Bröckelt die Mittelschicht? - Risiken und Chancen für mittlere Einkommens-gruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt - Bertelsmann Stiftung
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Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommens- gruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Valentina Consiglio, Christian Geppert, Sebastian Königs, Horacio Levy, Anna Vindics
Impressum Dies ist eine Übersetzung einer Publikation, die ursprünglich von der OECD in englischer Sprache unter dem Titel „Is the German Middle Class crumbling? Risks and Opportunities“ © OECD 2021 veröffentlicht wurde (DOI: 10.1787/845208d7-en). Diese Übersetzung wurde nicht von der OECD erstellt und ist somit keine offizielle OECD-Übersetzung. Die Qualität der Über- setzung und ihre Übereinstimmung mit dem Originaltext liegen in der alleinigen Verantwortung der Autor:innen der Überset- zung. Im Falle einer Diskrepanz zwischen dem Originalwerk und der Übersetzung ist nur der Text des Originalwerks als gültig anzusehen. © 2021 Bertelsmann Stiftung für diese Übersetzung Verantwortlich: Valentina Consiglio Manuela Barišić Natascha Hainbach Lektorat: Dr. Ute Gräber-Seißinger Jan W. Haas Gestaltung: werkzwei Detmold Druck: Gieselmann Druck und Medienhaus, Bielefeld Bildnachweise: © Sirichai Puangsuwan; Hyejin Kang - stock.adobe.com DOI: 10.11586/2021117
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommens- gruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Valentina ConsiglioI, II, Christian GeppertI, Sebastian KönigsI, Horacio LevyI, Anna VindicsI I OECD II Bertelsmann Stiftung
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Vorwort Die Mittelschicht ist ein wesentlicher Eckpfeiler der Sozia- Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen. Phänomene wie len Marktwirtschaft in Deutschland. Eine breite Wohlstands- Armutsvererbung, andauernde prekäre Beschäftigung oder basis hierzulande sorgt für eine starke Binnennachfrage, ist fehlende Leistungsanreize im Steuer- und Transfersystem sind attraktiv für inländische wie ausländische Investitionen und nur einige Beispiele dafür. lässt Innovationspotenziale zur Entfaltung kommen. Eine leis- tungsfähige Mittelschicht erbringt den Großteil des Steuer- Vor diesem Hintergrund legen die OECD und die Bertelsmann aufkommens und trägt somit wesentlich zur Handlungsfähig- Stiftung mit der Studie „Bröckelt die Mittelschicht? Risiken keit des Staates bei. Angehörige der Mittelschicht investieren und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deut- in ihre Bildung – auch über den Berufseinstieg hinaus – und schen Arbeitsmarkt“ eine umfassende Vermessung der Ent- steigern damit sowohl ihre eigene Leistungsfähigkeit als auch wicklung und Struktur der Mittelschicht in Deutschland vor. die Wachstumspotenziale der Wirtschaft. Eine stabile Mittel- Basierend auf einer einkommensbezogenen Definition, nach schicht sorgt für Vertrauen in demokratische Institutionen und der eine Person zur Mittelschicht gehört, wenn sie ein äqui- damit auch für die Bereitschaft, sich in die Gestaltung des Sys- valenzgewichtetes verfügbares Einkommen zwischen 75 und tems einzubringen. Gesellschaftliche Fliehkräfte werden im 200 Prozent des Medians erzielt, wird ein differenziertes Bild Zaum gehalten. Dies ist gerade in der heutigen Zeit von enor- im internationalen Vergleich sowie im Zeitverlauf seit 1995 mer Bedeutung, da sich die großen Herausforderungen durch gezeichnet. Digitalisierung, Transformation zur Nachhaltigkeit und demo- grafischen Wandel nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt Dabei wird die Mittelschicht nicht als monolithischer Block, bewältigen lassen. sondern aus einer Reihe unterschiedlicher Perspektiven be- trachtet. Die verwendete Datenbasis erlaubt die weitere Un- Die wechselseitige Beziehung zwischen der Mittelschicht und terteilung der Mittelschicht in drei Gruppen. Mit dieser Dif- der Sozialen Marktwirtschaft gerät jedoch zunehmend unter ferenzierung wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass Druck. Denn gerade die großen Trends bergen das Potenzial, sich Menschen am unteren Rand der Mittelschicht in anderen die Mittelschicht ins Wanken zu bringen. Digitalisierung und Lebenslagen befinden, als solche, die kurz vor der Schwelle zur Dekarbonisierung bedrängen in der Mehrzahl gut bezahlte oberen Einkommensschicht stehen. Auch berücksichtigt die und bislang gut abgesicherte Arbeitsplätze. Zwar finden viele, Analyse, dass die Zugehörigkeit zu einer Schicht nicht nur vom die ihre Arbeit in diesen Bereichen verlieren, neue Beschäfti- eigenen Einkommen, sondern auch vom jeweiligen Haushalts- gungsfelder, die aber oft von schlechteren Bedingungen und kontext abhängt, in dem sich das Individuum befindet. Damit größerer Unsicherheit gekennzeichnet sind. Abstiege aus der lässt sich beispielsweise klären, inwieweit eine Haushaltsge- Mittelschicht werden wahrscheinlicher. Die Corona-Pande- meinschaft heute noch eine Absicherung gegen individuell mie hat in vielen Bereichen den Strukturwandel zusätzlich vo- niedrige Einkommen bieten kann. Ein besonderes Augenmerk rangetrieben, und eine Rückkehr zum Status quo ante wird es legt diese Studie auch auf Auf- und Abstiegsdynamiken und nicht geben. Der demografische Wandel birgt die Gefahr, dass gibt damit Antworten auf die Fragen, wem der Aufstieg in die einer wohlsituierten älteren Generation Jüngere nachfolgen, Mittelschicht gelingt, wer aus ihr herausfällt und wie sich die die erstmals in der Nachkriegszeit mit Wohlstandseinbußen entsprechenden Anteile im Zeitverlauf entwickelt haben. Da- rechnen müssen. Darüber hinaus zeigen sich die Institutionen rüber hinaus wird betrachtet, welche individuellen sozioöko- der Sozialen Marktwirtschaft immer weniger in der Lage, das nomischen Merkmale besonders kennzeichnend für die Zuge- 4
