wird. Genau deswegen ist es wichtig, sie offensiver zu vermitteln als bisher. Vorgeschla- dass sich eine vernehmbare proeuropäische Öf- gene beziehungsweise überfällige Vertiefungsziele fentlichkeit bildet. Zudem bedarf es einer poli- sind (sozusagen von links nach rechts): tischen Bildung, die den Horizont nationaler Kirchtürme übersteigt. Das überkommene Nar- –– eine Sozialunion, die der wachsenden Un- rativ der europäischen Einigung auf den Trüm- gleichheit von Einkommen, Vermögen und mern des Zweiten Weltkrieges erreicht Jüngere Lebenschancen im Inneren der EU und ihrer nicht mehr, sie benötigen ein „Europa, das uns Mitgliedsländer, dem Gefälle zwischen den schützt“ (Macron), aber mehr noch eines, dass Regionen und zugleich der Externalisierung ihnen sinnvolle Arbeit gibt, sie im Einklang mit europäischer Wohlstandskosten in die Län- der Natur leben lässt und ein selbstbestimmtes der des „globalen Südens“ entgegentritt; Leben ermöglicht. Gleichzeitig sind diese Jünge- ren – und sind wir alle – gefordert, in der EU –– eine Fiskalunion, die Steuerflucht und -ver- nicht nur eine selbstverständliche Dienstleis- meidung sowie problematische Finanz- tungsmaschine zu sehen und sie als solche zu marktaktivitäten sanktioniert und zum Bei- nutzen, sondern sich beziehungsweise uns ak- spiel mit einer Transaktionssteuer Quellen tiv für ihren Bestand und Ausbau einzusetzen. zur Finanzierung von nachhaltigen Infra- Es darf nicht passieren, dass sich weiterhin zwei strukturen und sozialpolitischen Korrektu- Drittel der Europäer nicht an Parlamentswahlen ren erschließt; beteiligen, bei denen so viel auf dem Spiel steht. Aber auch außerparlamentarisch müssen sich die –– eine Umweltunion, die auf immer deutli- proeuropäischen Kräfte rühren. Ohne Druck cher werdende Bedrohungen wie den ge- von unten kann die europäische Demokratie kei- fährlichen Klimawandel und das Arten- ne Fortschritte machen. sterben mit einer veritablen Energie- und Verkehrswende reagiert; SICH BEWEGEN: EUROPA DER BÜRGER –– eine Digitalunion, die der Dominanz des Si- licon Valley (und Chinas) mit EU-Regulie- Dass sich konstruktiver Druck von unten auf- rungen im Daten- und Verbraucherschutz bauen und in Ansätzen in den parlamentari- begegnet und die Digitalisierung nicht als schen Raum übertragen lässt, zeigt sich bereits. technische Naturgewalt hinnimmt, sondern „Europa“ war lange kein Mobilisierungsthema menschen- und sozialverträglich gestaltet; und die EU eher ein Anlass für destruktive Pro- test- und Exit-Bewegungen. Tatsächlich bilden –– eine Sicherheitsunion, die Terror- und Cy- Gegner der EU in den meisten Ländern jedoch berattacken wirksam abwehren kann und keine echte Mehrheit in der Bevölkerung,08 Be- auf die Erosion der NATO friedenspoli- fürworter und Indifferente sind nur häufig tisch reagiert. stumm geblieben. Dies beginnt sich allmählich Die politischen Alternativen liegen also auf dem Tisch, und die anstehenden Europawahlen bieten 08 Im April 2018 gaben 60 Prozent von über 27 000 befragten EU-Bürgern an, dass die EU-Mitgliedschaft ihres Landes eine den besten Anlass für eine breite Debatte darüber, gute Sache ist. Vgl. Europäisches Parlament, Pressemittei- welche Entwicklung beziehungsweise welches lung zur Eurobarometer-Umfrage 89.2 „Democracy on the Europa die Bürger bevorzugen: den Rückbau Move“, 23. 5. 2018, www.europarl.europa.eu/news/de/press- in Nationalstaaten und das „Europa der Vater- room/20180430IPR02826. 09
