Chat-Kommunikation: Vorm virtuellen in den realen Raum

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                                           Autoren: Dr. Sybille Breilmann, Michael Schopen

Chat-Kommunikation: Vorm virtuellen in den realen Raum

Vorbemerkung

Im schulischen Alltag wird das Internet bislang vorwiegend als gigantische Datenbank genutzt, der
man schnell und unkompliziert Informationen entnehmen kann und in die man eigene Arbeitsergeb-
nisse ablegen kann. Eine weitere wichtige Funktion des Internets, die jedoch im unterrichtlichen Ge-
schehen weitaus weniger Berücksichtigung findet, ist die Möglichkeit der Teilnahme an einer weltwei-
ten Kommunikationsgemeinschaft. Gerade im außerschulischen Kontext dient das Internet vielen als
„Ort, an dem sich Menschen treffen, miteinander reden, Geschäfte abschließen, Dinge herausfinden,
Komitees bilden und Gerüchte verbreiten....“i. Besonders Jugendliche, und damit auch unsere Schüler
der Höheren Handelsschule (Jahrgangstufe 11), reizt am Internet das „soziale“ Miteinander in virtuel-
len Welten.
Diese Verlagerung unseres Kommunikationssystems in den Bereich der Computerkultur wird weitrei-
chende gesellschaftliche Konsequenzen haben, denn das soziale System einer jeden Gesellschaft ist
eng mit seinem kommunikativen System verknüpft. Das Zusammenwirken sprachlicher und sozialer
Normen in diesen neuen Kommunikationssystemen muss auch in der Lebenswelt Schule erfahrbar
gemacht werden. Das Fach Deutsch ist der Ort, an dem Sprache und Inhalt dieser Kommunikations-
formen im Internet untersucht und ihre sozialen und ethischen Konsequenzen kritisch hinterfragt wer-
den müssen.

Thema

In der hier vorgestellten Unterrichtsreihe haben wir uns auf eine Kommunikationsform im Internet
beschränkt, das Chatten.ii Das Chatten ist zur Zeit wohl die populärste Form der Online-
Kommunikation, deren Zugang auch im Unterricht am leichtesten zu gewährleisten ist. Wir haben uns
der Einfachheit halber für das Chatten im WWW entschieden, und zwar genauer gesagt für das Chat-
forum innerhalb des Schulwebs (Bildungsserver der HU-Berlin), das sich aus mehreren Gründen an-
bietet: Erstens ist die Bedienung hier sehr einfach, wenn man mit Windows ein wenig vertraut ist.
Auch DeutschlehrerInnen ohne Vorkenntnisse im Umgang mit dem Internet können mit diesem Un-
terrichtsmodell arbeiten. Zweitens sind die Angebote auf diesem Server insgesamt auf Schüler abge-
stimmt und damit frei von politisch extremistischen oder pornographischen Inhalten und drittens bietet
die Homepage des Schulweb über das Chatten hinaus noch eine Reihe weiterer interessanter Angebote
(Kontakte zu anderen Schulen, Materialien für den Unterricht, Hilfen für Schüler usw.). Um am
Schulwebchat teilnehmen zu können, muss man lediglich die Adresse eingeben (www.schulweb.de)
und sich dann beim Schulwebchat anmelden. Für die Anmeldung benötigt man außerdem eine E-Mail-
Adresse (in der Regel also die der Schule).iii
Im Englischen bedeutet Chatten „plaudern, schwatzen“. Dies kann man in den Zeiten des Internets
nicht nur bei einer Tasse Tee auf dem Sofa oder mit dem Tischnachbarn während des Unterrichts,
sondern auch in einem der vielen Chat-Foren im World Wide Web. An diesen virtuellen Orten führt
man mit Bekannten oder Unbekannten, offen oder anonym unterhaltsame, informative oder auch völ-
lig sinnlose Gespräche.
Die Vielfalt der Möglichkeiten, sich im Netz „zu unterhalten“ verbietet es, das Chatten undifferenziert
als homogenes Phänomen zu betrachten. So gibt es zum Beispiel themenzentrierte und offene Foren,
moderierte und unmoderierte Chats, die jeweils unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Allen diesen