Vorwort hörigkeit zur Mittelschicht sind, wie sich der Arbeitsmarkt für tern. Die Studie zeigt vielmehr, dass Reformen in einer Reihe Angehörige der Mittelschicht gewandelt hat und schließlich, von Bereichen zusammenwirken müssen, und unterbreitet welche Generationen stark oder weniger stark in der Mittel- dafür konkrete Vorschläge. Dazu zählen Ansätze in der Bil- schicht vertreten sind. dung, die der jungen Generation den Weg in die Mittelschicht erleichtern und mit denen Weiterbildung so ausgestaltet wird, Die Ergebnisse dieser umfangreichen Analysen (OECD, dass Beschäftigte die Chancen des Strukturwandels nutzen. 2021h) sind in der vorliegenden Highlight-Broschüre zusam- Im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem müssen die Belas- mengefasst. Sie liefert einen prägnanten Einblick in Lage und tung mittlerer Einkommen verringert und Fehlanreize, die das Entwicklung der Mittelschicht und zeigt, dass diese nach wie Arbeitsangebot insbesondere von Frauen einschränken, ab- vor unter Druck steht. Der Anteil der Menschen mit einem gebaut werden. Und nicht zuletzt gilt es auch, die Bezahlung mittleren Einkommensniveau war zu Beginn des Beobach- von Berufen zu verbessern, in denen mehrheitlich Frauen tätig tungszeitraums auch im internationalen Vergleich spürbar sind, wie zum Beispiel in der Pflege, da diese im Gegensatz zu geschrumpft und konnte sich seither trotz eines jahresdurch- jener in anderen Ländern häufig nicht für einen Platz in der schnittlichen Wirtschaftswachstums von ca. 2 Prozent nicht Mittelschicht ausreicht. wieder erholen. Insbesondere Angehörige der unteren Mittel- schicht (Einkommen zwischen 75 und 100 Prozent des Medi- Nur mit Reformen in diesen Bereichen lässt sich das Bröckeln ans) waren von Stagnation oder Abstieg betroffen. Zwischen der Mittelschicht in ein Wiedererstarken umkehren. Um die 2014 und 2017 rutschte mehr als jede:r Fünfte dieser Gruppe großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen zu kön- in die untere Einkommensschicht ab und war somit entweder nen, ist eine stabile und zugängliche Mittelschicht unabdingbar. einkommensarm oder von Armut bedroht. Gleichzeitig haben sich die Chancen, aus der unteren Einkommensschicht in die Unser Dank gilt den Autor:innen der Studie, die in einer de- Mittelschicht aufzusteigen, um mehr als 10 Prozentpunkte taillierten Analyse ein umfassendes Bild der Entwicklung verringert. Wer einmal aus der Mittelschicht herausfällt oder der Größe und Struktur der Mittelschicht sowie der Arbeits- bislang stets am unteren Ende der Einkommensverteilung ge- marktentwicklungen und Auf- und Abstiegsdynamiken ge- standen hat, tut sich heute deutlich schwerer, den (Wieder-) zeichnet und gleichzeitig wichtige Ansatzpunkte für poli- Einstieg zu schaffen. tisches Handeln aufgezeigt haben. Mit der vorliegenden Vermessung der Mittelschicht und der Ableitung politischer Aus diesen und weiteren Ergebnissen erwächst klarer politi- Handlungsoptionen möchten wir als Bertelsmann Stiftung scher Handlungsbedarf. Da die Mittelschicht kein uniformes einen Beitrag dazu leisten, Aufstiegs- und Einkommens Gebilde ist und die Problemlagen vielfältig sind, ist keine ein- chancen zu verbessern und so die Mittelschicht langfristig zelne Reformmaßnahme allein geeignet, die Mittelschicht zu zu stärken. stabilisieren, Abstiege zu verhindern und Aufstiege zu erleich- Dr. Ralph Heck Eric Thode Vorsitzender des Vorstandes Director, Programm Arbeit neu denken der Bertelsmann Stiftung der Bertelsmann Stiftung 5
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Inhalt Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 5 1 | Was ist die Mittelschicht? 8 2| E ntwicklung der Größe und Struktur der Mittelschicht 10 3| A rbeitsmarktentwicklungen für mittlere Einkommensgruppen 16 4 | Einkommensmobilität in der Mittelschicht 22 5| P olitische Handlungsoptionen für eine stärkere Mittelschicht 26 Literatur 32 6
Inhalt Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ABBILDUNG 1 Die Mittelschicht in Deutschland – leicht größer als im Durchschnitt 11 der OECD-Länder ABBILDUNG 2 In der Anfangsphase der COVID-19-Krise verzeichneten Erwerbstätige 11 in der Mittelschicht im Durchschnitt Einkommensgewinne ABBILDUNG 3 Die deutsche Mittelschicht ist kleiner als Mitte der 1990er Jahre 12 ABBILDUNG 4 Die Mittelschicht zahlt im Durchschnitt mehr Steuern und Beiträge, 13 als sie an Geldleistungen erhält, die untere Mitte allerdings ist Nettoempfängerin des Steuer- und Sozialversicherungssystems ABBILDUNG 5 Seit den Babyboomer:innen hat sich die Größe der Mittelschicht von 13 Generation zu Generation verringert ABBILDUNG 6 Die regionalen Unterschiede der Größe der Mittelschicht sind 14 beträchtlich, vor allem zwischen Ost und West ABBILDUNG 7 Erwerbstätige Frauen mit mittleren Einkommen sind nach wie vor in 16 weniger qualifizierten Berufen überrepräsentiert ABBILDUNG 8 Die qualifikationsbezogene Verteilung der Beschäftigungen hat 18 sich stärker polarisiert, in der Gruppe der Erwerbstätigen in der Mittelschicht allerdings nicht stärker als im Kreis der Gesamtheit der Erwerbstätigen ABBILDUNG 9 Der Anteil der Erwerbstätigen mit befristeten Verträgen ist in 19 Deutschland seit 2005 weitgehend stabil ABBILDUNG 10 Niedrige Löhne sind bei Erwerbstätigen in der unteren Einkom- 19 mensgruppe und der unteren Mittelschicht stärker verbreitet als Mitte der 1990er Jahre, haben aber nach 2005 an Gewicht verloren ABBILDUNG 11 Die Beschäftigung in Berufen der Mittelschicht dürfte zunehmen, 20 die Prognosen deuten aber auch auf eine weitere berufliche Polarisierung hin ABBILDUNG 12 Im Kreis der Erwerbstätigen in Haushalten der Mittelschicht ging 21 die Beschäftigung deutlich weniger stark zurück als in dem der Erwerbstätigen in Haushalten der unteren Einkommensgruppe ABBILDUNG 13 Die Einkommen sind im Laufe der Zeit beständiger geworden – 23 insbesondere die der Einkommensarmen ABBILDUNG 14 Die untere Mittelschicht hat sehr geringe Chancen, über einen Zeitraum 24 von vier Jahren in die obere Einkommensgruppe aufzusteigen, während das Risiko, aus der Mittelschicht abzurutschen, hoch ist und zunimmt ABBILDUNG 15 Menschen in der unteren Einkommensgruppe haben in den späten 24 2010er Jahren deutlich geringere Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen, als in den späten 1990er Jahren TABELLE 1 Mobilität zwischen den sechs verschiedenen Einkommensgruppen, 22 2014 bis 2017 7
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt 1 | Was ist die Mittelschicht? Eine starke und florierende Mittelschicht ist die Basis einer steht darin, die Mittelschicht anhand der Selbsteinschätzung der soliden Wirtschaft und einer wohlhabenden Gesellschaft. Bür- betrachteten Personen zu definieren. So bezeichnen sich etwa ger:innen der Mittelschicht leisten einen wichtigen Beitrag zu 73 Prozent der Menschen in Deutschland selbst als Teil der Mit- den Grundlagen einer inklusiven Gesellschaft, zu sozialer und telschicht. Es ist jedoch gut dokumentiert, dass es einen „Mittel- politischer Stabilität und zu einem angemessenen Wirtschafts- schichts-Bias“ gibt (Evans & Kelley, 2004), das heißt, dass viele wachstum. Sie konsumieren den Großteil der Waren und Dienst- Menschen sich selbst als Teil der Mittelschicht begreifen, obwohl leistungen in einer Volkswirtschaft, da auf sie der größte Teil der ihre sozioökonomischen Verhältnisse etwas anderes vermuten Bevölkerung und des Gesamteinkommens entfällt. Auch spielen lassen (für Deutschland siehe Bellani et al., 2021). Daher kann es sie eine wesentliche