Bericht des Instituts für Didaktik der Demokratie 2017/18
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Bericht des Instituts für Didaktik der Demokratie 2017/18 Instituts für Bericht des Didaktik der Demokratie 2017/18
2 Impressum Bericht des Instituts für Didaktik der Demokratie 2017/18 Direktorium Prof. Dr. Dirk Lange Herausgeber Dr. Moritz Peter Haarmann Institut für Didaktik der Demokratie Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann Leibniz Universität Hannover Philosophische Fakultät Bildnachweis Callinstr. 20, 30167 Hannover Sofern nicht anders angegeben, liegen die Bildrechte beim Tel. +49 511 762-17317 Institut für Didaktik der Demokratie. Titelbild: David Erhardt Königsworther Platz 1, 30167 Hannover Redaktion www.demokratiedidaktik.de Patrick Bredl, Jessica Burmester, Selena Kemp, Samia Khallafi
3 Inhalt 1. Aktuelles aus dem Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Inclusive Citizenship - Eine zentrale Herausforderung für die Didaktik der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 Power to the Bauer – 40 Jahre Gorleben-Treck, 40 Jahre Anti-Atombewegung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . .10 30 Jahre nach der Grenzöffnung – Erinnern und bewahren als gesamtdeutsche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12 Modellprojekt zur Auseinandersetzung mit antidemokratischen Positionen an niedersächsischen Schulen . . . . . . .14 2. Forschungsfelder des Instituts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Projekte in der Gesamtübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Aktuelle Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 Abgeschlossene Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 4. Promotionskolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 5. Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5.1 Direktorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38 5.2 Wissenschaftliches Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 5.3 Aktuelle Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51 6. Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 7. Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 8. Vorträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 9. Kooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4 1. Aktuelles aus dem Institut Inclusive Citizenship - Eine zentrale Herausforderung für die Didaktik der Demokratie Von Dirk Lange , Detlef Schmiechen-Ackermann , Steve Kenner und Christian Hellwig 1. CINC – Das Center for Inclusive Citizenship Im Jahr 2017 wurde an der Leibniz Universität Empfindung, von der politischen Entscheidungs- Hannover das Forschungszentrum „Center for bildung und von gesellschaftlicher Teilhabe Inclusive Citizenship“ (CINC) gegründet. Bei For- ausgeschlossen zu sein, eine wichtige Rolle zu schungszentren handelt es sich um interdisziplinär spielen. Tatsächlich sind auch vielfältige Formen arbeitende Zusammenschlüsse von Professuren von Exklusion und Nicht-Zugehörigkeit in unserer und ihren Arbeitsbereichen, die fächer- und fakul- Gesellschaft zu beobachten. Sie resultieren unter tätsübergreifend ausgerichtet sind. Das Institut anderem aus sozio-ökonomischen Faktoren, aus für Didaktik der Demokratie ist Bestandteil dieses migrationsbiographischen Benachteiligungen oder Zentrums und unmittelbar an der Gründung des auch aus technischen Aspekten wie den digitalen Forschungszentrums beteiligt gewesen. Das CINC Kluften zwischen digital natives und Menschen, befasst sich interdisziplinär mit der Theorie und die keinen Anschluss an die digitale Welt gefunden der Praxis von Inclusive Citizenship, aber auch der haben. Offenkundig wird diese Distanz vor allem empirischen Analyse von aktuellen und histori- in der digitalen Öffentlichkeit. Die mannigfaltigen schen Exklusionsprozessen. Unter seinem Dach Ausprägungen von Praxen des Ausschlusses in arbeiten auch die beteiligten Wissenschaftlerinnen einer von Diversität geprägten Gesellschaft sowie und Wissenschaftler des IDD an Fragen des gesell- die Vertrauenskrise in Bezug auf die Grundlagen schaftlichen Zusammenhalts in Lern-, Lebens- und von Staat und Gesellschaft erfordern eine umfas- Arbeitswelten. Die Institutionalisierung dieser sende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Forschungsperspektive an der Leibniz Universität Strukturen und Wahrnehmungen gesellschaft- Hannover bietet die Möglichkeit für eine syste- licher Zugehörigkeit. Zentrale Forschungsfelder matische Auseinandersetzung mit den sich rasch und Anwendungsbereiche werden im Folgenden wandelnden Bedingungen für politische Partizi- genauer skizziert. pation und zivilgesellschaftlichem Engagement in der digitalisierten Welt. Als interdisziplinäres Forschungszentrum will CINC einen substantiellen Beitrag zur Beantwortung der Fragen nach den Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen des Zusammenhalts in einer (digitalisierten) Gesell- schaft leisten. Für das IDD stehen dabei die drei konzeptionellen Zugänge Inklusivität, Citizenship und Bildung im Vordergrund. Warum sind diese Themen für die Forschungstätigkeiten im Rahmen des For- schungszentrums und des IDD von Bedeutung? Aktuelle Entwicklungen lassen den Schluss zu, dass Teile der Gesellschaft das bestehende politische System nicht mehr unterstützen und zur parlamentarischen Demokratie und ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten auf Distanz gehen. Dabei scheint die subjektive
5 Inclusive Citizenship – eine Begriffsklärung Zunächst gilt es den Ausgangspunkt der For- Das republikanische Verständnis von Citizenship schungsperspektive hervorzuheben: Kritik an zielt dabei vor allem auf die Partizipation an der Exklusionsmechanismen. Citizenship ist ein Gemeinschaft, häufig insbesondere auf das Recht unscharfer, kontextabhängiger Begriff, der auch in zu wählen und gewählt zu werden. Das liberale der Wissenschaft je nach Disziplin, politischer Ori- Verständnis beschreibt die Rechte der/des Einzel- entierung und diskursivem Kontext ganz verschie- nen gegenüber der Gemeinschaft. Die Forschungs- den verwendet wird. Häufig wird er im juristischen perspektive Inclusive Citizenship stellt zwei andere Sinne auf Staatsbürgerschaft reduziert. In der Bedeutungsdimensionen des Begriffs ins Zentrum klassischen politisch-philosophischen Ideenge- ihrer Analyse: Statuszuschreibung und Aktion. schichte wird der Widerspruch zwischen einem Damit lehnt sie sich an Diskussionen innerhalb der republikanischen und einem liberalen Verständnis Citizenship Studies an (vgl. u.a. Turner 2016) und ins Zentrum der Darstellung