BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...

 
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BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...
TITELTHEMA

BONDO
                                                                                   Drei Millionen
                                                                              Kubikmeter Gestein
                                                                                  brachen ab und
                                                                                   bewegten sich
                                                                                Richtung Bondo:
                                                                                 23. August 2017

Drama
mit Ansage
Acht Menschen starben 2017 beim Bergsturz von Bondo.
Die Aufarbeitung der Ereignisse wirft die Frage auf:
Hätte sich ihr Tod verhindern lassen?

TEXT: STEFANIE HABLÜTZEL

                                                       FOTO: ANDREA BADRUTT

14 Beobachter 9/2021                                                          Beobachter 9/2021   15
BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...
Z
               wei Wochen vor dem Bergsturz
               schlug der Geologe Alarm. Der
               Experte, vom Kanton beauftragt,
               kennt den Piz Cengalo im bünd-      Bondo
               nerischen Bergell am besten. Er

                                                            Ma
                                                             ts                  VAL BOND
               hielt fest: Aus dem Innern des                                             AS

                                                             u
                                                                  tr                                CA
Bergs seien brechende Gesteinsbrücken zu                               as                                                                            lia
                                                                            se                                                              g   ag
hören. «Zusammen mit der aktuell erhöhten                                                                                               Bre
                                                                                                                 Sentiero Alpino
Blocksturzaktivität ein untrügliches Zeichen,
dass ein grösserer Sturz bevorsteht», schrieb
                                                                                                                                       Albignahütte
er per Mail und fett markiert dem Bündner Amt                                     Sasc-Furä-Hütte

                                                                                                         Ge
für Wald und Naturgefahren (AWN). Und er

                                                                                                         fah
                                                                                                                    Sciorahütte
empfahl am 10. August 2017, «die Val Bondasca

                                                                                                           ren
vorläufig nicht mehr zu betreten».

                                                                                                              zon
    Am Morgen des 23. August, einem Mitt-

                                                                                                               e
woch, bewahrheitete sich seine Vorhersage.
Der Berg kam und begrub bei Bondo acht Berg-
gänger unter bis zu 20 Metern Gestein und
Geröll. Der Krisenstab der Gemeinde Bergell,
zu der das Dorf Bondo gehört, hatte zuvor ent-                     I TA L I E N                          Pizzo Cengalo
schieden, das Bondasca-Tal offen zu lassen –                                                                3369 m
auf Empfehlung des Kantons. So steht es in              0    1 km
einer Aktennotiz der Gemeinde.
    Leiterin des Krisenstabs war die damalige
Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. Zu           dem zuständigen Geologen, die Wand habe                                           Die Position der
jenem Zeitpunkt wusste sie nichts von der         sich gegenüber dem Vorjahr «im Minimum»                                  Warnschilder bei den
Warnung des externen Geologen, erklärte sie       um zehn Zentimeter bewegt. Doch die Daten-                               SAC-Hütten und beim
schriftlich gegenüber der Staatsanwaltschaft.     lage sei schlecht, «die realen Verschiebungen                            Wanderparkplatz. Sie
Erst ein halbes Jahr später habe sie davon        sind wahrscheinlich viel höher». Die instabile                           rieten, die Gefahrenzone
­erfahren.                                        Felsmasse habe sich vergrössert, Mitarbeiten-                            zügig zu durchqueren.
    Noch brisanter ist die Aussage von Angelika   de hätten während der Messung mehr Stein-                                Der knapp halbstündige
 Höbrink aus Deutschland. Ihr Mann Reinhard       schläge beobachtet. Der Polizeibericht hielt                             Weg war nicht gesperrt.
 kam beim Bergsturz ums Leben. Sie erzählt        später fest, dass der Sciora-Hüttenwart allein                                    Sentiero Alpino
 am Telefon von einem persönlichen Gespräch       zwischen dem 24. Juni und dem 12. August                                 Bregaglia: Sechs der
 mit der Gemeindepräsidentin während der          2017 insgesamt 30 Stürze registriert hatte.                              acht Opfer begingen
 Gedenkfeier zum Jahrestag in Bondo. Giaco-                                                                                ­diesen Höhenweg auf
 metti habe ihr glaubhaft versichert: Wenn sie    Eine Frage der Zeit. «Die Ergebnisse waren                                ­einer mehrtägigen
 diese Mail des Geologen gekannt hätte, dann      alarmierend», schrieb im Jahr darauf Florian                               ­Wanderung und kamen
 hätte sie das Tal geschlossen.                   Amann, ein Geologieprofessor der Universität                                von der ­Albignahütte
    Starben also acht Menschen, weil der Kri-     Aachen, der bis heute am Piz Cengalo forscht,                               her. Bei der Sciorahütte
 senstab mangelhaft vom Kanton informiert         im Bündner Onlinemagazin «Raetia Publica»:                                  ­trafen sie erstmals auf
 wurde? Giacometti dementiert nicht, sondern      «Die Verschiebungen der Gesteinsmassen                                       die ­Bergsturz-Warnung.
 sagt nur: «Dazu äussere ich mich nicht.»         hatten sich über die Wintermonate nahezu                                     ­Umkehren kam aber
                                                  verdreifacht. Es gab keinen Zweifel. Der Berg                                 kaum in Frage: Die
Alle unschuldig? Kurz nach dem Unglück be-        wird kommen. Aber wann?»                                                      ­Tageswanderung führt
gann die Bündner Staatsanwaltschaft zu er-           Der Naturgefahrenspezialist des kantona-                                    über schwieriges
mitteln. Nach zwei Jahren befand sie, dass        len Amts entschied sich für weitere Abklärun-                                  ­Gelände.
niemand schuld sei am Tod der Alpinisten.         gen und meldete dem externen Geologen zu-                                         Gefahrenzone: Diesen
Dagegen wehrten sich die Angehörigen bis vor      rück: «Derzeit können wir mangels gefestigter                            Bereich verschüttet ein
Bundesgericht; sie bekamen diesen Februar         Daten der Gemeinde keine weitreichende                                   Bergsturz innerhalb
recht. Der Fall muss neu aufgerollt werden.       Sperrung der Val Bondasca empfehlen.»                                    einer Minute. Es wird
   Erstmals äussern sich nun vier Angehörige         Am 12. August flogen die beiden Fachleute                             angenommen, dass die
                                                                                                                                                           KARTE: BEOBACHTER/SEE | FOTO: BERTHOLD STEINHILBER