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Chat-Gesprächen ist jedoch gemein, dass hier Kommunikation wie in jedem realen Gespräch zwar
nahezu synchron verläuft, Gestik, Mimik und Intonation jedoch durch Zeichen ersetzt werden müssen.
Die Spracheingabe erfolgt schriftlich über die Tastatur, also deutlich langsamer als bei einem gespro-
chenen Gespräch. Es sind gerade diese Kommunikationsbedingungen, die zu der Herausbildung einer
spezifischen Chatsprache geführt haben, die sowohl Elemente von Mündlichkeit als auch von Schrift-
lichkeit enthält (vgl. Mat. 7). iv Da jede Spracheingabe möglichst schnell erfolgen muss, um einen Be-
zug zu den zuvor gesendeten Nachrichten aufzustellen, bevor diese vom Bildschirm verschwinden,
bestehen die einzelnen Beiträge vorwiegend aus kurzen, gelegentlich unvollständigen Sätzen. Um
möglichst schnell den eigenen Beitrag produzieren zu können, werden Abkürzungen einzelner Wörter
oder Redewendungen entwickelt, die häufig aus dem Englischen entlehnt werden: CU = See you (auf
Wiedersehen); TIA = Thanks in advance (danke im Voraus). Neben dieser starken Tendenz zu Ver-
kürzungen ist der Wortschatz der Chat-Sprache geprägt durch Anglizismen, Begriffen aus der Compu-
terterminologie und Einflüssen der Comicsprache. Gerade im Wortschatz spiegeln sich Alter und Le-
benswelt vieler Chatter wider.
Gestik, Mimik und Intonation werden in Computergesprächen häufig durch Zeichenkombinationen,
den sogenannten Emoticons dargestellt, deren Bildlichkeit zum Beispiel einen bestimmten Ge-
sichtsausdruck, nachzuzeichnen versucht. In den Chat-Foren entstehen täglich neue solcher Zeichen-
kombinationen, um Befindlichkeiten oder Situationen schnell und originell darzustellen. Eine Vielzahl
davon gehört bereits zum standardisierten Repertoire, das in entsprechenden Listen im Netz nachzule-
sen ist (vgl. Material 1). Diese Zeichenkombinationen machen über die Tastatur auf dem Bildschirm
die Elemente sichtbar, die in realen Gesprächen in wirklichen Räumen zu sehen und zu hören sind
(Lachen, SCHREIEN, Flüstern, Brille, Zigarette etc.).
Auch der Inhalt der Chatgespräche ist durch die besondere Kommunikationssituation im Netz beein-
flusst. In sehr vielen Chat-Gesprächen geben die Teilnehmer ihre eigene Identität nicht preis, sondern
benutzen ein Pseudonym (Nickname). Diese Anonymität bietet gerade für Jugendliche einen besonde-
ren Reiz. In einem Chat-Gespräch kann man sich mutiger und selbstbewusster geben, als man es sich
im wirklichen Leben zutrauen würde. Aber man kann die Grenzen der eigenen Persönlichkeit noch
viel weiter aufbrechen. Wer hindert eine junge Frau daran, unter einem männlichen Namen am Ge-
spräch teilzunehmen, den Schüler, sich als Lehrer vorzustellen? Gerade in der Phase der Identitätsfin-
dung ist das Spiel mit Identitäten von besonderer Faszination. Doch wie so oft liegt auch in dieser
Faszination eine gewisse Gefahr. Ester Dyson formuliert daher treffend: „Die Sichtbarkeit des einzel-
nen führt generell zu gesünderen Gemeinschaften.“v Tatsächlich finden sich in sehr vielen Chat-
Gesprächen Themen und Formulierungen, die ohne den Schutz der Anonymität so nicht produziert
würden. Es ist besonders der Bereich der Sexualität und Pornographie, der in vielen Gesprächen zum
Mittelpunkt wird.
Um extremen Entgleisungen in diesem aber auch im persönlichen (Verleumdungen) und politischen
Bereich (Rechts-Radikalismus) entgegen zu wirken, hat die Kommunikationsgemeinschaft eigene
Regeln entwickelt, an die sich die Teilnehmer zu halten haben, wenn sie sich an der Online-
Kommunikation beteiligen wollen. Diese Chatiquette (vgl. Material 2) sollen eine Richtschnur für
entsprechende Verhaltensweisen sein. Dass die Einhaltung dieser Regeln in dem explodierenden
Markt der Kommunikationskanäle und -foren nur schwer einzuhalten ist, mag jedem Leser einleuch-
ten.

