BONDO Drama mit Ansage - Stefanie ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
TITELTHEMA BONDO Drei Millionen Kubikmeter Gestein brachen ab und bewegten sich Richtung Bondo: 23. August 2017 Drama mit Ansage Acht Menschen starben 2017 beim Bergsturz von Bondo. Die Aufarbeitung der Ereignisse wirft die Frage auf: Hätte sich ihr Tod verhindern lassen? TEXT: STEFANIE HABLÜTZEL FOTO: ANDREA BADRUTT 14 Beobachter 9/2021 Beobachter 9/2021 15
Z wei Wochen vor dem Bergsturz schlug der Geologe Alarm. Der Experte, vom Kanton beauftragt, kennt den Piz Cengalo im bünd- Bondo nerischen Bergell am besten. Er Ma ts VAL BOND hielt fest: Aus dem Innern des AS u tr CA Bergs seien brechende Gesteinsbrücken zu as lia se g ag hören. «Zusammen mit der aktuell erhöhten Bre Sentiero Alpino Blocksturzaktivität ein untrügliches Zeichen, dass ein grösserer Sturz bevorsteht», schrieb Albignahütte er per Mail und fett markiert dem Bündner Amt Sasc-Furä-Hütte Ge für Wald und Naturgefahren (AWN). Und er fah Sciorahütte empfahl am 10. August 2017, «die Val Bondasca ren vorläufig nicht mehr zu betreten». zon Am Morgen des 23. August, einem Mitt- e woch, bewahrheitete sich seine Vorhersage. Der Berg kam und begrub bei Bondo acht Berg- gänger unter bis zu 20 Metern Gestein und Geröll. Der Krisenstab der Gemeinde Bergell, zu der das Dorf Bondo gehört, hatte zuvor ent- I TA L I E N Pizzo Cengalo schieden, das Bondasca-Tal offen zu lassen – 3369 m auf Empfehlung des Kantons. So steht es in 0 1 km einer Aktennotiz der Gemeinde. Leiterin des Krisenstabs war die damalige Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. Zu dem zuständigen Geologen, die Wand habe Die Position der jenem Zeitpunkt wusste sie nichts von der sich gegenüber dem Vorjahr «im Minimum» Warnschilder bei den Warnung des externen Geologen, erklärte sie um zehn Zentimeter bewegt. Doch die Daten- SAC-Hütten und beim schriftlich gegenüber der Staatsanwaltschaft. lage sei schlecht, «die realen Verschiebungen Wanderparkplatz. Sie Erst ein halbes Jahr später habe sie davon sind wahrscheinlich viel höher». Die instabile rieten, die Gefahrenzone erfahren. Felsmasse habe sich vergrössert, Mitarbeiten- zügig zu durchqueren. Noch brisanter ist die Aussage von Angelika de hätten während der Messung mehr Stein- Der knapp halbstündige Höbrink aus Deutschland. Ihr Mann Reinhard schläge beobachtet. Der Polizeibericht hielt Weg war nicht gesperrt. kam beim Bergsturz ums Leben. Sie erzählt später fest, dass der Sciora-Hüttenwart allein Sentiero Alpino am Telefon von einem persönlichen Gespräch zwischen dem 24. Juni und dem 12. August Bregaglia: Sechs der mit der Gemeindepräsidentin während der 2017 insgesamt 30 Stürze registriert hatte. acht Opfer begingen Gedenkfeier zum Jahrestag in Bondo. Giaco- diesen Höhenweg auf metti habe ihr glaubhaft versichert: Wenn sie Eine Frage der Zeit. «Die Ergebnisse waren einer mehrtägigen diese Mail des Geologen gekannt hätte, dann alarmierend», schrieb im Jahr darauf Florian Wanderung und kamen hätte sie das Tal geschlossen. Amann, ein Geologieprofessor der Universität von der Albignahütte Starben also acht Menschen, weil der Kri- Aachen, der bis heute am Piz Cengalo forscht, her. Bei der Sciorahütte senstab mangelhaft vom Kanton informiert im Bündner Onlinemagazin «Raetia Publica»: trafen sie erstmals auf wurde? Giacometti dementiert nicht, sondern «Die Verschiebungen der