APuZ 4–5/2019 zu ändern: Offenbar bewegt das rabiate Auf- es eine systematische Verstetigung deliberati- treten von Autokraten, die rasante transatlan- ver und konsultativer Bürgerbeteiligungsfo- tische Entfremdung, das aggressive Auftreten ren, die mit ausreichend Ressourcen ausgestattet Russlands in der Ukraine und im Cyberspace, sind und denen Legislative und Exekutive stär- das Chaos der Brexit-Verhandlungen und das ker verpflichtet sind – und die über das zaghaf- Gespenst einer neuen Ost-West-Spaltung mehr te Instrument der Europäischen Bürgerinitiative Europäer zu einem Bekenntnis zu den in Arti- (EBI) deutlich hinausgehen. Mit anderen Wor- kel 2 des EU-Vertrags niedergelegten Grund- ten: Konsultative Beteiligung sollte zur „vierten werten (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gewalt“ werden, von der lokalen bis zur supra- Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrech- nationalen Ebene.10 Dies würde die Legitimation te) sowie zum Engagement für den Zusammen- direkter wie indirekter Abstimmungen und die halt der Union. Qualität politischer Entscheidungen erhöhen – Am sichtbarsten ist die überparteiliche Stra- und damit den erstarkenden Gegnern der EU ein ßenmobilisierung bisher durch die Bewegung wichtiges Argument entziehen. „Pulse of Europe“ (PoE), eine in Frankfurt am Die Wahlen zum Europäischen Parlament Main gegründete Privatinitiative, die seit 2015 verdienen eine hohe Wahlbeteiligung und eine in vielen Städten und Gemeinden Tausende von seriöse Debatte. Im Wahlkampf kann sich eine Menschen unter EU-Fahnen und zum Klang transnationale Öffentlichkeit Problemen und der Europa-Hymne versammelt hat. Mitte 2018 Chancen widmen, die die europäische Gesell- startete PoE eine Kampagne zur Bildung von schaft als Ganze tangieren und die allein national- „Hausparlamenten“: Bei diesen sind Bürgerin- staatlich nicht mehr gelöst und bearbeitet werden nen und Bürger aufgefordert, als Gastgeber drei können. Alternative Programme der Vertiefung bis sieben Personen aus ihrem privaten Umfeld wie des Rückbaus liegen vor, die Fronten sind zu einer zweistündigen Europa-Debatte einzula- klar. Vor allem aber gilt es, die Risiken eines neu- den und konkrete europapolitische Forderungen en Ethnonationalismus zu erkennen, der die alte an ausgewählte Entscheidungsträger zu formu- Welt zweimal in die Katastrophe geführt hat und lieren. PoE stellt Gesprächsleitfaden und Ab- heute vor allem auf Kosten der Jüngeren gehen stimmungsunterlagen zur Verfügung und leitet wird. Deshalb muss die EU vor allem den nach die Forderungen gesammelt an ausgewählte Ent- 1990 geborenen Generationen eine zeitgemäße scheidungsträger. In einem „Entscheidungspakt“ Erzählung bieten und sie davon überzeugen, dass verpflichten sich die angesprochenen Berufspoli- grenzüberschreitende Probleme mit einer weltof- tiker, künftige Vorlagen und Entscheidungen im fenen Haltung und im supranationalen Rahmen Licht der Ergebnisse den Hausparlamentariern besser zu lösen sind als mit dem Rückzug in die zu begründen.09 Wagenburg. Die Europawahl ist keine Neben- Kampagnen wie diese können dazu beitra- wahl. Sie ist Hauptsache. gen, die europäische Demokratie voranzubrin- gen, doch macht eine außerparlamentarische Be- wegung noch keinen europäischen Frühling. Es bedarf weiterer solcher Initiativen und zahlrei- cher Europäerinnen und Europäer, die sich aktiv und offensiv für die Demokratie in der EU ein- setzen. Und da die konventionelle Beteiligung der repräsentativen Demokratie auf suprana- tionaler Ebene schwach entwickelt ist, braucht 09 Dazu jetzt Franziska Schader, Pulse of Europe. Analyse und Einordnung einer politischen Bewegung, Masterarbeit FU Berlin CLAUS LEGGEWIE 2018. ist Professor für Politikwissenschaft und Inhaber der 10 Vgl. Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Ludwig Börne-Professur am Zentrum für Medien Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016; Carmen Gers- tenmeyer/Julian Plottka, Die aktuelle Reform als letzte Chance zur und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Rettung der Europäischen Bürgerinitiative?, in: Integration 1/2018, Gießen. S. 26–48. claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de 10
