Chronik Politische 50Jahre ADW iz3w
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50 Jahre ► ADW ► iz3w 50 Jahre ADW & iz3w 1 9 6 8 - 2018 Politische Chronik ► Frühjahr 1968: Studierende gründen die Aktion Dritte Welt e.V. ► Frühjahr 2018: 50 Jahre iz3w
Politische Chronik 1968 - 2018 W ► i z 3w e ► A D 50 Jahr 6 8 - 2 0 1 8 19 e Po l i t i s c h i k 2 Ch r o n Impressum Aktion Dritte Welt e.V. informationszentrum 3. welt Kronenstraße 16a (Hinterhaus) D-79100 Freiburg i. Br. Telefon: +49 761/74003 info@iz3w.org www.iz3w.org Bankverbindung GLS Gemeinschaftsbank eG IBAN: DE16 4306 0967 7913 3876 00 BIC: GENODEM1GLS Beiträge von Jakob Borchers, Martina Backes, Rosaly Magg, Christian Neven-du Mont, Christian Stock Redaktion Christian Stock, Christian Neven-du Mont Gestaltung Martina Backes
50 Jahre ADW & iz3w Vorwort Es lag etwas in der Luft, damals im Frühjahr die wenigsten, doch durch die Schule des iz3w 1968. Im Rückblick erscheint es nicht als Zu- gingen immerhin mehrere Abgeordnete von fall, dass sich just zu jener Zeit Studierende in Landtag, Bundestag und Europaparlament, eine Freiburg trafen, um die Aktion Dritte Welt zu Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung, mehrere gründen. Die verbreitete gesellschaftliche Auf- Universitätsprofessoren, ein Generalsekretär des 3 bruchsstimmung erfasste auch das Verhältnis zur Deutschen Caritasverbandes, ein DGB-Presse- Dritten Welt. Nach dem Kolonialismus und zwei sprecher und eine Inlandschefin der Süddeut- Weltkriegen sowie angesichts von neokolonialer schen Zeitung. Ausbeutung und antikolonialer Befreiung stell- ten immer mehr Menschen die Forderung nach Aus heutiger Sicht ganz besonders freut uns, dass Solidarität mit den Ländern des Südens. Genau- aus dem iz3w kein einziger Horst Mahler her- er gesagt: Solidarität mit den dort lebenden vorging. Das spricht für die vielen selbstreflek- geknechteten und unterdrückten Menschen. tierenden Diskussionen, die hier geführt wurden – auch wenn sie oft anstrengend, gelegentlich Im Frühjahr 1968 hätte wohl niemand gedacht, sogar ätzend waren. Leider sind die Diskussionen dass dieser politische Impetus bis heute lebendig seit den 1980er Jahren nicht mehr so gründlich bleibt. In diesen langen fünfzig Jahren ist unge- dokumentiert worden, wie es in den Aktenord- heuer viel geschehen, in der Weltpolitik ebenso ner-seligen Jahren zuvor der Fall war. Die Digita- wie in der ADW und dem von ihr betriebenen lisierung hat ebenfalls eine gewisse Flüchtigkeit iz3w. Die hier vorgelegte politische Chronik ver- zur Folge – wer archiviert schon Emails? weist nicht nur auf unglaublich zahl- reiche und vielfältige Aktivitäten. Sie Mehr als sehen lassen kann verdeutlicht auch, wie sich die poli- Es lag etwas sich die AutorInnenschaft der tischen Ansätze des iz3w im Laufe Zeitschrift, wie die Liste im An- der Jahrzehnte erweiterten – vom in der Luft, hang der Chronik zeigt. Es sind Lobbyansatz über den Antikapitalis- damals im nicht nur beeindruckend viele, mus bis zur Ideologiekritik. Es ist un- sondern auch sehr illustre Na- möglich, in einer solchen Chronik alle Frühjahr 1968 men aufgeführt. Deutlich wird Diskussionen nachzuzeichnen, die in zudem, dass nicht nur eine tausenden Treffen und Texten geführt wurden. einzige politische Strömung den Ton angab, Doch bereits die Schlaglichter ergeben ein Lich- sondern die Zeitschrift immer (links-)plural war. termeer. Die ADW steht dabei beispielhaft für In diesem Kontext verweisen wir auf ein attrak- die Solidaritätsbewegung in (West-)Deutschland, tives Angebot: Auf der neuen iz3w-CD sind alle deren Teil sie jederzeit war. bisher erschienenen Ausgaben der Zeitschrift als PDF versammelt. Das Beste daran ist: Dank einer Im Laufe der fünfzig Jahre haben sich nach un- Volltext-Suchfunktion können alle Artikel durch- seren Recherchen über 500 Menschen im iz3w forstet werden, gleich ob es sich um AutorInnen- engagiert. Für die meisten von ihnen war diese namen oder Begriffe aus dem Beitrag handelt. Zeit ein wichtiger Teil ihrer Biographie, und An der Erstellung dieser Chronik hat - neben viele arbeiten heute noch in sozialen und poli- einigen iz3wlerInnen - vor allem der Geschichts- tischen Organisationen. Karriere gemacht haben student Jakob Borchers mitgewirkt. Im Rahmen
Politische Chronik 4 eines Praktikums nahm er sich insbesondere die frühen Jahre der ADW gründlich vor. Wir danken ihm herzlich für seine informativen und durchaus unterhaltsamen Beiträge. Jetzt ist es nicht mehr nur in Ordnern oder in einigen wenigen guten Gedächtnissen vergraben, dass die Anliegen der ADW seinerzeit bis zum Bundespräsidenten vordrangen. Über eine Sache müssen wir hier leider auch Last but not least möchten sich die heute Aktiven sprechen: Damit das iz3w nicht Geschichte wird, ganz herzlich bedanken bei allen, die in früheren sondern weiter schreibt, brauchen wir mehr Jahren das iz3w zu dem Juwel gemacht haben, Abos. Die Hoffnung, jemals wieder den Höchst- das es für uns ist! stand von knapp 8.000 Anfang der 1980er Jahre zu erreichen, haben wir zwar längst aufgege- Das iz3w-Team, im Januar 2018 ben. Doch wir benötigen 500 Neuabos, um die Zeitschrift zu stabilisieren. Deshalb bitten wir um Bernhard Jimi Merk, Christian Neven-du Mont, Beachtung der Abokampagne auf der hinteren Christian Stock, Clara Koller, Friedemann Umschlagseite. Köngeter, Karim Saleh, Katrin Dietrich, Larissa Sehr willkommen sind auch (steuerabzugsfähige) Schober, Martina Backes, Rosaly Magg, Sascha Spenden. Kontoverbindung siehe unter dem Im- Klemz, Stephan Günther, Theresa Weck, Winfried pressum. Rust, Wolfgang Albrecht