Gesteinsmassen die Bergsturz-Warnung. sagt nur: «Dazu äussere ich mich nicht.» hatten sich über die Wintermonate nahezu Umkehren kam aber verdreifacht. Es gab keinen Zweifel. Der Berg kaum in Frage: Die Alle unschuldig? Kurz nach dem Unglück be- wird kommen. Aber wann?» Tageswanderung führt gann die Bündner Staatsanwaltschaft zu er- Der Naturgefahrenspezialist des kantona- über schwieriges mitteln. Nach zwei Jahren befand sie, dass len Amts entschied sich für weitere Abklärun- Gelände. niemand schuld sei am Tod der Alpinisten. gen und meldete dem externen Geologen zu- Gefahrenzone: Diesen Dagegen wehrten sich die Angehörigen bis vor rück: «Derzeit können wir mangels gefestigter Bereich verschüttet ein Bundesgericht; sie bekamen diesen Februar Daten der Gemeinde keine weitreichende Bergsturz innerhalb recht. Der Fall muss neu aufgerollt werden. Sperrung der Val Bondasca empfehlen.» einer Minute. Es wird Erstmals äussern sich nun vier Angehörige Am 12. August flogen die beiden Fachleute angenommen, dass die KARTE: BEOBACHTER/SEE | FOTO: BERTHOLD STEINHILBER von Verschütteten. Sie zeigten dem Beobach- mit einem Gemeindevertreter per Helikopter acht Berggänger in ter bisher nicht bekannte Mails, Protokolle und zum Berg. Da war es ruhig – keine Steinschläge dieser Zone waren. Berichte. Ihre Aussagen und die Dokumente oder Felsgeräusche. Neue Modellberechnun- wecken starke Zweifel am Entscheid der Be- gen ergaben, dass der Gefahrenbereich – die hörden, das Tal offen zu lassen. Und sie werfen Zone, die ein Bergsturz innert einer Minute Fragen auf zur Arbeit der Bündner Justiz. Seit 2012 wurde die unruhige Nordwand des überdecken würde – korrekt definiert war. Seit 2015 informierten grosse Warnschilder Wan- «Man wollte die Leute Piz Cengalo jährlich mit Radar vermessen, derer über diese eigentliche Todeszone. nie ernsthaft davon nach einem ersten Bergsturz 2011. Lange hat- Das Amt war damals davon überzeugt, dass abhalten anzureisen.» te sich die Wand kaum bewegt, doch das än sich ein grosser Bergsturz rechtzeitig ankün- Dorothea Karalus (rechts) mit ihrer derte sich 2017 dramatisch: Am 9. August mel- digen würde, «mit kurzfristig gehäuften und Mutter Petra. Sie haben ihren Vater dete die mit den Messungen beauftragte Firma zunehmend grösseren Felsstürzen». Und dass und Ehemann verloren. 16 Beobachter 9/2021
dann noch genug Zeit bliebe, um das Tal zu sperren. Mit einem grösseren Ereignis rech- neten die Fachleute in den nächsten Wochen Die Vorzeichen der Tragödie am Piz Cengalo Der Klima- oder Monaten. Das geht aus einem Bericht an Radarmessungen haben das Unglück am Piz Cengalo angekündigt. Die instabile Felsmasse bewegte wandel die Adresse der Staatsanwaltschaft hervor. Der sich schneller und vergrösserte sich. Die Messung zeigt, wie sich der Punkt am Berg im Vergleich zum Vorjahr um zehn Zentimeter verschoben hatte. Doch «die realen Verschiebungen» in der Wand seien spielt mit Sciora-Hüttenwart bekam deshalb den Auf- trag, Stürze am Piz Cengalo zu melden. Auf «wahrscheinlich viel höher», hielt die mit den Messungen beauftragte Firma Terrasense fest. Bereits am Tag nach konstante Radarüberwachung verzichtete der dem Bergsturz brachte Kanton. Er plante eine weitere Messung im die damalige Bundes- September. 