gerückt. konzeptionalisiert die dort erarbeiteten Ideen für den Kontext der historisch-politischen Bildung. Citizenship in Diversity Um die Analyse von Citizenship als Statuszuschrei- Exklusion als Exklusion in der Gesellschaft, nicht bung zu ermöglichen, wird die Diskussion in den aus der Gesellschaft verstanden. Citizenship Studies um die Debatten zur Inklusion erweitert. Hier wird u.a. Bezug genommen auf Mit einem interdisziplinären Forschungsansatz Studien in den Themenbereichen Migration, Armut werden empirische und theoretische Expertise und Behinderung (vgl. u.a. Kleinschmidt und Lange der Informationstechnologie sowie der Sozial-, 2016). Der in diesen drei Feldern stattfindende Sprach- und Bildungswissenschaften nutzbar Paradigmenwechsel lässt sich trotz aller Unter- gemacht und miteinander verzahnt. Auch für schiede verallgemeinern und wird somit auch Digital Citizenship Education ist von den zwei auf andere Felder anwendbar, wie beispielsweise Bedeutungsdimensionen des Citizenship-Begriffs Exklusion aufgrund von Sexualität, Geschlecht, auszugehen: Statuszuschreibung der (Nicht-) vermeintlicher ethnischer, kultureller oder religi- Zugehörigkeit auf der einen und Praxen der öser Zugehörigkeit oder Alter. Es geht hier nicht Bürgerschaft auf der anderen Seite. In Bezug auf darum, die so begründeten Exklusionsmechanis- eine digitale Gesellschaft können diese Praxen men gleichzusetzen und damit ihre Spezifika zu durch digitale Medien vereinfacht, aber auch überdecken. Vielmehr soll das Zusammenwirken verunmöglicht oder gefährdet werden (vgl. Isin/ verschiedener Exklusionsmechanismen im Sinne Ruppert 2015). Kultursoziologisch wird dies in einer intersektionellen Perspektive (vgl. Urbanek Stalders (2016) Konzept der „Kultur der Digitalität“ 2013) analytisch fassbar werden. Der emanzipato- aufgenommen. Beschrieben wird hier, wie sich, rische Charakter von Inklusion in einer von Diver- getragen von einer digital-kulturellen Umwelt, sität geprägten Gesellschaft kann wie folgt beschrieben werden (Klein- schmidt/Kenner/Lange 2019: 409ff.): Inklusion und Exklusion stehen immer in einem Spannungsfeld zueinan- der. Eine Theorie und die Praxis von Inklusion bedarf daher auch einer Analyse von gesellschaftlichen Exklu- sionsmechanismen. Dabei werden die Exklusionsmechanismen und nicht die Exkludierten als defizitär betrachtet. Dies erscheint trivial, bricht jedoch vielfach mit gängigen hegemonialen Sichtweisen. Normalisierungspro- zesse und die damit einhergehenden Konstruktionen von Normalität und Devianz werden als Teil des Prob- lems der Exklusion begriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Konstruktion solcher Zuschreibungen niemals abgeschlossen ist, sondern sich immer wieder reproduziert und dabei verschiebt. Mit der Forschungs- perspektive Inclusive Citizenship wird
6 neue Formen der Vergemeinschaftung entwickeln ner 2014 und 2015) um die Arbeit des Hirnfor- (z.B. Commons, Neo-Gemeinschaften), sich aber schers Manfred Spitzer zu berücksichtigen, der zugleich historisch gewachsene demokratische unter Einbeziehung der Ergebnisse verschiedener Strukturen in Auflösung befinden (z.B. durch die Studien zu dem Schluss kommt, dass die Nutzung Akzentuierung postdemokratischer und populis- digitaler Medien eine negative Wirkung insbeson- tischer Tendenzen oder durch Fundamentalismus). dere auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns von Erkenntnisreich daran ist, dass sich vor allem sin- Kindern und Jugendlichen hat. Neue Partizipa- guläre Akteurinnen und Akteure aus der Peripherie tions-, Kollaborations- und Artikulationsmöglich- in neuen Formen zusammenschließen und dabei keiten in sozialen Netzwerken und Plattformen, eigene Regeln der Entscheidungsfindung und der die stetige Weiterentwicklung der Smartphones Zugehörigkeit entwickeln, die wiederum inkludie- sowie das Wachstum der Computerspielbranche rend und exkludierend wirken. führen insgesamt dazu, dass digitale Lernformen Aktuelle repräsentative Studien (ARD/ZDF-Onli- nicht nur in unserer alltäglichen Lebensgestaltung, nestudie, BLIKK-Studie, KIM- und JIM-Studie), sondern auch in Schulen und anderen Bildungs- belegen den Stellenwert, den digitale und soziale einrichtungen einen immer größeren Stellenwert Medien im Leben aller Menschen einnehmen und einnehmen. Die Schule als wichtige Sozialisations- betonen dabei die Bedeutung dieser Medien für instanz rückt daher immer weiter in den Fokus und Kinder und Jugendliche. Die digitale Sozialisierung muss dies in ihr didaktisches Konzept einbeziehen beeinflusst die Identitätsbildung von Digital- (vgl. u.a. Kenner/Lange 2018a). Dabei darf sie sich Verweigerinnen und -Verweigern bis hin zu digital auch einem gewissen Paradigmenwechsel nicht natives. Dies führt unmittelbar zu Inklusions- und verschließen. Exklusionsprozessen innerhalb der Gesellschaft. Eine neue Form von digitaler Öffentlichkeit bringt Dabei gilt es Kommunikationsprozesse in analogen verstärkt neue Formen politischer Partizipation und digitalen Kontexten zu analysieren, um Kom- hervor ohne dabei jedoch bisher die „Partizipa- petenzen herauszuarbeiten, derer es bedarf, um tionsdefizite in der realen Welt kompensieren sicher und selbstbestimmt in den jeweiligen Wel- zu können“ (Ritzi/Schaal/Kaufmann 2012: 35). ten (re)agieren zu können. Dabei stehen Digitales Soziale Medien können dabei als demokratischer und Analoges längst in einer ständigen Wechsel- Artikulationsprozess verstanden werden, der durch beziehung zueinander. Die Forschung im Feld der „Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit, Ortsungebun- Digital Citizenship Education (vgl. Kenner/Lange denheit und Anonymität“ (Thimm 2016: 9) geprägt 2018a) steht aber noch immer in den Anfängen. ist. Social-Media-Plattformen sind zu einem inte- Zentral für die Forschungsarbeiten in diesem Feld gralen Bestandteil der Entstehung, Organisierung ist die Frage, wie mediale und gesellschaftliche und Mobilisierung von Protest geworden. Unklar Macht- und Herrschaftsprozesse durch alternative ist allerdings bis heute, inwiefern diese unkonven- Medienpraktiken reproduziert, aber auch hinter- tionellen Beteiligungsformen eher von Menschen fragt werden können (vgl. u.a. Wimmer 2015). mit hohem sozio-ökonomischen Status genutzt Digitale Welten und soziale Medien stellen werden und dementsprechend die Entstehung Chancen, aber auch Herausforderungen für die einer Partizipationselite noch stärker forciert wird. Demokratiebildung und die freiheitliche Gesell- Soziale und politische Beteiligung am gesellschaft- schaftsordnung dar (vgl. Ebel/Zorn 2015). Neben lichen Leben und eine etwaige Verschiebung von der theoretischen Arbeit muss sich Forschung Macht- und Herrschaftsverhältnissen und deren zur Digital Citizenship Education auch mit dem Instrumenten in der digitalen Gesellschaft werden Einfluss moderner Medien auf Lernprozesse daher vermehrt zu wesentlichen Elementen der auseinandersetzen. Hierzu ist unter anderem die Forschungsarbeit. wissenschaftliche Kontroverse (vgl. Appel/Schrei- Active Citizenship Unter Berücksichtigung der sich stetig verändern- verdichten sich in diesem Spannungsverhältnis den Bedingungen für (politische) Partizipation, die Auseinandersetzungen (struggles) um die ist eine reflektierte Auseinandersetzung mit Frage der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit Citizenship als Konzept für Teilhabeprozesse von selbst. Dies stellt für ihn den Kern des Politischen großer Bedeutung. Das dritte hier beschriebene dar (vgl. Turner 2016: 141). Durch die Forderung Forschungsfeld nimmt eine weitere Perspektive der Teilhabe der Anteillosen bzw. Exkludierten in den Blick: Citizenship als act (Isin und Niel- wird infrage gestellt, wer überhaupt oder bis zu sen 2008). Darunter sind nicht bzw. nur unter welchem Grad citizen (im Sinne der Statuszu- bestimmten Bedingungen formalisierte Formen schreibung) ist. Damit rücken neben dem bislang und Prozesse von Mitbestimmung zu verstehen. dominierenden Fokus auf Statuszuschreibungen Mit dem Politikwissenschaftler Joe Turner können nun auch alltägliche Praxen und Kämpfe um diese acts als der andere Pol eines Spannungs- citizenship in den Blick. verhältnisses verstanden werden. Nach ihm
7 Citizenship Education Für die bildungspraktische Arbeit ist auf Grundlage des hier skizzierten Forschungsansatzes Inclusive Citizenship wichtig, zu verstehen, dass politische Lernprozesse nicht davon geprägt sein dürfen, prinzipiell gegenwärtig bestehende gesellschafts- politische (Macht- und Herrschafts-)Verhältnisse zu bewahren oder zu verteidigen. Citizenship Education bedeutet mehr als nur Menschen in die Lage zu versetzen, sich in bestehende politische, ökonomische, gesellschaftliche Systeme einzu- gliedern und darin zu funktionieren. Mündige Menschen, unabhängig von einem ihnen zuge- schriebenen Bürgerschaftsstatus, müssen befähigt werden, „Herrschafts- und Machtstrukturen zu analysieren, sich ein kritisch-reflektiertes Urteil zu bilden und mögliche Handlungsstrategien zu im Prozess des Erwerbs von Emanzipationswissen Wandgestaltung im Kliptown kennen, um selbst aktiv politische Prozesse nach- (Negt 2018: 21f.) zu begleiten. Youth Project, Soweto, South haltig beeinflussen zu können“ (Kenner und Lange Bildungseinrichtungen müssen (jungen) Menschen Africa, 2017 2018b: 9). vermitteln, wie soziale Konstruktionen entstehen. Um dieses Ziel erreichen zu können, dürfen Hete- Insbesondere müssen Bildungsprozesse aufzeigen, rogenität und Diversität auch im Bildungskontext dass diese veränderbar sind. Neben der Sprachbil- nicht als Problem oder Gefahr wahrgenommen dung, die Menschen zu einer adäquaten Nutzung werden. Der Wandel hin zu einer Migrationsgesell- dieses Kommunikationsinstruments befähigt, schaft hat bestehende Denkmuster und Vorstellun- ist der historisch-politischen Bildung daher eine gen gesellschaftlichen Zusammenlebens verändert. besondere Verantwortung beizumessen. Mit ihrer Migrations- und Einwanderungsprozesse, aber Hilfe kann es gelingen, bestehende Macht- und im Besonderen der soziale Wandel in Form von Herrschaftsverhältnisse in politischen Prozessen zu sozio-ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen erkennen, zu analysieren, zu hinterfragen und zu offenbaren, dass Heterogenität vor allem ein verändern. Sie befähigt junge Menschen darüber soziales Konstrukt ist. Diese Erkenntnis ist ein hinaus aber auch dazu, im Alltag Ausgrenzungs- prägendes Element inklusiver und emanzipativer mechanismen und Diskriminierungsstrategien historisch-politischer Bildungsarbeit. Es geht daher wahrzunehmen und ihre eigene Rolle darin kritisch darum, jungen Menschen nicht nur den Zugang zu reflektieren. zu Verfügungswissen bereitzustellen, sondern sie 2. Inclusive Citizenship aus der Perspektive aktueller Projekte des IDD Fragen von Inklusion und Exklusion, von Teilhabe schichte. Das Spannungsverhältnis von propa- und Zuschreibungen werden durch Projekte des gierter Inklusion (d.h. einer repressiven Gemein- IDD unter dem Dach des Forschungscenters CINC schaftspolitik, die sich über die Sehnsuchtsformel aber nicht nur für aktuelle gesellschaftliche Kon- der „Volksgemeinschaft“ sehr geschickt als eine fliktfelder und Bildungsprozesse untersucht, son- Politik des Versprechens, z.B. auf mehr Konsum- dern auch in historisch-analytischer Perspektive. möglichkeiten, präsentierte) und einer immer Dabei steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, radikaler werdenden Exklusionspolitik bis hin zum wie Gesellschaften nach der Überwindung einer Holocaust bildete geradezu die konzeptionelle Diktatur mit den Folgen totalitärer oder autori- Leitlinie des zwischen 2007 und 2015 bearbeiteten tärer Herrschaft umgehen. Derzeit befindet sich Forschungsverbundprojektes „Nationalsozialisti- ein Projekt in Vorbereitung, in dem Diktaturfolgen sche ‚Volksgemeinschaft‘? Konstruktion, gesell- und Prozesse der Diktaturüberwindung (z.B. durch schaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Transitional Justice) im weltweiten Maßstab und in Ort“. Der aus der im Juni 2015 durchgeführten vergleichender Perspektive in den Blick genommen Abschlusstagung hervorgegangene Sammelband werden sollen. bündelt die Ergebnisse einer nach wie vor kont- roversen Debatte zum Erkenntnisgewinn durch Aufbauen kann dieses neue Projekt zum Beispiel die mit dem Leitbegriff der „Volksgemeinschaft“ auf den sehr umfangreichen Forschungen des arbeitende neuere NS-Forschung (Schmiechen- IDD zum Nationalsozialismus und seiner Nachge- Ackermann u.a. 2018a). Mit besonderer Präg-
