Bootydance mit der Königin

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Bootydance mit der Königin
Bootydance mit der Königin | norient.com                 19 Dec 2023 09:09:58

    Bootydance mit der Königin
    by Theresa Beyer

    Bounce ist Anfang der Neunziger in den Arbeitervierteln von
    New Orleans entstanden und seit dem eng mit dem
    hinternbetonten Tanz Twerking verbunden. Versehen mit
    dem Label «Sissy Bounce» hat Big Freedia Queen Diva die
    lokale Kultur in die Welt getragen – und wurde dabei oft
    missverstanden. Aus dem zweiten Norient-Buch
    Seismographic Sounds (Info und Bestellmöglichkeit hier).

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    «Das Wort ‹Sissy Bounce› gibt es nicht» stellt Big Freedia am Norient
    Musikfilm Festival 2013 gleich mal klar. Mit einer Engelsgeduld erklärt er wohl
    zum hundertsten Mal, dass er es absurd findet, wenn seine Homosexualität
    ein Genre definiert: «Alles ist Bounce. Wir machen da keinen Unterschied,
    weder bei der Musik, noch bei den Rappern, auch nicht beim Publikum.
    Bounce ist ein grosses Becken, in das alles hineinpasst.» 2010, als schwule

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    Bounce-Performer begannen, an der West- und Ostküste der USA
    aufzutreten, hat die Musikjournalistin und Bounce-Expertin Alison
    Fensterstock den Begriff «Sissy Bounce» geprägt.1 Er verweist auf eine wilde
    Show mit Crossdressing und und p—y-popping – einem exzessiven, als
    «Twerking» bekannt gewordenen Tanz, dessen Dreh-und Angelpunkt vor
    allem ein Körperteil ist: der Hintern. Doch auch wenn es im Mainstream oft so
    wirken mag: weder Bounce noch Twerking sind neue
    Undergroundbewegungen, sondern eine afroamerikanische Musik- und
    Tanzkultur, die seit mehr als zwanzig Jahren tief im Alltag von New Orleans
    verwurzelt ist. Big Freedia gehört fast seit den Anfängen dazu.

    Wahrscheinlich ist Bounce nur anhand der rauschhaften Parties zu begreifen.
    Wie sie ablaufen, sieht man in der TV-Dokuserie «Big Freedia – Queen of
    Bounce»: Im spärlichen Diskolicht schütteln mehrheitlich Frauen in knappen
    Hosen hyperaktiv ihren Hintern um die Wette, mal mit den Händen auf dem
    Boden, mal während sie orgiastisch über- und untereinander wippen, im
    Ausfallschritt oder im Kopfstand. Big Freedia heizt ein mit eingängigen
    Satzfetzen: «Azz everywhere, azz everywhere», «Step into the ring» oder
    «Make yo’ booty go!» Sie erinnern an den Call-and-Response-Stil der Mardi
    Gras Indians in New Orleans und sind der Treibstoff der Shows, erzählt er:
    «Wenn das Publikum meine Songs genau kennt und die Lines erwidert, kann
    sich das Konzert auf ein unglaubliches Energielevel hochschaukeln.» Dazu
    tragen auch die energetischen Up-Tempo-Beats der Bounce-Musik bei.
    Vielleicht setzen sie sich im Ohr und in jeder Muskelfaser gerade deshalb so
    gut fest, weil ihre Bestandteile minimalistisch sind:«Meistens samplen wir
    den Triggaman-Beat aus dem Song Drag Rap der Showboys oder den Brown
    Beat aus Derek B.s Rock The Beat, variieren einige Akkorde, verdoppeln und
    beschleunigen sie mit Beats aus dem Drumcomputer.»

    Wahlverwandtschaften und Wendepunkte
    Onstage ist Big Freedia die zügellose Rampensau. Offstage ist der 34-jährige
    Freddie Ross – ein gelernter Innenarchitekt – eher introvertiert. Dass er das
    Zeug zum Entertainer hat, entdeckte er in der High School: als Cheerleader
    und Dirigent des Schulchores. 1997 stand er dann mit der Transgender-
    Bounce-Pionierin Katey Red auf den Bühnen der Sportbars von New Orleans.
    Er tanzte für sie, sang die Background-Vocals und wurde als ihr Protegé in die
    Bounce-Welt eingeführt.