Europa wählt APuZ DIE EUROPAWAHLEN 2019 UND DAS EUROPÄISCHE PARTEIENSYSTEM Nicolai von Ondarza · Felix Schenuit Im Vorfeld der Europawahlen 2019 kristallisiert terschiedliche nationale Parteien zur Wahl ste- sich deren große Bedeutung immer deutlicher he- hen. Parteien auf EU-Ebene sind auch weiterhin raus. Ein fundamentaler Wandel im europäischen nicht direkt mit nationalen Parteien vergleichbar. Parteiensystem lässt sie zur Richtungswahl über Zwar erkennt der EU-Vertrag Parteien auf euro- die Zukunft der EU werden. Die bisher etablier- päischer Ebene an, die „zur Herausbildung eines ten Parteien verloren in den vergangenen Jahren europäischen politischen Bewusstseins und zum in nahezu allen Mitgliedstaaten deutlich an Zu- Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bür- stimmung, rechtspopulistische und EU-skepti- ger der EU“ (Artikel 10 EU-Vertrag) beitragen. sche Kräfte hingegen haben europaweit an Ein- Anders als nationale Parteien gibt es auf europä- fluss gewonnen. Die nach der Europawahlwahl ischer Ebene aber fast ausschließlich Dachorga- 2014 in drei Fraktionen noch stark zersplitterten nisationen der jeweiligen nationalen Parteien, die EU-skeptischen Kräfte verfolgen mittlerweile das keine oder nur sehr wenige individuelle Bürge- Ziel, ab 2019 eine Sammelfraktion zu bilden. Zwar rinnen und Bürger als Mitglieder haben. In der sind diese Parteien selbst am stärksten vom Bre- Folge sind europäische Parteien sehr viel losere xit betroffen und ein deutlicher Anstieg der EU- Bündnisse, die weniger programmatische Arbeit skeptischen Abgeordneten ist nicht zu erwarten. und auch nur begrenzt gemeinsame Wahlkämpfe Eine zunehmende Harmonisierung des EU-skep- machen. Sichtbar sind sie vor allem durch die Ar- tischen Spektrums könnte aber mittel- bis lang- beit ihrer Parlamentsfraktionen. Im politischen fristig deutliche Veränderungen im politischen System der EU erfüllen sie dennoch vier wichtige Gefüge der EU nach sich ziehen. Hinzukommen Funktionen: Umwälzungen in den bisher etablierten Parteien, Erstens sind die europäischen Parteien ein etwa weil bei den europäischen Sozialdemokra- wichtiges Forum für die transnationale Koordi- ten einzelne nationale Parteien (fast) ganz von der nation der Staats- und Regierungschefs und na- Bildfläche verschwinden oder Emmanuel Macrons tionaler Parteien. Diesem Interessensausgleich La République en Marche! (LREM) einen neuen könnte – insbesondere bei knapperen Mehrheiten Gravitationspol im liberalen Spektrum bildet. im Rat und Parlament – als Integrationsfaktor zu- Zusammengenommen haben diese Verände- künftig eine wichtigere Rolle zukommen. rungen das Potenzial, den bisherigen Charakter Zweitens sind sie im Rahmen ihrer jeweili- und die Arbeitsweisen des Europäischen Parla- gen EP-Fraktion schon jetzt Hauptakteure bei ments (EP), die einzig direkt demokratisch ge- der Mehrheitsbeschaffung im Parlament. Weil es wählte Institution auf EU-Ebene, deutlich zu keine festen Koalitionen wie im Deutschen Bun- verändern. Sollten die EU-skeptischen Parteien destag gibt, müssen Mehrheiten immer im Ein- eine gemeinsame große Fraktion bilden können, zelfall gefunden werden. Trotz ihres Charakters