Intentionen

Im gesellschaftspolitischen Kontext gewinnen die unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten
im Internet zunehmend an Bedeutungen. So konnten zum Beispiel Augenzeugen über den russischen
Putschversuch (1991) oder über den Kosovo-Krieg über anonyme Mail-Server oder in Chat-Rooms
der Weltöffentlichkeit aktuelle Informationen aus den Krisengebieten übermitteln. Aber auch im be-
ruflichen Alltag gilt schon heute die Fähigkeit im Internet zu kommunizieren als wichtige Qualifikati-
on. Ferngespräche oder Dienstreisen werden immer öfter durch Videokonferenzen oder Chat-
Gespräche ersetzt. Eine deutliche Mehrheit unserer Schüler hatte zu Beginn der Unterrichtsreihe noch
keinerlei Erfahrungen mit diesen Kommunikationsmöglichkeiten im Netz. Unser Unterricht soll den

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Schülern, die in ihrem sozialen Umfeld (Elternhaus) keinen Zugang zum Internet haben, die Möglich-
keit der Teilnahme an diesen wichtigen Entwicklungen gewährleisten.
Die aktive Teilnahme an der Internetkommunikation soll jedoch nicht allein einen Zugewinn an in-
formationstechnologischem Wissen bedeuten. Auf der 35. Jahrestagung des Instituts für deutsche
Sprache in Mannheim wurde von einigen Sprachwissenschaftlern festgestellt, dass über die Faszinati-
on der neuen Kommunikationsmöglichkeiten im Internet und die Notwendigkeit diese in der Arbeits-
welt der Zukunft beherrschen zu müssen, der heutigen Schülergeneration eine neue Perspektive der
Schriftlichkeit eröffnet wird. „Früher konnte man Jugendliche nicht dazu bewegen, einmal im Jahr
eine Karte an die Tante zu schicken. Heute schreiben sie am Computer wie die Weltmeister.“ vi Ob
Chatten oder E-Mail tatsächlich die Schriftsprachlichkeit unserer Schüler fördert, kann an dieser Stelle
nicht entschieden werden. Die oben dargestellte Zuordnung der Chatsprache zwischen Schriftlichkeit
und Mündlichkeit lässt diese Möglichkeit jedoch zumindest zu.vii Unumstritten ist, dass diese neue
Schreibfreude der Schüler im Internet kreative Prozesse auslöst. So werden täglich etwa 100 neue
Wörter im Netz entwickelt. Auch unsere alltägliche Sprache wird diese neuen Elemente immer stärker
aufnehmen.
Unsere Schüler sollen in diesem Unterrichtsmodell durch die eigene Teilhabe an der Chatkommunika-
tion die besonderen Merkmale der Chatsprache erleben und mit ihnen experimentieren. Nach dem
eigenen Erleben folgt eine mehrstufige Phase der Reflexion. Hier soll zunächst der Zusammenhang
zwischen den netzspezifischen Kommunikationsbedingungen und der Chatsprache untersucht werden.
Diese sprachreflektorische Analyse beinhaltet eine allgemeine Betrachtung der konstitutiven Elemen-
te von Sprachhandlungsprozessen, so wie sie im traditionellen Deutschunterricht mit anderen Textsor-
ten üblich ist. Mit Hilfe der selbst produzierten Chattexte wird das Beziehungsgeflecht zwischen Re-
deabsicht, Redesituation, Themen und sprachlichen Mustern dargestellt. Im Vordergrund steht hier
jedoch die Beziehung zwischen Medium und Sprache. Die fehlende Gestik, Mimik und Intonation
sowie die Notwendigkeit, den eigenen Gesprächsbeitrag unter Zeitdruck über die Tastatur einzugeben,
führen zu der Herausbildung des oben beschriebenen spezifischen Chat-Codes. Die Anonymität der
Teilnehmer und die häufig Anzahl wechselnder Gesprächsteilnehmer beeinflusst wiederum die The-
menfindung und -entwicklung der Chat-Gespräche. Dass nicht nur das Medium Internet den Kommu-
nikationsprozess prägt, soll an dieser Stelle ebenfalls herausgearbeitet werden. Auch andere Medien,
wie zum Beispiel Bücher, das Telefon oder Fernsehen beeinflussen in gleicher Weise die gesendeten
Botschaften.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Regeln innerhalb
des Internets. Hier soll ein medienkritischer Blick auf die netzeigenen Gesprächskonventionen ge-
worfen werden. Gelten in der virtuellen Welt die gleichen Regeln wie in der realen Welt? Was pas-
siert, wenn die Einhaltung dieser Regeln nicht entsprechend kontrolliert bzw. sanktioniert werden
kann? Wie verhält sich die Kommunikationsgemeinschaft und wie verhalte ich mich als einzelner
Teilnehmer? Die Reflexion sozialer Regeln führt unweigerlich zur Selbstreflexion, die durch die Ano-
nymität im Internet automatisch Dimensionen öffnet, die außerhalb des Netzes undenkbar wären.
Welchen Reiz bedeutet es für mich, meine Identität (Geschlecht, Alter, soziale Position) oder mein
Auftreten im Schutze dieser Anonymität zu verändern? Wie verändert sich individuelles und gesell-
schaftliches Denken und Handeln durch den Einfluss dieser neuen Kommunikationstechnologie?