50 Jahre ADW & iz3w Politische Chronik der Aktion Dritte Welt (ADW) und des informationszentrum 3. welt (iz3w) Frühjahr 1968 Oktober 1968 Eine Gruppe Freiburger Studierender versammelt Die Wochenzeitung Die ZEIT veröffentlicht in sich um den Medizinstudenten Peter Riedesser großer Auflage einen Sonderdruck mit von der (später wurde er ein renommierter Kinder- und ADW zusammengestellten Artikeln aus der ZEIT, Jugendpsychiater). Im Kontext einer wachsenden durch die „in der Öffentlichkeit der Bundesrepu- Sensibilisierung für die Probleme der Dritten Welt blik Verständnis für die Sorgen und die Bedürf- in der Bundesrepublik Deutschland beschließen nisse der Entwicklungsländer“ geweckt werden sie nach dem Vorbild der Aktion „Student aufs soll. U.a. versucht Carl Friedrich von Weizsäck- 5 Land“ (1965), künftig öffentlichkeitswirksam auf er (Philosoph, Physiker und Vater des ADW- Not und Elend in den Ländern der Dritten Welt Mitglieds Ernst Ulrich von Weizsäcker), „neue und die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe Formen für eine Weltordnung ohne Krieg“ zu aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt das alar- entwerfen. Der Chefarzt des deutschen Hospital- mierende gute Abschneiden der NPD bei den schiffs „Helgoland“, H. C. Nonnemann, will mehr Landtagswahlen in Baden-Württemberg (9,8 Pro- „Deutsche Ärzte für die Dritte Welt“. Amerika- zent) dient dafür als Motivation. korrespondent Joachim Schwelin sieht „Ameri- kas Brotkorb“ nicht mehr ausreichend gefüllt gegen die „Bevölkerungsexplosion“ der Dritten Sommer 1968 Welt. Und der vom Nazi-Kreishauptmann zum linksliberalen Intellektuellen aufgestiegene Pe- In Zusammenarbeit von Initiator Riedesser und ter Grubbe berichtet von einem „Afrika auf der dem Freiburger AStA laufen die Vorbereitung- Suche nach eigener Staatsform“. en für die Aktion im Wintersemester 1968/69. Unter dem Dach des AStA entsteht die „Aktion Die links-christliche Zeitung Neues Forum aus Dritte Welt“ (ADW) als Sonderreferat. Finanziert Österreich gestaltet ebenfalls einen Sonder- werden soll das Projekt zunächst druck mit zwei von der ADW ausgewählten Ar- durch den AStA, die Arbeitsge- tikeln: Ökonom Philipp Rieger un- meinschaft „Bürger im Staat“ tersucht darin die Zusammenhänge (Vorgänger der Landeszentrale für Ein „mutiges und zwischen „Kirche, Kommunismus, politische Bildung) und das Büro Sozialdemokratie und Dritte Welt“, für Kontakte mit den Entwick- begrüßenswertes während der brasilianische Erz- lungsländern. Auch das Bundes- bischof Helder Camara unter dem ministerium für wirtschaftliche Experiment“ Titel „Christen plündern Christen. Zusammenarbeit (BMZ) sichert Oder morgen die Revolution“ die Zuschüsse zu. Darüber hinaus ist der Unter- Ausbeutung Lateinamerikas anprangert. Die stützerkreis groß: Die Studentengemeinden, die Sonderdrucke werden in einer Auflage von ca. politischen Hochschulgruppen, die Junge Union, 30.000 Exemplaren unter Freiburger Studie- die Jungsozialisten, das Katholische Seminar für renden verteilt. Sozialarbeit in Übersee und das Institut für Ent- In der Stuttgarter Zeitung (SZ) und den Badischen wicklungspolitik erklären sich zur Mitarbeit be- Neuesten Nachrichten (BNN) erscheinen zudem reit. Die Badische Zeitung (BZ) nennt die Aktion wohlwollende Artikel, in denen das Programm ein „mutiges und begrüßenswertes Experiment“ und die Ziele der ADW vorgestellt werden. (SZ, 1. (BZ, 19. Juli 1968). und 8. Oktober; BNN, 11. Oktober; Zeit Sonder- druck; Neues Forum Sonderdruck)
Politische Chronik 1968 - 2018 15. Oktober 1968 „wirtschaftliche Lage der Dritten Welt“ und um eine „fundamentale Kritik an der pragmatischen Peter Riedesser umreißt das Programm der ADW Entwicklungshilfe“, später im Semester auch um in der Uni-Presse. Man verstehe sich zunächst „Abrüstung als Voraussetzung der Entwicklungs- als Aufklärungsprojekt, das aufrüt- hilfe“ sowie die Rolle amerika- teln will. Dies sei notwendig, da „250.000 nischer und deutscher Firmen in der Entwicklungshilfe „der Platz der Dritten Welt. Weitere von der unter den politischen Prioritäten Flugblätter, 18.000 ADW im Wintersemester organi- fehlt“ und in der BRD eine Politik sierte Seminare beschäftigen sich der „national-egoistischen Na- Plakate und mit einer „Schulbuch- und Unter- belschau“ vorherrsche. Von Ver- 5.000 Broschüren richtsreform“ (Leitung: Prof. Hug, drängung und Bagatellisierung PH), mit kirchlicher Entwicklungs- hiesiger Experten sowie „unpoli- verteilt“ hilfe (Leitung: D. Lange, Evange- tischer Almosengabe“ distanziert lische Studentengemeinde), mit 6 sich Riedesser gleichermaßen. An den „Möglichkeiten medizinischer dreierlei Fronten wolle die ADW dagegen ak- Hilfen“ (Leitung: Gerd Jacobs, AStA) und mit der tiv werden: Inneruniversitäre Weiterbildung, Situation in Persien. (AStA Rundschreiben Nr. 3) außeruniversitäre Aufklärung und politische Konfrontation. Erstens sollen Vorträge und Ak- tionstage im Rahmen der Universität Studenten 17. Oktober 1968 für die „drohenden Katastrophen von apoka- lyptischem Ausmaß“ sensibilisieren. Zweitens Ein Kommentar in der Badischen Zeitung macht werde die Problematik von aktiven Studenten auf das bisherige Engagement der ADW aufmerk- ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getragen wer- sam: „250 000 Flugblätter, 18 000 Plakate und 5 den, sprich Massenaufklärung geleistet. Drittens 000 Broschüren wurden (...) unter großen finan- wolle die Aktion die Probleme der Dritten Welt ziellen Opfern verteilt, 50 Referate gehalten, 30 auch ins Blickfeld der Tagespolitik rücken und Veranstaltungen organisiert“. Es wäre jedoch hilf- zum Thema der Bundestagswahl 1969 machen. reich, „volkstümlicher, sprich allgemeinverständ- Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: licher zu formulieren“. (BZ, 17. Oktober 1968) „Wo bedeutet staatliche Entwicklungshilfe bis- her lediglich deutsche Staatsaufträge für die deutsche Industrie auf dem Umweg über die Ent- 8. November 1968 wicklungsländer? Professor Oswald v. Nell-Breuning, „Autorität der Inwieweit ist Entwicklungshilfe weitgehend katholischen Soziallehre“, spricht auf Einladung Sache der Großindustrie, die ohne Rücksicht der ADW über die soziale Verantwortung der auf die individuellen Bedürfnisse nur an der Er- katholischen Kirche. Er sieht es als Aufgabe der schließung neuer Märkte interessiert ist? Wo Kirche, das Gewissen aller Gläubigen für die mo- zementiert Entwicklungshilfe als Verteidigungs- ralische Pflicht der Hilfe zu schärfen und in den politik mit anderen Mitteln Diktaturen, welche Ländern der Dritten Welt die Bedingungen für ein ins kurzfristige strategische Konzept passen?