8 gesellschaftlichen Lebens nach dem Zivilisations- bruch des Nationalsozialismus als eine Problem- geschichte oder aber zumindest auch als eine Erfolgsgeschichte zu schreiben ist. Ein zweites traditionelles Standbein des IDD im Bereich der Diktaturforschung bilden die zahl- reichen in der Vergangenheit durchgeführten Projekte zur SED-Herrschaft und speziell zur Frage der innerdeutschen Grenze (als exemplarisches Beispiel: Schwark/Schmiechen-Ackermann/Haupt- meyer 2011; zur medialen Rezeption: Hellwig 2018). Ein aktuell laufendes Projekt zu den Grenz- museen wird in diesem Heft näher vorgestellt. In einem derzeit in Vorbereitung befindlichen For- schungsvorhaben soll die „West-Arbeit“ der Stasi, d.h. konkret das Ausspionieren von Behörden, „Würde und Demokratie – ja“. Stra- nanz konnte beispielsweise für die Juristen des Betrieben und Persönlichkeiten in Niedersachsen, ßenparole in Barcelona, Oktober Sondergerichtes Bremen aufgezeigt werden, in im Mittelpunkt stehen. 2017 welch hohem Maße „volksgemeinschaftliche“ Im Rahmen des am IDD angesiedelten Forschungs- Denkmuster nicht nur vor, sondern auch noch projektes „Cultural Heritage als Ressource“ zeigt nach 1945 prägend waren (Schoenmakers 2015). sich, in welchem Maße aktuelle Fragen von Das im Herbst 2018 abgeschlossene Projekt zur Teilhabe, Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Geschichte der Klosterkammer Hannover (Schmie- kultureller Identität auch sehr eng mit Fragen der chen-Ackermann u.a. 2018b) analysierte nicht nur, demokratischen Legitimation verbunden sind. welche Belastungen aus der NS-Zeit für diese über „Cultural Heritage“ (Kulturerbe) wird in unseren die Epochengrenzen 1933 und 1945 hinweg fast Forschungen nicht als eine Art materielle Wider- unverändert bestehen bleibende Verwaltung zu spiegelung von „Geschichte“ verstanden, sondern konstatieren waren, sondern beleuchtete auch die im Sinne der Critical Heritage Studies als ein Kon- Problematik eines verpassten Neuanfangs nach strukt, das in heutigen Diskursen erst geschaffen 1945, der aus der Haltung resultierte, sich nicht wird. David Lowenthal (1985) folgend, kann man kritisch mit dem Handeln der eigenen Behörde „heritage“ als das verstehen, was Akteurinnen und während der nationalsozialistischen Herrschaft Akteure aus der Vielfalt historischer Erfahrungen auseinander setzen zu wollen. und Prozesse auswählen, um sich selbst über his- Die noch laufende Untersuchung zu Raumfor- torische und kulturelle Traditionen zu definieren. schung und Landesplanung (zur Bedeutung der Folglich wird in der alltäglichen Praxis des doing Kategorie „Raum“ vgl. Werner 2018) in Nieder- cultural heritage wie auch in der tourismusrele- sachsen fragt ebenfalls nach institutionellen vanten cultural heritage industry kontinuierlich „Kontinuitäten und Neuorientierungen“ sowie die Frage verhandelt, wessen „heritage“ eigentlich ganz gezielt nach dem Fortwirken von personellen bewahrenswert ist (Hall 2005) und durch erinne- Netzwerken am Wissenschaftsstandort Nieder- rungskulturelle Aktivitäten gepflegt werden soll. sachsen. Ein weiteres Projekt, zu einem Nieder- Was gehört dazu – und wer gehört dazu? Die Aus- sachsen vorübergehend stark prägenden Wirt- wahl, was zum kulturellen Erbe gehören soll, und schaftssektor, befindet sich derzeit in Vorbereitung. was nicht, ist ein Prozess der Inklusion und der In allen diesen Fällen geht es um die Frage, wieviel Exklusion auf dem Gebiet der Kultur – und damit Bruch und Neuanfang nach 1945 zu konstatieren relevant für die Frage des Selbstverständnisses und ist, wieviel Kontinuität und Fortwirken alter Struk- des Zugehörigkeitsgefühls von sozialen Gruppen turen es aber zugleich auch gegeben hat. Damit und Individuen. Wie konfliktreich, hochpolitisch fügen sich diese Forschungen zur niedersächsi- und tagesaktuell sich derartige Konflikte gestalten schen Zeitgeschichte ein in den auf nationaler können, hat sich sehr eindrucksvoll im Rahmen der Ebene seit einigen Jahren dominierenden For- derzeit durchgeführten Analysen zu „urban heri- schungstrend in der neueren Behördenforschung, tage“ als Ressource gezeigt. In diesem Teilprojekt die nicht mehr vorrangig die aus der NS-Zeit des noch laufenden Verbundforschungsprojektes resultierenden Belastungen bilanziert, sondern vor „Cultural Heritage als Ressource?“ (CHER) wird allem auch nach dem Umgang mit dem Erbe der neben Berlin, Breslau und Manchester auch das diktatorischen Vergangenheit nach 1945 fragt (als Fallbeispiel Barcelona untersucht. Versuch einer Bilanz: Creuzberger/Geppert 2018). Eine Erweiterung und Vertiefung des CHER- Mit Blick auf die Landeszeitgeschichte des 1946 Verbundprojektes wird derzeit in einem interdis- neu gebildeten Bundeslandes Niedersachsen wird ziplinären Arbeitszusammenhang mit weiteren in weiteren Forschungen zu untersuchen sein, in beteiligten Personen und Instituten der Leibniz welchem Maße die Gestaltung des politischen und Universität Hannover im Rahmen des Forschungs-
9 zentrums CINC aufgebaut. Der Forschungsschwer- New York, S. 23-35. Hellwig (2018): Die inszenierte Grenze. Flucht und Tei- punkt „Cultural Heritage und Inclusive Citizenship“ lung in westdeutschen Filmnarrationen während der Ära will sich vor allem durch eine Internationalisierung Adenauer, Göttingen. von Projektvorhaben weiter profilieren. Sehr Isin/Ruppert (2015): Being DigitalCitizens. London. interessante Arbeitskontakte sind im Rahmen einer Isin/Nielsen (2008): Introduction. In: Dies.: Acts of Citi- vom Präsidium der LUH organisierten Delegati- zenship, London/New York, S. 1–13, hier: S. 10. onsreise nach China entstanden. Bei Gesprächen Kenner/Lange (2018a): Digital Citizenship Education. an der Beijing Normal University, der Renmin Uni- Digitale Medienkompetenz als Aufgabe der Politischen versity Beijing und der Tongji University Shanghai Bildung. In: Forum Politische Bildung: Informationen zur wurde deutlich, wie viele interessante Berührungs- Politischen Bildung, Nr. 43, S. 13-18. punkte und gemeinsame Forschungsinteressen es Kenner/Lange (2018b): Einführung: Citizenship Edu- auf den Feldern der Pflege von „Cultural Heritage“ cation. In: Citizenship Education. Konzepte, Anregun- gen und Ideen der Demokratiebildung. Dies. (Hrsg.), und der Beschäfitgung mit Erinnerungskulturen Frankfurt/M., S. 9-20. gibt. Eine institutionelle Zusammenarbeit ist Kleinschmidt/Kenner/Lange (2019): Inclusive Citizenship bereits nach einem im Februar 2019 sehr erfolg- als Ausgangspunkt für emanzipative und inklusive politi- reich durchgeführten Workshop mit dem Man- sche Bildung in der Migrationsgesellschaft. In: Natarajan chester Centre for Public History and Heritage (Hrsg.): Sprache, Flucht, Migration: Kritische, historische (MCPHH) vereinbart worden. und pädagogische Annäherungen. Wiesbaden. Der Transfer von Forschungsergebnissen in eine Kleinschmidt/Lange (2016): Demokratie, Identität und möglichst breite Öffentlichkeit im Sinne einer Citi- Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats. Inclusive zenship Education gehört bei allen durchgeführten Citizenship Education als neuer Ansatz der Politischen Forschungsprojekten zu den originären Aufgaben Bildung. In: Forum Politische Bildung: Informationen zur des Instituts für Didaktik der Demokratie. Ende Politischen Bildung 40: S. 13 –19. Lange/Kleinschmidt (2017): Inclusive Citizenship März 2019 wurde im Historischen Museum die Education. Politische Bildung in der Einwanderungsge- Ausstellung „Treck(er) nach Hannover“ eröffnet. sellschaft. In: Populismus – Gleichheit – Differenz. Her- Thematisch geht es im Rahmen dieser Ausstel- ausforderungen für die politische Bildung. Diendorfer/ lung nicht nur um Auseinandersetzung mit den Sandner/Turek (Hrsg.), Schwalbach am Taunus, S. 63–82. Anfängen der Protestbewegung gegen die Atom- Lowenthal (1985): The Past is a Foreign Country, Cam- energie, sondern stets um Fragen demokratischer bridge.Ritzi/Schaal/Kaufmann (2012): Zwischen Ernst Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten. Mit der und Unterhaltung. Eine empirische Analyse der Motive Konzeption einer entsprechenden Ausstellung politischer Aktivität junger Erwachsener im Internet. durch eine studentische Projektgruppe konnte Hamburg. das Thema in einer niedrigschwelligen Form der Schmiechen-Ackermann (2018a): Der Ort der „Volksge- Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Histo- meinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn. rische und politische Bildung sind somit im Sinne Schmiechen-Ackermann u.a. (2018b): Die Klosterkammer einer Didaktik der Demokratie und dem damit Hannover 1931-1955. Eine Mittelbehörde zwischen wirt- verbundenen Konzept einer Inclusive Citizenship schaftlicher Rationalität und Politisierung, Göttingen. konstituierend. Dies gelingt im Institut für Didaktik Schoenmakers (2015): „Die Belange der Volksgemein- der Demokratie durch die hier beschriebenen schaft erfordern…“. Rechtspraxis und Selbstverständnis Forschungsprojekte, aber auch durch eine Vielzahl von Bremer Juristen im „Dritten Reich“, Paderborn. von EU-Projekte in Zusammenarbeit mit Partne- Schwark/Schmiechen-Ackermann/Hauptmeyer (2011), rinnen und Partnern in ganz Europa. Einige dieser Grenzziehungen – Grenzerfahrungen – Grenzüber- derzeit laufenden Projekte werden in diesem Heft schreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945-1990, vorgestellt. Darmstadt. Spitzer (2012): Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Nachweise und Referenzliteratur Kinder um den Verstand bringen. München. Appel/Schreiner (2015): Leben in einer digitalen Welt: Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Berlin. Wissenschaftliche Befundlage und problematische Thimm (2016): Digitale Gesellschaft. Zum Wandel der Fehlschlüsse. Stellungnahme zur Erwiderung von Spitzer (politischen) Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter. In: (2015). In: Psychologische Rundschau, 66, 119-123. Journal für politische Bildung, 1/2016, S. 8-15. Appel Schreiner (2014): Digitale Demenz? Mythen und Turner (2016): (En)gendering the political: Citizenship wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Inter- from marginal spaces, Citizenship Studies, 20/2, S. 141- netnutzung. In: Psychologische Rundschau, 65, S. 1-10. 155. Creuzberger/Geppert (2018): Die Ämter und die Vergan- Werner (2018): Raum und Gemeinschaft. Die Mobilisie- genheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutsch- rung der deutschen Wirtschaftseliten im „totalen Krieg“, land 1949-1972, Bonn. in: Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Ebel/Zorn (2015) Vorwort in Chancen und Risiken Gesellschaftsgeschichte. Schmiechen-Ackermann u.a. digitaler Medien in der Schule: Medienpädagogische und (Hrsg), Paderborn, S. 169-181. –didaktische Perspektiven. Gütersloh. Wimmer (2015): Alternative Medien, Soziale Bewe- Hall (2005): Whose heritage? Un-settling ‚the heritage‘, gungen und Medienaktivismus. In: Handbuch Cultural re-imagining the post-nation. In: Littler/Naidoo (2005): Studies und Medienanalyse. Hepp u.a.(Hrsg.), Wiesbaden, The Politics of Heritage. The legacies of ‘race’, London/ S. 191-199.
10 Power to the Bauer – 40 Jahre Gorleben-Treck, 40 Jahre Anti-Atombewegung in Deutschland Von Jenny Hagemann und Ecem Temurtürkan Gorleben Treck (Foto: Wolfgang Das „Beispiel Gorleben-Treck“ zeigt uns heute, dass eine Rede hielt. Gleichwohl: 100.000 Menschen Ehmke) und wie demokratische Teilhabe abseits instituti- hörten ihm zu. Denn es ging in dieser Rede nicht onalisierter Prozesse funktionieren kann. In Zeiten um Fragen der Landwirtschaft, sondern um die des Populismus, einer salonfähigen ,,Neuen Rech- Zukunft der bundesdeutschen Energiepolitik – und ten“ und einer stetig beklagten Demokratiemüdig- in den 1970er Jahren bedeutete dies: Atomkraft. keit gewinnt die Auseinandersetzung mit diesem Nachdem es an anderen möglichen Standorten brisanten Thema enorm an Bedeutung: Soziale bereits zu breiten Protesten durch die Bevölkerung Bewegungen und Proteste sind mehr als nur gekommen war, beschloss die Bundesregierung laute Unmutsbekundungen. Sie tragen zu einer gemeinsam mit der niedersächsischen Landesre- stetigen Erneuerung unserer Demokratie bei, deren gierung, das geplante Nukleare Entsorgungszen- Vitalität auf Beiträgen des Einzelnen fußt. Zivil- trum (NEZ) in Gorleben zu realisieren. Die Anlage gesellschaftliches Engagement wird so zu einer sollte die modernste und größte in ganz Europa wertvollen und unverzichtbaren Korrektivinstanz, werden. Sie versprach tausende neue industrielle durch die Demokratie „von unten“ gelebt wird. Im Arbeitsplätze für den ost-niedersächsischen Land- Wendland vereinen sich diese Vorgänge dabei auf kreis Lüchow-Dannenberg, der bis dahin nur dünn unvergleichbare Art und Weise. Als Praxislabor für besiedelt und hauptsächlich landwirtschaftlich Demokratieentwicklung ist es nicht mehr aus der geprägt war. Zudem bot die Landesregierung den deutschen Protestgeschichte wegzudenken. Landwirt*innen hohe Summen für ihr Land, um es im Anschluss bebauen zu können. „Mein lieber Herr Albrecht...“ - so begann Heinrich Und tatsächlich nahmen einige Ortsansässige die- Pothmer seine Rede am 31. März 1979 in Hanno- ses Angebot auch an. Womit man in der Kreispoli- ver. Es war das erste Mal, dass der junge Landwirt tik jedoch nicht gerechnet hatte, war der sofortige aus dem niedersächsischen Lüchow-Dannenberg und breite Widerstand, der sich unter der bis dahin