Rolle bei der Bildung von Ersparnissen, bei problematisch sein, sich bei der Untersuchung des wirtschaft- Investitionen in das Humankapital, beim Schutz demokratischer lichen Wohlergehens von Mittelschichtshaushalten (allein) auf Institutionen und bei der Unterstützung qualitativ hochwerti- subjektive Einschätzungen des eigenen Status zu verlassen. ger öffentlicher Dienstleistungen. Eine Gesellschaft mit einer starken Mittelschicht weist nicht nur ein höheres Maß an sozi- In dieser Studie wird eine einkommensbasierte Definition der alem Vertrauen auf, sondern auch bessere Bildungsergebnisse, Mittelschicht verwendet. Sie konzentriert sich, in Anlehnung an weniger Kriminalität, eine gesündere Bevölkerung und eine hö- den Ansatz in der jüngsten OECD-Publikation Under Pressure. here Lebenszufriedenheit (Kelly, 2000; Lynch & Kaplan, 1997; The Squeezed Middle Class (OECD, 2019c), auf die Gruppe der Thorson, 2014). mittleren Einkommen als Approximation der Mittelschicht. Laut dieser Definition gehören jene Personen zur Mittelschicht, die in Die Mittelschicht ist indessen ein komplexes soziales Konstrukt, Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen im Bereich von für das es keine eindeutige Definition gibt. Die Indikatoren, die 75 bis 200 Prozent des nationalen Medians leben.2 Diese Spanne zur Definition und Untersuchung der Mittelschicht verwendet entsprach im Jahr 2018 einem monatlich verfügbaren Einkom- werden, variieren zwischen den Disziplinen, aber auch innerhalb men von etwa 1.500 bis 4.000 Euro im Fall einer alleinstehen- jeder einzelnen von ihnen, ganz erheblich. Einige Messgrößen den Person und von 3.000 bis 8.000 Euro im Fall eines Paares mit und Indikatoren basieren auf dem Beruf und dem Beschäfti- zwei Kindern. Innerhalb der mittleren Einkommensgruppe wird gungsstatus und beziehen sich zum Beispiel auf bestimmte As- in dieser Studie weiter unterteilt in die untere Mitte (75 bis 100 pekte der Arbeitsplatzqualität (Goldthorpe, 2016). Andere be- Prozent des Medians), die mittlere Mitte (100 bis 150 Prozent) ruhen auf sozialen, kulturellen oder wirtschaftlichen Kriterien und die obere Mitte (150 bis 200 Prozent). Analog dazu werden wie Einkommensniveau, Bildungsniveau oder Werte und Einstel- Personen in Haushalten unterhalb der mittleren Einkommens- lungen (Savage et al., 2013; Pressman, 2007).1 Oder sie sind kon- gruppe als Personen mit niedrigen Einkommen definiert, wenn sumbasiert, sodass ein Haushalt als Mittelschichtshaushalt de- ihr Einkommen weniger als 75 Prozent des Medians entspricht, finiert wird, wenn er beispielsweise in der Lage ist, ein Haus zu während solche mit einem Einkommen von mehr als 200 Prozent kaufen und sich ein bestimmtes Auto oder einen bestimmten Ur- als Personen mit hohen Einkommen gelten.3 laub zu leisten (Reeves et al., 2018). Ein alternativer Ansatz be- 1 In einer umfassenden Analyse der sozialen Schicht in Deutschland stellt beispielsweise Reckwitz (2019) fest, dass neben der alten Mittelschicht – einer Gruppe von Beschäftigten mit mittlerer Qualifikation, die schrumpft und an Prestige verliert – eine neue Mittelschicht entstanden ist, die aus Akademiker:innen besteht, die wissensbasierte Jobs in städti- schen Gebieten verrichten. 2 Im Folgenden wird der Begriff Mittelschicht immer im Sinne dieser Einkommensdefinition verwendet, wobei zudem die Begriffe mittlere Einkommensgruppe(n) und Mitte synonym verwendet werden. 3 Das verfügbare Haushaltseinkommen wird mithilfe der Quadratwurzelmethode (Division des Haushaltseinkommens durch die Quadratwurzel der Haushaltsgröße) an die Haus- haltsgröße angepasst, um die Aufteilung der Ressourcen innerhalb des Haushalts abzubilden. In einigen Teilen der Analyse wird die Gruppe der Geringverdienenden weiter unter- teilt: Personen mit einem Einkommen von weniger als 50 Prozent des Medians werden als „einkommensarm“ eingestuft, solche mit einem Einkommen zwischen 50 und 75 Prozent des Medians als „armutsgefährdet“. 8
1 | Was ist die Mittelschicht? Viele Gründe sprechen dafür, bei der Definition der Mittelschicht zum Zweck der vergleichenden statistischen Analyse, das Ein- kommen zu betrachten. Das Einkommen ist eine entscheidende Determinante des Lebensstandards der Menschen und vieler As- pekte ihres Wohlbefindens. Es ermöglicht den Haushalten, Güter und Dienstleistungen zu erwerben, einschließlich Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung, und Ersparnisse als Absi- cherung gegen finanzielle Unwägbarkeiten zu bilden. Das Ein- kommen korreliert auch stark mit anderen Determinanten der sozialen Schicht wie Beruf, Bildung und gesellschaftlichem Status. Aus analytischer Sicht hat die Verwendung einer einkommens- basierten Definition der Mittelschicht den Vorteil, dass Einkom- mensdaten über lange Zeiträume hinweg in allen Ländern leicht verfügbar sind. Dies gilt nicht unbedingt für Daten über die sub- jektiv eingeschätzte Zugehörigkeit oder andere sozioökonomi- sche Faktoren. 9
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt 2 | Entwicklung der Größe und Struktur der Mittelschicht Nach der oben genannten einkommensbasierten Definition ge- verzeichnet Deutschland hingegen einen soliden Anstieg der ver- hörten 2018 etwa zwei Drittel (64 Prozent) der Menschen in fügbaren Einkommen aller Haushalte unabhängig von ihrer Po- Deutschland zur Mittelschicht, etwas mehr als im Durchschnitt sition in der Einkommensverteilung. Im Jahr 2018 war das reale der OECD-Länder (62 Prozent, Abbildung 1). Im Ländervergleich verfügbare Medianhaushaltseinkommen um 17 Prozent höher steht die Größe der mittleren Einkommensgruppe in engem Zu- als 1995; die Einkommen der obersten 10 Prozent der Haus- sammenhang mit dem Grad der Einkommensungleichheit eines halte waren um 28 Prozent gestiegen, die der untersten 10 Pro- Landes, da die Einkommensgruppen anhand von Schwellenwer- zent allerdings nur um 7 Prozent. Erste Erkenntnisse zur Ein- ten definiert werden, die im Verhältnis zum Medianeinkommen kommensentwicklung während der COVID-19-Krise bis Januar ausgedrückt werden. In vielen mittel- und osteuropäischen sowie 2021 deuten darauf hin, dass die verfügbaren Einkommen von Er- nordischen Ländern, in denen die Einkommensungleichheit rela- werbstätigen in Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkom- tiv gering ist, ist die Mittelschicht größer, während sie in Mexiko, men aufgrund umfassender staatlicher Unterstützungsleistungen Chile und den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Einkom- im Durchschnitt leicht gestiegen sind (Abbildung 2; Braband et mensungleichheit am größten ist, am kleinsten ist. In Deutsch- al., im Erscheinen), während sie in Haushalten mit hohen Einkom- land