von Verschütteten. Sie zeigten dem Beobach-       mit einem Gemeindevertreter per Helikopter                               acht Berggänger in
ter bisher nicht bekannte Mails, Protokolle und   zum Berg. Da war es ruhig – keine Stein­schläge                          dieser Zone waren.
Berichte. Ihre Aussagen und die Dokumente         oder Felsgeräusche. Neue Modellberechnun-
wecken starke Zweifel am Entscheid der Be-        gen ergaben, dass der Gefahrenbereich – die
hörden, das Tal offen zu lassen. Und sie werfen   Zone, die ein Bergsturz innert einer Minute
Fragen auf zur Arbeit der Bündner Justiz.
   Seit 2012 wurde die unruhige Nordwand des
                                                  überdecken würde – korrekt definiert war. Seit
                                                  2015 informierten grosse Warnschilder Wan-
                                                                                                                                                                                                                «Man wollte die Leute
Piz Cengalo jährlich mit Radar vermessen,         derer über diese eigentliche Todeszone.                                                                                                                         nie ernsthaft davon
nach einem ersten Bergsturz 2011. Lange hat-         Das Amt war damals davon überzeugt, dass                                                                                                                   abhalten anzureisen.»
te sich die Wand kaum bewegt, doch das än­        sich ein grosser Bergsturz rechtzeitig ankün-                                                                                                                    Dorothea Karalus (rechts) mit ihrer
derte sich 2017 dramatisch: Am 9. August mel-     digen würde, «mit kurzfristig gehäuften und                                                                                                                      Mutter Petra. Sie haben ihren Vater
dete die mit den Messungen beauftragte Firma      zunehmend grösseren Felsstürzen». Und dass                                                                                                                                  und Ehemann verloren.