11 Informationen zum Projekt: Der Gorleben-Treck – 40 Jahre danach Kurzbeschreibung: An den „Gorleben-Treck“ im Leitung: Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann, Frühjahr 1979 als ein markantes Ereignis der nie- Prof. Dr. Thomas Schwark der-sächsischen Landesgeschichte sowie auch der Mitarbeitende: Jenny Hagemann, Dr. Christian Demokratiegeschichte der Bundesrepublik wird im Hellwig, Karolin Quambusch und Ecem Temurtür- kommenden Frühjahr mit einer am 26. März 2019 kan gemeinsam mit Katharina Rünger (Histori- zu eröffnenden Sonderausstellung im Historischen sches Museum Hannover), dem Gorleben-Archiv Museum Hannover sowie einem umfangreichen e.V. Lüchow, der Landeszentrale für politische Begleitprogramm mit didaktischen Angeboten und Bildung und einer Gruppe Studierender des Histo- Veranstaltungen zur politischen Bildung erinnert rischen Seminars der LUH. werden. Eine zeithistorische Tagung ist für Juni Kooperationspartner: Historisches Museum Han- 2019 geplant. nover, Gorleben Archiv e.V. Laufzeit: 03/2018 bis 10/2019 konservativ geprägten Wählerschaft formierte – die längst ein internationales Phänomen geworden ermöglicht durch eine enge Vernetzung bereits war, erhielt durch den Reaktorunfall zusätzlichen bestehender Bürgerinitiativen, die sich im Laufe Schwung, sodass am 31. März 1979 – als der Treck der frühen 1970er Jahre an anderen möglichen Hannover erreichte – rund 100.000 Menschen an Standorten gegründet hatten. Darunter war auch der Abschlusskundgebung teilnahmen, bei der die Bürgerinitiative Umwelt Lüchow-Dannenberg, auch Heinrich Pothmer seine Rede hielt. die bereits 1973 ins Leben gerufen worden war. Angesichts des öffentlichen Drucks gab Minister- Ihre Mitbegründerin Marianne Fritzen sah die präsident Albrecht am 16. Mai schließlich bekannt, Bekanntgabe der Standortauswahl gemeinsam dass der Bau der mitgeplanten Wiederaufberei- mit der Presse, dem Bauernverband und vielen tungsanlage „politisch nicht durchführbar“ sei. Anderen im Lüchower Gildehaus im Fernsehen. Indes wurden die Probebohrungen und Erkun- Sie erinnerte sich an die Wut und das Entset- dungen des Salzstocks Gorleben fortgesetzt, bis zen der Landwirt*innen, als Ernst Albrecht – der am 8. Oktober 1984 – dem sogenannten „Tag X“ niedersächsische Ministerpräsident, den Heinrich – der erste Güterzug mit schwach- bis mittelra- Pothmer in seiner Rede ansprach – am 22. Februar dioaktivem Atommüll den Landkreis erreichte. Zu 1979 um 16 Uhr bekannt gab, das NEZ werde rund diesem Zeitpunkt hatte sich der Landkreis längst um den unterirdischen Salzstock bei Gorleben zum Zentrum der deutschen Anti-Atombewegung entstehen. Denn für die Landwirt*innen war klar: entwickelt. Zu der nach wie vor hauptsächlich Ein solches Lager – und damit die Gefahr einer landwirtschaftlich geprägten Bevölkerung vor Ort möglichen atomaren Verseuchung – bedrohte die gesellten sich nun vermehrt Kunst- und Kultur- gesamte eigene Existenz. Es ging dabei nicht nur schaffende, die von der Kreativität und Vielfalt um den eigenen Grund und Boden, sondern auch der Bewegung ebenso angezogen wurden wie sie um die eigene Gesundheit. sie selbst mitprägten. Die Entwicklungen rund um Schnell entstand daraufhin der Wunsch, dem das Thema Atomkraft veränderten aber nicht nur Protest eigenständig Ausdruck zu verleihen. den Landkreis Lüchow-Dannenberg als Region, Obwohl das Thema auch zahlreiche linksorientierte die wir heute als das Wendland kennen. Mit der Gruppen aus den umliegenden Städten anzog, Gründung der „Grünen“ 1980 und ihrem Einzug sollte es eine Aktion sein, die von den betroffenen in den Bundestag im Jahre 1983 veränderte sich Landwirt*innen selbst ausging. Das Ergebnis war auch die sozio-politische Landschaft der gesam- die Idee eines „Trecks“ in die Landeshauptstadt ten Bundesrepublik. Insbesondere im Bereich Hannover, an dem sich rund 300 Landwirt*innen von Umwelt- und Ökologiefragen sind aus den mit ihren Treckern beteiligten. Geschmückt mit vielfältigen dezentralen Projekten und Initiativen zahlreichen Bannern, auf denen sie ihren Sorgen rund um die Anti-Atombewegung nachhaltige und ihrer Wut Ausdruck verliehen, starteten die Impulse erwachsen, die auf längere Sicht auch die Trecker am 25. März in Gedelitz ihre Fahrt nach Entscheidungsfindung in kommunalen Gremien Hannover. Sie wurden von hunderten Menschen und Verwaltungen sowie im Parlament beeinflusst zu Fuß, zu Fahrrad oder mit dem Auto begleitet. haben. Der Widerstand gegen die Nutzung der Gleichzeitig fand die wissenschaftliche Ausein- Atomkraft entwickelte sich so zu einer sozialen andersetzung mit den Gefahren der Atomkraft in Bewegung, die schließlich zu erheblichen Verände- Hannover im Rahmen eines internationalen Sym- rungen in der öffentlichen Wahrnehmung und im posiums statt. Als es am 28. März in Harrisburg, institutionellen Parteiensystem geführt hat – bis USA, zu einer teilweisen Kernschmelze des Kraft- hin zum im Frühjahr 2011 von der Bundesregie- werks „Three Miles Island“ kam, verschärfte sich rung beschlossenen Atomausstieg. die Situation zusätzlich. Die Anti-Atombewegung,
12 30 Jahre nach der Grenzöffnung – Erinnern und bewahren als gesamtdeutsche Aufgabe Von Christian Hellwig, Karolin Quambusch und Christine Schoenmakers Foto: Ehemaliger Grenzturm und Im Februar des vergangenen Jahres bemängelte dass Abschottung und Grenzziehungen natürlich Rekonstruktion eines Stücks Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundestif- keineswegs generell überwunden wurden und die Grenzzauns in Popelau (Gemeinde tung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in einem daraus hervorgegangen Migrations- und Flucht- Amt Neuhaus, Landkreis Lüneburg) Gespräch mit „n-tv.de.“, dass die Auseinander- bewegungen allgegenwärtig sind. Sie gehören zu setzung mit der DDR und deren Überwindung zu den akuten gesellschaftlichen Herausforderungen, oft als ostdeutsches Regionalthema und nicht als denen wir uns in den letzten Jahren ganz verstärkt gesamtdeutsches wahrgenommen würde. Anlass auch hierzulande stellen müssen. Historisches des Interviews war der sogenannte Zirkeltag. Am Lernen in einer Migrationsgesellschaft bedeutet 5. Februar 2018 waren seit dem Fall der Berliner in der Folge eben auch eine Antwort auf die Frage Mauer exakt 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage zu finden, warum die Erinnerung an die DDR auch vergangen. Ebenso lange ist die Stadt durch die für nachgeborene Generationen von Bedeutung ist Berliner Mauer geteilt gewesen und auch wenn und was im Zuge der Auseinandersetzung mit der das Thema der Teilung in der bundesdeutschen deutschen Teilung und der innerdeutschen Grenze Hauptstadt auf zahlreichen Ebenen nach wie vor daraus gelernt werden kann. erinnerungskulturell verhandelt wird, so ist Anna Kaminsky dennoch zuzustimmen: Im Westen der Am 9. November 2019 wird sich der Fall der Republik, in jenen Regionen, die