Bericht der Expertengruppe zum Fall "Lena" - im Auftrag des Bezirksstadtrates für Jugend und Gesundheit im Bezirksamt Neukölln
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Bericht der Expertengruppe zum Fall „Lena“ im Auftrag des Bezirksstadtrates für Jugend und Gesundheit im Bezirksamt Neukölln Berlin, 05. September 2013
Inhaltsverzeichnis 1. Einführung ..............................................................................................................3 2. Ziele und Arbeitsweise: .........................................................................................4 3. Ausgangssituation/Falldarstellung nach den vorliegenden Erkenntnissen .....4 4. Handlungsbedarfe / Ressourcen / Schlussfolgerungen .....................................6 4.1 Kooperation Jugend- und Gesundheitsamt / Träger .........................................6 4.2 Zusammenfassung, Verantwortung, Verbindlichkeit, Wahrnehmungen der Beteiligten ....................................................................................................................8 5. Hilfeprozess, -dynamik - Schlussfolgerungen/Thesen .......................................8 6. Zusammenfassung / generelle Empfehlung ......................................................11 Seite 2 von 12
1. Einführung 1 Nach dem Tod der kleinen „Lena“ im September 2012 beauftragte der Neuköllner Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit, Falko Liecke eine Expertengruppe mit der Aufklärung der Hintergründe um diese Tat, insbesondere im Hinblick auf die Abläufe im Jugendamt und beim beteiligten Träger. Diese Untersuchungen sind jetzt abgeschlossen. Die Ergebnisse werden dem Jugendhilfeausschuss des Bezirks sowie dem Landesjugendhilfeausschuss vorgelegt. Es sei darauf hingewiesen, dass ein derartiger Sachverhalt im Land Berlin bisher noch nicht durch eine Expertengruppe in solch einer Zusammensetzung bearbeitet wurde. Der Bezirk hat mit dem Einsatz der Expertengruppe für die Analyse des Falles Neuland betreten. Teilnehmer der Expertengruppe: 1. Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit in Neukölln, Herr Falko Liecke 2. Leiterin der Arbeitsgruppe Kinderschutz der Jugendamtsdirektoren/innen, Frau Marianne Desens 3. Vorsitzende des Vorstands im Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V, Frau Dr. Elke Nowotny 4. Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes Berlin, Frau Sabine Walther 5. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Abt. III/Landesjugendamt, Frau Ulrike Herpich-Behrens (Referatsleiterin) und Frau Britta Schröter (Leiterin Einrichtungsaufsicht), 6. Berliner Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und ärztlicher Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln, Herr Prof. Dr. Rainer Rossi 7. Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) des Bezirksamts Mitte, Herr Dr. Brockstedt 8. Fachsteuerung des Jugendamtes Lichtenberg, vertreten durch Herrn Frank Roll (Moderation) Mehrere Vertreterinnen des Trägers „Leben Lernen e.V.“ sowie die Regionalleitung und die Fachsteuerung des Jugendamtes Neukölln wurden angehört. Die Arbeitsgruppe bestand aus unterschiedlichen hochrangigen Experten und beschäftigte sich ausführlich mit dem Geschehen und den Vorgängen im Detail. Für diesen Prozess wurde entsprechend Zeit benötigt, die sich die Experten auch genommen haben. 1 Aus Datenschutzgründen pseudonomisiert Seite 3 von 12