könnte dies langfristig sogar ein erster Schritt hin als Dachverbände ist es dabei vor allem den gro- zu einer Neuausrichtung des europäischen Inte ßen Parteien mit wenigen Ausnahmen gelungen, grationsprojektes insgesamt sein. Fraktionsdisziplin im EP herzustellen. Insbesondere die vergangene Wahl 2014 hat EUROPÄISCHE PARTEIEN VOR gezeigt, dass die Parteien drittens auch für die Be- UND NACH DEN WAHLEN setzung von EU-Spitzenpositionen immer wich- tiger werden. Der Bedeutungsgewinn ergibt sich Im Mai 2019 werden in den 27 Mitgliedstaa- vor allem aus der Stärkung des EP durch den Ver- ten nach wie vor nicht europäische, sondern un- trag von Lissabon, aus dem sich unter anderem 11
APuZ 4–5/2019 das 2014 zum ersten Mal angewandte Prinzip der Abbildung 1: Sitzverteilung im Europäischen Spitzenkandidaten ableitet. Auch die Besetzung Parlament nach dem Brexit der Posten des Ratspräsidenten und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheits- Neuverteilung politik wurde bislang über den Parteienproporz auf bisher geregelt. unterrepräsen- Viertens bieten europäische Parteien und ge- tierte Länder meinsame Fraktionen im EP zusätzliche Ressour- Derzeit 751 27 73 Sitze cen und Legitimation für nationale Parteien und Sitze im Groß- ihre Politikerinnen und Politiker. Paradoxerweise Europäischen 46 britanniens profitierten gerade die EU-skeptischen Parteien Parlament von den finanziellen Mitteln des EP und der dort Verfügbar für Davon 678 Sitze Verkleinerung, gebotenen Bühne. Nigel Farage beispielswei- EU-Wahlkreis se, damaliger Vorsitzender der United Kingdom der EU-27 oder Erweite- Independence Party (UKIP), erregte mit seinen rungen Auftritten im EP immer wieder großes Aufsehen und nutzte die Bühne, um seine Brexit-Agenda Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2018. sowohl auf EU-Ebene als auch in Großbritan- nien selbst zu forcieren. Auch wenn sich viele EU-skeptische Parteien von den Austrittsforde- Tabelle: Sitzverluste der EP-Fraktionen nach dem rungen ihres jeweiligen Landes à la UKIP verab- Brexit gemäß Wahlperiode 2014–2019 schiedet haben, wird das EP auch nach der Wahl FRAKTION BISHERIGE VERLUSTE 2019 eine wichtige Bühne und Ressourcenquelle SITZE DURCH BREXIT für die Kritiker der EU-Integration bleiben. EVP 218 –2 AUSWIRKUNGEN S&D 187 –20 DES BREXITS EKR 74 –19 Voraussichtlich nur acht Wochen vor den Eu- ALDE 68 –1 ropawahlen wird das Vereinigte Königreich den historischen Schritt vollziehen, aus der EU aus- GRÜNE 52 –6 zutreten und dem EU-Integrationsprozess da- GUE/NGL 52 –1 mit den Rücken kehren. Für die Wahlen zum EP bedeutet das zunächst, dass das Parlament nach EFDD 43 –19 den Wahlen zum ersten Mal weniger Abgeordne- te umfassen wird als zuvor, nämlich nur noch 705. ENF 34 –1 Nicht ausgeschlossen werden konnte zur Zeit des Fraktionslos 23 –4 Redaktionsschlusses jedoch, dass die Brexit-Ver- Quelle: Europäisches Parlament, eigene Berechnungen. handlungen noch einmal jenseits der Europawah- len verlängert werden – dann müssten auch in Großbritannien Wahlen stattfinden, und das EP bliebe vorerst bei der bisherigen Größe von 751 ische Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten Abgeordneten. (S&D) – stellt sich die EVP als klare Gewinnerin Ein wichtiger Effekt des Brexits betrifft die der Folgen des Brexits heraus: Seitdem die briti- im EP vertretenen Fraktionen (Tabelle).01 Un- schen Konservativen 2009 zur Fraktion der Eu- ter den beiden großen Fraktionen – Europä- ropäischen Konservativen und Reformer (EKR) wechselten, hatte die EVP, der auch die deutschen CDU/CSU-Abgeordneten angehören, keinen 01 Siehe dazu Nicolai von Ondarza/Felix Schenuit, Die Reform Kooperationspartner mehr in London. Dadurch des Europäischen Parlaments. Nach dem Brexit werden die Sitze neu verteilt – doch bleibt es (vorerst) bei einer kleinen Lösung, steht sie nun – basierend auf der bisherigen Sitz- Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 11/2018, www.swp- verteilung – als relative Gewinnerin da. Denn die berlin.org/publikation/reform-des-eu-parlaments-nach-dem-brexit. S&D verliert mit den 20 britischen Abgeordneten 12