16 Beobachter 9/2021
BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...
dann noch genug Zeit bliebe, um das Tal zu
sperren. Mit einem grösseren Ereignis rech-
neten die Fachleute in den nächsten Wochen
                                                                                                                             Die Vorzeichen der Tragödie am Piz Cengalo                                                                                       Der Klima-
oder Monaten. Das geht aus einem Bericht an                                                                                  Radarmessungen haben das Unglück am Piz Cengalo angekündigt. Die instabile Felsmasse bewegte                                     wandel
die Adresse der Staatsanwaltschaft hervor. Der                                                                               sich schneller und vergrösserte sich. Die Messung zeigt, wie sich der Punkt am Berg im Vergleich zum
                                                                                                                             Vorjahr um zehn Zentimeter verschoben hatte. Doch «die realen Verschiebungen» in der Wand seien
                                                                                                                                                                                                                                                              spielt mit
Sciora-Hüttenwart bekam deshalb den Auf-
trag, Stürze am Piz Cengalo zu melden. Auf                                                                                   «wahrscheinlich viel höher», hielt die mit den Messungen beauftragte Firma Terrasense fest.                                      Bereits am Tag nach
konstante Radarüberwachung verzichtete der                                                                                                                                                                                                                    dem Bergsturz brachte
Kanton. Er plante eine weitere Messung im                                                                                                                                                                                                                     die damalige Bundes-
September.                                                                                                                    0 cm                                                                                                                            präsidentin Doris Leut-
   Am Montag, 14. August, traf sich der kanto-                                                                                                                                                                                                                hard den Klimawandel
                                                                                                                              4 cm
nale Naturgefahrenspezialist mit dem Krisen-                                                                                                                                                                                                                  ins Spiel: «Es wird wei-
stab der Gemeinde Bergell und empfahl, das                                                                                    8 cm                                                                                                                            tergehen mit solchen
Tal offen zu lassen. Die Gefährdung habe sich                                                                                                                                                                                                                 Zwischenfällen», sagte
«nicht massgebend verändert». Die Gemeinde                                                                                   12 cm                                                                                                                            sie den Medien. Auftau-
solle jedoch nochmals «explizit» auf die Ge-                                                                                                                                                   23.08.2017                                                     ender Permafrost hatte
fahrensituation hinweisen. Der Krisenstab
                                                                                                                             16 cm                                                             Bergsturz                                                      eine Rolle gespielt –
stimmte zu. Auch der Geologe, der vier Tage                                                                                  20 cm                                                                                                                            ­einer von mehreren