2. Ziele und Arbeitsweise: Folgende Ziele wurden von Herrn Liecke konkret benannt: Analyse des Geschehens und Empfehlungen für die Arbeit in der Jugendhilfe, besonders in Bezug auf den Kinderschutz und die Schnittstelle öffentlicher und freier Jugendhilfe! Wirkt das Subsidiaritätsprinzip mit seiner Teilung in Leistungsgewährung und Leistungserbringung bei solchen Verläufen negativ verstärkend? Wäre es aus einer Hand nicht sinnvoller? Nachdem zunächst der Fallverlauf rekonstruiert und gründlich analysiert wurde, wurden im weiteren Untersuchungsprozess daraus folgend Stolpersteine definiert, mit den vorliegenden Fachstandards im Land Berlin abgeglichen und entsprechende Handlungsbedarfe und Empfehlungen für die Praxis formuliert. Dabei stand auch die Frage der dafür notwendigen Ressourcen im Fokus. 3. Ausgangssituation/Falldarstellung nach den vorliegenden Erkenntnissen Im Oktober 2011 beantragte die minderjährige Schwangere aus eigenem Antrieb eine Hilfe für Mutter und Kind gem. § 19 SGB VIII. Die junge Frau fand im Oktober 2011 Aufnahme im Mutter-Kind-Bereich von „Leben Lernen e.V.“. Die Unterbringung erfolgte im betreuten Einzelwohnen im sogenannten „Leistungsbereich“2, da keine besonderen Probleme erkennbar waren. Die Kindesmutter erwies sich als kooperativ und hielt sich an die geltenden Regeln. Von ihrer Familie wurde sie gut unterstützt, die Vorbereitungen in der Wohnung und für das Baby hat sie verantwortungsvoll getätigt. In die Gruppe der jungen Mütter hat sie sich schnell integriert, an einem Geburtsvorbereitungskurs teilgenommen und eine Hebamme gefunden. Die finanziellen Mittel teilte sie sich ein. Im Februar 2012 wurde Lena geboren. Der Kindesvater wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er der Vater sei. Die Kindesmutter kümmerte sich liebevoll um ihr Baby, auch wenn es teilweise anstrengend für sie war. Die intensive Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und ihrer Familie gab der Kindesmutter einen guten Rückhalt. Es wurde in einer Hilfekonferenz vereinbart, dass die Hilfe fortgesetzt und die Mutter- Kind-Beziehung weiter unterstützt werden sollte. Im Mai 2012 wurde das Jugendamt darüber informiert, dass die Kindesmutter den Vater von Lena zufällig wieder getroffen habe und die beiden jungen Leute jetzt wieder häufig Kontakt hätten. Anfang Juli begann die Km ein Praktikum in einem Restaurant und entschloss sich, dort ab August 2012 eine Ausbildung zu beginnen. 2 Einstufung von Fallgruppen in Leistungs-, Grau- und Gefährdungsbereich als Steuerungsinstrument der Jugendhilfe Seite 4 von 12
Die Weiterführung der Betreuung wurde befürwortet, um die junge Mutter bei der Doppelbelastung durch den Beginn der Ausbildung und die Versorgung von Lena zu unterstützen. Die Planung der Km wurde von den beteiligten Fachkräften nicht in Frage gestellt, auch wenn eine mögliche Überforderung durchaus thematisiert wurde. Ziele waren die Suche von Kitaplatz und eigenem Wohnraum, die selbständige Einteilung der wirtschaftlichen Mittel, der Antrag auf eine Beistandschaft zur Vaterschaftsanerkennung und die erfolgreiche Ausbildung (Zielvorgabe des § 19 SGB VIII). In den Zielformulierungen fehlt allerdings die Benennung der Verantwortlichkeit für die Zielerreichung, ebenso das Ziel der Rollenklärung des Vaters in Bezug auf Lena. Anfang/Mitte August 2012 wurden an zwei unterschiedlichen Tagen mehrere blaue Flecken bei Lena festgestellt, die zwar