Europa wählt APuZ der Labour Party eine der momentan europaweit ne Führungsfigur. Zwar gerät Macron mit seiner stärksten sozialdemokratischen Parteien. Die Al- Bewegung LREM in Frankreich zunehmend un- lianz der Liberalen und Demokraten für Europa ter Druck, dürfte aber dennoch eine substanzielle (ALDE), die Fraktion der Grünen/Freie Euro- Anzahl an Abgeordneten stellen und als Partner päische Allianz (Grüne/EFA) sowie die Konfö- für andere proeuropäische Kräfte beziehungs- derale Fraktion der Vereinigten Europäischen weise neue Parteien der Mitte interessant sein. Bis Linken/Nordische Grüne Liste (GUE/NGL) dato hat sich LREM keiner der EU-Parteien an- verlieren im Vergleich dazu deutlich weniger. geschlossen, aber ein Bündnis mit der liberalen Für die Mehrheitsverhältnisse im EP hat das ALDE angekündigt, einschließlich der Perspek- entscheidende Folgen: Zusätzlich zu einer ohne- tive, im kommenden EP eine gemeinsame Frak- hin geschwächten Sozialdemokratie, die in gro- tion zu bilden. Gelingt dies, hat die erweiterte ßen Mitgliedstaaten wie Italien, Deutschland und ALDE-Fraktion durchaus das Potenzial, nicht Frankreich deutlich an Unterstützung verloren nur zur drittgrößten Fraktion zu werden, son- hat, wird auch der Brexit noch dazu beitragen, dern als „Königsmacherin“ gemeinsam mit EVP dass die EVP mit hoher Wahrscheinlichkeit die und S&D eine Mehrheit zu stellen und damit Po- größte Fraktion im zukünftigen EP stellen wird. litikinhalte und Besetzung von Spitzenposten Dies trägt auch zu einer parteiinternen Gewichts- mitzubestimmen. verschiebung bei. Traditionell bestand der Kern der europäischen Sozialdemokraten aus den Ab- VERLUSTGESCHÄFT geordneten aus Deutschland (SPD), Frankreich FÜR EU-KRITIKER (PS) und Großbritannien (Labour). Labour fällt durch den Brexit voraussichtlich weg, während die Noch weitreichender sind die durch den Bre- SPD und noch stärker die PS erhebliche Einbußen xit angestoßenen Veränderungen und erwarte- befürchten müssen. Im Gegensatz dazu könnten ten Wahlveränderungen für das EU-skeptische spanische und rumänische Sozialdemokraten zu Lager im EP. Zuletzt waren etwa 20 Prozent der den größten Gruppen in der Partei werden. Abgeordneten diesem Lager zuzurechnen. Eine Durch diese EP-internen Veränderungen der gemeinsame Fraktion konnten sie in der ver- Kräfteverhältnisse ist damit schon vor der Wahl gangenen Wahlperiode jedoch nicht bilden. Die klar, dass der von der EVP gekürte Spitzenkan- Differenzen zwischen den Parteien waren so didat Manfred Weber beste Chancen hat, neuer groß, dass sie sich auf drei Fraktionen und die Präsident der Europäischen Kommission zu wer- Gruppe der fraktionslosen Abgeordneten aufteil- den. Damit gestaltet sich die Situation anders als ten. In dieser Ausgangslage sorgte der frühere Be- im Jahr 2014, als der Wettstreit vor den Wahlen rater des US-Präsidenten Donald Trump, Stephen als offen galt, und sich der damalige S&D-Spit- Bannon, im Sommer 2018 für mediale Aufmerk- zenkandidat Martin Schulz begründete Hoffnun- samkeit, als er ankündigte, rechtspopulistische gen auf einen Wahlsieg machen konnte. Vor al- Bewegungen