0 cm präsidentin Doris Leut- Am Montag, 14. August, traf sich der kanto- hard den Klimawandel 4 cm nale Naturgefahrenspezialist mit dem Krisen- ins Spiel: «Es wird wei- stab der Gemeinde Bergell und empfahl, das 8 cm tergehen mit solchen Tal offen zu lassen. Die Gefährdung habe sich Zwischenfällen», sagte «nicht massgebend verändert». Die Gemeinde 12 cm sie den Medien. Auftau- solle jedoch nochmals «explizit» auf die Ge- 23.08.2017 ender Permafrost hatte fahrensituation hinweisen. Der Krisenstab 16 cm Bergsturz eine Rolle gespielt – stimmte zu. Auch der Geologe, der vier Tage 20 cm einer von mehreren 13.9.2013 8.8.2014 21.8.2015 8.7.2016 28.7.2017 zuvor in seiner Mail noch Alarm geschlagen Faktoren. Kürzlich hielt hatte, stellte sich hinter diese Empfehlung. das Bundesamt für Um- Nach dieser Sitzung hielt der kantonale Mit- welt fest, es könnte arbeiter Ausgangslage und Empfehlungen wegen der Klimaerwär- schriftlich fest – darunter die Bemerkung, dass mung mehr Felsstürze in der Gefahrenzone bei einem Bergsturz und Murgänge geben. «Todesfälle zu erwarten» seien. Die Mail ging FDP-Nationalrätin Anna Giacometti den An- grossen Warnschilder beim Parkplatz und bei Aktuell erforscht das auch an den Amtschef und den zuständigen gehörigen ihr Mitgefühl aus. Vorwürfe wies sie den beiden SAC-Hütten empfahlen einzig, die Projekt «Sicher wan- Regierungsrat Mario Cavigelli. zurück: «Wir haben alle über die Gefahr infor- Bergsturz-Gefahrenzone ohne Aufenthalt zu dern 2040» die Folgen miert. Was passiert ist, tut natürlich sehr weh, durchqueren. Dafür benötigt man eine knappe des Klimawandels fürs Reise in den Tod. Eine Woche später, am 21. aber ich denke, wir haben alles Menschenmög- halbe Stunde – ohne Fluchtmöglichkeit. Daran Wandern. Bernard August, machten sich der 59-jährige Reinhard liche gemacht.» Ob es nötig gewesen w äre, das änderte sich auch Mitte August nichts, als die Hinderling vom Dach- Höbrink und der 62-jährige Helmut Karalus Tal zu sperren, müsse die Justiz entscheiden. Gemeinde die Warnschilder mit der Informa- verband Schweizer auf den Weg ins Bündner Südtal. Die erfahre- Noch deutlicher war der Bündner Regie- tion ergänzte, dass ein Bergsturz in den «kom- Wanderwege rechnet nen Alpinisten aus Süddeutschland hatten rungsrat Mario Cavigelli. Er glaube, weder Ge- menden Wochen und Monaten» drohe. mit einer Zunahme des zwei Nächte auf der Sciorahütte gebucht und meinde noch Kanton treffe hier «eine rechtli- Dorothea Karalus, 35, Software-Entwick Wanderbooms: «Wenn wollten eine schwierige Route klettern: die che Verantwortung». In der SRF-«Rundschau» lerin, überprüfte nach dem Tod ihres Vaters es in den Städten heis- Fuorikante, 700 Meter hoch, im siebten unterstrich er, dass im hochalpinen Raum die seinen Computer: «Ich habe mir den Browser- ser wird, suchen mehr Schwierigkeitsgrad, oberhalb der Hütte. Eigenverantwortung zähle. Wer vor einem verlauf angeschaut. Bei seiner mehrtägigen Leute die Kühle in der Morgens um halb zwölf an diesem Tag – die Warnschild stehe, müsse selber entscheiden: Vorbereitung auf die Tour ist er nirgends auch Höhe oder den Wäl- beiden Männer waren noch auf der Autobahn «Gehe ich das Risiko ein oder nicht?» nur ansatzweise über die Gefahr eines Berg- dern.» Zudem gebe es unterwegs – stürzten am Piz Cengalo rund ten. Innert einer Minute begruben sie fast zwei Deutliche Worte zwei sturzes gestolpert», auch nicht bei der Bu- neue Herausforderun- 150 000 Kubikmeter Fels in die Tiefe. Nach Ab- Kilometer Wanderweg unter sich. Nur Sekun- Wochen