gehört etwa jede dritte Person (29 Prozent) zur Gruppe men erheblich gesunken sind. derjenigen mit niedrigen Einkommen, wobei 10 Prozent ein- kommensarm sind (das heißt über ein Einkommen von weniger als 50 Prozent des Medians verfügen), während 7 Prozent zur Die deutsche Mittelschicht ist Ende der 1990er und Anfang Gruppe der Menschen mit hohen Einkommen gehören. der 2000er Jahre geschrumpft – vor allem am unteren Ende – und hat sich seitdem nicht erholt Nach anderthalb Jahrzehnten realer Stagnation verzeichnen Die deutsche Mittelschicht ist kleiner als noch Mitte der 1990er die Einkommen der Haushalte in der Mittelschicht in Deutsch- Jahre. Zwischen 1995 und 2018 ist sie um 6 Prozentpunkte land seit 2015 ein solides Wachstum geschrumpft, von 70 auf 64 Prozent der Bevölkerung (Abbil- dung 3.A). Der Großteil dieses Rückgangs fand in den frühen Die Realeinkommen der Haushalte im mittleren Einkommens- 2000er Jahren statt, als sich die Einkommensunterschiede in bereich in Deutschland sind in den zwei Jahrzehnten ab Mitte Deutschland vergrößerten. Die mittlere Einkommensgruppe in der 1990er Jahre nur mäßig gewachsen. Seit 2015 nehmen die Deutschland erholte sich trotz des Wachstums der Beschäftigung Wachstumsraten merklich zu. Von 2000 bis 2014 stagnierte das ab dem Jahr 2005 nicht, da das verfügbare Einkommen der Haus- reale verfügbare Medianhaushaltseinkommen und zugleich damit halte mit niedrigen und mittleren Einkommen real stagnierte. der Lebensstandard vieler Haushalte mit mittleren Einkommen. Die Verkleinerung der mittleren Einkommensgruppe in den frü- Gleichzeitig vergrößerten sich die Einkommensunterschiede: hen 2000er Jahren spiegelt hauptsächlich eine Schrumpfung der Während in den späten 1990er Jahren die oberen, mittleren und unteren Mittelschicht wider, das heißt des Anteils der Haushalte unteren Einkommen noch im Gleichschritt wuchsen, entkoppel- mit einem Einkommen von 75 bis 100 Prozent des Medians; die ten sich in der Zeit von 2000 bis 2014 die oberen Einkommen von mittlere (100 bis 150 Prozent des Medians) und die obere Mittel- den stagnierenden mittleren und den sinkenden unteren Einkom- schicht (150 bis 200 Prozent des Medians) sind weitgehend sta- men. Dies spiegelt den auch in vielen anderen OECD-Ländern be- bil geblieben. In der Zwischenzeit ist der Anteil der Haushalte mit obachtbaren Trend zu höherer Einkommensungleichheit im Ver- niedrigen und hohen Einkommen gestiegen.4 gleich zur Situation Mitte der 1990er Jahre wider. Seit 2015 4 So gehörten in 2018 mit Blick auf die gesamte Bevölkerung 23 Millionen zur unteren Einkommensgruppe sowie 18 Millionen zur unteren, 26 Millionen zur mittleren und 9 Millionen zur oberen Mittelschicht. Die obere Einkommensgruppe umfasste knapp 6 Millionen. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18-64 Jahre) umfasste im selben Jahr knapp 51 Millionen Personen. Davon waren 13 Millionen in der unteren Einkommensgruppe sowie 10 Millionen in der unteren, 17 Millionen in der mittleren und 7 Millionen in der oberen Mittelschicht. Die obere Einkommensgruppe umfasste 4 Millionen Personen. 10
2 | Entwicklung der Größe und Struktur der Mittelschicht ABBILDUNG 1 | Die Mittelschicht in Deutschland – leicht ABBIDUNG 2 | In der Anfangsphase der COVID-19-Krise größer als im Durchschnitt der OECD-Länder verzeichneten Erwerbstätige in der Mittelschicht im Anteil der Bevölkerung nach Einkommensgruppe Durchschnitt Einkommensgewinne Nominale Veränderung des monatlichen Haushaltsnettoeinkom- In Prozent Einkom- Armuts- Mittlere Hohe mens zwischen 2019 und Januar 2021 für vor der Krise Erwerbstä- mensarm gefährdet Einkommen Einkommen tige, nach Haushaltseinkommen, Deutschland Mexiko 18 16 48 17 Niedrige Mittlere Hohe Gesamt Einkommen Einkommen Einkommen Chile2 16 18 48 18 +5% +5% USA 1 18 17 51 14 Litauen 15 18 53 13 +2% Japan6 23 13 54 11 Lettland 17 16 55 11 Israel2 18 16 55 11 Italien 3 15 19 56 10 Estland3 15 18 57 10 Spanien 3 16 17 57 11 Australien5 13 19 59 10 − 16 % Griechenland 3 15 16 59 10 Anmerkung: Ergebnisse für die 18- bis 64-Jährigen, die 2019 in Vollzeit, Teilzeit oder V. Königreich 10 20 59 11 Minijobs arbeiteten. Die Einkommensgruppen sind auf Grundlage des äquivalenten verfügbaren Haushaltseinkommens für das Jahr 2018 definiert. Die monatlichen Kanada2 12 19 60 9 Haushaltsnettoeinkommen wurden im Januar 2021 gemessen (SOEP CoV 2) und mit den Vorkrisenwerten für 2019 aus dem SOEP verglichen. Portugal 11 18 61 10 Quelle: DIW-Berechnungen auf Basis des Korea7 15 16 61 8 SOEP v36 und SOEP-CoV 2. OECD 12 18 62 9 Irland 9 21 63 7 Die Schrumpfung der mittleren Einkommensgruppe seit Mitte Deutschland 10 18 64 7 der 1990er Jahre vollzog sich in Deutschland schneller als in den Luxemburg6 9 19 65 8 meisten anderen OECD-Ländern. Nur in Schweden, Finnland und Schweiz2 9 18 65 8 Luxemburg schrumpften die mittleren Einkommensgruppen noch Schweden 11 19 65 5 schneller. In allen 26 OECD-Ländern, für die Daten vorliegen, hat Polen3 9 18 66 7 sich die Mittelschicht im Durchschnitt sogar leicht vergrößert, Belgien2 10 20 66 4 nämlich um 0,3 Prozentpunkte (Abbildung 3.B). Dies spiegelt das Österreich3 10 18 66 6 Wachstum der mittleren Einkommensgruppen in einigen latein- Frankreich 7 19 66 8 amerikanischen, südeuropäischen und englischsprachigen euro- päischen Ländern wider, in denen die Einkommensungleichheit in Niederlande 7 20 67 6 der Regel zurückging. Slowenien4 10 17 68 5 Ungarn4 7 18 68 7 Auch der Anteil der mittleren Einkommensgruppe am Gesamt- Dänemark3 6 21 69 4 einkommen der Bevölkerung ist in Deutschland in der Zeit von Finnland3 6 19 70 5 1995 bis 2018 von 74 auf 67 Prozent gesunken, was auf einen Tschechien3 6 18 70 6 abnehmenden gesamtwirtschaftlichen Einfluss hindeutet. Auch Norwegen3 8 17 70 4 dieser Rückgang fand jedoch in der ersten Dekade des Beob- Slowakei 8 18 71 3 achtungszeitraums statt, das heißt zwischen 1995 und 2005. Er spiegelt fast ausschließlich die schrumpfende Größe der mittle- Einkommensarm = weniger als 50 %, armutsgefährdet = 50 %–75 %, mittlere ren Einkommensgruppe (das heißt ihren rückläufigen Anteil an Einkommen = 75 %–200 %, hohe Einkommen = mehr als 200 % des Medians. der Bevölkerung) wider und nur zu einem sehr geringen Teil den Anmerkung: Stand 2018, außer 1 = 2019, 2 = 2017, 3 = 2016, 4 = 2015, 5 = 2014, 6 = 2013, 7 = 2012. Der OECD-Durchschnitt ist der ungewichtete Durchschnitt für Rückgang des relativen Einkommensniveaus von Personen mit die 33 in der Abbildung dargestellten Länder. mittleren Einkommen im Vergleich mit Personen aus anderen Quelle: OECD-Berechnungen auf Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre, mit Ausnahme von Frankreich, Lettland, Portugal und Schweden, für die sie auf Einkommensgruppen. Daten der Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) beruhen. 11