durch die Fachkraft des Trägers dokumentiert, aber nicht trägerintern besprochen und weder dem Jugendamt noch der Einrichtungsaufsicht gemeldet wurden. Die Km hielt sich zeitgleich zunehmend nicht mehr an Absprachen, sie hatte ihre Ausbildung begonnen und war kaum noch in der Einrichtung. Lena wurde von der Großmutter sowie dem Kv während der Arbeitszeiten der Km betreut. Das Jugendamt war von diesen Umständen nicht informiert. Am 28.08.2012 informierte der Träger per Fax das Jugendamt im Rahmen einer Kinderschutzmeldung erstmalig über Verletzungen des Kindes. Am selben Tag erfolgte eine Vorstellung bei einem Kinderarzt, der allerdings nichts (mehr) feststellen konnte (leichte Rötung am Hals, abgeklungene blaue Flecken). Die fallzuständige Sozialarbeiterin des Jugendamtes forderte telefonisch die Einrichtung auf, künftig kinderschutzrelevante Fakten sofort dem Jugendamt zu melden und sich ab sofort wöchentlich das Kind unbekleidet anzusehen. Ferner sollte das Kind täglich von den Betreuerinnen gesehen werden, da eine Kindeswohlgefährdung nicht auszuschließen sei. Am 30.08.2012 fand ein Gespräch des Trägers mit Km, Kv, Großmutter mütterlicherseits, Großvater väterlicherseits statt. Nach seinem Bericht gab es keine Problemeinsicht bei der gesamten Familie, sondern ein "unterdrücktes aggressives Verhalten vom Kv"3 und seinem Vater. Die Sozialarbeiterin beim Jugendamt wurde telefonisch beteiligt. Eine Hilfekonferenz wurde auf den 03.09.2012 auf Anweisung des Amtes vorgezogen, um die fragliche Kindeswohlgefährdung zu klären. Bis dahin wurde Lena von der Großmutter betreut. Bei der o.g. Hilfekonferenz am 03.09.2012 wegen der im Raum stehenden Kindeswohlgefährdung konnte der Ursprung der Verletzungen nicht aufgeklärt werden. Die Mutter bekundete, die Betreuung ab sofort wieder selbst zu übernehmen und die Ausbildung abzubrechen, wodurch die Besorgnis der Fachkräfte zunächst gemindert wurde. Kontakte zum Kv sollten auf das Wochenende beschränkt sein, Übernachtungen seinerseits innerhalb der Woche sollten nicht erfolgen. Weiterhin wurde festgehalten, dass sich die Km beim Kind aufhalten solle. Nähere Absprachen waren nach interner Besprechung in der Einrichtung vorgesehen. Außerdem sollte Lena weiterhin täglich und mindestens zweimal wöchentlich unbekleidet gesehen werden. Für die Fachkraft im Jugendamt war dieses Gespräch aufgrund eines Zuständigkeitswechsels ihr Erstgespräch mit der Familie, sodass eine Einschätzung der Situation von Mutter und Kind erschwert war. 3 Eine nähere Beschreibung, wie sich das Verhalten ausgedrückt hat, liegt nicht vor. Seite 5 von 12
Am 05.09.2012 hat der Kv Lena ohne Absprache mit der Betreuerin allein versorgt. Frau A. habe sich nicht in der Einrichtung befunden. Sie befand sich auf dem Weg zu ihrer ehem. Ausbildungsstätte, um dort auszuhelfen. Der Kv gab später an, Lena um 17 Uhr ins Bett gelegt zu haben, da sie müde und auch etwas erkältet gewesen sei. Als er um 20 Uhr nach ihr sehen wollte, habe sie leblos im Bett gelegen. Der Notarzt wurde gerufen, habe das Kind reanimiert und ins Krankenhaus Neukölln gebracht. Am 06.09.2012 wurde das Jugendamt durch den Träger informiert, dass Lena seit dem Vortag (Abends) nach einer Misshandlung im Krankenhaus im Koma liegt. Am 07.09.2012 folgte ein Gespräch zwischen Jugendamt, der Einrichtungsaufsicht (Landesjugendamt) und dem Träger. Erst in diesem Gespräch wurde das Jugendamt von den Misshandlungen von Anfang/Mitte August informiert. Weitere Gespräche und Maßnahmen der Einrichtungsaufsicht wurden eingeleitet. 