Nozinja: Beschleunigte Folklore - Norient

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Nozinja: Beschleunigte Folklore - Norient
Nozinja: Beschleunigte Folklore | norient.com                  7 Jun 2022 00:01:00

    Nozinja: Beschleunigte
    Folklore
    by Florian Sievers

    Der südafrikanische Musikproduzent Nozinja hat die
    traditionelle Musik seines Volks radikal entkernt, elektrifiziert
    und beschleunigt. Er bewahrt die Traditionen dadurch, dass

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Nozinja: Beschleunigte Folklore - Norient
Nozinja: Beschleunigte Folklore | norient.com                             7 Jun 2022 00:01:00

    er sie ständig verändert. Aus dem Norient Buch
    Seismographic Sounds (hier bestellbar).
    Der Auftritt sieht aus, als stellte eine Gruppe aufgeputschter Bauarbeiter
    ausgesuchte Cartoonfilme der sechziger Jahre nach. Vorn auf der Bühne: zwei
    Tänzer in orangefarbenen Overalls und mit Clownperücken auf dem Kopf.
    Bauch und Hinterteil mit Kissen ausgestopft, schlackern sie synchron mit
    ihren Gliedmassen, als hätten sie keine Knochen. Dahinter thront zwischen
    Keyboards und Computern ein korpulenter Afrikaner mit breitem Grinsen. Er
    trägt eine kreischend bunte Mischung aus Sporttrikot und Unterhemd, auf
    dem Kopf eine undefinierbare Pelzkreation, und hat sich gefärbte
    Straussenfedern links und rechts an die Oberarme geklebt. So sieht er aus wie
    der Botschafter einer selbstbewussten Afrobricolage, die Klischees
    gleichermassen bestätigt wie überdreht.

    Nach dem Konzert sind zwar die beiden Tänzer ausser Atem. Richard
    Mthetwa jedoch, der Federmann hinter den Keyboards, hat nur sein Oberteil
    durchgeschwitzt und zeigt weiter sein joviales Grinsen. Der Südafrikaner ist
    zufrieden. Mit dem Auftritt. Mit der Welt. Mit sich. Unter dem Namen Nozinja
    arbeitet er für eine Handvoll Musikprojekte als Komponist, Produzent und
    Plattenfirmenboss. Er dreht seine eigenen Videoclips, singt sogar selber und
    fährt bei Bedarf auch noch die Musikerinnen und Musiker durch die Gegend.
    Mit seiner Hyperaktivität hat er binnen weniger Jahre ein komplettes
    Musikgenre aus dem Boden gestampft: Shangaan Electro.

    Der Name ist zu verstehen als «elektrifizierte Shangaan-Musik». Denn
    Nozinja stammt von der Ethnie der Shangaan ab, die in Südafrika offiziell
    Tsonga heissen. Deren Heimat ist die Provinz Limpopo im Nordosten des
    Landes, an der Grenze zu Mosambik und Simbabwe. Wie viele Tsongas zog
    Nozinja irgendwann nach Johannesburg, um Arbeit zu finden. In der
    Grossstadt zog er zunächst eine Reihe von Handy-Reparaturläden auf, bevor
    er 2004 aufs Musikproduzieren umsattelte. «Meine Brüder dachten, ich sei
    verrückt geworden», erinnert er sich. Im Hinterhof seines
    Backsteinhäuschens im Stadtteil Soweto richtete er ein Heimstudio ein. Hier
    entstand im Laufe der Jahre ein umfangreicher Katalog aus Kassetten, DVDs
    und selbstgebrannten CDs mit Aufnahmen von ihm als Xitsonga Dance oder
    Zinja Hlungwani sowie von seinen Projekten Tshetsha Boys, Tiyiselani
    Vomaseve oder BBC (Beautiful Black Culture). Mit Erfolg: Der Mittvierziger
    verkauft heute nach eigenen Angaben Zehntausende Tonträger pro Jahr.

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Nozinja: Beschleunigte Folklore - Norient
Nozinja: Beschleunigte Folklore | norient.com                               7 Jun 2022 00:01:00

    Upload auf gut Glück
    Irgendwann entdeckte Nozinja dann auch die Webseiten SoundCloud und
    YouTube als Vertriebskanäle. «Ich habe einfach ein paar Stücke hochgeladen
    und mir gedacht, ich probiere mal mein Glück», sagt er. Bald darauf meldete
    sich bei ihm völlig begeistert der New Yorker Journalist Wills Glasspiegel, der
    die Uploads gehört hatte und Mthetwa mit dem britischen Label Honest Jon’s
    in Verbindung setzte. Dieses veröffentlichte 2010 schliesslich weltweit die
    Compilation Shangaan Electro, die den einigermassen blödsinnigen
    Untertitel New Wave Dance Music from South Africa trug. Denn mit dem
    Punknachfolger New Wave oder mit elektronischer Dance-Musik hat diese
    Musik nicht viel zu tun – genau betrachtet, weist sie kaum
    Anknüpfungspunkte an westliche Pop-Genealogien auf.