“ Ankommen dieser Hilfe zu schaffen. Dies dürfe (Uni-Presse Oktober 1968) sich nicht nur materiell manifestieren, sondern „Fortschritt im gesamtmenschlichen Sinne ist Um sich in das komplexe Themenfeld der Entwick- anzustreben, der entsprechend der Schöpfer- lungspolitik einzuarbeiten, findet wöchentlich absicht Gottes allen Menschen jeder Rasse und das Kritische Seminar statt. Unter Leitung Ernst jeder Religion zuteil werden soll“. Die Diskussion Ulrich von Weizsäckers (Diplomphysiker im Zweit- versucht erfolglos, dem Referenten eine konkrete studium Biologie; von 1998 bis 2005 Mitglied des Anleitung zum Handeln zu entlocken. Außerdem Bundestages (SPD); seit 2012 Co-Vorsitzender wird von den Studierenden die Verstrickung der des Club of Rome) und des Soziologieprofessors Kirche in die Kolonialverbrechen angeprangert. Christian Sigrist geht es unter anderem um die (Badische Zeitung, 11. November)
50 Jahre ADW & iz3w November 1968 würde deshalb einen Führungswechsel durch be- waffnete Revolution in den Ländern der Dritten Die ADW organisiert im Rahmen einer „Woche Welt voraussetzen, welcher zu unterstützen sei. für die Dritte Welt“ eine Reihe von Vorträgen (BZ, 13. November 1968) und Diskussionen mit renommierten Wissen- schaftlern und Politikern zum Thema Entwick- lungshilfe. Flugblätter werben mit drei Stich- 15. November 1968 punkten für die Veranstaltungen: Arbeitsplätze, Frieden und Gerechtigkeit. „Mehr Wohlstand Botschafter a.D. Dr. Friedensburg (Mada- und Kaufkraft“ in der Dritten Welt würden der gaskar) spricht im Kollegiengebäude I über die deutschen Exportwirtschaft zugutekommen Rolle der Diplomatie in der Entwicklungshilfe, und Arbeitsplätze schaffen. Entwicklungshilfe wobei insbesondere eine Diskussion über den würde Konflikten und Kriegen vorbeugen und volkswirtschaftlichen Nutzen von Entwicklungs- damit auch den wackligen europäischen Frieden hilfe ehemaliger Kolonialmächte entbrennt, den 7 sichern. Entwicklungshilfe leiste Abbitte für Jahr- Friedensburg bestreitet. Im Anschluss betritt hunderte der Ausbeutung durch den „weißen eine Gruppe von AktivistInnen den Raum und Mann“. (Flugblatt „Kommt zu den Veranstaltung- versucht die Diskussion auf die Unterdrückung en der Aktion Dritten Welt“) der persischen Studentenbewegung durch den Schah und die Geheimprozesse der persischen Justiz zu lenken. Friedensburg und ein Teil der 13. November 1968 Zuhörer sind mit dem Themenwechsel nicht einverstanden und verlassen demonstrativ den Die Badische Zeitung berichtet von der Podi- Raum. (BZ, 18. November 1968) umsdiskussion „Bonn contra APO“. Im vollbe- setzten Auditorium Maximum der Universität Freiburg diskutieren u.a. Dr. Aigner von der 18. November 1968 CSU und der Soziologe Volkholz vom SDS hitzig über die Hilfe für die Dritte Welt. Grundlegende Unter dem Motto „Es gibt nichts mehr zu be- Übereinstimmung besteht dabei darin, dass schwichtigen“ füllt die ADW die Freiburger Stadt- Entwicklungshilfe grundlegend neu überdacht halle mit einem „Teach-in“ zur Entwicklungspolitik. werden müsse, wolle man Hungersnöte um die Es sind 4.000 bis 5.000 Zuhörer gekommen. Die Jahrtausendwende vermeiden. Das von einem Gäste sind prominent: Philosoph und Marxist Vertreter des Bundesministerium für wirt- Ernst Bloch, Schriftsteller Günther Grass, Minis- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit Erhard (BMZ) gemalte Bild der bisherigen Eppler (SPD), Jürgen Horlemann Entwicklungshilfe erscheint dem vom Republikanischen Club Berlin Redakteur der Badischen Zeitung „Es gibt nichts (Mitglied der außerparlamenta- „armselig“: Sie diene „der eige- rischen Opposition, APO), und nen Sicherheit, der Vermittlung mehr zu dem Vorsitzenden des Bundestags- eines bestimmten Deutschland- bildes und der Sicherung künfti- beschwichtigen“ ausschusses für Entwicklungs- politik, Walter Leisler Kiep (CDU). ger Absatzmärkte“. Selbst Aigner Eingeleitet wird die Diskussion plädiert deshalb für einen Bewusstseinswandel vom Freiburger ADW-Aktivisten Ernst Ulrich von und Tabubruch in Bonn und in den Entwick- Weizsäcker. Moderiert vom ZDF-Journalisten lungsländern, „um die Hilfe aus dem Stadium Reinhard Appel streiten die Gäste über folgende des bloßen Almosengebens herauszuführen“. Fragen: „Ist Entwicklungspolitik reine Interessen- Volkholz fragt jedoch nach den Voraussetzungen und Machtpolitik, Geschäft oder Moral? Soll einer solchen Politik und kommt zu dem Schluss, sie durch Revolution oder Evolution vonstatten dass im Spätkapitalismus jede Hilfe nur bei den gehen? Und was soll konkret getan werden?“ führenden Eliten und Elendsverwaltern in der (Badische Zeitung). Dritten Welt ankommen könne. Wirkliche Hilfe
Politische Chronik 1968 - 2018 Die Positionen der Diskussionsteilnehmer Wort kommen lassen, bewaffnen sich SDSler mit spiegeln die konkurrierenden revolutionären Farbbeuteln, mit denen man bei Bedarf „auser- und reformistischen Tendenzen in der Debatte wählte Anzüge […] coloriert hätte“ (so ein Leser- wieder: Bloch bezeichnet Entwicklungshilfe als brief in der Badischen Zeitung). (BZ, 21. Novem- „ein lohnendes Geschäft, garniert mit Sentimen- ber 1968; Flugblatt JSG, DISG, SDS) talitäten, eine Neuauflage des Kolonialismus“, und argumentiert für die Schaffung einer neuen revolutionären Gesellschaft, die nur nach einer November 1968 „revolutionären Veränderung der philanthropi- schen Grundlagen“ solidarische Politik betreiben Im Nachtrag zum entwicklungspolitischen Veran- könne (BZ). Eppler appelliert an den Realismus staltungsmarathon setzt sich Peter Riedesser ge- und erkennt hinter jeder Entwicklungshilfe die gen einen „journalistischen Amoklauf“ gegen die Nebenabsicht des Profits. Dies solle jedoch nicht ADW zur Wehr. Herr Jeuthe vom SDS attackiert gleichbedeutend sein mit dem