    2005 kam der Wendepunkt: «Nach dem Hurricane Katrina war die Bounce-
    Szene auf der ganzen Welt zerstreut. Das war für mich ein Türöffner, um aus
    der Stadt herauszukommen und zu merken, dass Bounce auch woanders
    funktioniert.» Freedia ging ausgerechnet ins konservative Texas und brachte
    den Leuten dort das twerken bei. Während New Orleans noch vollkommen
    zerstört war, rief der Manager vom Nachtclub Caesar’s an: Er wolle seinen
    Club wieder eröffnen und brauche dafür Big Freedias Anziehungskraft. So
    entstanden die FEMA Fridays (FEMA = Federal Emergency Management

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    Agency), sie gaben Bounce neuen Schwung: «Die Leute hatten Geld von den
    staatlichen Katrina-Schecks und waren hungrig nach Bounce, den sie lange
    nicht mehr gehört hatten. Die Lebensfreude im Club war unglaublich», sagt
    Freedia. Renee Moncada, Freddies Managerin, spricht vom Zauber dieser
    Shows: «Sobald Big Freedia die Bühne betrat, vergassen die Leute ihre
    Probleme, ihren Alltag.»

    New Orleans – ein tolerantes Pflaster?
    Die Selbstverständlichkeit, mit der schwule Rapper zur Bounce-Szene
    gehören und sie prägen, sieht Alison Fensterstock in der ortsspezifischen
    Mentalität. Offene Homosexualität und Crossdressing hätten in New Orleans
    schon seit den 1940er Jahren Tradition. Von Travestie-Clubs über Drag-
    Kostümbälle an Halloween bis zum Karneval: In New Orleans wurde und wird
    mit Identitäten und Genderperformances locker umgegangen. Im armen
    Viertel Gretna auf der Südseite des Mississippi war es dennoch alles andere
    als einfach, sich als schwuler Musiker zu etablieren, erzählt Big Freedia: «Als
    ich am Anfang mit Katey Red auftrat, war das ziemlich provokativ. Über die
    Jahre hat sich aber der Umgang verändert. Mit unserer dauerhaften Präsenz
    haben wir den Weg für mehr Offenheit geebnet.»

    Diese Offenheit scheint sich indes nicht durchweg an die jüngere Bounce-
    Generation zu vererben. Mr. Ghetto, mit dem Freedia gelegentlich auftritt,
    versprüht eher Mackertum und macht auch vor homophoben Äusserungen
    nicht Halt. Seine Bootydancers wirken wie Sexobjekte. Big Freedia
    Tänzerinnen hingegen strahlen sexuelle Selbstbestimmung aus. Das
    überträgt sich auch auf den Club: Wenn ein Mann im Publikum übergriffig
    wird, stoppt Freedia die Musik und mahnt zum Abstand-Halten ins Mikro:
    «Give my dancers 50 feet!» Im Club also: Selbstermächtigung. In den

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    Mainstream-Medien aber wird Twerking oft als hypersexuell abgewertet – ein
    Image, zu dem auch Musikerinnen wie Miley Cyrus beigetragen haben. Mit
    ihrem Bounce-Verweis und «Twerk-Versuch» – wie Big Freedia es nennt – an
    den MTV Music Video Awards 2013 hat sie einen Hype ausgelöst. Seit dem
    erfüllt Twerking, was der Bauchtanz vorher erfüllte: die Sehnsucht weisser
    Mittelklasse-Städter nach Exotik und Erotik. Big Freedia hat nichts gegen
    diese Wahrnehmung, aber ärgert sich über die Lorbeeren, die Cyrus für einen
    afroamerikanischen Tanz erhält, ohne ihn richtig zu beherrschen, erklärt er in
    einem Fernseh-Interview.

    Beim Tanzkurs am Norient Musikfilm Festival in Bern wird schnell klar: Zu
    schnellem Bounce twerken ist verdammt kompliziert und braucht Technik,
    Training und Kondition. Big Freedia ist in einen blauen Jogginganzug
    geschlüpft und gibt Anweisungen wie ein Sportlehrer: «Nicht so steif in den
    Hüften! Hol die Kraft aus dem Rücken! Mehr Arschkontrolle!» Und während er
    am Ende der Lektion seine «booty-certified»-Hot-Pants verkauft, bemerkt er,
    dass die Kombination aus Bounce und Twerking doch vor allem ein
    Befreiungsakt ist: «Die Leute sollen tun, wonach sie sich fühlen. Alle sollen
    den Club mit einem Lächeln verlassen.»

    → footnotes
    1.   Im Slang von New Orleans werden Schwule abwertend als «Punk» oder
         «Sissy» bezeichnet. «Sissy» («Sister») verweist auf einen Mann, der nach
         traditionellem Rollenverständnis als schwach gilt. Durch schwule Bounce-
         Performer erfährt der Begriff eine positive Umdeutung.

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,

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    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

    → shop

    Seismographic Sounds: Visions of a New World
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    The second Norient book «Seismographic Sounds: Visions of a New World» introduces you
    to a contemporary world of distinct music and music videos. Written by 250 scholars,
    journalists, bloggers and musicians from 50 countries.

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    → published on june 13, 2013

    → last updated on august 21, 2020

    → topics

               appropriation
                   place
                   queer
                 all topics

    → specials
    norient musikfilm festival nmff 4 (2013)                         norient
    ,                                          seismographic sounds, festival

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