auch zu Zeiten Berliner Mauer und die Grenzöffnung entlang der der Teilung nicht unmittelbar von der Grenze beinahe 1400 km langen innerdeutschen Grenze betroffen gewesen sind, spielt die Erinnerung an zum 30. Mal jähren. Während die Berliner Mauer Teilung und Grenze allzuoft nur eine untergeord- in der medialen Öffentlichkeit gerade anlässlich nete Rolle. dieses Jubiläums stark präsent sein wird, hat der Erinnerungsort der deutsch-deutschen Grenze im Dabei ist der historisierende Blick auf die deutsche öffentlichen Gedenken und Bewusstsein nur eine Zweistaatlichkeit nach Ende des Zweiten Weltkrie- vergleichsweise geringe Bedeutung. Kein Wunder, ges nicht nur hinsichtlich der Aufarbeitung und denn seit dem 13. August 1961 war vor allem die Vergegenwärtigung dieses Kapitels der deutschen Berliner Mauer zum herausragenden Symbol der Geschichte von Bedeutung. Wer ganz aktuell mit deutschen Teilung geworden. Dieses Ungleich- offenen Augen auf die gesellschaftlichen Trans- gewicht findet sich nicht nur auf der Ebene der formationsprozesse in Deutschland, in Europa Erinnerungskultur: Auch die wissenschaftliche sowie in der ganzen Welt blickt, muss erkennen, Forschung hat der innerdeutschen Grenze recht
13 wenig Beachtung geschenkt – und das obwohl Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz mit der Grenzöffnung in den 1990er Jahren auch Universität Hannover gestartet ist und in Koopera- die DDR-Archive zugänglich wurden. Die meis- tion mit dem Landkreis Lüchow-Dannenberg und ten Studien, die bisher zum Thema entstanden der Metropolregion Hamburg mit einer Laufzeit sind, widmen sich vorrangig der Einordnung und von 24 Monaten durchgeführt wird. Die Ausrich- Bewertung der Geschichte der DDR, beschreiben tung des Projektes zielt auf die Etablierung einer die technische Konstruktion des Sperrwalls oder nachhaltigen und attraktiven Erinnerungsarbeit gehen auf dessen militärische Sicherung ein – die und -vermittlung im Einzugsgebiet der Metro- Grenze als relevanter Einflussfaktor für den Alltag polregion Hamburg ab. Diese soll – ausgehend der Menschen „hüben“ wie „drüben“ kommt, wenn vom Projekt „Grenzgeschichte(n)“ – in doppelter überhaupt, nur als Fußnote vor. Hinsicht wirken: Zum einen werden durch gezielte inhaltlich-konzeptionelle Schwerpunksetzungen Das erstaunt gerade vor dem Hintergrund, dass die einzelnen Standorte profitieren und dadurch die Erinnerungen an die Grenze als materialisierter in ihrer Profilbildung gestärkt. Durch intensive Ort der Teilung nicht nur in Berlin, sondern gerade Vernetzung der Einrichtungen untereinander wird an vielen Orten entlang der ehemaligen Demarka- zudem die Reichweite und Strahlkraft der Erinne- tionslinie immer noch lebendig sind. Mittlerweile rungsarbeit zur Geschichte der deutschen Teilung gibt es eine Vielzahl an größtenteils populärwis- im Einzugsgebiet der Metropolregion gebündelt senschaftlichen Schilderungen, Dokumentationen, und damit die Attraktivität für den Tourismus in Zeitzeug*innenberichten und -interviews über das der Region sowie für weitere potentielle Ziel- Thema „Grenze“, die vor allem auf dem Engage- gruppen, wie z.B. (Volkshoch-)Schulen oder die ment interessierter Bürger_innen oder Heimathis- Bundeswehr, gesteigert. Ziel ist die Erarbeitung toriker_innen fußen. Die damit einhergehenden einer Bestandsaufnahme von Orten, Einrichtungen Probleme sind offensichtlich: Ohne institutionelle und Projekten, die im Bereich der Metropolregion Förderung besteht die Gefahr, dass ein Teil der an der „Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche gesammelten Objekte und der Erfahrungsschatz Grenze“ beteiligt sind. Aus diesem Prozess lassen der Zeitzeug*innen verloren geht. In Bezug auf die sich in der Folge Handlungsempfehlungen für eine zahlreichen kleinen und ehrenamtlichen Einrich- gebündelte und vernetzte Gedenklandschaft in der tungen entlang der ehemaligen Grenze muss sich Region ableiten. Des Weiteren werden Angebote also zwangsläufig die Frage stellen, wie deren für die (Weiter-)Entwicklung vorhandener Kon- Zukunft gesichert werden kann, wie die Sammlun- zepte geschaffen sowie auf die einzelnen Einrich- gen bewahrt und systematisiert werden können tungen zugeschnittene didaktische Materialien und wie ein Netzwerk der verschiedenen Einrich- erstellt. tungen etabliert werden kann. An diesem Punkt setzt das Forschungsprojekt „Grenzgeschichte(n)“ an, das im Oktober 2018 am Informationen zum Projekt: Grenzgeschichte(n) – Die „Erinnerungslandschaft tung), Karolin Quambusch, Dr. Christine Schoen- deutsch-deutsche Grenze“ in der Metropolregion makers Hamburg Studentische Mitarbeiterinnen: Katja Fiedler, Jelena Leitung: apl. Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Acker- Fürstenberg, Wienke Stegmann mann Förderung: Metropolregion Hamburg Mitarbeitende: Volumen: 341.000 € Wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterin- Laufzeit: 10/2018 - 10/2020 nen: Dr. Christian Hellwig (operative Projektlei-
14 Modellprojekt zur Auseinandersetzung mit antidemokrati- schen Positionen an niedersächsischen Schulen von Patrick Bredl Die Wahlerfolge rechter Parteien machen deutlich, sich häufig als „Einzelkämpfer“ und reagieren nicht dass antidemokratische Positionen kein Randphä- selten überfordert (vgl. Zurstrassen 2010). nomen darstellen. Auch Einstellungsforschungen zum Konzept der Gruppenbezogenen Menschen- Lehrkräfte nehmen die Äußerungen und Verhal- feindlichkeit (GMF) kommen zu alarmierenden tensweisen solcher Schüler*innen als äußerst Ergebnissen. So stimmen in Befragungen über herausfordernde und belastende Situationen wahr. 31% der Befragten der Aussage zu: „Durch die vie- Zugleich sind sie die entscheidende Akteure für len Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein eine demokratische Schul- und Unterrichtsent- Fremder im eigenen Land“ (Zick/Klein 2014, 67). wicklung. Lehrer*innen sehen sich mit einer Diversifizierung Das niedersächsische Modellprojekt beabsich- der Erscheinungsformen rechtsextremer Positi- tigt, die Handlungskompetenz von Lehrkräften onen konfrontiert und nehmen die Äußerungen an berufs- und allgemeinbildenden Schulen in und Verhaltensweisen solcher Schüler als äußerst der Auseinandersetzung mit antidemokratischen herausfordernde und belastende Situationen wahr Einstellungen in der Schülerschaft zu stärken. (vgl. Behrens 2014). Die grundsätzlichen Zielsetzungen des Projektes bestehen in einer inhaltlichen Kompetenzerweite- Lehrer*innen sind entscheidende Akteure für eine rung und einer Weiterentwicklung der Handlungs- demokratische Schul- und Unterrichtsentwicklung. strategien der beteiligten Lehrkräfte sowie einer Sie prägen langfristig die Schulkultur im Umgang Fortentwicklung bestehender Unterstützungssys- mit menschenfeindlichen und rechtsextremen Ein- teme zur Qualifizierung von Lehrkräften im The- stellungen und Verhaltensweisen, aber sie erleben menfeld Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