Schaden der Drit- Riedesser und von Weizsäcker in der Freiburg- 8 ten Welt, weshalb er graduelle Reformen an der er Studentenzeitung für die Einladungspolitik Entwicklungspolitik für sinnvoll erachtet. Jede der ADW und die mangelnde Unterstützung für Entwicklungshilfe sei ein Mittel zur Sicherung die persischen Studenten - „Humanitätsduselei des Friedens und deshalb eine langfristige In- gutwilliger Liberaler“ nennt dies ein SDS-Flug- vestition. Auch Grass spricht sich für Reformen blatt. Riedesser verteidigt sich und erklärt, man aus; insbesondere für eine gemeinsame Koordi- hätte Botschafter Friedensburg nicht eingeladen, nierung der Entwicklungshilfe aus Ost und West, weil man seine Meinung teile, sondern weil man anstelle von Wettkämpfen um Ressourcen, und eine inhaltliche Debatte führen möchte. das Ende von Waffenlieferungen. Den Traum von einer revolutionären, neuen Gesellschaft hält er, Auch den Vorwurf der mangelnden Solidari- genau wie Leisler Kiep, für realitätsfern und ein sierung mit den persischen Studenten weist er von „Alibi zum Nichts-tun“. sich – nur Nirumands „unvergesslicher Auftritt“ habe das Austeilen einer solida- Horlemann hält schon eine Di- rischen Resolution verhindert. chotomie zwischen Nord und „Zerschlagt Jeuthes Argumentation stelle nicht Süd für hinderlich, um die realen mehr dar als ein „Kartenhaus der Strukturen des Spätkapitalismus, die ADW“ Scheinargumente“ und sein „ideo- und damit die wirtschaftlichen logischer Verfolgungswahn“ grenze und politischen Probleme der Ent- an „argumentative Selbstkastra- wicklungspolitik, zu verstehen. Er verweist dabei tion“. Das sei umso verwunderlicher, da aus der konkret auf das Beispiel Persiens und holt, nach- von Jeuthe kritisierten Förderung der ADW durch dem dieser „sich zum Mikrofon durchraufte“, das BMZ auch tausende Flugblätter für den SDS den persischen Literaturwissenschaftler Bah- finanziert worden seien. man Nirumand als Gastredner auf die Bühne. Nirumand hält nach einigem Tumult und nach 10. Dezember 1968 Sprechchören wie „Zerschlagt die ADW“ eine längere Ansprache über das Unrechtsregime Studierende der Pädagogischen Hochschule des persischen Schahs und die Verurteilung per- Freiburg (PH) werden aktiv. Der PH-AStA funk- sischer Studenten. Die Aktion war u.a. vom SDS tioniert den „Tag der Menschenrechte“ zum „Tag geplant, um durch „Parasitäre Publizität“ (SDS- der Dritten Welt“ um und veranstaltet seinerseits Flugblatt) von der Bekanntheit der Gäste und der Vorträge, Diskussionen und Filmvorführung- vom BMZ mitfinanzierten ADW zu profitieren. en für die künftigen Volksschullehrer. So stellt Die Organisatoren kritisieren nicht zuletzt, dass z.B. Diplom-Volkswirt Uwe Henrichs die Frage: Peter Riedesser als Verantwortlicher der ADW „Würde ein dritter Weltkrieg das Ergebnis einer sich zwar im Vorlauf verbal solidarisierte, sich Bevölkerungsexplosion und Hungerkatastrophe jedoch weigerte, Nirumand selbst einzuladen. sein?“. Studierende aus Ländern der Dritten Für den Fall, dass man Nirumand nicht hätte zu Welt bringen in Referaten ihren „Wunsch nach
6 8 50 Jahre ADW & iz3w ´ 9 tiefgreifender Änderung der politischen und stimmt auch der Fachverband Medizin (FVM) im sozialen Strukturen, notfalls auch auf revolu- VDS zu, bundesweit eine „Aktion Dritte Welt“ tionärem Weg“ zum Ausdruck. Und auch bei der durchzuführen. Podiumsdiskussion „Was geht uns die Dritte Welt an?“ mit dem Religionswissenschaftler Fischer Die vom FVM herausgegebene Zeitschrift Der Barnicol, BMZ-Ministerialrat Jelden und Sozial- Medizinstudent widmet sich in ihrer Dezem- wissenschaftler Sternstein steht die Kontroverse berausgabe gänzlich den medizinischen Prob- um entwicklungspolitische Reformen oder revo- lemen der Dritten Welt und titelt: „Dritte Welt lutionären Gesellschaftswandel im Fokus. Des- – Dritte Kraft“. Darin weiteren werden zwei Arbeitsgemeinschaften begrüßt u.a die Bun- gegründet, die sich einer Schulbuch- und Unter- desministerin für Ge- richtsreform, sowie einer „Analyse der bisher- sundheitswesen, Käte „Was geht igen Unterrichtsmittel“ widmen. (BZ, 11. Dezem- Strobel (SPD), den uns die ber 1968; ADW-Dokumentation) Aufklärungsbeitrag als „aktive Friedens- Dritte Welt an?“ politik“. H.C. Nonne- Dezember 1968 mann, erster Chefarzt des deutschen Hospi- Bereits im Oktober begrüßt der Verband Deut- talschiffs „Helgoland“, spricht mit einem Gefühl scher Studentenschaften (VDS) die ADW offiziell „tiefer Befriedigung“ den Freiburger Studier- und ruft Studentenschaften west-deutschland- enden seine Sympathie aus. (Der Medizinstudent, weit zu eigenen Aktivitäten auf. Anschließend Dezember 1968)
6 9 Politische Chronik 1968 - 2018 1 9 Januar/Februar 1969 Die Fachschaft Medizin der Universität Heidel- berg attackiert die ADW. In der Januarausgabe des Medizinstudenten wirft sie der ADW unter dem Titel „Scheuklappenmedizin – oder Schizo- phrenie der Nächstenliebe“ mangelnde poli- tische Reflexion vor und bezeichnet das FVM- Titelthema der Dezemberausgabe als „naiv humanitär“. Bereits im November habe man sehr vielen Entwicklungsländern notwendigen sozialen Umbruchs“ entwickeln. (Medizinstu- dent, Januar & Februar) Januar 1969 Die medizinische Fakultät der Uni Freiburg will aktiv Entwicklungshilfe leisten. So plant der medizinische Fakultätsausschuss für das Som- mersemester 1969 u.a. eine „Tropenmedizinische eine Gegenaktion „Befreite Gebiete“ gestartet, Ringvorlesung“ als Vorbereitung zum Einsatz in der sich mittlerweile auch die Fachschaften Tü- der Entwicklungshilfe, die Einrichtung von As- bingen und Marburg angeschlossen hätten. Die sistentenlehrstellen für zurückgekehrte Entwick- Broschüre der Gegenaktion plädiert für einen lungshelfer und die Unterstützung von Partner- 10 revolutionären „Krieg der Volksmassen“ nach universitäten bzw. Krankenhäusern in Ländern maoistischem Vorbild. Vom Tübinger SDS ist zu der Dritten Welt. Die Projektidee „Basisklinik“ hören, „die Schaffung eines neuen Vietnams“ von H.C. Nonnemann, welche die Ausbildung