                                                                                                                                     13.9.2013

                                                                                                                                                 8.8.2014

                                                                                                                                                            21.8.2015

                                                                                                                                                                        8.7.2016

                                                                                                                                                                                   28.7.2017
zuvor in seiner Mail noch Alarm geschlagen                                                                                                                                                                                                                     Faktoren. Kürzlich hielt
hatte, stellte sich hinter diese Empfehlung.                                                                                                                                                                                                                   das Bundesamt für Um-
Nach dieser Sitzung hielt der kantonale Mit-                                                                                                                                                                                                                   welt fest, es könnte
arbeiter Ausgangslage und Empfehlungen                                                                                                                                                                                                                         ­wegen der Klimaerwär-
schriftlich fest – darunter die Bemerkung, dass                                                                                                                                                                                                                 mung mehr Felsstürze
in der Gefahrenzone bei einem Bergsturz                                                                                                                                                                                                                         und Murgänge geben.
­«Todesfälle zu erwarten» seien. Die Mail ging                                                                               FDP-Nationalrätin Anna Giacometti den An-                                      grossen Warnschilder beim Parkplatz und bei         Aktuell erforscht das
 auch an den Amtschef und den zuständigen                                                                                    gehörigen ihr Mitgefühl aus. Vorwürfe wies sie                                 den beiden SAC-Hütten empfahlen einzig, die         Projekt «Sicher wan-
 Regierungsrat Mario Cavigelli.                                                                                              zurück: «Wir haben alle über die Gefahr infor-                                 Bergsturz-Gefahrenzone ohne Aufenthalt zu           dern 2040» die Folgen
                                                                                                                             miert. Was passiert ist, tut natürlich sehr weh,                               durchqueren. Dafür benötigt man eine knappe         des Klimawandels fürs
Reise in den Tod. Eine Woche später, am 21.                                                                                  aber ich denke, wir haben alles Menschenmög-                                   halbe Stunde – ohne Fluchtmöglichkeit. Daran        Wandern. Bernard
August, machten sich der 59-jährige Reinhard                                                                                 liche gemacht.» Ob es nötig gewesen w  ­ äre, das                              änderte sich auch Mitte August nichts, als die      Hinderling vom Dach-
Höbrink und der 62-jährige Helmut Karalus                                                                                    Tal zu sperren, müsse die Justiz entscheiden.                                  Gemeinde die Warnschilder mit der Informa-          verband Schweizer
auf den Weg ins Bündner Südtal. Die erfahre-                                                                                    Noch deutlicher war der Bündner Regie-                                      tion ergänzte, dass ein Bergsturz in den «kom-      Wanderwege rechnet
nen Alpinisten aus Süddeutschland hatten                                                                                     rungsrat Mario Cavigelli. Er glaube, weder Ge-                                 menden Wochen und Monaten» drohe.                   mit einer Zunahme des
zwei Nächte auf der Sciorahütte gebucht und                                                                                  meinde noch Kanton treffe hier «eine rechtli-                                      Dorothea Karalus, 35, Software-Entwick­         Wanderbooms: «Wenn
wollten eine schwierige Route klettern: die                                                                                  che Verantwortung». In der SRF-«Rundschau»                                     lerin, überprüfte nach dem Tod ihres Vaters         es in den Städten heis-
Fuorikante, 700 Meter hoch, im siebten                                                                                       unterstrich er, dass im hochalpinen Raum die                                   seinen Computer: «Ich habe mir den Browser-         ser wird, suchen mehr
Schwierigkeitsgrad, oberhalb der Hütte.                                                                                      Eigenverantwortung zähle. Wer vor einem                                        verlauf angeschaut. Bei seiner mehrtägigen          Leute die Kühle in der
   Morgens um halb zwölf an diesem Tag – die                                                                                 Warnschild stehe, müsse selber entscheiden:                                    Vorbereitung auf die Tour ist er nirgends auch      Höhe oder den Wäl-
beiden Männer waren noch auf der Autobahn                                                                                    «Gehe ich das Risiko ein oder nicht?»                                          nur ansatzweise über die Gefahr eines Berg-         dern.» Zudem gebe es