4. Handlungsbedarfe / Ressourcen / Schlussfolgerungen 4.1 Kooperation Jugend- und Gesundheitsamt / Träger Vorbemerkung: Schwerpunkt dieser Empfehlungen sind über den vorliegenden Fall hinausgehende proaktive Verfahrensschritte, Kooperationsvereinbarungen und persönliche Kontakte, die nicht erst reaktiv bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zum Tragen kommen. Maßnahmen des reaktiven Kinderschutzes ergeben sich dann zwangsläufig aus diesen Verfahrensregelungen. 1. Beschreibung des Begriffs „Kindeswohlgefährdung“ (KWG) anhand der berlineinheitlichen Indikatoren zur Erkennung und Einschätzung von Gefährdungssituationen (siehe Handlungsleitfaden Kinderschutz in der Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen und Gesundheits- und Jugendämtern, Sen BJW; www.kinderschutznetzwerk-berlin.de) als verbindliche Schulung aller Mitarbeiter/innen und bei der Einarbeitung neuer Fachkräfte, z. B. in der Verantwortung der vom Einrichtungsträger benannten „insoweit erfahrenen Fachkraft“ nach § 8a SGB VIII. 2. Jährlich aktualisierte Liste in schriftform und elektronisch der Kinderschutzkoordinatorin des zuständigen Jugendamtes und Gesundheitsamtes (KJGD) mit allen erforderlichen Kontaktdaten für jede Mitarbeiterin zugänglich abrufbar in der Einrichtung. 3. Bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung Dokumentation in der Einrichtung anhand des Ersterfassungsbogens gemäß § 8a SGB VIII (www.kinderschutznetzwerk-berlin.de). 4. Regelhaft ist die Einbindung von medizinischen Fachleuten in die Arbeit von Mutter– Kind–Einrichtungen erforderlich: - Verschriftlichte Kooperationsvereinbarung der Einrichtung mit dem zuständigen KJGD über Möglichkeiten zur Vorstellung eines Kindes bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung; alternativ verschriftlichte Vereinbarung mit einrichtungsnahen Vertragsärzten oder einem Medizinischen Versorgungszentrum mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedizin über derartige Leistungen an Werktagen. Seite 6 von 12
- Verschriftlichte Kooperationsvereinbarung mit der für den Einzugsbereich zuständigen Rettungsstelle einer Kinderklinik über Möglichkeit der notfallmäßigen Vorstellung von Kindern unabhängig von Zeiten oder Wochenenden bzw. Feiertagen. - Bei suchtkranken Elternteilen vor Aufnahme verschriftlichte Absprachen mit der für den suchtkranken Elternteil zuständigen Einrichtung. - Bei psychisch kranken Elternteilen vor Aufnahme in den Akten festgelegte Ansprechpartner beim zuständigen Sozialpsychiatrischen Dienst bzw. Name und Kontaktdaten der behandelnden Ärzte oder medizinischen Einrichtung. - Bei Einbeziehung von Hebammen oder Familienhebammen und/oder ehrenamtlichen Helfern in die Kinderbetreuung vor Aufnahme verschriftlichte Absprache über Art und Umfang der Frühen Hilfe in Rücksprache mit den Netzwerkkoordinatoren Frühe Hilfen beim zuständigen Jugendamt oder Gesundheitsamt. Seite 7 von 12