wäre „keine Tragödie“, sondern „eine Ehre und und Entsendung deutscher Ärzte in Entwick- Pflicht“ für jeden, der es wirklich mit der Dritten lungsländer fördern will, soll aktiv als „Ausgangs- Welt hält. punkt für die Diskussion über medizinische Sofortmaßnahmen“ genutzt werden. (BZ, 29. In der Februarausgabe des Medizinstudenten Januar 1969; ADW-Dokumentation) wehrt sich die Freiburger Fachschaft Medizin in dem Artikel „Viele Vietnams verhindern – Weder unpolitische Almosengabe noch Revolutions- Januar 1969 träumerei“ gegen die Vorwürfe. Die ADW sei kein karitativer und „naivhumanitärer Pappkamerad“, In einer Veranstaltung der ADW und der Evan- denn man habe schon früh dazu aufgerufen, die gelischen Studentengemeinde referiert Politik- Aktion zu politisieren. Man wollte schlichtweg zu wissenschaftler Dr. Theodor Ebert über die Aus- Beginn „das Problem der Entwicklungshilfe von tragung sozialer Konflikte in der Dritten Welt. allen Seiten betrachten, um zu einer kritischen Auch er prangert die wirtschaftliche Ausbeutung Analyse zu kommen“. Fundamental kritische Fra- durch die Industriestaaten an, glaubt jedoch gen zur gegenwärtigen Praxis der Entwicklungs- nicht, dass eine gewaltsame Revolution die Lage hilfe würden regelmäßig im Kritischen Seminar in den Ländern der Dritten Welt verbessern gestellt. Man teile deshalb durchaus einige der könne. Ein „Kostenvoranschlag der Revolution“ Heidelberger Analysen, ohne jedoch das „Zau- zeige, dass Revolutionen meist mit dem Tode un- berwort Revolution“ unhinterfragt verherrlichen schuldiger Menschen bezahlt werden und dazu zu wollen: „Wer solche Mao-Zitate proklamiert, tendieren, in autoritären Militärdiktaturen zu ist in Gefahr, in einen naiv-revolutionären, poli- enden. „Gerade für den Christen“, findet er, „sei tisch unverantwortlichen und wissenschaftlich der Gedanke unerträglich, daß die Schöpfung nicht haltbaren Aktivismus zu gera- so verderbt sei, daß sie nur mit Ge- ten“. Denn das Gerede vom Bürger- walt gebessert werden könne“. Statt krieg „ist objektiv inhuman und nur „Kosten- Revolution fordert er eine Strategie als ideologischer Neokolonialismus voranschlag der Gewaltlosigkeit, umgesetzt in zu bezeichnen“. Anstatt „aus Ideolo- der Dritten Welt durch „Selbstor- gismen zu deduzieren“, müsse man der Revolution“ ganisation der Unterdrückten“ und das Problem „Entwicklung“ in seiner extensive Bildungsbemühungen. Im Komplexität verstehen lernen. Anstatt von leeren Westen solle sich die Jugend nicht zum Revolu- Parolen wolle man politische Alternativen und tionär stilisieren, sondern beispielsweise durch „unkonventionelle Methoden zur Beendigung „gezielte Konsumverweigerung“ die Wirtschaft der Ausbeutung und zur Herbeiführung des in unter Druck setzen. (BZ, 14. Januar 1968)
50 Jahre ADW & iz3w 11 22. Januar 1969 stoß für die ADW gegeben, mittlerweile sei man sich weiterer Probleme im Zusammenhang mit Die Zeitung Die Welt widmet der ADW einen Ar- dem Elend in der Dritten Welt bewusst. tikel. Die Aktion, als deren Hauptverantwortli- che sie Peter Riedesser und Ernst Ulrich von Gegen die „naive Sorglosigkeit“ in der Be- Weizsäcker ausmacht, habe inzwischen etwa 40 völkerung wolle die ADW daher vor allem auf die freiwillige Helfer und weite sich bundesweit auf verfehlte Entwicklungspolitik der BRD aufmerk- andere Universitäten aus. Als Gegenspieler zum sam machen. Insbesondere das Festhalten an radikalen SDS vertrete sie zudem glücklicher- der so genannten Hallstein-Doktrin (Abbruch weise „die große Gruppe der Studenten, die der diplomatischen Beziehungen zu Ländern, die zwar ein kritisches politisches Engagement für die DDR anerkennen) kritisiert Bartels. Als „nach nötig halten, sich aber mit den revolutionären außen gestülpte Innenpolitik“ sei sie dafür ver- Ambitionen des SDS nicht anfreunden können“. antwortlich, dass Entwicklungshilfe oft in den (Die Welt, 22. Januar) Händen des Innenministeriums läge und nicht bei Epplers BMZ. Insgesamt sei die Entwicklung- shilfe der BRD weder effizient, noch finanziell Wintersemester 1968/69 ausreichend. Die Ursachen dafür sieht Bartels in erster Linie in den entwicklungspolitischen Struk- In der Februarausgabe der Zeitschrift Entwick- turen der BRD: Entwicklungsprojekte werden oft lung und Zusammenarbeit der Deutschen Stif- falsch geplant, nicht ausreichend überprüft und tung für Entwicklungsländer (DSE) zieht ADW- oft nur aus „Prestigegründen“ am Leben ge- Aktivist Siegfried Bartels Bilanz über Kritik und halten. Die Reichshaushaltsordnung lasse nicht Engagement der Aktion im Wintersemester. Die genug finanziellen Spielraum für flexible Hilfe drohenden Hungerkatastrophen hätten den An- durch das BMZ; noch immer sei das BMZ nicht mit
Politische Chronik 1968 - 2018 fachkundigen Sozialwissenschaftlern, sondern sei. Das bisherige Engagement diene als Basis, mit Juristen besetzt; und nicht zuletzt verlaufe um nun ein Programm für das Sommersemes- die Hilfe zu oft nach dem „Gießkannenprinzip“ ter 1969 zu erarbeiten. Es solle vor allem dafür und nicht im Sinne einer langfristigen Planung. genutzt werden, sich auf die Bundestagswahl im September vorzubereiten, in die man aktiv Neben der Kritik an der westdeutschen Entwick- im Sinne der Dritten Welt eingreifen wolle. (Ent- lungspolitik tritt bei Bartels auch die Kritik an wicklung und Zusammenarbeit, Februar 1969) der „deutschen Außenwirtschaft“. Industriena- tionen seien aktiv an der Ausbeutung der Drit- ten Welt beteiligt, wo auf dem Weltmarkt z.B. sinkende Rohstoffpreise steigenden Investitions- 15. März 1969 güterpreisen gegenüberstehen. Gegenstand der ADW solle daher immer eine kritische Analyse Die Zeitschrift Orientierung – Katholische Blät- der wirtschaftlichen und politischen Beziehung- ter für weltanschauliche Information gibt ei- 12 en zwischen Industrienationen und Dritter Welt nen Überblick über das Engagement der ADW sein. Neben den Forderungen nach entwicklungs- im Wintersemester. Sie druckt den Brief eines politischen Reformen steht somit die Kritik