unterwegs – stürzten am Piz Cengalo rund          ten. Innert einer Minute begruben sie fast zwei   Deutliche Worte zwei                                                                                    sturzes gestolpert», auch nicht bei der Bu-         neue Herausforderun-
150 000 Kubikmeter Fels in die Tiefe. Nach Ab-    ­Kilometer Wanderweg unter sich. Nur Sekun-       Wochen vor dem           Verletzende Presse. In die gleiche Kerbe schlu-                                chung der SAC-Hütte. «Das heisst also, mein         gen für die Infrastruktur
klärungen gab das Amt Entwarnung: Der Fels-        den später wälzte sich ein Schuttstrom durchs    Unglück: die Nachricht   gen diverse Medien. Der «Tages-Anzeiger»                                       Vater begegnete dieser Warnung das erste Mal,       wie vermehrte Erosion
sturz sei an der Nordwest- und nicht an der        Bondasca-Tal und löste einen Alarm aus. Das      des externen Geologen    fragte online unverblümt, ob die Opfer «lebens­                                als er nach der siebenstündigen Fahrt das           durch heftige Nieder-
benachbarten Nordostflanke passiert und            Dorf Bondo wurde evakuiert.                      an die Zuständigen des   müde» oder einfach «dumm» gewesen waren.                                       Auto abschloss, mit dem Rucksack loslief und        schläge. Ziel sei es,
deshalb kein Vorbote eines Bergsturzes. Zu                                                          Kantons Graubünden       Auch die «NZZ am Sonntag» schob die Verant­                                    am Ende des Parkplatzes dieses Schild sah.»         Verantwortliche bereits
diesem Felssturz schrieb Geologieprofessor        Anruf ins Leere. Am Nachmittag wurde klar,                                 wortung den Verschütteten zu, «weil sie trotz                                  Für die in Deutschland bekannte Kletterin           heute für mögliche Pro-
Amann auf «Raetia Publica»: «Wie sich im          dass es acht Vermisste gab. Ein Paar aus der                               Warnungen im Gefahrengebiet unterwegs                                          bleibt der Eindruck: «Man wollte die Leute nie      bleme zu sensibilisieren:
Nachhinein herausstellte, ein Vorbote. Ein Vor-   Schweiz, ein Paar aus Österreich und vier                                  waren». Und der «Walliser Bote» kommentier-                                    ernsthaft davon abhalten, anzureisen und die        «Sie sollen den Klima-
bote für etwas viel Gewaltigeres.»                Deutsche – die beiden Kletterfreunde Höbrink                               te: «Kommt dann zur persönlichen Fehlein-                                      Gefahrenzone zu durchqueren.»                       wandel auf dem Radar
   Am nächsten Tag kletterten die beiden          und Karalus sowie Andreas Lauke mit seiner                                 schätzung noch Pech hinzu, wird eine Berg-                                         Manuel Jaun ist Rechtsprofessor in Bern         haben, wenn sie zum
Bergsteiger die Fuorikante. Am Abend hatte        19-jährigen Tochter Kathrin. Die beiden hätten                             wanderung leider schnell zum Drama.»                                           und Autor des Leitfadens «Gefahrenpräven-           Beispiel einen neuen
ihr Mann noch eine SMS geschrieben, erzählt       einen «Vater-Tochter-Urlaub» gemacht, mit                                      «Es war sehr kränkend, was in diesen Tagen                                 tion und Verantwortlichkeit auf Wanderwe-           Weg planen.» Das Pro-
Petra Karalus: «‹Wir sind wieder auf der Hütte,   Klettern, Velofahren und Wandern, sagt Ehe-                                in der Presse lief», erzählt Petra Karalus. Ihr                                gen» (siehe Interview, Seite 22). Er sagt, bei      jekt läuft bis Ende Jahr.
ich bin total kaputt, aber es war schön.          frau und Mutter Ulrike Lauke. Ausnahms­weise                               Mann sei ein erfahrener Bergsteiger gewesen,                                   Schildern sei es wichtig, früh auf eine Gefahr
Tschüss, bis morgen.› Das war das Letzte, was     sei die vierköpfige Familie nicht gemeinsam                                der mit Gefahren gerechnet habe. Es sei eine                                   hinzuweisen. «Wer bereits lange unterwegs
ich von ihm gehört habe.»                         unterwegs gewesen. «Ich habe sie erst gegen                                Frechheit, dass die Behörden trotz den vielen                                  ist, tendiert dazu, das Risiko auf sich zu neh-
   Am Morgen darauf stiegen die beiden ins        das Wochenende wieder zu Hause erwartet.»                                  offenen Fragen sofort behauptet hätten: «Wir                                   men.» Grundsätzlich müsse ein Weg vorsorg-
Bondasca-Tal ab und wollten wieder nach           Einen Tag nach dem Bergsturz sei die Polizei                               sind nicht schuld, wir haben alles getan, wir                                  lich gesperrt werden, wenn eine «akute, gros-
Hause fahren. Um 9.15 Uhr meldete der Hüt-        bei ihr in Deutschland vor der Tür gestanden                               haben alles richtig gemacht.»                                                  se, nicht kalkulierbare Gefahr droht».
tenwart laut Polizeibericht «verdächtige Be-      und habe sie aufgefordert, ihren Mann anzu-                                    Bis heute werden die Angehörigen gefragt,
wegungen am Piz Cengalo». Eine Viertel­           rufen. «Ich rief an, doch die Leitung war tot.»                            wieso ihre Liebsten auf einem gesperrten Weg                                   Dürftige Beobachtung. Zehn Tage vor dem
stunde später filmte er mit dem Handy, wie           Die dreitägige Suche nach den Vermissten                                gewesen seien – mehrere Medien hatten das                                      Bergsturz entschied sich Graubünden gegen
rund drei Millionen Kubikmeter Granit mit         blieb ohne Erfolg. Vor den Medien sprach die                               behauptet. Tatsächlich war der Weg offen ge-                                   eine permanente Radarüberwachung des Piz
bis zu 250 Stundenkilometern ins Tal donner-      damalige Gemeindepräsidentin und heutige                                   wesen, die Hütten waren normal buchbar. Die                                    Cengalo. Vorgeschlagen hatte dies der externe