in Europa zu unterstützen. lem aber dürfte eine Zusammenarbeit von EVP Er verfolgt dabei das Ziel, im Rahmen der Eu- und S&D 2019 allein nicht mehr ausreichen, um ropawahlen eine große rechtspopulistische Frak- den Kommissionspräsidenten zu wählen – denn tion mit bis zu einem Drittel der Abgeordneten übergreifend erwarten alle Umfragen, dass die zu bilden. Zwar erregte Bannon mit seinem Vor- beiden bislang größten Fraktionen 2019 erstmals stoß große Aufmerksamkeit in Brüssel und den in der Geschichte der EU ihre gemeinsame abso- europäischen Hauptstädten – er schließt sich da- lute Mehrheit im Parlament verlieren. Auch mit mit aber nur einem ohnehin schon bestehenden der EVP als voraussichtlich größte Fraktion im politischen Projekt an: der französische Front Rücken muss Weber noch den Europäischen Rat National, die niederländische PVV (Partij voor überzeugen, ihn zu nominieren, und eine Mehr- de Vrijheid), der belgische Vlaams Belang (VB), heit im EP zusammenstellen. die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und Umso wichtiger für die zukünftigen Macht- die italienische Lega Nord hatten schon vor den verhältnisse im EP und der EU insgesamt wer- Europawahlen 2014 eine rechtspopulistische Zu- den daher die Verschiebungen im liberalen Lager. sammenarbeit vereinbart. Nachdem diese bei Mit dem französischen Präsident Macron haben der Wahl dann schlechter als erwartet abschnit- proeuropäische, liberale Kräfte eine umstritte- ten, bildeten sie im Jahr darauf die Fraktion Eu- 13
APuZ 4–5/2019 ropa der Nationen und der Freiheit (ENF). Mit sche PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Ge- der AfD könnten diese vier in ihren nationalen rechtigkeit) als einzige große Mitgliedspartei üb- politischen System fest verankerten politischen rig geblieben ist. Kräfte nun noch eine Partei hinzugewinnen, die Noch deutlich größer sind die Fragezei- in einem für die europäische Integration zentra- chen über der Fraktion Europa der Freiheit len Mitgliedstaat die Ausrichtung des europäi- und der direkten Demokratie (EFDD), mit schen Integrationsprojektes grundlegend verän- 43 Abgeordneten die zweitkleinste Gruppe im dern möchte. EP. Sie wurde erst nach den Wahlen 2014 gebil- Dass die Koordination und Kooperation die- det und hat kein gemeinsames Wahlprogramm. ser Parteien weiterhin andauert und intensiviert Von Beginn an war sie ein bloßes Zweckbünd- wurde, zeigte beispielsweise ein Treffen der Par- nis vor allem der UKIP und der italienischen teispitzen 2017 in Koblenz. Mit dem Ziel, sich ge- Fünf-Sterne-Bewegung. Der kleinste gemeinsa- genseitig in den laufenden Wahlkämpfen zu un- me Nenner bestand in der populistischen, EU- terstützen und einen Politikwechsel in Europa kritischen Grundhaltung und im Interesse an zu forcieren, können diese Treffen als erste An- den Ressourcen einer Fraktion. Mit dem Brexit näherungsversuche auf Führungsebene der eu- Ende März 2019 werden die 19 britischen Abge- ropäischen EU-Skeptiker gesehen werden. Der ordneten wegfallen, im Herbst 2018 sind gleich Anspruch ist dabei zunehmend klar formuliert: mehrere frühere Parteivorsitzende – einschließ- Matteo Salvini, italienischer Innenminister und lich Nigel Farage – aus der UKIP ausgetreten. Parteichef der Lega Nord, will etwa ein „euro- Damit könnten die beteiligten Parteien schon päisches Bündnis“ schaffen, in dem sich alle EU- vor den Europawahlen 2019 keinen Fraktions- skeptischen, nationalkonservativen und rechtspo- status mehr beanspruchen, weil ein notwen- pulistischen Bewegungen Europas geeint für die diges Kriterium, nämlich mindestens 25 Ab- Schließung der