des Freiburger Studenten (Kürzel: M.v.G.) an den globalen Nord-Süd-Verhältnisses im Sinne der Münsteraner Theologieprofessor Karl Rahner ab, Dependenztheorie. Ziel der Aktion der fragt, ob die prominent besetz- sei es laut Bartels bislang gewesen, in einem „möglichst großen und „Selbstorganisation te Münsteraner Fakultät nicht Lust hätte „ein bißchen Avantgarde in heterogenen Personenkreis“ ein der Fragen Entwicklung zu werden“. Bewusstsein für diese Probleme Die Kirche habe eine historische zu schaffen. Neben den zahlrei- Unterdrückten“ Chance, denn nur „Kirchenmit- chen Diskussionen und Vorträgen glieder in den Industrienationen verteilte man zwischen 70.000 und 100.000 Flug- können ihr Bewußtsein und das Bewußtsein ih- blätter und entwarf ein 30-seitiges Unterrichts- rer Nation so ändern, daß offene und versteckte heft für Volks- und Realschulen in einer Auflage Formen der Ausbeutung beendet werden“. von 5.000 Exemplaren. Innerhalb der Universität versuche man sich Sommersemester 1969 noch tiefer in die Materie einzuarbeiten, z.B. durch „ein kritisches Grundlagenseminar, ein Auch im Sommersemester gibt es das Kritische Seminar über kirchliche Entwicklungshilfe, ein Seminar mit folgenden Sitzungen: „Die poli- Seminar zur Schulbuchreform und ein Semi- tische Ökonomie der Beziehungen zwischen nar zur Ausarbeitung eines Kontrastprogramms den Entwicklungsländern und den westlichen für deutsche Vorlesungsverhältnisse“. Bei der Industriegesellschaften“ (K. Poser); „Typische ADW sei man stolz auf die Breitenwirkung, die Sozialstrukturen in den Industriegesellschaf- die Aktion bislang erzielt habe. So beschränke ten“ (Chr. Sigrist/G. Spittler); „Probleme der In- sich der Mitarbeiterkreis nicht mehr auf Studie- dustrialisierung von Entwicklungsländern“ (J. rende, sondern umfasse u.a. Facharbeiter, Lehrer Föhrenbach); Probleme der Agrarreform in Ent- und Oberschüler. Auch örtliche Parteigruppen wicklungsländern (U.v. Pufendorf); Bildungs- und bemühten sich um Kontakte: Die FDP will mit der Ausbildungsprobleme in Entwicklungsländern (T. ADW ein entwicklungspolitisches Programm er- Hanf); „Revolution als vorbereitende Bedingung arbeiten, die Junge Union eine Podiumsdiskus- für den sozio-ökonomischen Fortschritt in Ent- sion mit ADW-Mitgliedern veranstalten, und die wicklungsländern“ (Chr. Sigrist); „Zerschlagt die Jungsozialisten Offenburg planen, sich der Aktion Entwicklungshilfe“ (SDS-Kollek-tivreferat); „Ge- anzuschließen. Die Finanzierung erfolge mittler- gen eine Entwicklungspolitik als eine Form na- weile in erster Linie durch öffentliche Institutio- tionaler Wirtschaftsaußenpolitik“. nen wie das BMZ, wobei Bartels betont, dass dies an keine politischen Bedingungen gebunden
50 Jahre ADW & iz3w 1969 Die ADW verabschiedet ein 17-Punkte-Pro- gramm mit dem Titel „Grundlagen einer neuen, glaubwürdigeren Entwicklungsländerpolitik“. Es Juni 1969 beinhaltet einige Punkte zum „wirtschaftlichen Austausch“: 1. Stabilisierung von Rohstoffpreis- Bei einem Vortrag im Freiburger Haus der Jugend en auf dem Weltmarkt; 2. Abbau von Handelsbe- erneuert die ADW in Person von Heinz Eicher und schränkungen wie Schutzzöllen in den Industrie- André Edou aus Kamerun ihre Kritik an der west- ländern, dagegen Zugeständnis der Protektion deutschen Entwicklungshilfepolitik. Es wird deut- der Binnenmärkte der Entwicklungsländer; 3. lich, dass die ADW nicht nur mehr, sondern auch Veredelung und Transport von Rohstoffen durch qualitativ bessere Entwicklungshilfe fordert. „Zy- einheimische Unternehmen; 4. Rückzug west- nisch“ sei es eingedenk der Geschäftsgebaren, licher Unternehmen aus den „extraktiven Indus- die die Entwicklungspolitik noch bestimmen, 13 trien“. überhaupt von Hilfe zu reden. Von den 6,5 Mil- liarden D-Mark Entwicklungshilfe jährlich flössen Zur Definition von Entwicklungshilfe: 6. Als sol- 1,2 Milliarden an die Weltbank, die sie als teuer che werden nur noch „Technische Hilfe“ und verzinste Kredite an Entwicklungsländer wei- „zins- und rückzahlvergünstigte Kredite“ be- tergebe. Die übrigen 5,3 Milliarden bestünden zeichnet; 7. Hilfen in vergleichsweise entwickelte zu zwei Dritteln aus Direktinvestitionen und Ex- Länder wie Israel, Griechenland und Portugal portkrediten der Privatwirtschaft. sollen nicht mit aufgeführt sein. Zum „Umfang“ und zur „Form“ der Entwicklungshilfe: 8. An- Diese Gelder kämen entweder für die Entwick- hebung der Entwicklungshilfe auf ein Prozent lung völlig bedeutungslosen Branchen wie des Brutto-Sozialprodukts, Steigerung auf zwei Schmuck und Spielzeug zugute, oder sie führten Prozent bis zum Jahr 1975 durch Einsparungen gar zur direkten Ausbeutung, wenn die Hilfe nur von Militärausgaben; 9. Fokus auf in die Rohstoffindustrie ginge. Dort „technische Hilfe“ in Bildungs- könnten deutsche Investoren „bis und Ausbildungssysteme; 10. „Zerschlagt zu 50 Prozent der Investitions- Verschiebung des Schwerpunkts die summe jährlich“ als Gewinn er- von bilateraler zu multilateraler zielen und „billige Rohstoffe zu Hilfe über Organisationen, denen Entwicklungshilfe“ Schleuderpreisen erwerben“. Die gleichberechtigte Vertreter der restlichen 2,1 Milliarden würden Entwicklungsländer angehören zwar als Kredite zu niedrigem Zins müssen; 11. Beschränkung der Hilfe auf „ent- verteilt werden. Mit der Vergabe sei jedoch eine wicklungs- und reformbemühte“ Länder (außer „Verpflichtung zu Aufträgen an die deutsche In- im Bildungssektor), auch mit sozialistischem dustrie verbunden“, ebenso wie ein festes Roh- Wirtschaftssystem; 12. Verzicht auf jegliche mi- stoffkontingent, das zu niedrigen Festpreisen an litärische Hilfe und Maßnahmen gegen private Deutschland geliefert werden müsse. Nicht zu- Rüstungsexporte. Schließlich zur „entwicklungs- letzt solche Politik sei dafür verantwortlich, dass politischen Administration“: 13. Kompetenzum- z.B. die Einnahmen eines Kakaobauern von der verteilung in der Bundesregierung zugunsten des Elfenbeinküste von 5 Mark pro Kilo im Jahr 1954 BMZ; 14. „Sorgfältiger durchdachte Aufgabenstel- auf 20 Pfennig pro Kilo 1966 gefallen seien. lung an die Entwicklungsländerforschung“ durch das BMZ; 15. Effizienzsteigerung durch bessere Deutsche Politiker bedauern solche Entwick- Ausbildung von Helfern, sowie Erweiterung der lungen zwar meist, „wenn es aber an den Ver- „Weisungsbefugnisse“ des BMZ gegenüber Bot- handlungstisch gehe, würden sie zu knallharten schaften; 16. Eine flexiblere Haushaltsordnung Geschäftemachern“. Dagegen helfe nur kompro- als Ersatz für die Reichshaushaltsordnung des misslose Aufklärung, besonders im Hinblick auf BMZ; 17. Eine „selbstkritische und problemori- die Bundestagswahl im September. (BZ, 23. Juni entierte Aufklärung“ durch das BMZ. 1969)