18 Beobachter 9/2021                                                                                                                                                                                                                                             Beobachter 9/2021   19
BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...
Geologe, um ein grosses Ereignis «Tage bis
                                                          Stunden» vorauszusehen. Auf Anfrage des
                                                          ­Beobachters nahm das Amt für Wald und
                                                           ­Naturgefahren wegen des laufenden Verfah-
                                                            rens nicht Stellung zu diesem Entscheid. Im
                                                            Bericht an die Staatsanwaltschaft begründete
                                                            das Amt den Verzicht allgemein – mit techni-
                                                            schen Problemen und jährlichen Kosten von
                                                            «mehreren 100 000 Franken».
                                                               Knapp zwei Wochen nach dem Bergsturz
                                                            war eine Radarüberwachung plötzlich als
                                                            «wichtige Sofortmassnahme» möglich, um die
                                                            Einsatzkräfte rechtzeitig warnen zu können.
                                                            Als die Anlage neben der Sciorahütte instal-
                                                            liert wurde, erklärte Lorenz Meier, Geschäfts-
                                                            führer der Firma Geopraevent, gegenüber der
                                                            «Tagesschau» von SRF: «Mit diesem Radar
                                                            können wir jede Bewegung am Cengalo im
                                                            Millimeterbereich sofort messen und sehen
                                                            die aktuellen Bewegungen in Echtzeit.» Die
                                                            Anlage funktionierte: Zwei Wochen später sah
                                                            das Radar einen grossen Felssturz am kom-
                                                            menden Tag korrekt voraus.
                                                               Bis heute wird der Berg konstant über-
                                                            wacht, obwohl das Tal gesperrt ist. Kosten-
                                                            punkt: 188 000 Franken pro Jahr. Felix Bom-
                                                            mer, Strafrechtsprofessor in Zürich, sagt: «Ju-
                                                            ristisch stellt sich die Frage, ob die Installation
                                                            eines Radars vor dem Bergsturz zumutbar               biete des Kantons Graubünden zu sperren.»          Plötzlich war die
                                                            gewesen wäre.» Auch das gehöre zur Sorgfalts-         Bei einer Sperrung des Bondasca-Tals hätten         Überwachung möglich:
                                                            pflicht. Keine Fahrlässigkeit liege vor, wenn         wohl die SAC-Hütten Sciora und Sasc Furä            Messgerät beim
                                                            eine solche Massnahme so aufwendig gewe-              schliessen müssen. «Natürlich kann ich nach-        Piz Cengalo,
                                                            sen wäre, dass sie «jeden Rahmen sprengt».            vollziehen, dass es für den Tourismus wichtig       5. September 2017
                                                                                                                  ist, die beiden Hütten offen zu lassen», sagt
                                                          73 Seiten Rechtfertigung. Zwei Jahre ermit­telte        Angelika Höbrink, die ihren Mann verloren hat.
                                                          die Bündner Staatsanwaltschaft wegen mög-               Trotzdem müsse man abklären, «ob unter Um-
                                                          licher fahrlässiger Tötung. Dann stellte sie die        ständen finanzielle Interessen verhindert ha-
                                                          Untersuchung ein. Ein halbes Jahr später, im            ben, die richtige Entscheidung zu treffen».
                                                          Januar 2020, bestätigte das Kantonsgericht den
                                                          Entscheid. Begründung: Der Bergsturz sei nicht          Befangene Gutachter. Für Dorothea Karalus
                                                          vorhersehbar gewesen, weil Vorboten in Form             ist «der grösste Knackpunkt, dass sich der
                                                          von Felsstürzen gefehlt hätten. Damit wurde             Staatsanwalt auf das Gutachten derer stützte,
                                                          eins zu eins die Sicht des involvierten Amts für        die damals – rückblickend – falsch entschie-
                                                          Wald und Naturgefahren übernommen.                      den haben». Diesen Zweifel teilte auch das
                                                             Ursprünglich hatte die Kantonspolizei dem            Bundesgericht und verlangte «eine vertiefte
                                                          Amt vier Fragen gestellt. Doch dieses lieferte          Auseinandersetzung mit der Ausstandspro­
                                                          nicht nur die vier Antworten, sondern einen             blematik». Beim AWN-Bericht hätten mehrere
                                                          73-seitigen Bericht samt Beilagen, der die Ent-         Personen mitgewirkt, «die als Beschuldigte im
                                                          scheide des Amts rechtfertigte. Unter den               vorliegenden Verfahren in Frage kommen».
                                                          sechs Autoren waren auch die drei Fachleute,               «Als ich das Urteil gelesen hatte, dachte ich:
                                                          die der Gemeinde empfohlen hatten, das Tal              Jetzt müssen Experten ausserhalb der Verwal-
                                                          nicht zu sperren. Dieselben Fachleute waren             tung zu Wort kommen», sagt Strafrechtspro-
                                                          neben externen Experten ebenfalls an einem              fessor Felix Bommer. Die Frage der Vorherseh-
                                                          fünfseitigen Kurzbericht des Kantons betei-             barkeit sei zentral. «Dafür braucht es geologi-
                                                          ligt. Was weiter auffällt: Die zentrale Aussage         schen Sachverstand.» Offen sei zum Beispiel,
                                                          der Ex-Gemeindepräsidentin, nicht alle Infor-           ob sich Bergstürze wirklich immer ankündigen.
                                                          mationen erhalten zu haben, sucht man in den               Diesen Sommer jährt sich der Bergsturz
                                                          Beschlüssen der Bündner Justiz vergeblich.              von Bondo zum vierten Mal, drei Monate sind
                                                             Das Kantonsgericht übernahm nicht nur                seit dem höchstrichterlichen Urteil vergangen.
                                                          die Sicht der Experten, sondern auch die Optik          Jetzt liegt der Ball wieder bei der Bündner
                                 FOTOS: FILIP ZUAN, SRF