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Die Mittelschicht zahlt mehr Einkommensteuern, als sie an ABBILDUNG 3 | Die deutsche Mittelschicht ist kleiner als Sozialleistungen erhält, wobei die Umverteilung größtenteils Mitte der 1990er Jahre innerhalb der Mittelschicht stattfindet 3.A | Anteil der Bevölkerung nach Einkommensgruppe, 1995–2018, Deutschland Die deutsche Mittelschicht ist im Durchschnitt eine Nettozah- hohe Einkommen 6 7 7 7 8 7 100 % lerin des Steuer- und Sozialversicherungssystems: Die Summe obere Mitte 11 11 11 12 13 11 der auf das Einkommen gezahlten Steuern und Sozialversiche- rungsbeiträge übersteigt im Jahr 2018 mit 39 Prozent gegenüber 33 33 32 mittlere Mitte 31 31 30 27 Prozent den Gesamtwert der erhaltenen Sozialleistungen (Ab- bildung 4). Diese Zahlen berücksichtigen jedoch weder die ge- zahlten indirekten Steuern (inklusive Mehrwertsteuer) noch die untere Mitte 26 25 22 21 22 21 in Form von öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit oder Bildung erhaltenen Sachleistungen. Innerhalb der mittleren Ein- 18 19 19 18 armutsgefährdet 17 17 kommensgruppen sind nur die mittlere und obere Mitte tatsäch- einkommensarm 7 8 9 10 10 10 lich Nettobeitragszahlerinnen. Haushalte in der unteren Mitte 0% 1995 2000 2005 2010 2014 2018 erhalten etwa 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens in Form von Transfers. Demgegenüber zahlen sie 29 Prozent an Steuern und Abgaben. Sie sind folglich Nettoempfänger des Steuer- und 3.B | Veränderungen der Bevölkerungsanteile der Mittelschicht Sozialversicherungssystems. Der Nettobeitrag der mittleren Mitte der 1990er Jahre bis 2018 oder jüngstem verfügbaren Jahr Einkommensgruppe war im Jahr 2018 etwas niedriger als im Differenz in Prozentpunkten Differenz in Prozent Jahr 1995. -10 0 10 Schweden Der größte Teil der Umverteilung im Laufe des Lebens findet Finnland3 dabei innerhalb der mittleren Einkommensgruppe statt, und zwar Luxemburg6 Deutschland zwischen Personen im erwerbsfähigen Alter und älteren Per- Slowenien4 sonen. So sind die 18- bis 64-Jährigen in der mittleren Einkom- Dänemark3 mensgruppe starke Nettozahler:innen: Ihre Steuern und Sozial- Kanada2 USA1 versicherungsbeiträge übersteigen die empfangenen Leistungen Tschechien3 im Durchschnitt um 33 Prozent des verfügbaren Einkommens. Norwegen3 Dagegen sind ältere Menschen mit mittleren Einkommen (65+) Niederlande Italien3 eindeutige Nettoempfänger:innen: Sie beziehen fast ihr gesam- Schweiz2 tes verfügbares Einkommen in Form von Transfers, insbeson- OECD dere gesetzlichen Renten, und zahlen nur wenige Steuern und Australien5 Israel2 Sozialbeiträge. Spanien3 Frankreich Polen3 Die soziodemografische Zusammensetzung der deutschen Österreich3 V. Königreich Mittelschicht hat sich verändert Mexiko Griechenland3 Die sozioökonomische Zusammensetzung der Mittelschicht hat Chile2 Belgien2 sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert, was auf ihre Ungarn4 schrumpfende Größe und die Entwicklung der Lebensverhält- Irland nisse, die Erwerbsbeteiligung von Frauen und jungen Menschen Einkommensarm = weniger als 50 %, armutsgefährdet = 50 %–75 % , sowie den wirtschaftlichen Wohlstand der verschiedenen Alters- untere Mitte = 75 %–100 %, mittlere Mitte = 100 %–150 %, obere Mitte = 150 %–200 %, hohe Einkommen = mehr als 200 % des Medians. gruppen zurückzuführen ist. Insbesondere gilt Folgendes: Anmerkung: OECD bezieht sich auf den ungewichteten Durchschnitt von 26 Ländern mit verfügbaren Daten. Stand 2018, außer 1 = 2019, 2 = 2017, 3 = 2016, 4 = 2015, 5 = 2014, 6 = 2013. Die Veränderung in Prozentpunkten (grüner Balken) bezieht sich • Die deutsche Mittelschicht ist schneller gealtert als die Gesamt- auf die Differenz zwischen Mitte der 1990er Jahre und dem letzten Jahr, während die prozentuale Veränderung (blauer Balken) die relative Veränderung im Vergleich zur bevölkerung, und vor allem für junge Menschen wird es immer Mitte der 1990er Jahre anzeigt. schwieriger, sich ihren Platz in der Mittelschicht zu sichern. Äl- Quelle: OECD-Berechnungen auf Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Center, außer für Frankreich und Schweden, für die sie auf Daten der Statistik der teren Menschen gelingt es besser, ihren Mittelschichtssta- Europäischen Union über Einkommen und tus zu halten. Im Jahr 2018 machten ältere Erwachsene im er- Lebensbedingungen (EU-SILC) beruhen. 12
2 | Entwicklung der Größe und Struktur der Mittelschicht ABBILDUNG 4 | Die Mittelschicht zahlt im Durchschnitt mehr Steuern und Beiträge, als sie an Geldleistungen erhält, die untere Mitte allerdings ist Nettoempfängerin des Steuer- und Sozialversicherungssystems Einkommenskomponenten als Anteil des verfügbaren Einkommens, Deutschland 4.A | Mittlere Einkommen über die Zeit 4.B | Unterschiedliche Einkommensschichten, 2018 in Prozent Nettoumverteilung 5 150 4 3 3 20 Kapitaleinkommen 2 18 9 Transfers 24 27 25 40 100 64 125 126 Arbeitseinkommen 112 108 110 50 47 87 53 11 0 Steuern und −16 −12 −17 −14 −29 Sozialversiche- −39 −39 −39 −2 −49 −55 rungsabgaben −31 −46 -50 1995 2018 niedrige untere mittlere obere hohe Einkommen Mitte Mitte Mitte Einkommen Quelle: OECD-Berechnungen auf der Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre. ABBILDUNG 5 | Seit den Babyboomer:innen hat sich die Größe der Mittelschicht von Generation zu Generation verringert Anteil der Personen, die zur mittleren Einkommensschicht gehören, nach Kohorte und Alter, Deutschland in Prozent 75 Babyboomer (1955–1964) Generation X (1965–1982) 70 Millennials (1983–1996) 65 Generation Z (nach 1997) Stille Generation (vor 1954) 60 Alter 0–10er 10–20er 20–30er 30–40er 40–50er 50–60er 60–70er Lesehinweis: Im Alter zwischen 20 und 39 Jahren gehörten 71 % der Babyboomer:innen zur mittleren Einkommensgruppe. Bei der Generation X (d. h. den Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre Geborenen) war der Anteil im gleichen Alter auf 68 % gesunken. Quelle: OECD-Berechnungen auf der Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre. werbsfähigen Alter (45 bis 64 Jahre) und Senioren (65 Jahre statt. Die Größe der mittleren Einkommensgruppe hat seit der und älter) mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Personen mit Zeit der Babyboomer:innen von Generation zu Generation mittleren Einkommen aus, gegenüber rund 40 Prozent im Jahr kontinuierlich abgenommen (Abbildung 5). Im Alter zwischen 1995. Junge Menschen sind von der Schrumpfung der mittle- 20 und 39 Jahren gehörten 71 Prozent der Babyboomer:in- ren Einkommensgruppe unverhältnismäßig stark betroffen. nen zur mittleren Einkommensgruppe, während die Anteile Ihre Wahrscheinlichkeit, zur mittleren Einkommensgruppe der Generation X (das heißt der Mitte der 1960er bis Anfang zu gehören, ist im Durchschnitt um 10 Prozentpunkte gerin- der 1980er Jahre Geborenen) und der Millennials (das heißt ger als noch Mitte der 1990er Jahre – ein Rückgang, der fast der Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre Gebore- doppelt so groß ist wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Indes- nen) im gleichen Alter auf 68 bzw. 61 Prozent zurückgegan- sen fand dieser Rückgang ebenfalls in den Jahren bis 2005 gen sind. Die allmähliche Schrumpfung der Mittelschicht zeigt 13