4.2 Zusammenfassung, Verantwortung, Verbindlichkeit, Wahrnehmungen der Beteiligten Es stellen sich in der Hauptsache Fragen bei laufender Gewährung von HzE zur Zusammenarbeit des Jugendamtes und dem Träger der Jugendhilfe: a. Wie können die einzelnen Beteiligten die Verantwortlichkeit besser wahrnehmen? b. Wie kann sichergestellt werden, dass in der gemeinsamen Einschätzung eine mögliche Kindeswohlgefährdung besser wahrgenommen werden kann und was ist, wenn diese Einschätzung nicht gemeinsam erfolgt? c. Wie kann bei der Hilfeplanung mit allen Beteiligten mehr Verbindlichkeit und klare Aufgabenverteilung erreicht werden? d. Wie kann sichergestellt werden, dass eine mögliche Kindeswohlgefährdung sofort in ein Hilfeplanverfahren mündet und auch entsprechend dokumentiert wird mit klaren Zielen und konkreten Vereinbarungen? Hierzu ist es genauso wichtig, neben vorhandenen Verfahrensregelungen auch benötigte Ressourcen zu betrachten. Die insoweit im Kinderschutz erfahrene Fachkraft muss zum einen qualifiziert sein und bei einem Träger auch zur Verfügung stehen. Hier sollte immer davon ausgegangen werden, dass es sich um eine neutrale dritte Person handelt, die nicht im „Fall“ involviert ist. Die Hinzuziehung von anderen Fachleuten, wie z.B. Gesundheitsdienste, Familienhebammen, Ärzten und Kliniken, fachlichen Beratungsstellen usw. bedeutet, dass diese ggf. auch kurzfristig zur Verfügung stehen müssen. Bei der Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefärdung ist das „4-Augenprinzip“ und das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuhalten. Bei der Durchführung einer Hilfeplanung und der wichtigen Zielvereinbarung mit allen an der Hilfe Beteiligten ist dies noch nicht die Regel. Hier muss ein Sozialpädagoge des RSD meistens in einer Person die Moderation leisten, die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe feststellen und zum Schluss das Ergebnis in der Zielvereinbarung festhalten. Diese Doppelrolle kann allerdings nicht geleistet werden und bedarf einer Co-Begleitung, da ansonsten wichtige Details übersehen werden können bzw. verloren gehen mit der Folge des Qualitätsverlustes und mit Konsequenzen für das Kind. In der neuen AV Hilfeplanung ist dem insofern Rechnung getragen worden, als dass bei Verdacht einer möglichen Kindeswohlgefährdung das „Kinderschutzverfahren“ verbindlich zum Bestandteil der Hilfeplanung wird. 5. Hilfeprozess, -dynamik - Schlussfolgerungen/Thesen Was fällt auf beim Blick auf das Helfersystem? Die Hilfegeschichte ab Oktober 2011 erscheint harmonisch und glatt, Widersprüche im Verhalten von Km, weiterer Familie und Kv werden nicht deutlich. Anhaltspunkte auf eine Gefährdungssituation sind dem Jugendamt erst durch Mitteilung des Trägers am 28.08.2012 übermittelt worden. Seite 8 von 12
Auffälligkeiten und Widersprüche beim Blick auf das Hilfesystem (nicht vollständig): • Hilfeplanziele sind sehr allgemein formuliert, z.B. Erlernen von Haushaltsführung, Hygiene und Versorgung des Babys, Geburtsvorbereitung, Einkommen einteilen lernen usw. (Hilfeplan vom 13.10.11). • Ziele, wie kennen lernen von Bedürfnissen von Neugeborenen sowie ihrer Verletzlichkeit sind nicht benannt. • Beratungsgespräche über frühkindliche Entwicklung und die Teilnahme an einer PEKIP - Gruppe werden als Ziel genannt, aber nicht hinsichtlich der Umsetzung der Ergebnisse hinterfragt, zumindest aber nicht dokumentiert. • Die junge Mutter wird positiv als freundlich, aufgeschlossen und nie klagend trotz ihrer Erkrankung (Rheuma) charakterisiert. Anstrengung und die Unruhe des Säuglings werden benannt, aber nicht vertieft. • Das Auftauchen des Kindesvaters wird erwähnt, im Hilfeplan vom Juli 2012 sind Beistandschaft und Vaterschaftsanerkennung dokumentiert. Folgende Fragen sind im Nachhinein zu stellen: • Warum