Realisation
1. Phase: Kennenlernen einer Chatkommunikation
Die Unterrichtsreihe zum Thema Chatten als Beispiel einer durch die neuen Medien entstandenen
Kommunikationsform schließt an eine Unterrichtseinheit an, in der die Merkmale mündlicher und
schriftlicher Kommunikation herausgearbeitet worden sind (siehe oben).
Ziel der ersten Phase ist es, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Schülerinnen und Schüler an
dieser für viele neuen Kommunikationsform teilhaben können.
Als Einstieg in die Thematik bekommen die Schülerinnen und Schüler zunächst einen Ausschnitt aus
einem Chatgespräch zu lesen (vgl. Material 1). Die meisten finden nicht sofort in den Text hinein, da

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sie mit dem verwendeten Kode nicht vertraut sind. Dennoch ist schnell klar, dass es sich um eine Art
Gespräch handelt, da die Schülerinnen und Schüler mit den Merkmalen mündlicher Kommunikations-
formen bereits vertraut sind. Der Inhalt dieses Gespräches wirkt eher banal, ein durchgehendes Ge-
sprächsthema ist nicht erkennbar und die einzelnen Beiträge scheinen keinen Zusammenhang zu ha-
ben. Einige identifizieren das Textbeispiel auf Grund vorhandener Erfahrungen allerdings auch sofort
als Ausschnitt aus einem Chatgespräch. Gemeinsam mit dem Lehrer können diese Schülerinnen und
Schüler die Fragen der anderen beantworten: zum Beispiel, wie das Chatten technisch abläuft, welche
Bedeutung und Funktion verwendete Emoticons und Abkürzungen haben und welche Chatter jeweils
miteinander kommunizieren. Sind diese Fragen geklärt, so wird die Kommunikation allmählich nach-
vollziehbar, der Eindruck der Oberflächlichkeit des Gespräches bleibt jedoch bestehen. Nach ihrer
Haltung zu dieser Art von Kommunikation befragt, äußerten sich viele Schülerinnen und Schüler zu-
nächst kritisch, für einige war es nicht nachvollziehbar, wie man regelmäßig an solchen Chatforen
teilnehmen kann.

2. Phase: Aktive Teilnahme am Schulwebchat
Um den Schülerinnen und Schülern möglichst bald Gelegenheit zu geben, diese für die meisten neue
Kommunikationsart selbständig zu erleben, haben wir zunächst auf eine genauere Analyse des Chat-
beispiels verzichtet und sie stattdessen mit dem normativen Kontext der Chatkommunikation (in unse-
rem Falle insbesondere mit den Bedingungen des Schulwebchats) vertraut gemacht. Als Vorbereitung
auf ihre Teilnahme erhalten die Klassen Listen mit gängigen Abkürzungen und Emoticons, eine „Be-
dienungsanleitung“ für das Schulwebchat mit entsprechenden Arbeitsaufträgen (vgl. Materialien 3 und
5) und einen Ausdruck der Chatiquette, der „Benimmregeln“ für Chatgespräche (Material 4). Die Ma-
terialien, die wir den Klassen zur Verfügung gestellt haben, haben wir dem Internet entnommen
(www.schulweb.de und www.webchat.de) und entsprechend aufbereitet. Die Hereingabe der Chati-
quette dient jedoch nicht nur als Einstiegshilfe, sondern auch als Hinweis darauf, dass man als Chatter
doch nicht so anonym ist, wie es zunächst den Anschein hat, da der Provider theoretisch in der Lage
ist nachzuvollziehen, von welchem Rechner die einzelnen Beiträge kommen. So vorbereitet sind die
Schülerinnen und Schüler nun in der Lage an einem Chatgespräch teilzunehmen. Diese theoretischen
„Chatkenntnisse“ konnten die Schüler in der nächsten Stunde im Internetraum der Schule praktisch
umsetzen. Je ein bis zwei Schülern stand hier ein Rechner zur Verfügung.
Auffällig war, wie gebannt alle Schüler vor den Rechnern saßen, auch die, die zuvor die Banalität und
Oberflächlichkeit des Chatausschnittes kritisiert hatten. Um dieses Chatgespräch der Schüler später
sinnvoll auswerten zu können, haben wir regelmäßig Ausschnitte der Kommunikation ausgedruckt
(Hierfür muss der Text auf dem Bildschirm einfach markiert werden und anschließend der Druckbe-
fehl erteilt werden).