vor dem Verletzende Presse. In die gleiche Kerbe schlu- chung der SAC-Hütte. «Das heisst also, mein gen für die Infrastruktur klärungen gab das Amt Entwarnung: Der Fels- den später wälzte sich ein Schuttstrom durchs Unglück: die Nachricht gen diverse Medien. Der «Tages-Anzeiger» Vater begegnete dieser Warnung das erste Mal, wie vermehrte Erosion sturz sei an der Nordwest- und nicht an der Bondasca-Tal und löste einen Alarm aus. Das des externen Geologen fragte online unverblümt, ob die Opfer «lebens als er nach der siebenstündigen Fahrt das durch heftige Nieder- benachbarten Nordostflanke passiert und Dorf Bondo wurde evakuiert. an die Zuständigen des müde» oder einfach «dumm» gewesen waren. Auto abschloss, mit dem Rucksack loslief und schläge. Ziel sei es, deshalb kein Vorbote eines Bergsturzes. Zu Kantons Graubünden Auch die «NZZ am Sonntag» schob die Verant am Ende des Parkplatzes dieses Schild sah.» Verantwortliche bereits diesem Felssturz schrieb Geologieprofessor Anruf ins Leere. Am Nachmittag wurde klar, wortung den Verschütteten zu, «weil sie trotz Für die in Deutschland bekannte Kletterin heute für mögliche Pro- Amann auf «Raetia Publica»: «Wie sich im dass es acht Vermisste gab. Ein Paar aus der Warnungen im Gefahrengebiet unterwegs bleibt der Eindruck: «Man wollte die Leute nie bleme zu sensibilisieren: Nachhinein herausstellte, ein Vorbote. Ein Vor- Schweiz, ein Paar aus Österreich und vier waren». Und der «Walliser Bote» kommentier- ernsthaft davon abhalten, anzureisen und die «Sie sollen den Klima- bote für etwas viel Gewaltigeres.» Deutsche – die beiden Kletterfreunde Höbrink te: «Kommt dann zur persönlichen Fehlein- Gefahrenzone zu durchqueren.» wandel auf dem Radar Am nächsten Tag kletterten die beiden und Karalus sowie Andreas Lauke mit seiner schätzung noch Pech hinzu, wird eine Berg- Manuel Jaun ist Rechtsprofessor in Bern haben, wenn sie zum Bergsteiger die Fuorikante. Am Abend hatte 19-jährigen Tochter Kathrin. Die beiden hätten wanderung leider schnell zum Drama.» und Autor des Leitfadens «Gefahrenpräven- Beispiel einen neuen ihr Mann noch eine SMS geschrieben, erzählt einen «Vater-Tochter-Urlaub» gemacht, mit «Es war sehr kränkend, was in diesen Tagen tion und Verantwortlichkeit auf Wanderwe- Weg planen.» Das Pro- Petra Karalus: «‹Wir sind wieder auf der Hütte, Klettern, Velofahren und Wandern, sagt Ehe- in der Presse lief», erzählt Petra Karalus. Ihr gen» (siehe Interview, Seite 22). Er sagt, bei jekt läuft bis Ende Jahr. ich bin total kaputt, aber es war schön. frau und Mutter Ulrike Lauke. Ausnahmsweise Mann sei ein erfahrener Bergsteiger gewesen, Schildern sei es wichtig, früh auf eine Gefahr Tschüss, bis morgen.› Das war das Letzte, was sei die vierköpfige Familie nicht gemeinsam der mit Gefahren gerechnet habe. Es sei eine hinzuweisen. «Wer bereits lange unterwegs ich von ihm gehört habe.» unterwegs gewesen. «Ich habe sie erst gegen Frechheit, dass die Behörden trotz den vielen ist, tendiert dazu, das Risiko auf sich zu neh- Am Morgen darauf stiegen die beiden ins das Wochenende wieder zu Hause erwartet.» offenen Fragen sofort behauptet hätten: «Wir men.» Grundsätzlich müsse ein Weg vorsorg- Bondasca-Tal ab und wollten wieder nach Einen Tag nach dem Bergsturz sei die Polizei sind nicht schuld, wir haben alles getan, wir lich gesperrt werden, wenn eine «akute, gros- Hause fahren. Um 9.15 Uhr meldete