Die Tragödie jährt sich diesen                            des Tourismus. Wanderwege zu schliessen,                Staatsanwaltschaft. Diese kann noch nicht
    Sommer zum vierten Mal:                               sei nur dann möglich, wenn ein Ereignis «un-            sagen, ob sie ein Gutachten in Auftrag gibt, «da    Lesen Sie zum Thema
             Gedenkstein auf                              mittelbar» bevorstehe, hielt das Gericht fest.          wir die Akten vom Bundesgericht noch nicht          auch das Interview auf
     dem Friedhof von Bondo                               «Anders zu entscheiden, hiesse, grosse Ge-              zurückerhalten haben».                             Seite 22.

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«Ein Weg lässt sich auch
vorsorglich sperren»
JUSTIZ. «Möglichst gefahrlos» will das Gesetz unsere Wanderwege haben. Rechtsprofessor
Manuel Jaun erklärt, inwiefern jemand dafür verantwortlich gemacht werden kann.

                         Manuel Jaun, Sie haben als Jurist für den Bund        Ein blosses Warnschild ist zweckmässig, wenn
                         einen Leitfaden über die Verantwortlichkeiten auf     es den Wandernden hilft, das Unfallrisiko durch
                         Wanderwegen verfasst. Was war der Auslöser?           ein angepasstes Verhalten selber möglichst
                         Der Verband Schweizer Wanderwege hatte fest-          klein zu halten – etwa mit der Aufforderung, eine
                         gestellt, dass es unter den für Wanderwege Ver-       heikle Zone zügig zu durchqueren.
                         antwortlichen eine grosse Verunsicherung gibt.
                         Nach einem Unfall 1998 in der Bieler Tauben-          Wo ist der beste Ort für ein Warnschild?
                         lochschlucht wurde der Präsident der Betreiber-       Je nach Grösse der Gefahr ist es sinnvoll, das
                         gesellschaft wegen fahrlässiger Tötung verur-         Schild bereits am Startpunkt einer Wanderung
                         teilt. Da fragten sich Wegverantwortliche, ob sie     anzubringen und nicht erst vor der heiklen
«Ob auf die              quasi mit einem Bein im Gefängnis stehen. Der         ­Stelle. Wer bereits lange unterwegs war, tendiert
Sperrung                 Leitfaden soll Grundsätze und Regeln klären.           eher dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, weil
verzichtet                                                                      Umkehren zu viel Zeit kosten würde.
werden                   Laut Bundesgesetz soll man die Wege «möglichst
                         gefahrlos» begehen können. Was heisst das?            Beim Fall in der Taubenlochschlucht wurde der
konnte,                  Schon das Wort «möglichst» zeigt, dass es nicht       Verantwortliche verurteilt, weil ein Kind durch
muss man                 um eine absolute Sicherheit geht. Die Anforde-        einen Steinbrocken starb. Was war sein Fehler?
gerichtlich              rungen sind relativ tief – auch weil es um ein        Wenige Monate zuvor war an der gleichen Stelle