konnten Ambivalenzen nicht gesehen oder nicht bearbeitet werden? • Wie ist es möglich, dass Fragen zur Familie, zu Rollen, zu Überzeugungen, Familiengeschichte kaum gestellt werden und dies für die Perspektivklärung scheinbar keine Rolle spielt? • Wie kam es, dass trotz umfangreicher Abwesenheit von Km und Kind (Juli/August 2012) die Hilfe weiter gewährt und das Jugendamt nicht informiert wurde? • Wie ist es der Familie gelungen, dass ein auffallender Widerspruch nicht bearbeitet wurde: Einer der Hauptgründe für die Unterbringung der Km war der Platzmangel, wobei im o. g. Zeitraum sich die Km mit dem Baby oft und viel bei ihrer Mutter in der viel zu engen Laube aufhielt. • Was ist konkret passiert, dass das plötzliche Auftauchen des Kv und seines plötzlichen Willens Vater und Partner zu sein, sowie seine Geschichte und Hintergründe keine Fragen und Beratungsangebote nach sich zogen? Familiale Dynamiken bei Misshandlung und Vernachlässigung bergen immer die Gefahr der „Ansteckung“. Im vorliegenden Fall schien es sich um eine Mutter zu handeln, die von sich aus Hilfe gesucht hat und im Verlauf des Hilfeprozesses als lernbereit und kooperationsfähig bewertet wurde. Ambivalenzen in der Einschätzung tauchten nicht auf, wurden zumindest nicht dokumentiert. Deshalb war Hilfe und Unterstützung angezeigt, keinesfalls Kontrolle. Bedrohliche Szenarien werden abgespalten. Es entsteht der Eindruck, dass Nachfragen zur Entwicklung von Mutter und Vater, zu ihren Herkunftsfamilien und Erziehungshaltungen von der Familie als Neugier, Misstrauen und Kontrolle bewertet wurden. Die junge Mutter hatte einen oberflächlichen Kontakt zu Fachkräften, eine tiefer gehende vertrauensvolle Beziehung war nicht möglich. Die Fachkräfte könnten mit ihren Bemühungen am Widerstand der Familie „abgetropft“ sein. Die Leugnung der Konflikte auf Seiten der Familie führte möglicherweise zur Sprachlosigkeit der Fachkräfte. Diese Sprachlosigkeit fand ihren Höhepunkt darin, dass Signale der Mutter, die Tochter habe blaue Flecke, nicht aufgenommen, sondern beiseite geschoben wurden. Die Vermutung einer Kindeswohlgefährdung drang bei einer Fachkraft des Trägers nicht durch (am 11.08.12). Seite 9 von 12
Über einen für ein Baby gefährlich langen Zeitraum von hinsichtlich ihrer Entstehung unklar beschriebenen Hämatomen, Schürfwunden, einer Beule, eines nicht stattgefunden Arztbesuchs wird keine Gefährdung festgestellt und demgemäß auch kein Verfahren in Gang gesetzt. Wie gelang es der Familie im „Konfrontationsgespräch“ am 30.08. beim Träger trotz der Hinweise auf die Gefährdung von Lena unklar und verweigernd zu bleiben? Und wie schaffte es die Familie, dass trotz des Themas Kindeswohlgefährdung die Hilfekonferenz am 03.09.12 sich schwerpunktmäßig mit der Beendigung der Ausbildung und der Absicht der Mutter, das Kind wieder selbst zu betreuen, beschäftigte? Wieso wurden Abwehr, Unklarheiten, Vertuschung und mangelnde Kooperation nicht thematisiert? Diese dringenden Fragen können in der Analyse der Aktenlage und der geführte Gespräche nicht geklärt werden. Es scheint, dass der positive Gesamteindruck (Auftreten, Kooperationswillen, Ziele/Vorstellungen) von Km und deren Mutter, die Fragen nach Familiengeschichte und -dynamik, nach den Rollen der männlichen Familienmitglieder (besonders des Kv) und damit eine vielleicht andere Bewertung der Situation verschleierten bzw. nicht zuließen: • Erklärungen der Eltern und Familie wurden lange nicht hinterfragt, weil die Integrität hoch bewertet wurde. Es gab lange Zeit ein hohes Vertrauen in die Selbstregulation. • Die Philosophie der Familie „Wir machen das! Wir haben das immer so gemacht, fragt nicht zuviel!