BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 16-3 vom 7. Februar 2023

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BULLETIN
                                DER
                          BUNDESREGIERUNG
                            Nr. 16-3 vom 7. Februar 2023

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
zur Verleihung des Großen Verdienstkreuzes an Peter Maurer
am 7. Februar 2023 in Genf:

„Theorien sind wichtig für die Geschichtsschreibung, aber ich lehne alle einseitigen
Theorien ab.“ Sie, lieber Peter Maurer, Sie haben sicher sofort erkannt, von wem die­
ser Satz stammt. Von Walther Hofer, dem großen, streitbaren Schweizer Historiker,
dem Sie sich verbunden fühlen, nicht nur weil Sie bei ihm studiert haben, sondern weil
er Ihnen ein tiefes Verständnis für historische Prozesse mitgegeben hat. Alles Einsei­
tige abzulehnen, das war die ideale Vorbereitung für einen, der später in den diploma­
tischen Dienst der Schweiz gehen sollte. Und es war auch die ideale Vorbereitung für
das Amt, das Sie in den letzten zehn Jahren innehatten. Es gehört zur DNA des Inter­
nationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), eben nicht einseitig zu sein, nicht ein­
seitig Partei für eine Seite in Konflikten und Kriegen zu ergreifen, sondern fest an der
Seite der Menschen zu stehen, die Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen sind.

Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, all das verlangt das Mandat des
IKRK. Es erfordert auch die Bereitschaft, Gesprächskanäle zu allen Konfliktparteien
offenzuhalten. Von diesen drei Maximen, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit,
haben auch Sie sich, lieber Peter Maurer, immer leiten lassen. Allen Versuchen, diese
Grundprinzipien humanitärer Arbeit in Frage zu stellen oder nicht anzuerkennen, sind
Sie immer mit großer Entschiedenheit entgegengetreten. Und Sie konnten Deutsch­
land dabei immer an Ihrer Seite wissen.

Heute, an diesem Tag in Genf, gelten unsere Gedanken und unsere Anteilnahme den
Menschen in den Erdbebenregionen in der Türkei und in Syrien. Dieses gewaltige Be­
ben hat ein Ausmaß an Leid und Zerstörung gebracht, das alle unsere Befürchtungen,
Bulletin Nr. 16-3 vom 7. Februar 2023 / Bpräs. – zur Ordensverleihung an Peter Maurer, Genf

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die wir gestern schon hatten, übertroffen hat. Meine und unsere tiefe Anteilnahme gilt
den Opfern und ihren Familien. Wie groß der Schrecken, wie groß die Verzweiflung
der Menschen in der Region ist, das können wir kaum ermessen. Ich wünsche auch
allen Helfern sehr viel Kraft, die dort jetzt im Einsatz sind und im Einsatz sein werden.

Lieber Peter Maurer, diesem Schrecken, der die Arbeit des IKRK zwangsläufig beglei­
tet, diesem Schrecken sind Sie nicht ausgewichen. Immer wieder sind Sie in die
schlimmsten Kriegsgebiete gereist: nach Jemen, Afghanistan, Syrien, Mali, Kolumbien
und in viele Länder mehr. Dass das, was Sie dort gesehen und erlebt haben, Sie auch
nach Jahren noch immer wieder tief erschüttert hat, das haben Sie oft gezeigt – und
oft haben wir darüber gesprochen. Aber es hat nie Ihren Blick verstellt für Ihre Aufgabe.
„Wir sind nahe an den Opfern der Konflikte wie nur wenige“, haben Sie einmal gesagt.
Täglich sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IKRK Zeugen, wie Recht gebro­
chen und Grenzen überschritten werden, das ist das Grunddilemma dieser Arbeit.
Aber humanitäre Hilfe kennt keine Bedingungen. Ihr Ziel muss immer sein, Menschen
in großer Not zu helfen und Leben zu schützen, selbst dann, wenn schwere Menschen­
rechtsverbrechen begangen werden. Sie beim IKRK leisten diese Hilfe oft auch dann
noch, wenn andere humanitäre Partner sich in hochgefährlichen Situationen bereits
zurückziehen mussten. Es geht Ihnen um die Menschen.