Politische Chronik 1968 - 2018 4. bis 6. Juli 1969 kapitalistisches System geführt werden“ könne. (Tagungsbericht DSE) Auf Anregung der Freiburger ADW organisiert die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer Juli 1969 (DSE) einen Erfahrungsaustausch von Studenten- und Jugendgruppen, die in der Entwicklungshilfe Im Nachtrag zur Tagung in Berlin-Tegel gibt die aktiv sind. Der Teilnehmerkreis der Tagung in Freiburger ADW einen Text von Siegfried Bar- Berlin-Tegel zeigt die überregionale Entwicklung tels heraus, der als Beitrag zur Strategiediskus- der ADW: Neben den Freiburger ADWlern Sieg- sion der „Gruppe Tegel“ gedacht ist. Bartels‘ Vi- fried Bartels, Bernhard Cremer, Georg Cremer, sion vom weiteren Vorgehen der Gruppe sticht André Edou, M. Molls und Peter Riedesser kom- als symptomatisch für den Reformismus der men auch Vertreter von ADWs der Universitäten frühen Freiburger ADW heraus. Sie ist betitelt: Darmstadt, Eichstätt, Essen, Esslingen, Göpping- „Eine Lobby für die Dritte Welt – Alternative zur en, Göttingen, Reutlingen und Weingarten; SDS-Strategie“. Nachdem man zunächst nur Auf- 14 ebenso Mitglieder verschiedener christlicher klärung leisten wollte, sei es an der Zeit „dem Organisationen, des Internationalen Arbeits- politischen Protest mehr Stoßkraft zu verleihen kreises der Stiftung Studienkreis, des Hunger- (…), was nur heißen kann, eine Art Lobby für die marschkomitees und von Terre des Hommes. Dritte Welt aufzubauen“. Die Vertreter beschließen die Einrichtung eines Die Notwendigkeit einer direkten Einflussnahme „Informationsumverteilungszentrums“ (IUZ) für auf die Politik begründet Bartels mit einer Absage die – vorläufig so genannte – „Gruppe Tegel“. an den SDS. Es sei nicht abzusehen, dass sich das Das IUZ soll provisorisch in Freiburg angesiedelt politische und wirtschaftliche System in der BRD werden, nicht als Dachverband, sondern als in naher Zukunft verändern würde. Indessen sei zentraler Punkt eines überregionalen „Kommu- es sehr wohl möglich, im Rahmen des Bestehen- nikationsnetzes“ zur regelmäßigen Verteilung den die Lage in der Dritten Welt zu bessern, ohne von Materialien und Koordinierung damit gleich Ausbeutungsverhält- gemeinsamer Aktionen. Grund- nisse zu perpetuieren. Keynes gedanke ist dabei der Eingriff in den habe gezeigt, dass der Spätkapita- Wahlkampf für die Bundestagswahl „Wahlkampf lismus nicht auf die imperialistische im September 1969 unter dem Mot- Erschließung von Absatzmärkten to „Wahlkampf für die Dritte Welt“. für die in der Dritten Welt angewiesen 19 der in Berlin-Tegel anwesenden sei, sondern auch von innen „du- Gruppen erklären sich zu der Wahl- Dritte Welt“ rch einen staatlichen Interventio- kampfaktion bereit. In der Folge wer- nisms und der (…) Erzeugung neuer den laut Angabe der Freiburger ADW bundesweit Konsumbedürfnisse“ am Leben gehalten werden 16.000 Plakate und 100.000 Aufkleber verteilt (2. könne. Da es den systemimmanenten Zwang zur Rundbrief der „Gruppe Tegel“). Ausbeutung nicht gebe, könnte eine politische Mehrheit zugunsten der Dritten Welt einiges Zum Abschluss können sich die Vertreter nicht bewegen. Effektivere und ausgiebigere Entwick- auf eine gemeinsame Presseerklärung einigen; lungshilfen würden, so Bartels, die Sozialstruk- die Freiburger ADW zieht ihre Erklärung zurück. turen in den Entwicklungsländern entscheidend Im Tagungsbericht werden zwei Erklärungen aufweichen und damit hilfreicher sein, als die abgedruckt, um „die Spannbreite der Diskus- Unterstützung jeglicher Befreiungsbewegungen. sion“ zwischen radikal-revolutionärem Ansatz und reformistischen Bemühungen anzudeuten. Bartels fasst zusammen: „Ohne das Faktische So erkennt der Internationale Arbeitskreis die hier in der BRD zu akzeptieren, sollte man sich Ursache für die Ausbeutung der Dritten Welt in vorläufig hiermit in oppositioneller Funktion ar- der Struktur des „monopolkapitalistischen Sys- rangieren, um einen Beitrag zur Veränderung tems“, weshalb der „Kampf gegen die Ausbeu- des Faktischen in der Dritten Welt zu leisten“. tung der Dritten Welt nur als Kampf gegen unser Heinecke Werner begründet den „langen Marsch
50 Jahre ADW & iz3w durch die Institutionen“ philosophisch: Man nütziger Verein geführt und durch Gelder des wolle nicht „in gewaltigen dialektischen Sprün- BMZ finanziert werden. Im Dezember trifft man gen sich der Problematik in der Weise (…) entledi- sich erneut in Mainz, um die politische Grundaus- gen, daß diese auf simple Systemkritik reduziert richtung der Gruppe zu diskutieren. So stößt der wird, sondern versuchen mittels eines kritischen Freiburger Vorschlag einer „Lobby“ auf kräftigen Rationalismus den bestehen Verhältnissen in Gegenwind, u.a. von der Frankfurter ADW. Der ihren tatsächlichen Verflechtungen gerecht zu Begriff „Lobby“ suggeriere unreflektiert Wirt- werden“. schaftsnähe und ignoriere die systemimmanen- te Problematik von Entwicklungshilfe. Bartels‘ Konzept sei nicht mehr als eine reformistische „Pseudostrategie“. Man einigt sich, im Frühjahr 16. bis 20. Juli 1969 1970 erneut zusammenzukommen und die Posi- tion und Funktion des neuen Informationszen- Die ADW nimmt am Evangelischen Kirchentag in trums auszudiskutieren. (Ziele und Arbeitsweise 15 Stuttgart teil, der in diesem Jahr von Richard von des Informationszentrums