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt sich auch, wenn man den Einkommensstatus der Menschen in ABBILDUNG 6 | Die regionalen Unterschiede der ihrer Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter (0 bis Ende Größe der Mittelschicht sind beträchtlich, vor allem 10er Jahre, 10 bis Ende 20er Jahre, 20 bis Ende 30er Jahre) zwischen Ost und West betrachtet. Anteil der Personen, die zur mittleren Einkommensschicht gehören, 2018, deutsche Bundesländer • Berufstätige Paare machen fast die Hälfte (44 Prozent) der Haushalte in der Mittelschicht aus und haben ihre relative Chance, zur Mittelschicht zu gehören, erhöht. Der Anteil der 65 % Haushalte in der Mittelschicht hat sich sogar bei den soge- 62 % 58 % nannten Eineinhalbverdiener:innen-Paaren (das heißt Paaren mit einem Vollzeit- und einem Teilzeitverdienst) vergrößert, 54 % obwohl die „traditionellen“ Paare, bei denen nur eine:r der bei- 59 % 64 % den ein Erwerbseinkommen bezieht, immer noch die Mehrheit der berufstätigen Paare in der mittleren Einkommensgruppe ausmachen. Der wachsende Anteil von Eineinhalbverdie- 58 % 67 % ner:innen-Paaren spiegelt die gestiegene Erwerbsbeteiligung 63 % von Frauen wider, die häufig in Teilzeit arbeiten, und deutet 66 % auf die wachsende Bedeutung eines Zweitverdienstes für die 57 % Sicherung des Status in der Mittelschicht hin. Paare mit zwei 64 % 67 % Vollverdienenden finden sich zunehmend in der Gruppe der hohen Einkommen wieder, ebenso wie ein wachsender Anteil 63 % von Alleinverdiener:innen-Paaren. Erwerbstätige Singles fin- 58 % den sich dagegen zunehmend in der Gruppe mit niedrigen Ein- 54 % kommen wieder. 67 % 67 % • Das Bildungsniveau ist gestiegen, wobei Erwachsene mit einem Abitur oder abgeschlossener Berufsausbildung immer noch den Großteil der Mittelschicht bilden. Sie machten im Jahr 2018 58 Prozent aller Erwachsenen in der Mittelschicht aus, wäh- rend 33 Prozent der Erwachsenen in der Mittelschicht einen Anmerkung: Die Größe der regionalen mittleren Einkommensgruppen wurde unter Bezugnahme auf das nationale Haushaltsmedianeinkommen berechnet, ohne die tertiären Bildungsabschluss (Meister oder Hochschulab- regionalen Unterschiede zwischen den Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen. schluss) aufwiesen; 9 Prozent hatten kein Abitur oder eine ab- Quelle: OECD-Berechnungen auf der Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre. geschlossene Berufsausbildung. Das Bildungsniveau in der mittleren Einkommensgruppe ist stärker gestiegen als in der Gesamtbevölkerung. Vor allem für die jüngere Generation der stark gestiegen wie der Anteil der Zugewanderten an der Ge- 25- bis 35-Jährigen ist ein Meister oder Hochschulabschluss samtbevölkerung. Zu Beginn des Beobachtungszeitraums, entscheidend für den Aufstieg in die Mittelschicht: Seit Mitte im Jahr 1995, stammten die meisten Migrant:innen aus mit- der 1990er Jahre sind die Chancen, in die mittlere Einkom- tel- und osteuropäischen Ländern, der Türkei oder Italien. Die mensgruppe aufzusteigen, für junge Erwachsene, die keine Zunahme sogenannter humanitärer Migrant:innen ab 2015 abgeschlossene Ausbildung oder Abitur haben, um 27 Pro- führte zu einem Anstieg des Anteils von Immigrant:innen aus zentpunkte (von 67 auf 40 Prozent), für jene mit Abitur oder Syrien, dem Irak und Afghanistan, die möglicherweise länger abgeschlossener Berufsausbildung um 12 Prozentpunkte (von brauchen, um sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrie- 73 auf 61 Prozent) und für jene mit Meister oder Hochschulab- ren und in die Mittelschicht aufzusteigen. schluss um 5 Prozentpunkte (von 76 auf 71 Prozent) gesunken. • Die Größe der Mittelschicht variiert stark je nach der betrach- • Die Wahrscheinlichkeit, dass Zugewanderte der Mittelschicht teten Region, und sie ist in den Städten deutlich stärker ge- angehören, ist geringer als Mitte der 1990er Jahre, was jedoch schrumpft als in den ländlichen Regionen. Unter den deutschen die veränderte Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung Bundesländern hat Bremen mit nur 54 Prozent die kleinste mit Migrationshintergrund widerspiegeln könnte. Der Anteil mittlere Einkommensgruppe, und auch in vier der sechs ost- der im Ausland geborenen Personen in der mittleren Einkom- deutschen Bundesländer umfasst die mittlere Einkommens- mensgruppe ist um 2 Prozentpunkte und damit nur halb so gruppe weniger als 60 Prozent der Bevölkerung (Abbildung 6). 14
2 | Entwicklung der Größe und Struktur der Mittelschicht Dagegen gehören in den süddeutschen Bundesländern Baden- Württemberg und Bayern sowie in den ostdeutschen Bundes- ländern Brandenburg und Sachsen über 65 Prozent der Bevöl- kerung zur mittleren Einkommensgruppe. Die Mittelschicht ist dabei seit Mitte der 1990er Jahre in den Städten etwas stärker geschrumpft als auf dem Land, sodass die Städte heute ten- denziell etwas kleinere mittlere Einkommensgruppen aufwei- sen als die ländlichen Regionen. Bei der Interpretation regio- naler Differenzen der Größe der Mittelschicht als Maß für den regionalen Lebensstandard ist jedoch Vorsicht geboten, da die geografischen Unterschiede zwischen den Lebenshaltungskos- ten nicht berücksichtigt sind.5 5 Die mittleren Einkommensgruppen sind in Regionen mit einem niedrigen Einkommensniveau tendenziell kleiner, da sie am nationalen Medianeinkommen der Haushalte gemessen werden, das deutlich über dem regionalen Median liegen kann. Allerdings sind auch die Lebenshaltungskosten – und insbesondere die Wohnkosten – in diesen Regionen oft geringer, in einigen Fällen sogar deutlich. Ebenso sind die Lebenshaltungskosten in städtischen Gebieten in der Regel deutlich höher als in ländlichen Gebieten, und die Unterschiede dürften im Lauf der Zeit größer geworden sein. Der Lebensstandard eines Haushalts in der unteren Mittelschicht in einer Region oder Stadt mit einem hohen Einkommensniveau kann daher geringer sein als jener eines als „armutsgefährdet“ eingestuften Haushalts, der in einer Region oder einem ländlichen Gebiet mit einem niedrigen Einkommensniveau lebt. 15