Das ist es, was auch Sie auszeichnet: Sie sind, auch nach vielen Jahren, nicht verhär­
tet, trotz allem, was Sie gesehen haben in diesen Jahren. Sie sind nicht verbittert. Sie
sind berührbar geblieben. Sie handeln aus einer tiefen Menschlichkeit heraus – mit
den Menschen und für die Menschen. Menschen, die oft Unbeschreibliches erlebt ha­
ben, die verletzt, traumatisiert, verzweifelt sind; Menschen, die vergewaltigt, gefoltert,
vertrieben, gefangen genommen wurden. Menschen, die oft keine Hoffnung mehr ha­
ben. Sie geben Hoffnung, das IKRK gibt Hoffnung.

Seit 160 Jahren arbeitet das IKRK nun auf den Schlachtfeldern der Welt und in vielen
Katastrophengebieten, heute sind mehr als 20.000 Menschen für die größte humani­
täre Organisation der Welt im Einsatz. Und so sehr sich das IKRK im Laufe seiner
Geschichte gewandelt hat, kämpft es für die Verwirklichung dieses einen Ideals: dass
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selbst im Krieg rechtliche Standards gelten, die dafür sorgen, einen Rest von Mensch­
lichkeit, von Humanität zu wahren. Das Völkerrecht und auch das humanitäre Völker­
recht haben sich seit Henry Dunant stark weiterentwickelt. Zur ersten Genfer Konven­
tion sind weitere Abkommen dazugekommen, die – als Lehre aus den furchtbaren Ver­
brechen im Zweiten Weltkrieg – den Schutz von und die Hilfe für Zivilisten in Kriegs­
gebieten viel stärker in den Fokus gerückt haben. Und dennoch, so sehr sich die recht­
lichen Rahmenbedingungen erweitert haben und so Großartiges das IKRK geleistet
hat, seine Arbeit ist leider nicht überflüssig geworden. Im Gegenteil. Heute toben mehr
als einhundert bewaffnete Konflikte auf der Welt, und es sind mehr Menschen auf hu­
manitäre Hilfe angewiesen als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Nur die Art der Konflikte hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert: Mehr und mehr
haben wir es mit innerstaatlichen Konflikten zu tun und mit Konflikten mit vielen Par­
teien, deren Interessen und Loyalitäten sich immer wieder verändern. Umso schwieri­
ger war es sicher oft, Gesprächskanäle zu allen Konfliktparteien aufzubauen und of­
fenzuhalten. Dass man dafür auch angefeindet wird, das hat das IKRK im Laufe seiner
Geschichte immer wieder erlebt, und Sie selbst haben es auch erlebt. Wer im Bereich
der humanitären Diplomatie arbeite, brauche eine hohe Frustrationstoleranz, haben
Sie einmal gesagt. Frustrieren lassen haben Sie sich trotzdem nie, selbst unter schwie­
rigsten Umständen. In Afghanistan haben Sie nach abenteuerlichen Wegen und Ka­
nälen gesucht, um ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe zu leisten; zum Beispiel um
Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und -pfleger zu bezahlen, damit sie Men­
schen in Not helfen können. Und auch in den letzten Monaten Ihrer Amtszeit haben
Sie sich im größten Einsatz in der Geschichte des IKRK – dem in der Ukraine – uner­
müdlich dafür eingesetzt, dass die Menschen dort Hilfe bekommen, evakuiert werden
können, dass Gefangene ausgetauscht werden können. Ich bin dafür zutiefst dankbar!

Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands ist der Krieg nach Europa zurückge­
kehrt, ein Krieg, der so unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine bringt. Es
gab in meiner langen Erfahrung als Außenpolitiker selten einen Konflikt, in dem so klar
war, wer Aggressor, wer Angegriffener ist, wer Täter und wer Opfer ist. Nein, es kann
nie zwei Meinungen darüber geben, wer hier die Verantwortung trägt für Rechtsbruch,
Gewalt und millionenfaches Leid. Allein Russland trägt diese Verantwortung. Diese
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Klarheit brauchen wir als politische Akteure in der Nato und der EU, und wir fordern
sie ein, wenn wir mit unseren Partnern sprechen, hier in Europa und draußen in der
Welt. Aber genauso klar ist: Auch in diesem Krieg hat das IKRK – im Unterschied zu
den politischen Akteuren - eine andere Rolle, eine besondere Rolle. Auch in diesem
Krieg sind Sie der Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit verpflichtet, ohne die
Ihre so wichtige humanitäre Arbeit nicht möglich wäre. Deutschland steht unverbrüch­
lich zum IKRK und seiner besonderen Rolle – und genauso unverbrüchlich steht
Deutschland an der Seite der Ukraine.

Sie haben an der Spitze des IKRK auch neue Wege beschritten. „Protection“ und „As­
sistance“, das ist für Sie nichts, was sich ausschließt, im Gegenteil. Sie sind überzeugt,
dass den Menschen in Konfliktregionen nur dann langfristig geholfen werden kann,
wenn es dort auch mehr Entwicklung gibt. Und Sie sind auch überzeugt, dass auch
private Gelder erschlossen werden müssen, um die Arbeit des IKRK langfristig abzu­
sichern. Kurzum, Sie haben den Horizont des IKRK erweitert, neue Perspektiven ent­
worfen – um dann den Platz an der Spitze freizumachen.

Ich freue mich sehr, dass mit Ihnen, liebe Frau Spoljaric Egger, erneut eine sehr er­
fahrene Diplomatin und zum ersten Mal eine Frau diese wichtige Organisation leitet –
wir werden später die Gelegenheit zum Gespräch haben. Sie haben das IKRK in
schwerer Zeit übernommen. Und ich möchte auch Ihnen danken für Ihr Engagement,
für Ihren Einsatz für die Menschen in der geschundenen Ukraine. Das IKRK ist und
bleibt für mein Land der wichtigste Partner für humanitäre Hilfe.

Lieber Peter Maurer, Sie selbst gehen jetzt noch einmal neue Wege, und jeder, der
Sie kennt, ahnt, mit welcher Energie und mit welcher Leidenschaft Sie das tun. Wir
sind uns im Laufe der Jahre immer wieder begegnet und haben viele vertrauensvolle
und freundschaftliche Gespräche geführt, wenn der Anlass auch meist nicht sonderlich
erfreulich war. Ihr Rat, Ihr Wissen, Ihre Kenntnis und Ihr Verständnis für historische
Prozesse – und damit sind wir wieder bei Walther Hofer – waren für mich unschätzbar
wertvoll. Für Ihren Rat, für Ihre klugen Analysen und Ihr immer von tiefer Menschlich­
keit geprägtes Engagement möchte ich Ihnen heute von ganzem Herzen danken!
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Und auch mein Land hätte sich keinen leidenschaftlicheren, klügeren Streiter für mehr
Menschlichkeit auf der Welt wünschen können; keinen engeren Freund und besseren
Partner im Kampf für die Werte, für die wir gemeinsam eintreten: Frieden, Freiheit,
Humanität. Wir ehren Sie heute für Ihren langjährigen, herausragenden Einsatz für
multilaterale Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe und das humanitäre Völkerrecht. Als
Anerkennung Ihres Engagements habe ich Ihnen das Große Verdienstkreuz mit Stern
des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Ich bin stolz, es Ihnen
hier in Genf aushändigen zu können, jenem Ort, an dem das IKRK vor 160 Jahren
gegründet wurde.

Lieber Peter Maurer, ich gratuliere Ihnen von Herzen zu dieser Auszeichnung.

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