3. Phase: Reflexion des Chaterlebnisses
Vor dem Hintergrund kommunikationstheoretischer und medienpädagogischer Intentionen kommt der
Reflexion der Chaterfahrungen entscheidende Bedeutung zu. Unsere Reflexionphase umfasste im We-
sentlichen drei Schritte:

(a) Auswertung mittels Fragebogen
Zuerst bekamen die Schüler als Hausaufgabe nach der Chatstunde einen Auswertungsbogen, der sie
nach persönlichen Eindrücken hinsichtlich Themen und Sprache und nach dem konkreten Verlauf der
Chateinheit befragte (vgl. Material 6). Viele Schüler vermerkten, dass die Zeit nicht ausgereicht hätte,
um sich intensiver mit anderen Chattern zu unterhalten, ein Aspekt der auch noch einmal genannt
wurde, als es darum ging, ob sich die Schüler vorstellen können, dass Menschen chatsüchtig werden.
Den Sog, immer weiter chatten zu wollen, haben manche Schüler ansatzweise auch an sich selbst fest-
gestellt. Darüber hinaus ergab die Auswertung dieses Arbeitsblattes bei den Schülern ein recht diffe-
renziertes Bild, hierbei überwog eine kritische Haltung besonders den Themen gegenüber. Die Schüle-
rinnen und Schüler haben durch die aktive Teilnahme an einem Chatgespräch im Schulweb nicht nur
erlebt, dass Themen freizügiger besprochen werden, als das in Alltagsgesprächen meist der Fall ist,
sondern sie haben auch festgestellt, dass man auf Beiträge anderer schnell antworten muss, um bei der
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Kommunikation nicht den Anschluss zu verlieren. Es ist leicht einsehbar, dass bei diesen speziellen
Kommunikationsbedingungen Themen meist nur oberflächlich behandelt werden. Insbesondere wenn
viele Chatter in einem Chatraum sind, rasen die Einzelbeiträge nur so über den Bildschirm und man
hat Mühe einerseits dem Gespräch zu folgen und andererseits eigene Nachrichten abzuschicken. Die
Schülerinnen und Schüler haben hierin einen wesentlichen Grund für die Verkürzung der Chatsprache
gesehen. Des weiteren stellten sie fest, dass sowohl die Einzelbeiträge als auch die Sätze kurz sind,
manchmal auch unvollständig und dass die Teilnehmer wenig auf Orthografie achteten. Bei der Refle-
xion des eigenen Chatgespräches fiel den Schülerinnen und Schülern außerdem auf, dass comicsprach-
liche Elemente ebenso verwendet wurden wie Anglizismen, auch dies Merkmale von Alltagsgesprä-
chen, die unsere Schüler untereinander führen, und die sie in ihrer Einschätzung bestärkten, ihre Chat-
beiträge mit ihrer normalen Alltagskommunikation zu vergleichen.