EU-Grenzen und gegen das eu- geordnete, nicht mehr erfüllt wäre. Ohnehin ropäische Integrationsprojekt einsetzen. Es ist agiert die zweite Säule der EFDD, die 14 Ab- eine Kampfansage an die bestehende Ordnung in geordneten der Fünf Sterne, mehr wie eine ei- der Union. genständige Fraktion denn als Teil der EFDD, spätestens seit sie 2017 versuchten, sich der Al- EU-SKEPTISCHE FRAKTIONEN lianz der Liberalen und Demokraten für Europa UND ABGEORDNETE (ALDE) anzuschließen. In Italien hat die Par- tei ihre EU-kritische Haltung zumindest rhe- Von den drei Fraktionen, auf die sich die EU- torisch abgeschwächt. Die kleineren Parteien in skeptischen Parteien bisher aufteilen, sind zwei der EFDD dürften sich daher spätestens nach maßgeblich durch britische Abgeordnete geprägt. den Europawahlen neu o rientieren. Die größte dieser drei ist die Fraktion der Euro- Die Fraktion Europa der Nationen und päischen Konservativen und Reformer (EKR). der Freiheit (ENF) hat 34 Abgeordnete, davon Derzeit vereint sie 74 Abgeordnete aus 19 EU- knapp die Hälfte aus der französischen Nationa- Staaten. Neben der wirtschaftsliberalen Ausrich- len Sammlungsbewegung (Rassemblement Nati- tung folgte die EKR ursprünglich einem moderat onal, früher Front National). Sie ist die kleinste EU-skeptischen Leitbild. Demnach unterstützte und jüngste Fraktion im EP. Ihre Mitgliedspar- sie zwar mehrheitlich den Verbleib ihrer Länder teien lehnen die EU insgesamt strikt ab und teilen in der EU, forderte aber eine Rückbesinnung auf rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen. den Binnenmarkt und intergouvernementale Ent- Als einzige der drei Fraktionen im EU-kritischen scheidungsverfahren. Spätestens seit 2016 jedoch Spektrum ist die ENF nicht direkt vom Brexit setzten sich die britischen Konservativen, die betroffen. Mehrere Vertreterinnen und Vertreter die EKR dominierten, für den Brexit ein. Paral- der Parteien in dieser Fraktion wollen die ENF lel dazu nahm die Fraktion Abgeordnete auf, die nach den Europawahlen zu einer Sammlungsbe- eine härtere EU-skeptische Linie vertraten. Dazu wegung EU-kritischer Parteien aufbauen. zählen die Schwedendemokraten, die ein EU- Schließlich sitzen im EP noch 23 fraktionslo- Austrittsreferendum befürworten. Der Brexit se Abgeordnete, von denen die meisten dem EU- gefährdet jedoch die Zukunft der EKR, da nach skeptischen Spektrum zuzuordnen sind. Hierzu Wegfall der britischen Konservativen die polni- gehören Mitglieder der deutschen NPD und der 14
Europa wählt APuZ ungarischen Jobbik, die aufgrund ihrer extremen mauerte er während eines Treffens mit Salvini, bei Positionen bisher auch in anderen EU-skepti- dem sie sich gegenseitig die Zugehörigkeit zum schen Fraktionen keinen Anschluss gefunden ha- selben ideologischen Lager versicherten und eine ben. Offen ist auch die Zukunft der AfD im EP, gemeinsame „Antimigrationsfront“ ankündigten. die angesichts ihrer Umfragewerte auf eine zwei- Dass diese Konfliktlinie sowohl vor als auch stellige Anzahl an Abgeordneten hoffen kann. nach den Europawahlen im Mai relevant ist, zeigt 2014 war die AfD mit sieben Abgeordneten noch auch ihre explizite Thematisierung im (Vor-) als Teil der moderateren EKR gestartet. Nach Wahlkampf von politischen Konkurrenten der mehreren parteiinternen Spaltungen ist formell EVP. So attackierte etwa Macron die EVP und be- nur noch ein AfD-Mitglied im EP vertreten, in tonte, eine europäische Partei könne nicht gleich- der EFDD-Fraktion. Im Vorlauf der Wahl wird zeitig das politische Zuhause von Angela Merkel parteiintern ein Anschluss an die ENF diskutiert. und Viktor Orbán sein. Auch