der Hüt- bei ihr in Deutschland vor der Tür gestanden haben alles richtig gemacht.» se, nicht kalkulierbare Gefahr droht». tenwart laut Polizeibericht «verdächtige Be- und habe sie aufgefordert, ihren Mann anzu- Bis heute werden die Angehörigen gefragt, wegungen am Piz Cengalo». Eine Viertel rufen. «Ich rief an, doch die Leitung war tot.» wieso ihre Liebsten auf einem gesperrten Weg Dürftige Beobachtung. Zehn Tage vor dem stunde später filmte er mit dem Handy, wie Die dreitägige Suche nach den Vermissten gewesen seien – mehrere Medien hatten das Bergsturz entschied sich Graubünden gegen rund drei Millionen Kubikmeter Granit mit blieb ohne Erfolg. Vor den Medien sprach die behauptet. Tatsächlich war der Weg offen ge- eine permanente Radarüberwachung des Piz bis zu 250 Stundenkilometern ins Tal donner- damalige Gemeindepräsidentin und heutige wesen, die Hütten waren normal buchbar. Die Cengalo. Vorgeschlagen hatte dies der externe 18 Beobachter 9/2021 Beobachter 9/2021 19
Geologe, um ein grosses Ereignis «Tage bis Stunden» vorauszusehen. Auf Anfrage des Beobachters nahm das Amt für Wald und Naturgefahren wegen des laufenden Verfah- rens nicht Stellung zu diesem Entscheid. Im Bericht an die Staatsanwaltschaft begründete das Amt den Verzicht allgemein – mit techni- schen Problemen und jährlichen Kosten von «mehreren 100 000 Franken». Knapp zwei Wochen nach dem Bergsturz war eine Radarüberwachung plötzlich als «wichtige Sofortmassnahme» möglich, um die Einsatzkräfte rechtzeitig warnen zu können. Als die Anlage neben der Sciorahütte instal- liert wurde, erklärte Lorenz Meier, Geschäfts- führer der Firma Geopraevent, gegenüber der «Tagesschau» von SRF: «Mit diesem Radar können wir jede Bewegung am Cengalo im Millimeterbereich sofort messen und sehen die aktuellen Bewegungen in Echtzeit.» Die Anlage funktionierte: Zwei Wochen später sah das Radar einen grossen Felssturz am kom- menden Tag korrekt voraus. Bis heute wird der Berg konstant über- wacht, obwohl das Tal gesperrt ist. Kosten- punkt: 188 000 Franken pro Jahr. Felix Bom- mer, Strafrechtsprofessor in Zürich, sagt: «Ju- ristisch stellt sich die Frage, ob die Installation eines Radars vor dem Bergsturz zumutbar biete des Kantons Graubünden zu sperren.» Plötzlich war die gewesen wäre.» Auch das gehöre zur Sorgfalts- Bei einer Sperrung des Bondasca-Tals hätten Überwachung möglich: pflicht. Keine Fahrlässigkeit liege vor, wenn wohl die SAC-Hütten Sciora und Sasc Furä Messgerät beim eine solche Massnahme so aufwendig gewe- schliessen müssen. «Natürlich kann ich nach- Piz Cengalo, sen wäre, dass sie «jeden Rahmen sprengt». vollziehen, dass es für den Tourismus wichtig 5. September 2017 ist, die beiden Hütten offen zu lassen», sagt 73 Seiten Rechtfertigung. Zwei Jahre ermittelte Angelika Höbrink, die ihren Mann verloren hat. die Bündner Staatsanwaltschaft wegen mög- Trotzdem müsse man abklären, «ob unter Um- licher fahrlässiger Tötung. Dann stellte sie die ständen finanzielle Interessen verhindert ha- Untersuchung ein. Ein halbes Jahr später, im ben, die richtige Entscheidung zu treffen». Januar 2020, bestätigte das Kantonsgericht den Entscheid. Begründung: Der Bergsturz sei nicht Befangene Gutachter. Für Dorothea Karalus vorhersehbar gewesen, weil Vorboten in Form ist «der grösste Knackpunkt, dass sich der von Felsstürzen gefehlt hätten. Damit wurde Staatsanwalt auf das Gutachten derer