(b) Szenische Darstellung
Eben dieser Vergleich mit einer normalen Gesprächssituation diente als Übergang zu einem zweiten
Reflexionsschritt, der szenischen Darstellung der Chatkommunikation. Neben der kognitiven Aufar-
beitung sollte die distanzschaffende Verlagerung der Kommunikation vom virtuellen in den realen
Raum den Schülerinnen und Schülern das Spezifische der Kommunikationssituation einsichtig ma-
chen. Durch die szenische Darstellung erleben die Schüler sehr deutlich den Unterschied zwischen
dem virtuellen Chatgespräch und einem realen Gespräch. Darüber hinaus bietet die szenische Darstel-
lung den mehr praktisch als analytisch begabten Schülern die Möglichkeit, sich auf ihre Art mit dem
Text auseinander zu setzen. Haas, Menzel und Spinner haben zurecht darauf hingewiesen, dass sich
die Schüler durch die kreative Auseinandersetzung mit Texten oft intensiver mit dem Unterrichtsge-
genstand befassen und auch der Zugang durch das Ansprechen verschiedener Sinne erleichtert wird.viii
In dieser Phase unseres Unterrichtsmodells ging es uns nicht um eine möglichst bühnenreife Inszenie-
rung des Chattextes, die jeden guten Regisseur reizen dürfte. Der Transfer vom virtuellen in den realen
Raum sollte vor allen Dingen experimentellen und sprachspielerischen Charakter haben. Durch die
sich daraus ergebende Verfremdung werden netzeigene Kommunikationsformen und Regeln beson-
ders augenfällig und zum Teil in ihrer Einfachheit und Absurdität entlarvt.
Bereits beim rollenverteilten Vorlesen des Chatausschnittes wurde der „Verfremdungseffekt“, der
eintritt, wenn man eine konkrete Kommunikation aus ihrem medialen Kontext löst, sehr deutlich: Die
Schüler waren über das, was sie kurz zuvor noch selbst geschrieben hatten, auf einmal sehr belustigt,
teilweise war es ihnen auch peinlich, einzelne Beiträge vorzulesen, die sie im Schutze der Anonymität
geschrieben hatten. Beide Reaktionen sind auf den durch den Transfer veränderten normativen Kon-
text zurückzuführen. Der normative Kontext ist vor allem deswegen beim realen Gespräch ein anderer,
weil man hier direkt und persönlich für seine Beiträge zur Verantwortung gezogen werden kann. Die
Anonymität im Netz entzieht den Chatter dieser Verantwortlichkeit.
Da einige medienspezifische Elemente der Chatkommunikation nicht in den realen Raum übernom-
men werden konnten, mussten zwangsläufig einige Transformationen vorgenommen werden. In einer
Ideenbörse entwickelten die Schüler Vorschläge, wie man die Besonderheiten dieser virtuellen Kom-
munikation im realen Klassenraum darstellen kann. Diese Vorschläge wurden in unterschiedlichen
Kombinationen ausprobiert:
-   Die Andeutung der Anonymität wurde durch Masken bzw. Sonnenbrillen oder Strumpfmasken
    umgesetzt.
-   Emoticons und Abkürzungen sollten durch Pappschilder, die begleitend zu den Beiträgen gezeigt
    wurden, dargestellt werden.
-   Viel diskutiert wurde über die Positionierung der Sprecher zueinander. Sollten alle Teilnehmer
    einander zugewandt sein, oder nur diejenigen, die wirklich aufeinander Bezug nehmen? Sollten
    die Teilnehmer, die keine Beziehung aufnehmen, abseits von den anderen stehen, als Bild für feh-
    lende persönliche Nähe? Hier gab es viele unterschiedliche Interpretationsversuche.
-  Der Moderator des Chatgespräches, der einzelne Aktionen und Beiträge kommentiert, stellte sich
   zur Kennzeichnung seiner besonderen Position auf einen Tisch.
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-   Das „Flüstern“ der Teilnehmer innerhalb des Chats bedurfte keiner besonderen Umsetzungsidee
    und konnte leicht nachempfunden werden.
-   Auch das Verlassen des Chatkanals in private Räume oder andere Kanäle wurde räumlich nach-
    empfunden (Ecken des Klassenraums, Nebenräume, Flur).
Manche Vorschläge erwiesen sich als praktikabel, andere wurden verworfen. Zunächst hatten die
Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten, ihren Text vorzutragen. In welcher Stimmlage sollen die
Beiträge gespielt werden? Möglichst distanziert und emotionslos wie in einer Maschinensprache oder
sollte man versuchen, ihnen menschliches Leben einzuhauchen? Wie werden zum Beispiel fünf Fra-
gezeichen hintereinander stimmlich dargestellt? Auch die Aneinanderreihung kurzer Ausrufe in Ver-
bindung mit Emoticons führte zunächst zur Heiterkeit und dann zu der Einschätzung, dass man „so ja
weder spricht noch schreibt.“ Gerade diese Phase des Probierens, Konkretisierens und Überdenkens
war für die Schüler sehr spannend und verdeutlichte den experimentellen Charakter dieser Sequenz.