15 Leitung: Dr. Sebastian Fischer, im Sommerse- (GMF). Das niedersächsische Projekt orientiert sich mester 2019 vertreten durch Dr. Moritz Peter dabei konzeptionell an dem sächsischen Pilotpro- Haarmann jekt „Starke Lehrer – starke Schüler“. Koordination: Patrick Bredl und Tobias Grote Das Modellprojekt ist auf drei Jahre angelegt und Förderung: Robert Bosch Stiftung, Kultusministe- soll den Bedürfnissen vieler Lehrkräfte Rechnung rium Niedersachsen tragen, die sich passgenaue situative Hilfestellun- Volumen: 475.932 €; Anteil LUH: 222.000 € gen für den schulischen Alltag wünschen. Ziel ist Laufzeit: 11/2018 – 11/2021 Lehrkräfte direkt in ihrem Handeln zu stärken. Im Mittelpunkt stehen ein mehrjähriges Coaching und eine Prozessbegleitung in der Umsetzung von passgenauen Strategien. Diese Begleitung von Lehrerinnen und Lehrern wird durch eine gemein- same Planung, Durchführung und Reflexion von Verhaltens- und Reaktionsstrategien am Beispiel der eigenen Schule, der eigenen Klasse und des eigenen Fachunterrichts gewährleistet. Dabei gilt es zum einen die Erfahrungen aus der Evaluation des sächsischen Projektes zu berück- sichtigen und zum anderen die spezifischen Implementationsbedingungen im Bundesland Niedersachsen im Blick zu haben. In Kooperation mit dem niedersächsischen Kultus- ministerium und verschiedenen außerschulischen Partnern sollen die bereits in Sachsen erprobten Fortbildungsformate auf ihre Praktikabilität in westdeutschen Implementationskontexten geprüft werden, um auf diese Weise einen Beitrag zum Transfer der Erkenntnisse des Modellprojektes über die Grenzen Sachsens hinaus zu leisten.
16 2. Forschungsfelder des Instituts Die Demokratie steht gegenwärtig vor einer Reihe von Herausforderungen. Bei der Suche nach Antwor- ten, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, ist auch die Wissenschaft gefragt. Angesichts dieses Befundes hat sich im Jahr 2013 das Institut für Didaktik der Demokratie gegründet. Das Institut verfolgt den Ansatz einer anwendungsbezogenen Politik- und Geschichtswissenschaft, dessen Fundament die demokratiedidaktische Perspektive darstellt. Neben der wissenschaftlichen Forschung, zählen Transfer und Beratung zu den zentralen Aufgabenfeldern des Instituts. Inhaltlich lassen sich die Forschungstätigkei- ten des Instituts in fünf Feldern bündeln, die jeweils auf aktuelle Herausforderungen für die 3. Rechtsextremismus und Demokratie Demokratie verweisen: Bürgerbewusstsein und Das Erkenntnisinteresse dieses Schwerpunktes Partizipation; Diversität und Inklusion; Rechts- bewegt sich im Spannungsfeld von Demokratiebil- extremismus und Demokratie; Nationalsozialis- dung und Rechtsextremismusprävention. Für die mus und Diktaturerfahrung sowie Europäisie- Entwicklung nachhaltiger Bildungs- und Präventi- rung und Globalisierung. onsstrategien sind die Zusammenhänge zwischen Diskursen der Ausgrenzung in der „Mitte“ der Gesellschaft sowie rechtsextremer Politikformen und Denkweisen zu erforschen. In diesem Feld 1. Bürgerbewusstsein und Partizipation spielen Fragen der Menschenrechte und der Auf der einen Seite wird der Gesellschaft häufig demokratischen Grundwerte eine besondere Rolle. eine wachsende Distanz zu politischen Fragen Gefragt wird außerdem nach der Bedeutung von und zur Partizipation attestiert, insbesondere mit Politischer Bildung für eine kontinuierliche Demo- Blick auf Wahlen und Mitgliedschaften in Parteien. kratiepolitik. Auf der anderen Seite lässt sich aber beobachten, dass insbesondere die jüngere Generation sich 4. Nationalsozialismus und Diktaturerfahrung vornehmlich in der sozialen Lebenswelt engagiert Historisch-politische Bildungsarbeit in Deutsch- und unkonventionelle Formen der Partizipation land hat ihren thematischen Schwerpunkt in der wählt. Forschungsprojekte beschäftigen sich Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis- daher mit der Frage, wie das Bewusstsein für die mus und anderen diktatorischen Regimen. Aus unterschiedlichen Formen der Beteiligung an der Beschäftigung mit Gewaltherrschaft und demokratischen Verfahren entwickelt und gestärkt Unterdrückung lässt sich der Sinn demokratischer werden kann. Welche mentalen Konzepte bieten Werte erschließen. Im Mittelpunkt dieses Schwer- Jugendlichen und Erwachsenen Orientierung und punktes steht die Erforschung und Vermittlung Handlungssicherheit in der Demokratie? Welche von Strukturen, Bedingungen und sozialer Praxis subjektiven Vorstellungen sind im Politik- und der NS-Herrschaft sowie die Untersuchung der Geschichtsbewusstsein verankert und wie lassen Transformation der „NS-Volksgemeinschaft“ in sie sich in Lernprozesse integrieren? eine demokratische Bürgergesellschaft nach 1945. Daneben interessieren auch die Themenkomplexe 2. Diversität und Inklusion DDR, deutsche Teilung und Grenzregime als Nach- Die deutsche Gesellschaft wird zunehmend hete- geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem rogener und zeichnet sich durch Diversität aus. Weltkrieg. Bisher mangelt es an Konzepten, wie den damit verbundenen Herausforderungen wie sozialer 5. Europäisierung und Globalisierung Ungleichheit begegnet werden kann. Besonders in Die weltweite Vernetzung verschiedener Bereiche den Bereichen Schulentwicklung, Lehrplan- und wie Wirtschaft, Politik und Kultur erfordert neue Unterrichtsgestaltung sowie in der Lehrerbildung Konzepte, die den globalen Rahmenbedingun- besteht Handlungsbedarf. Aber auch in der non- gen gerecht werden. Es stellt sich die Frage, wie formalen Jugend- und Erwachsenenbildung stellt sich historisch-politische Bildung unter globalen sich die Frage, wie inklusive Bildung gelingen kann. Gesichtspunkten gestalten lässt und wie den damit Forschungen in diesem Feld interessieren sich verbundenen Herausforderungen begegnet werden für die sozialen und pädagogischen Prozesse der kann. Aus einer historischen Perspektive rückt Inklusion und Exklusion. Sie fragen, wie Prozesse zudem die politische Geschichte von Grenzen und der Inklusion und Anerkennung gefördert werden Entgrenzungen am Beispiel der deutschen Teilung können und Phänomenen wie Rassismus und in den Mittelpunkt. Ausgrenzung begegnet werden kann?
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