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt 3 | Arbeitsmarktentwicklungen für mittlere Einkommensgruppen Die meisten Erwerbstätigen in der Mittelschicht arbeiten in ABBILDUNG 7 | Erwerbstätige Frauen mit mittleren Berufen mit mittlerem oder hohem Qualifikationsniveau und Einkommen sind nach wie vor in weniger qualifizierten die Polarisierung nimmt zu Berufen überrepräsentiert Verteilung der Berufe auf Beschäftigte mit mittleren Einkommen nach Geschlecht, 2018, Deutschland Die meisten Erwerbstätigen in der Mittelschicht in Deutschland, Hochqualifiziert 3,6 % das heißt Personen im erwerbsfähigen Alter, die in Voll- oder Teil- 6,0 % Führungskräfte zeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind und in Haushalten mit 17,4 % mittlerem Einkommen leben, arbeiten in Berufen mit hoher oder 20,3 % Akademische Berufe mittlerer Qualifikation. Die größten Berufsgruppen unter den Er- werbstätigen mit mittlerem Einkommen waren 2018 mit einem Techniker und gleichrangige Anteil von fast 30 Prozent die hochqualifizierten Techniker bzw. nichttechnische Berufe 23,6 % 35,8 % die gleichrangigen nichttechnischen Berufe und mit einem Anteil von 19 Prozent die akademischen Berufe. Handwerker:innen und Mittelqualifiziert Gewerbetreibende sowie Büroangestellte mit mittlerer Qualifi- Handwerksberufe und verwandte Berufe kation machten jeweils 10 Prozent aus. Indessen war ein erheb- 18,3 % 2,0 % 1,8 % licher Anteil der Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen (etwa Anlagen- und Maschinenbediener:innen und Montageberufe 14,6 % 19 Prozent) auch in geringqualifizierten Berufen tätig, insbeson- 10,2 % dere im Bereich Dienstleistungen und Verkauf. Bürokräfte und verwandte Berufe 8,7 % 16,9 % Geringqualifiziert Die Verteilung der Beschäftigungen nach Qualifikationsniveau Dienstleistungsberufe und 9,1 % variiert auch nach Geschlecht. Im Kreis der hochqualifizierten Verkäufer:innen 8,0 % Hilfsarbeitskräfte 3,9 % Führungskräfte und akademischen Fachkräfte sowie der Hand- Männer Frauen werker:innen und Gewerbetreibenden mit mittlerer Qualifika- Anmerkung: Die Berufe sind nach ISCO-08 klassifiziert und nach dem berufsspezifischen tion sind erwerbstätige Männer mit mittleren Einkommen stark Durchschnittsverdienst sortiert. Techniker und gleichrangige nichttechnische Berufe gelten nach der OECD-Standardklassifikation als hochqualifiziert. Quelle: OECD- vertreten (Abbildung 7). Erwerbstätige Frauen mit mittleren Ein- Berechnungen auf der Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre. kommen sind in den letzten Jahrzehnten in der Verteilung aufge- stiegen. Sie sind zwar nach wie vor in Berufen mit geringem oder geringem bis mittlerem Qualifikationsniveau stark überrepräsen- ten Handwerker:innen und Gewerbetreibenden, der Anlagen- tiert (Hilfsarbeitskräfte, Dienstleistungs- und Verkaufsmitarbei- und Maschinenbediener:innen sowie der Büroangestellten ist tende sowie Büroangestellte), aber sie arbeiten zunehmend auch zurückgegangen, während der Anteil der akademischen Fach- als akademische Fachkräfte und in höher qualifizierten Techni- kräfte und der Techniker und gleichrangigen nichttechnischen kerberufen bzw. nichttechnischen gleichrangigen Berufen. Berufe, aber auch jener der geringqualifizierten Dienstleistungs- und Verkaufskräfte, gestiegen ist. Erwerbstätige mit mittleren Die qualifikationsbezogene Verteilung der Beschäftigungen hat Einkommen waren von diesem Polarisierungstrend jedoch nicht sich in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend po- stärker betroffen als andere: In der Mittelschicht sind die Be- larisiert, und zwar sowohl ganz allgemein als auch im Kreis der schäftigungsanteile in den Berufen, die ein mittleres Qualifikati- Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen (Abbildung 8); gleich- onsniveau verlangen, ähnlich stark gesunken bzw. bei jenen, die wohl ist dieser Trend in Deutschland weniger stark ausgeprägt ein hohes oder niedriges Qualifikationsniveau erfordern, ähnlich als in anderen OECD-Ländern. Der Anteil der mittelqualifizier- stark gestiegen wie im Kreis der Erwerbstätigen insgesamt. 16
3 | Arbeitsmarktentwicklungen für mittlere Einkommensgruppen Die verarbeitende Industrie und öffentlichen Dienstleistungen in der Mittelschicht nur etwa halb so hoch wie bei Erwerbstä- stellen zusammen mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze der tigen aus der unteren Einkommensgruppe. Mittelschicht, wobei sich die Gewichte zugunsten der öffentli- chen Dienstleistungen verlagert haben • Nur wenige Erwerbstätige in der Mittelschicht sind in Deutsch- land selbstständig tätig. Der Anteil der Erwerbstätigen mit Die Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und in öffentli- mittleren Einkommen, die eine selbstständige Tätigkeit als chen Dienstleistungen, das heißt in der öffentlichen Verwaltung, Haupterwerbsstatus angeben, ist mit einem Wert von 6 Pro- im Bildungssektor und im Gesundheits- und Sozialwesen, bilden zent gering; das ist nur etwa ein Viertel des entsprechenden das Rückgrat der Beschäftigung in der Mittelschicht. Sie reprä- Anteils der Erwerbstätigen in der oberen Einkommensgruppe. sentieren mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen.6 Insbesondere in öffentlichen Dienst- Der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse und der Teilzeit- leistungen sind Erwerbstätige mit mittleren Einkommen im Ver- beschäftigungen ist in Deutschland größer als Mitte der 1990er gleich mit solchen aus anderen Einkommensgruppen überreprä- Jahre. Das gilt auch für Erwerbstätige in Haushalten mit mittle- sentiert. Die Verschiebung der Beschäftigungsanteile zwischen ren Einkommen. Der größte Teil dieses Anstiegs fand jedoch in den Wirtschaftssektoren, die sich in den letzten Jahrzehnten in den späten 1990er und den frühen 2000er Jahren statt, das heißt Deutschland vollzogen hat, betraf vor allem Erwerbstätige mit vor den Hartz-Reformen der Jahre 2003 bis 2005. Erwerbstätige mittleren Einkommen. Das verarbeitende Gewerbe hat deutlich mit niedrigen Einkommen waren dabei viel stärker betroffen als an Gewicht verloren: Im Jahr 2018 war dort der Anteil der Be- solche mit mittleren Einkommen, während es innerhalb der mitt- schäftigten mit mittleren Einkommen um 7 Prozentpunkte nied- leren Einkommensgruppe kaum systematische Unterschiede gibt. riger als Mitte der 1990er Jahre, während der entsprechende An- Die Befunde im Einzelnen dazu lauten wie folgt: teil in öffentlichen Dienstleistungen im gleichen Zeitraum um 8 Prozentpunkte gestiegen ist. • Der Anteil der Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen und einem befristeten Arbeitsvertrag ist seit Mitte der 1990er Jahre um 3 