(c) Auswertung der szenischen Darstellung und Abstrahierung
In der Auswertung der szenischen Darstellung (dritter Reflexionsschritt), die gleichsam zusammenfas-
senden Charakter in Bezug auf die Unterrichtsreihe hatte, standen dann noch einmal Fragen im Mittel-
punkt der Diskussion, die den Zusammenhang zwischen Medium und Kommunikation zum Inhalt
hatten. Wie wirkt sich die mediale Situation auf die Sprache aus und welche Konsequenzen ergeben
sich für die Kommunikation aus der Anonymität der Chatter zum Beispiel in Bezug auf Inhalte und
soziale Normen (Chatiquette)?
Durch den mündlichen Vortrag wurde der knappe und formelhafte Charakter der Chatsprache beson-
ders augenfällig. Viele kurze, unvollständige und sehr ähnliche Beiträge wurden von den SchülerInnen
vorgetragen. Interessanterweise kam es durch die Reflexion dieser Beobachtungen und die eigenen
Erfahrungen an dieser Stelle zu einer Diskussion darüber, ob diese neue Kommunikationsart zu einer
Verarmung der Schriftsprache führt – eine Diskussion, die in ähnlicher Weise derzeit auch in der
Sprachwissenschaft geführt wird.
Darüber hinaus zeigte sich bei der Chatinszenierung, dass die Schülerinnen und Schüler besonders
dort Hemmungen oder Belustigung zeigten, wo es um Sprache oder Verhaltensweisen ging, die sie
ohne den Schutz der Anonymität nicht gezeigt hätten. Ausdrücke aus dem Bereich der Sexualität,
Flüstern mit anderen Gesprächspartnern oder unvermutete Einladungen in einen privaten Raum wer-
den persönlich vor so vielen anderen Gesprächsteilnehmern auch nicht von unseren Schülern ausge-
sprochen.
Aber auch andere Gesprächskonventionen erwiesen sich als besonders typisch für den virtuellen
Raum. Hier ist es durchaus üblich, einen Beitrag an 30 Personen gleichzeitig zu richten. Häufig genug
wird auf eine solche Äußerung von niemandem geantwortet. Die Flüchtigkeit der Formulierungen und
die Beziehungslosigkeit bzw. Isolation der einzelnen Chatteilnehmer wurde bei der szenischen Dar-
stellung besonders evident.
Die Diskussion um die Frage, wer welche Rolle übernimmt, warf erneut den Blick auf das Problem
der unklaren Identität der Sprecher. Schüler weigerten sich, die Rolle der mama (vgl. Material 4) zu
übernehmen, obwohl ihr Text weniger gut zu einer Schülerin passte (Hallo Mädels, es ist Frühling
und ich suche eine Freundin!). Für die Rolle des adonis, meldeten sich hingegen nur Schüler und kei-
ne Schülerin. Der Wahl der Pseudonyme, der sogenannten Nicknames ist demnach nicht ohne Bedeu-
tung. Entgegen dem Sprichwort, nach dem Namen nur Schall und Rauch sind, gibt sich der Chatter
mit dem Nickname bewusst oder unbewusst ein bestimmtes Image. Mit der Wahl eines Pseudonyms
kann man wahlweise einen Hinweis auf die eigene Identität oder eine bestimmte Absicht, die man bei
der Kommunikation verfolgt, geben, oder man kann bewusst eine ganz neue Identität annehmen. In
der Auseinandersetzung um die Rollenverteilung haben wir die Schülerinnen und Schüler mit ihren
eigenen und einer Reihe fremder Nicknames konfrontiert und sie aufgefordert zu spekulieren, welches
Images sich ihrer Meinung aus dem jeweiligen Namen ableiten lässt. Unmittelbar daraus wurde die
Frage entwickelt, welche Auswirkungen die Wahl des Namens auf die Kontaktaufnahme hat, also die
Frage, ob sich jemand, der sich adonis nennt, wohl größere Aussichten hat, von einem weiblichen

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(oder männlichen?) Chatter angesprochen zu werden als pizza. In einer anschließenden Pro- und Cont-
ra-Diskussion sollten sich die Schülerinnen und Schüler mit den Vor- und Nachteilen dieser Anonymi-
tät auseinander setzen. Einerseits, meinten die Schüler, biete die Anonymität gerade Jugendlichen, die
sich in schwierigen Lebensphasen befinden, eine Möglichkeit, offen über ihre Probleme zu sprechen,
andererseits sei aber auch verständlich, dass die Anonymität Sorgen auf Seiten von Justiz und Eltern
auslöse, weil erstens nicht mehr nachvollziehbar sei, an wen man beim Chatten gerate, und zweitens
jugendgefährdende Inhalte auf diese Weise viel leichter verbreitet werden können. In diesem Zusam-
menhang wurde auch der Aspekt aufgegriffen, warum es überhaupt soziale Normen wie die Chatiquet-
te im Netz gebe, wenn es bei Nichteinhaltung ohnehin praktisch keine geeigneten Sanktionsmaßnah-
men gebe.
Eben weil das Chatten eine relativ neue Kommunikationsform ist, bietet es viele Ansatzpunkte für
Sprachreflexion, denn manche Automatismen sind aufgehoben, zum Teil muss die Kommunikation
erst erlernt werden. Exemplarisch können hier die Aspekte und Bedingungen funktionierender Kom-
munikation aufgezeigt werden. Vergleiche zu anderen, die Kommunikation beeinflussende Medien
(Fernsehen, Radio, Telefon usw.) lassen sich leicht herstellen.