stützte, eins zu eins die Sicht des involvierten Amts für die damals – rückblickend – falsch entschie- Wald und Naturgefahren übernommen. den haben». Diesen Zweifel teilte auch das Ursprünglich hatte die Kantonspolizei dem Bundesgericht und verlangte «eine vertiefte Amt vier Fragen gestellt. Doch dieses lieferte Auseinandersetzung mit der Ausstandspro nicht nur die vier Antworten, sondern einen blematik». Beim AWN-Bericht hätten mehrere 73-seitigen Bericht samt Beilagen, der die Ent- Personen mitgewirkt, «die als Beschuldigte im scheide des Amts rechtfertigte. Unter den vorliegenden Verfahren in Frage kommen». sechs Autoren waren auch die drei Fachleute, «Als ich das Urteil gelesen hatte, dachte ich: die der Gemeinde empfohlen hatten, das Tal Jetzt müssen Experten ausserhalb der Verwal- nicht zu sperren. Dieselben Fachleute waren tung zu Wort kommen», sagt Strafrechtspro- neben externen Experten ebenfalls an einem fessor Felix Bommer. Die Frage der Vorherseh- fünfseitigen Kurzbericht des Kantons betei- barkeit sei zentral. «Dafür braucht es geologi- ligt. Was weiter auffällt: Die zentrale Aussage schen Sachverstand.» Offen sei zum Beispiel, der Ex-Gemeindepräsidentin, nicht alle Infor- ob sich Bergstürze wirklich immer ankündigen. mationen erhalten zu haben, sucht man in den Diesen Sommer jährt sich der Bergsturz Beschlüssen der Bündner Justiz vergeblich. von Bondo zum vierten Mal, drei Monate sind Das Kantonsgericht übernahm nicht nur seit dem höchstrichterlichen Urteil vergangen. die Sicht der Experten, sondern auch die Optik Jetzt liegt der Ball wieder bei der Bündner FOTOS: FILIP ZUAN, SRF Die Tragödie jährt sich diesen des Tourismus. Wanderwege zu schliessen, Staatsanwaltschaft. Diese kann noch nicht Sommer zum vierten Mal: sei nur dann möglich, wenn ein Ereignis «un- sagen, ob sie ein Gutachten in Auftrag gibt, «da Lesen Sie zum Thema Gedenkstein auf mittelbar» bevorstehe, hielt das Gericht fest. wir die Akten vom Bundesgericht noch nicht auch das Interview auf dem Friedhof von Bondo «Anders zu entscheiden, hiesse, grosse Ge- zurückerhalten haben». Seite 22. Beobachter 9/2021 21
«Ein Weg lässt sich auch vorsorglich sperren» JUSTIZ. «Möglichst gefahrlos» will das Gesetz unsere Wanderwege haben. Rechtsprofessor Manuel Jaun erklärt, inwiefern jemand dafür verantwortlich gemacht werden kann. Manuel Jaun, Sie haben als Jurist für den Bund Ein blosses Warnschild ist zweckmässig, wenn einen Leitfaden über die Verantwortlichkeiten auf es den Wandernden hilft, das Unfallrisiko durch Wanderwegen verfasst. Was war der Auslöser? ein angepasstes Verhalten selber möglichst Der Verband Schweizer Wanderwege hatte fest- klein zu halten – etwa mit der Aufforderung, eine gestellt, dass es unter den für Wanderwege Ver- heikle Zone zügig zu durchqueren. antwortlichen eine grosse Verunsicherung gibt. Nach einem Unfall 1998 in der Bieler Tauben- Wo ist der beste Ort für ein Warnschild? lochschlucht wurde der Präsident der Betreiber- Je nach Grösse der Gefahr ist es sinnvoll, das gesellschaft wegen fahrlässiger Tötung verur- Schild bereits am Startpunkt einer Wanderung teilt. Da fragten sich Wegverantwortliche, ob sie anzubringen und nicht erst vor der heiklen «Ob auf die quasi mit einem Bein im Gefängnis stehen. Der Stelle. Wer bereits lange unterwegs war, tendiert Sperrung Leitfaden soll Grundsätze und Regeln klären. eher dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, weil