“, die die Grundlage unreflektierten Handelns darstellt, überträgt sich auf die Helfer. Die Abwehr der gesamten Familie führte zu Sprachlosigkeit und Lähmung im Fachkräftesystem, gefolgt von Ungenauigkeiten und Unklarheiten beim Erkennen und Einschätzen der Kindeswohlgefährdung und der Ergebnisorientierung der Hilfekonferenz insbesondere am 03.09.2012. Das Kind blieb in der Mutter-Kind-Einrichtung, bei den Eltern und der weiteren Familie im Vertrauen auf deren erzieherische Kompetenz und Einfühlung. • Die zu Beginn der Hilfe getroffene Bewertung wurde beibehalten und erst spät überprüft. • Die Verfahren und Standards zur Kindeswohlgefährdung wurden nur z. T. angewendet. These 1 Der positive Gesamteindruck von der Familie, besonders von der jungen Mutter und ihrer Mutter, das Anliegen und die vereinbarten Ziele sorgten über einen langen Zeitraum dafür, dass Hinweise zum schwierigen familiären Hintergrund (u. a. Gewalterfahrungen) kaum wahrgenommen und in der Hilfeplanung wenig berücksichtigt wurden. These 2 Mangelndes Wissen über Biografien und Dynamiken in den Herkunftsfamilien von jungen Kindeseltern in der Jugendhilfe bewirken Unklarheiten und Unsicherheiten im Verstehen der Problemlagen und Konflikte von Familien, ihrer Beziehungskonflikte und der elterlichen Kompetenz. These 3: Seite 10 von 12
Familiendynamiken wie Sprachlosigkeit und Leugnung finden sich im Fachkräftesystem wieder. Fragen zu biografischen Kontexten und Gewalterfahrungen werden wenig gestellt. Differenzierte Überlegungen zur Beziehungsdynamik und Hypothesen zum Problem der Familie/des jungen Elternpaares werden nicht deutlich. Das Hilfesystem agiert analog des Familiensystems – unklar, widersprüchlich, reagierend statt aktivierend und z. T. unstrukturiert. Dies hat Klarheit im Erkennen und Einschätzen des Risikos einer Kindeswohlgefährdung verhindert. These 4 Die nur teilweise angewendeten fachlichen Standards bzw. Verfahren zur Gefährdungseinschätzung erhöhten das Risiko der Kindeswohlgefährdung – obwohl eine Kindeswohlgefährdung nicht ausgeschlossen werden konnte, folgte keine schnelle und konsequente Regelung von begleiteten Kontakten zwischen Vater und Kind. Insbesondere die fehlenden Meldungen über die beiden ersten Misshandlungsspuren führten dazu, dass im Jugendamt das Ausmaß der Gefährdung nicht richtig eingeschätzt werden konnte. 6. Zusammenfassung / generelle Empfehlung Zur zweiten Fragestellung „Wirkt das Subsidiaritätsprinzip mit seiner Teilung in Leistungsgewährung und Leistungserbringung bei solchen Verläufen negativ verstärkend? Wäre es aus einer Hand nicht sinnvoller?“ hat sich die Expertengruppe nicht explizit geäußert, da unabhängig, wie es geregelt ist, die Schnittstellen maßgeblich sind und klar geregelt und verlässlich bedient werden müssen. Die Zusammenarbeit von Mutter-Kind-Einrichtungen mit in Kinderschutzfragen einschlägig erfahrenen und qualifizierten medizinischen Fachstellen (Jugendgesundheitsdienst, Rettungsstellen, einrichtungsnahe Vertragsärzte, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin) muss verbessert und regelhaft durch entsprechende verbindliche Vereinbarungen gesichert werden. Bestehende