ohne Orbáns Fi- desz würde die EVP voraussichtlich immer noch WAS MACHT größte Fraktion im EP bleiben, aber der symboli- ORBÁN? sche Schaden wäre immens. Die Pläne für eine EU-skeptische Sammelfrak- ERWARTBARE tion im EP reichen bis in die EVP hinein. Un- VERÄNDERUNGEN ter anderem Matteo Salvini, bis März 2018 selbst EP-Abgeordneter in der ENF-Fraktion, hat den Die Erfolgsaussichten der einzelnen Parteien bei ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán den Europawahlen lassen sich mit demoskopi- eingeladen, sich einer EU-skeptischen Sammel- schen Mitteln bislang nur ungenau einschätzen. fraktion anzuschließen; die AfD bezeichnet ihn Erste Prognosen zeigen jedoch, dass die EU-kri- als „natürlichen Verbündeten“. Orbáns Partei Fi- tischen Fraktionen ENF und EFDD im Kontrast desz ist seit dem Beitritt Ungarns Teil der EVP, zu fast allen anderen Fraktionen an Sitzen hinzu- die sich selbst als proeuropäische Partei definiert, gewinnen könnten.02 Außer diesen beiden kann die für Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokra- nur die ALDE mit einem Zuwachs rechnen. Die tie und Stärkung der Zivilgesellschaft steht. Die hier vorgestellten Ergebnisse bieten kaum mehr politische Ausrichtung der Fidesz in den vergan- als eine erste vorsichtige Orientierung. Dennoch genen Jahren würde einen Wechsel in das EU- bestätigen diese Daten zunächst die Vermutung, skeptische Lager durchaus nahelegen. Zuletzt dass die informelle „große Koalition“ zwischen verfolgte die ungarische Regierung das Ziel einer EVP und S&D zum ersten Mal seit 1979 – den „illiberalen Demokratie“ immer nachdrücklicher ersten Direktwahlen zum EP – keine Mehrheit und schränkte Pressefreiheit ebenso wie Tätigkei- erreichen könnte. Zusammen mit einer Reihe ten ausländischer Nichtregierungsorganisationen weiterer Neuerungen könnte diese Veränderung ein. Außerdem kritisiert Orbán die EU fortlau- dazu führen, dass sich die Prozesse der Mehr- fend für zu tiefe Eingriffe in die nationale Souve- heitsfindung im EP schwieriger gestalten – insbe- ränität. Darüber hinaus gibt es deutliche Schnitt- sondere im Hinblick auf Vorschläge vertiefter eu- mengen im Bereich der Migrationspolitik, in der ropäischer Integration, für die das Parlament als er mit den EU-skeptischen, rechtspopulistischen „Motor der Integration“ traditionell bekannt ist. Parteien das Ziel einer zunehmenden Abschot- In der Abbildung 2 bildet Szenario A den tung der EU teilt. „Status quo“ der Fraktionszugehörigkeiten aus Noch bis 2018 setzte die EVP-Führung auf der Wahlperiode 2014–2019 ab und bietet da- Dialog und lehnte ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn ab. Im 02 Prognosen zu Europawahlen sind aufgrund ihres besonderen September 2018 stimmte jedoch auch die Mehr- Charakters noch schwerer zu erstellen als für nationale Wahlen. So heit der EVP-Abgeordneten für die Einleitung gibt es in den wenigsten EU-Mitgliedstaaten dezidierte Umfragen zu eines solchen Verfahrens. Trotz anderslautender den Europawahlen; Umfragen zu nationalen Wahlen bilden aber die Wahlabsichten für die EP-Wahlen nur ungenau ab. Auch die Wahlbe- Gerüchte blieb Fidesz auch nach der Abstim- teiligung unterscheidet sich erfahrungsgemäß deutlich. Daher sind mung Teil der EVP. Gleichwohl kokettierte Or- diese Szenarien nur als Richtungsindikator zu sehen. Vergleichbare bán anschließend mit einem Zusammenschluss Prognosen zur Sitzverteilung werden unter anderem von „Politico nationalkonservativer Kräfte. Diese Idee unter- Europe“ veröffentlicht: www.politico.eu/2019-european-elections. 15
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