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    «Ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren», sagt Nozinja zu seinen
    Produktionen. Schon vor vierzig Jahren hatten Musiker wie General M.D.
    Shirinda, der einst auch bei Paul Simons Südafrika-Album Graceland (1986)
    mitgewirkte, traditionelle Tsonga-Musik mit westlichen Instrumenten
    gekreuzt: Gitarren übernahmen die Melodieführung, Bass und Schlagzeug
    lieferten das tanzbare Fundament. Nozinja strich den Bass, bastelte die Beats
    aus stolpernden Tomdrum-Samples zusammen und ersetzte die Gitarren
    durch Marimbaklänge von einfachen Heimorgeln. Diese simulieren den
    warmen Klang der xylophonähnlichen Holzinstrumente mehr schlecht als
    recht. Zudem spielte Nozinja viele der komplexen Melodieläufe per Hand ein.
    Beides trägt zum wüst zusammengestoppelten Charakter seiner Musik bei.
    Vor allem aber drehte der Produzent das Tempo der Stücke radikal nach
    oben. Traditionelle Shangaan-Musik bewegt sich mit 110 Beats pro Minute im
    gemässigt beschwingten Bereich. Nozinjas Produktionen dagegen sind mit
    teilweise mehr als 180 Beats pro Minute so halsbrecherisch schnell, dass sich
    eine Art rasender Stillstand ergibt: Die zahlreichen fein ziselierten Details
    verschwimmen zu einem euphorisch-aufputschenden Klangstrahl.

    Kritik von den Altvorderen

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    Für den radikal neuen Ansatz hagelte es Kritik von den Altvorderen, die die
    Tsonga-Kultur von Respektlosigkeiten bedroht sahen. Doch die
    elektronischen Instrumente, mit denen Nozinja arbeitet, sind nun einmal
    preiswerter, als wenn er für jede Aufnahme ein mehrköpfiges traditionelles
    Ensemble anheuern müsste. Aus denselben Gründen hatten Ende der
    siebziger Jahre schon US-Discoproduzenten begonnen, komplette Orchester
    durch Synthesizer zu ersetzen. Und ebenfalls deshalb transformieren heute
    überall in Afrika Musikerinnen und Musiker mit einfachen Computern und
    simplen Keyboards die Musik ihrer Eltern – von Balani Show in Mali, wo die
    traditionellen Balafon-Gruppen durch Maschinen ersetzt werden, bis zum
    Mchiriku in Tansania, wo Bands auf billigen Casio-Keyboards dudeln. Nozinja
    zufolge entspricht die hohe Schlagzahl seiner Musik auch eher dem heutigen
    Lebensgefühl. «Geschwindigkeit zählt», sagt er, denn: «Ohne Tempo kein
    Tanz.» Und ohne Tanz ist es Nozinja zufolge kein Shangaan Electro: Die
    Musik funktioniere überhaupt nur zusammen mit Tänzerinnen und Tänzern.
    Die zugehörigen Bewegungen beziehen sich dabei ebenso wie die Musik
    durchaus auf überlieferte Traditionen. So vermischen sie Elemente der
    traditionellen Tänze Makwaya (für Männer) und Xibelani (für Frauen) mit dem
    Johannesburger Pantsula, dessen Ententanzbewegungen in den achtziger
    Jahren unter den Gangstern der Stadt populär wurden.

    In Europa und den USA kommen Nozinjas urban-elektrifizierte Adaptionen
    von ländlichen Traditionen gut an. 2015 hat er das Album Nozinja Lodge bei
    der hippen britischen Elektronik-Plattenfirma Warp veröffentlicht. Darauf
    drosselt er, vermutlich nach Einflüsterungen der Briten, sogar dann und wann
    das Tempo. Die alten Tsonga-Traditionen bewahrt er weiterhin dadurch, dass
    er sie ständig verändert.

    Dieser Text ist erschienen in der Musikbeilage der Wochenzeitung WoZ Nr.
    43/2014 vom 23.10.2014, redaktionell betreut von Thomas Burkhalter und
    Benedikt Sartorius, und später im zweiten Norient Buch «Seismographic
    Sounds».

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    Seismographic Sounds – Visions of a New World
    The second Norient book «Seismographic Sounds – Visions of a New World» introduces you
    to a contemporary world of distinct music and music videos. Written by 250 scholars,

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    journalists, bloggers and musicians from 50 countries.

    sold out

    → Published on October 23, 2014

    → Last updated on October 08, 2020

    Florian Sievers ist Autor in Berlin. Zurzeit schreibt er an einem Drehbuch über die
    Musiksphären Addis Abebas und arbeitet als Mit-Herausgeber an einem Buch des
    Goethe-Instituts über die Clubkultur in zehn afrikanischen und europäischen
    Städten.

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