Prozentpunkte gestiegen. Dieser Wert ist jedoch geringer Atypische Beschäftigung ist unter Erwerbstätigen in der als im Fall der Erwerbstätigen mit einem niedrigen oder einem Mittelschicht häufiger geworden, aber sie ist nach wie vor viel hohen Einkommen (Abbildung 9). Im Kreis der Erwerbstätigen weniger verbreitet als unter Erwerbstätigen anderer Einkom- der unteren Mittelschicht hingegen war der Anstieg mit 7 Pro- mensgruppen zentpunkten wesentlich stärker ausgeprägt. Dieser Anstieg fand über alle Einkommensgruppen hinweg vor 2005 statt. Atypische Beschäftigungsformen, das heißt befristete Beschäf- tigungen und Teilzeitarbeit sowie Selbstständigkeit, sind in • Auch Teilzeit hat sich unter Erwerbstätigen der Mittelschicht Deutschland unter Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen weiter verbreitet. So ist der Anteil der Teilzeitbeschäftigten seit weit weniger verbreitet als unter Erwerbstätigen anderer Ein- Mitte der 1990er Jahre um 8 Prozentpunkte gestiegen. Dies kommensgruppen. Dieser Schluss ergibt sich aus den folgenden spiegelt in erster Linie die steigende Erwerbsbeteiligung von Befunden: Frauen wider, die viel häufiger in Teilzeit arbeiten, daneben aber auch eine zunehmende Verbreitung von Teilzeitarbeit bei • Nur wenige Erwerbstätige mit einem mittleren Einkommen Männern. Doch auch der Anstieg der Teilzeitarbeit war in der haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Im Jahr 2018 lag ihr An- Mittelschicht nur etwa halb so stark wie bei Erwerbstätigen teil bei etwa 12 Prozent. Das ist weniger als der Durchschnitt in der unteren Einkommensgruppe. Demgegenüber gab es in- für die OECD-Länder, für die Daten vorliegen, und nur etwa nerhalb der Mittelschicht keine großen Unterschiede. ein Drittel der Quote für Erwerbstätige in der unteren Ein- kommensgruppe in Deutschland. • Der Anteil der Selbstständigen ist seit Mitte der 1990er Jahre im Kreis der Personen mit mittleren Einkommen ebenso wie bei • Teilzeitarbeit ist unter Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen jenen mit niedrigen Einkommen leicht zurückgegangen, wäh- nur bei Frauen weit verbreitet. Etwa 46 Prozent der weiblichen rend er in der oberen Einkommensgruppe gestiegen ist. Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen arbeiteten 2018 in Teilzeit, verglichen mit 7 Prozent ihrer männlichen Kollegen. Allerdings ist der Anteil der Teilzeitarbeit bei Erwerbstätigen 6 Nicht alle diese Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst sind notwendigerweise auch Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor: die angesprochene Gruppe umfasst auch Personen, die in privaten Krankenhäusern und nichtstaatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen arbeiten. 17
Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt ABBILDUNG 8 | Die qualifikationsbezogene Verteilung der Beschäftigungen hat sich stärker polarisiert, in der Gruppe der Erwerbstätigen in der Mittelschicht allerdings nicht stärker als im Kreis der Gesamtheit der Erwerbstätigen Veränderung der qualifikationsbezogenen Verteilung der Beschäftigungen nach Einkommensgruppen, 1995–2018, Deutschland alle Erwerbstätigen −0,6 mittlere Einkommensgruppe Führungskräfte −0,6 5,6 Akademische Berufe 5,6 5,3 Techniker und gleichrangige 6,7 nichttechnische Berufe −9 Handwerksberufe und verwandte Berufe −8,9 −2,2 Anlagen- und Maschinenbediener:innen −2 und Montageberufe −3,1 Bürokräfte und verwandte Berufe −2,8 3,9 Dienstleistungsberufe und Verkäufer:innen 2,8 1 Hilfsarbeitskräfte in Prozentpunkten −0,8 Anmerkung: Die Berufe sind nach ISCO-08 klassifiziert und nach dem berufsspezifischen Durchschnittsverdienst sortiert. Techniker und gleichrangige nichttechnische Berufe gelten nach der OECD-Standardklassifikation als hochqualifiziert. Quelle: OECD-Berechnungen auf der Grundlage von Daten des LIS Cross-National Data Centre. Eine beachtliche Minderheit der Erwerbstätigen in Vollzeit Jede sechste erwerbstätige Person in der Mittelschicht arbei- in der Mittelschicht arbeitet im Niedriglohnsektor, wobei die tet in einem Beruf, der einem hohen Automatisierungsrisiko Beschäftigung in diesem Sektor nur bei Erwerbstätigen in der ausgesetzt ist unteren Einkommensgruppe zugenommen hat Die OECD hat jüngst den Anteil der von Automatisierung be- Etwa ein Sechstel (18 Prozent) der Erwerbstätigen in Vollzeit mit drohten Arbeitsplätze in den OECD-Ländern quantifiziert. Dazu mittleren Einkommen verdient weniger als zwei Drittel des Me- hat sie auf Schätzungen von Fachleuten zur Automatisierbarkeit dianeinkommens. Diese Personen gehören gleichwohl zur Mit- bestimmter Tätigkeiten und Informationen über die Relevanz die- telschicht, weil sie vermutlich in einem Haushalt mit einer bes- ser Aufgaben für verschiedene Berufe zurückgegriffen (Arntz et serverdienenden Person leben. Zudem könnten einige von ihnen al., 2016; Nedelkoska & Quintini, 2018; OECD, 2019b).7 Ausge- neben ihrer Beschäftigung weitere Einkommensquellen haben, hend von Daten aus der OECD-Erhebung über die Kompetenzen zum Beispiel Kapitalanlagen. Bei Erwerbstätigen in der unteren Erwachsener (PIAAC) schätzt sie, dass 14 Prozent der Arbeits- Einkommensgruppe ist die Niedriglohnquote mit einem Wert von plätze in der OECD und 18 Prozent der Arbeitsplätze in Deutsch- 75 Prozent jedoch viermal so hoch. Der Anteil der Geringver- land in hohem Maße automatisierbar sind, das heißt, dass die dienenden in Deutschland ist seit Mitte der 1990er Jahre in den Wahrscheinlichkeit einer Automatisierung in diesen Fällen bei Haushalten der unteren Einkommensgruppen und der unteren mindestens 70 Prozent liegt. Weitere 32 Prozent der Arbeits- Mittelschicht stark angestiegen (wiederum vor 2005), in Haus- plätze in der OECD und 36 Prozent in Deutschland haben ein Au- halten der mittleren und oberen Mittelschicht sowie der oberen tomatisierungsrisiko von 50 bis 70 Prozent; das heißt, dass im Einkommensgruppe ist er jedoch mehr oder weniger stabil ge- Fall dieser Arbeitsplätze die Möglichkeit besteht, dass sich die blieben (Abbildung 10). Art und Weise, wie die entsprechenden Aufgaben ausgeführt werden, infolge der Automatisierung erheblich ändert. Damit hat Deutschland unter den in die Analyse einbezogenen Län- dern einen der höchsten Anteile an Arbeitsplätzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Automatisierung betroffen sind. 7 Diese Arbeit wiederum baut auf der wegweisenden Studie von Frey und Osborne (2017) auf, die das Automatisierungsrisiko für verschiedene Berufe in den Vereinigten Staaten von Amerika anhand von Schätzungen von Fachleuten zur Automatisierbarkeit bestimmter Tätigkeiten in diesen Berufen vorhersagte. 18
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