Leistungsbeschreibungen für Mutter-Kind-Einrichtungen sollten überprüft und dahingehend modifiziert werden, dass eine verbindliche und durch Kooperationsvereinbarungen abgesicherte Zusammenarbeit als Standard nachgewiesen wird. In der Hilfeplanung ist verstärkt darauf zu achten, dass Kindesväter oder neue Lebenspartner und deren Bedeutung für die Beziehungsdynamik und den Hilfeverlauf regelhaft Bestandteil der Planung und der Leistungsvereinbarungen im Rahmen des Hilfeprozesses sowie der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen werden. Die fachlichen Fragen in diesem Kontext müssen verstärkt Eingang in die Fachdebatte und Fortbildungsangebote z. B. des Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin- Brandenburg - SFBB finden. Kinderschutz beginnt in einer frühen Wahrnehmung einer möglichen Gefährdung, die unterschiedliche Facetten haben kann, wie dieser Fall zeigt. Dies kann nur im Zusammenwirken unterschiedlichster Fachkräfte gut gelingen. Dies bedeutet aber, dass entsprechende Ressourcen auch zur Verfügung stehen müssen, denn Wartezeiten auf einen freien Termin können bei diesem hoch sensiblen Thema nicht hingenommen werden. Hilfen gem. § 19 SGB VIII dienen der Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung und Verselbständigung sowie bei der Ausbildung junger Mütter (und Väter). Die Seite 11 von 12
Entscheidung zur Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung kann nur in Fällen sinnvoll sein, in denen eine mögliche Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen wird bzw. auf der Grundlage von zwischen den Beteiligten vereinbarten klaren Auflagen an Eltern (-teile) und Aufträgen an die Leistungserbringer, die in der Folge umzusetzen sind. Im Vorfeld einer derartigen Unterbringung muss daher im Zweifelsfall eine Abklärung – ambulant oder stationär – durch entsprechende Fachkräfte erfolgen. Darüber hinaus sind in der laufenden Hilfe Revisionen erforderlich um zu prüfen, ob nach wie vor die geeignete Maßnahme durch das Jugendamt gewählt wurde. Wenn die Perspektive einer künftigen gemeinsamen selbständigen Lebensweise von Mutter und Kind auch mit ambulanter Unterstützung nicht realistisch erscheint, muss eine andere Unterbringungsform für das Kind umgesetzt werden. Insbesondere im Grau- und Gefährdungsbereich muss in der Hilfekonferenz eine schriftliche und von allen Beteiligten unterzeichnete Dokumentation von Auflagen und Verantwortlichkeiten für die Umsetzung erstellt werden – notfalls handschriftlich. Es darf am Ende einer Hilfeplankonferenz keine Unklarheiten auf die zu treffenden Maßnahmen und Handlungen geben. Die verstärkte Beschäftigung in der Fallarbeit mit Familiengenogrammen auch durch freie Träger wird dringend empfohlen, um familiäre Dynamiken und Muster besser erfassen zu können. Personalabbau und Arbeitsverdichtungen in den beteiligten Bereichen haben Folgewirkungen auf die Arbeitsqualität und die besonders in Kinderschutzfällen notwendige Wachsamkeit und dürfen in der Gesamtbewertung nicht unberücksichtigt bleiben. Die Expertengruppe stellt abschließend fest, dass die Erkenntnisse aus dem Bericht nicht nur Gültigkeit für Neukölln, sondern berlinweit für die Verfahren in der Jugendhilfe von Bedeutung sind. Für die Expertengruppe Marianne Desens Leiterin der Arbeitsgruppe Kinderschutz der Jugendamtsdirektoren/innen Seite 12 von 12
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