vertieft an-             riesiges Wanderwegnetz mit 65 000 Kilometern
                         geht. Eine wichtige Rolle spielen die Wegkate-
                                                                               ein grosser Brocken ausgebrochen und auf den
                                                                               Wanderweg gerutscht. Man warf dem Wegver-
schauen.»                gorien. Die Anforderungen an die Sicherheit sind      antwortlichen vor, dieses Ereignis falsch einge-
Manuel Jaun ist          bei einem gelben Wanderweg höher als bei              schätzt zu haben. Statt eine Fachperson beizu-
Rechtsprofessor an der   ­einem Berg- oder Alpinwanderweg. Zentral ist,        ziehen, beurteilte er die Situation selber und
Universität Bern und      dass die Wege regelmässig kontrolliert werden.       kam zum Schluss, dass keine Gefahr mehr droht.
Autor des Leitfadens      Ist die Signalisation vorhanden, sind die Weg-
«Gefahrenprävention       markierungen noch lesbar? Sind Leitern, Trep-        Gibt es Parallelen zum Fall Piz Cengalo?
und Verantwortlichkeit
                          pen oder Geländer in Ordnung?                        Es gibt wichtige Unterschiede. So geschah der
auf Wanderwegen».
                                                                               Unfall in der Taubenlochschlucht nicht auf
Dieser erschien kurz
vor dem Bergsturz im     Was müssen Wandernde beachten?                        ­einem Bergwanderweg, sondern an einem Rast-
Auftrag des Bundes       Die Eigenverantwortung spielt eine zentrale            platz auf einem gelb markierten Wanderweg mit
und des Dach­verbands    ­Rolle. Wer in den Bergen wandert, muss unter          Spazierwegcharakter. Am Piz Cengalo wurde die
Schweizer Wander­         anderem tritt­sicher sein, Gefahren wie Stein-        Gemeinde durch Fachleute beraten. Das Risiko
wege.                     schlag kennen und fähig sein, sich zu orientieren.    wurde also eingeschätzt, im Gegensatz zur Tau-
                                                                                benlochschlucht. Offen ist jedoch die Frage, ob
                         Steinschläge sind eine häufige Gefahr. Wann            die Einschätzung der Fachleute einer Überprü-
                         müssen Wegverantwortliche handeln?                     fung standhält. Ob also eine akute, unmittelbare
                         Wichtig ist der Grundsatz, dass sie nicht präven-      Gefährdung der Wandernden mit hinreichender
                         tiv mögliche Naturgefahren abklären müssen.            Sicherheit ausgeschlossen und auf eine Sper-
                         Erst wenn sie zum Beispiel feststellen, dass           rung des Wegs verzichtet werden konnte. Das
                         plötzlich frische Gesteinsbrocken auf dem Wan-         muss man gerichtlich vertieft anschauen.
                         derweg liegen, müssen sie je nach Wegkategorie
                         handeln. Auf Bergwanderwegen ist dies bei an-         In Graubünden gibt es die Sorge, dass künftig
                         haltend starkem Steinschlag oder nach einem           viele Wege gesperrt werden müssen. Zu Recht?
                         Felssturz der Fall.                                   Nein. Es kommt sehr selten zu Gerichtsfällen
                                                                               und noch seltener zu einer Verurteilung. Wenn
                         Wann muss ein Wanderweg gesperrt werden?              man im Leitfaden sieht, was man einhalten
                         Wenn eine akute, grosse, nicht kalkulierbare Ge-      muss und wie hoch letztlich die Eigenverantwor-
                                                                                                                                    FOTO: PRIVAT

                         fahr droht. Falls zusätzliche Abklärungen nötig       tung gewichtet wird, dann ist das ein Schreck-
                         sind, lässt sich ein Weg auch vorsorglich sperren.    gespenst.           INTERVIEW: STEFANIE HABLÜTZEL

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