verzichtet Umkehren zu viel Zeit kosten würde. werden Laut Bundesgesetz soll man die Wege «möglichst gefahrlos» begehen können. Was heisst das? Beim Fall in der Taubenlochschlucht wurde der konnte, Schon das Wort «möglichst» zeigt, dass es nicht Verantwortliche verurteilt, weil ein Kind durch muss man um eine absolute Sicherheit geht. Die Anforde- einen Steinbrocken starb. Was war sein Fehler? gerichtlich rungen sind relativ tief – auch weil es um ein Wenige Monate zuvor war an der gleichen Stelle vertieft an- riesiges Wanderwegnetz mit 65 000 Kilometern geht. Eine wichtige Rolle spielen die Wegkate- ein grosser Brocken ausgebrochen und auf den Wanderweg gerutscht. Man warf dem Wegver- schauen.» gorien. Die Anforderungen an die Sicherheit sind antwortlichen vor, dieses Ereignis falsch einge- Manuel Jaun ist bei einem gelben Wanderweg höher als bei schätzt zu haben. Statt eine Fachperson beizu- Rechtsprofessor an der einem Berg- oder Alpinwanderweg. Zentral ist, ziehen, beurteilte er die Situation selber und Universität Bern und dass die Wege regelmässig kontrolliert werden. kam zum Schluss, dass keine Gefahr mehr droht. Autor des Leitfadens Ist die Signalisation vorhanden, sind die Weg- «Gefahrenprävention markierungen noch lesbar? Sind Leitern, Trep- Gibt es Parallelen zum Fall Piz Cengalo? und Verantwortlichkeit pen oder Geländer in Ordnung? Es gibt wichtige Unterschiede. So geschah der auf Wanderwegen». Unfall in der Taubenlochschlucht nicht auf Dieser erschien kurz vor dem Bergsturz im Was müssen Wandernde beachten? einem Bergwanderweg, sondern an einem Rast- Auftrag des Bundes Die Eigenverantwortung spielt eine zentrale platz auf einem gelb markierten Wanderweg mit und des Dachverbands Rolle. Wer in den Bergen wandert, muss unter Spazierwegcharakter. Am Piz Cengalo wurde die Schweizer Wander anderem trittsicher sein, Gefahren wie Stein- Gemeinde durch Fachleute beraten. Das Risiko wege. schlag kennen und fähig sein, sich zu orientieren. wurde also eingeschätzt, im Gegensatz zur Tau- benlochschlucht. Offen ist jedoch die Frage, ob Steinschläge sind eine häufige Gefahr. Wann die Einschätzung der Fachleute einer Überprü- müssen Wegverantwortliche handeln? fung standhält. Ob also eine akute, unmittelbare Wichtig ist der Grundsatz, dass sie nicht präven- Gefährdung der Wandernden mit hinreichender tiv mögliche Naturgefahren abklären müssen. Sicherheit ausgeschlossen und auf eine Sper- Erst wenn sie zum Beispiel feststellen, dass rung des Wegs verzichtet werden konnte. Das plötzlich frische Gesteinsbrocken auf dem Wan- muss man gerichtlich vertieft anschauen. derweg liegen, müssen sie je nach Wegkategorie handeln. Auf Bergwanderwegen ist dies bei an- In Graubünden gibt es die Sorge, dass künftig haltend starkem Steinschlag oder nach einem viele Wege gesperrt werden müssen. Zu Recht? Felssturz der Fall. Nein. Es kommt sehr selten zu Gerichtsfällen und noch seltener zu einer Verurteilung. Wenn Wann muss ein Wanderweg gesperrt werden? man im Leitfaden sieht, was man einhalten Wenn eine akute, grosse, nicht kalkulierbare Ge- muss und wie hoch letztlich die Eigenverantwor- FOTO: PRIVAT fahr droht. Falls zusätzliche Abklärungen nötig tung gewichtet wird, dann ist das ein Schreck- sind, lässt sich ein Weg auch vorsorglich sperren. gespenst. INTERVIEW: STEFANIE HABLÜTZEL 22 Beobachter 9/2021
Sie können auch lesen