Fazit
Das Chatten als relativ neue Kommunikationsform im Internet genügt vielleicht nicht allen akademi-
schen oder bildungsbürgerlichen Ansprüchen an Inhalte des Deutschunterrichtes, es fasziniert aber vor
allem Jugendliche, die sonst weder zum Buch greifen noch (abgesehen von schriftlichen Hausaufga-
ben) sich schriftlich äußern. Das Medium Computer nimmt im Alltag von Jugendlichen eine zentrale
Stellung ein. Deutschlehrer sollten sich die Chance nicht entgehen lassen, ihn als Ausgangspunkt und
Motivation für sprachreflektorische Prozesse zu nutzen.
 Tatsächlich beschränkte sich die Motivation der Schüler innerhalb unserer Reihe nicht nur auf die
aktive Teilnahme an der Kommunikation, sondern umfasste auch die Bereitschaft zur Sprachreflexion.
Unsere Schüler, die zum Teil Schwierigkeiten haben, Schriftsprache und mündliche Sprache situati-
onsadäquat einzusetzen, haben sich hier intensiv mit der Frage beschäftigt, in welcher Situation wel-
che Äußerung bzw. Formulierung angemessen ist. Dieser genaue Blick auf Sprache und Kontext
könnte zu einer allgemein größeren stilistischen Sensibilisierung der Schüler beitragen.
Als Mittel der Reflexion können alternativ zur szenischen Darstellung selbstverständlich auch andere
Produkte erstellt werden, zum Beispiel ein Hörspiel, ein Gesprächsprotokoll o.ä.
Die Unterrichtsreihe zum Chatten bietet darüber hinaus Anknüpfungspunkte für fächerübergreifendes
Arbeiten (Politik, Religion), gerade was die Einhaltung sozialer Regeln unter den Bedingungen von
Anonymität betrifft. Was verändert sich in der Art zu kommunizieren, wenn Chatter anonym sind, wie
sieht es mit der Einhaltung der Chatiquette aus? Von hier ausgehend lassen sich leicht Verbindungen
zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen herstellen, wo sich die Anonymität ebenfalls auf das Sozi-
alverhalten der Menschen auswirkt, etwa auf Gewalttätigkeiten in Fußballstadien oder das Verhalten
bei Massendemonstrationen.

i
   Runkehl, Schlobinski, Siever: Sprache und Kommunikation im Internet – Überblick und Analysen. Opla-
den/Wiesbaden 1998. S. 27.
ii
    Weitere Kommunikationsformen, wie zum Beispiel verschiedene E-Mail-Formen oder auch Internet-Telefonie
werden ebenfalls bei Runkehl, Schoblinski und Siever beschrieben und analysiert (vgl. Anm. 1).
iii
    Chatten kann man natürlich auch im IRC, dem International-Relay-Chat. Dieses Netz ist wie das WWW ein
Teilbereich des Internets. Der Zugang zu einem IRC Kanal ist jedoch komplizierter und die dort verwendete
Syntax ist für einen Anfänger umständlicher zu erlernen.
iv
    Die Chat-Sprache nimmt im Verhältnis zu diesen Konzepten von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine Zwi-
schenstellung ein. Sie enthält Elemente der beiden Pole. Konzeptionell steht sie der Mündlichkeit näher, medial
der Schriftlichkeit (vgl. Material 7).

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   Esther Dyson: Release 2.1 – Die Internet-Gesellschaft: Spielregeln für unsere digitale Zukunft. München 1999.
S. 455.
vi
    Professor Jacobs anlässlich dieser Tagung im Kölner Stadt-Anzeiger im März ’99.
vii
     Hilfreich bei dieser Einordnung ist das im Handbuch der Schriftlichkeit von Koch / Oesterreicher
erläuterte Konzept eines Kontinuums zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit (In: Günther/Ludwig -
Handbuch der Schriftlichkeit. S. 587f.).

viii
  Haas, Menzel, Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch 123.
1994. S. 17-25.

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