Dritte Welt; Keine Weizsäcker, späterer Bundespräsident und Onkel Lobby für die Dritte Welt – Kritik einer Freiburger des ADW-Mitglieds Ernst Ulrich von Weizsäcker, Pseudostrategie (Klaus Nikolajczyk)) geleitet wird. In der Arbeitsgruppe „Gerechtig- keit in einer revolutionären Welt“ spricht Sieg- 12. Dezember 1969 fried Bartels über die Ignoranz der deutschen Politik gegenüber dem Hunger in der Dritten Bei einer vom AStA organisierten Demonstra- Welt und plädiert für eine „Vervielfachung“ und tion gegen den Vietnamkrieg kommt es zu Aus- effizientere Organisation der Entwicklungshilfe. schreitungen in der Freiburger Innenstadt. Un- Peter Riedesser wendet sich in einem „Hearing“ ter Parolen wie „Friede auf Erden – Waffen für für Journalisten gegen die unkritische und sen- den Vietcong“ oder „USA, SA, SS“ schmeißen sationsheischende Berichterstattung in der deut- SDS-AktivistInnen elf Fensterscheiben der Deut- schen Presselandschaft. schen Bank ein und verschaffen sich gewaltsam Zugang zum verbarrikadierten Amerikahaus. Der In Stuttgart steht zudem die Bundestagswahl Kommentator der Badischen Zeitung verurteilt im Fokus: Unter dem Motto „Wahlkampf für die Ausschreitungen. Während die ADW fried- die Dritte Welt: Der Hunger muss zum Wahl- lich Rohrzucker verkaufe, um die Bürger auf ihre kampfthema werden“ versucht man eine Lobby Seite zu bringen, koche der SDS einsam seine für entwicklungspolitische Reformen zu bilden. „sozialistische Suppe“. Dies sei ein Jammer, denn Einige Hundert Besucher des Kirchentages tragen gewaltsame Aktionen brächten auch die ADW sich in eine von Freiburg aus koordinierte „Wahl- in Misskredit. All jene, „die sich ehrlich engag- kampfzentralkartei“ ein, die dafür sorgen soll, ieren“, würden „wieder einmal als langhaarige, dass bundesweit Engagierte „in jedem Wahlkreis gammelnde und verrottete Radaubrüder klassi- und in jeder Wahlversammlung“ kritische Fragen fiziert, weil sie, aus lauter Solidarität, die Radika- zur Entwicklungshilfe in den Wahlkampf tragen. linskis nicht in ihre Schranken zu weisen vermö- gen“. (BZ, 13./14. Dezember) 21. bis 23. November & 27. bis 28. Dezember 1969 13. Dezember 1969 Auf Initiative der Freiburger ADW tagt die Die ADW beteiligt sich gemeinsam mit der Evan- „Gruppe Tegel“ im November im Schloss Lud- gelischen Studentengemeinde, dem Bund der wigstein bei Kassel. Man plant die feste Instal- Deutschen Katholischen Jugend und der Evan- lation eines „Informationszentrums Dritte Welt“ gelischen Jugend an der Aktion „Christliche in Hamburg unter Leitung Wolfram Brüngers, Weihnacht – Solidarische Weihnacht“. Im Mit- das die Funktionen des bisherigen Provisoriums telpunkt steht eine Konsumkritik des Westens: in Freiburg übernehmen soll. Es soll als gemein- „Der Gegensatz zwischen unserem hohen Kon-
„Friede auf Erden - Waffen für den Vietcong“ sum und der Not in den Entwicklungsländern“ Die Protektion der heimischen Zuckerrüben- springe gerade „zu Weihnachten besonders bauern durch die Europäische Wirtschaftsge- deutlich ins Auge“. Nur durch die Ausbeutung meinschaft (EWG) schade der auf den Export der Dritten Welt sei der exorbitante Konsum von Zucker angewiesenen Wirtschaft vieler im Westen möglich, und so, meint die Aktion, Länder der Dritten Welt. Entwicklungspolitik ergebe sich der „widersinnige Tat- würde bedeuten, der dortigen bestand, daß gerade zur Zeit des Produktion aktiv zum Aufschwung ‘Festes des Liebe’ eine Ausbeu- Der SDS zu verhelfen. Auch Baden-Würt- tung größten Ausmaßes betrie- tembergs Ministerpräsident Fil- ben wird“. Der Konsument soll vor wirft den binger gönnt sich im geschäftigen die Frage gestellt werden, „ob er Weihnachtstrubel eine Tüte Zu- nicht auf Güter verzichten soll, von ADWlern cker. Neben dem Zuckerverkauf denen er weiß, daß unsere Wirt- „CDU-Methoden“ wird auch durch Straßentheater schaft an ihnen auf Kosten der Ent- und Plakatgänsemärsche von 16 wicklungsländer profitiert, und ob vor Freiburger SchülerInnen auf die er nicht überhaupt seinen Konsum ungerechte Güterverteilung auf an Dingen, für die er kein unmittel- der Welt hingewiesen. Der SDS bares Bedürfnis hat, einschränkt“. wirft den ADWlern „CDU-Methoden“ vor und verurteilt auch die Zusammenarbeit mit der Am Samstag findet auf der Freiburger Einkaufs- Kirche: „Die Pfarrer stecken ja noch mitten da meile Kaiser-Joseph-Straße eine öffentliche Ak- bei euch drin“ (SDS Flugblatt). Zumindest die tion gegen den entwicklungspolitischen Miss- Badische Zeitung erkennt in der Aktion jedoch stand statt. Mitglieder der ADW verkaufen dabei eine „Demonstration, die zum Nachdenken an- das Kilo Rohrzucker aus Ländern der Dritten Welt regt“. (BZ, 15. Dezember 1969; SDS Flugblatt) für den Originalpreis von 50 Pfennig, um damit gegen die Anhebung des Zuckerpreises durch die 16. Dezember 1969 europäische Schutzzollpolitik zu protestieren. Vertreter der ADW (u.a. Peter Riedesser, Wol- fang Gruber) reisen zu einer Gesprächsrunde mit Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) nach Bonn. Gemeinsam mit über 50 VertreterIn- nen weiterer Gruppierungen, z.B des Hamburger SDS, der Tricont-Gruppen Köln oder der Aktion Selbstbesteuerung, soll es um die deutsche Ent- wicklungspolitik gehen. Über geeignete Gegen- maßnahmen gegen den Hunger der Dritten Welt ist man sich unter den Gesprächsgästen nicht einig, weshalb wohl „der Bundespräsident auch einige Mühe“ hat, „die verschiedenen Ansätze und Standpunkte auseinanderzuhalten“. Das Gespräch ist dann auch geprägt von Verständi- gungsschwierigkeiten. Heinemann stimmt den Studierenden schließlich zu, dass man Entwick- lungshilfe nicht nur als „Almosengabe“, sondern als eigenständigen Aspekt moderner Politik be- greifen müsse. Die Studenten überschätzten jedoch die konkreten Einflussmöglichkeiten des Bundespräsidenten, außerdem seien viele der vorgeschlagenen Maßnahmen schlicht nicht re- alpolitisch praktikabel. Die ADW-Vertreter emp- finden Heinemann dennoch als interessierten und offenen Gesprächspartner. (BZ, 18.12.1969)
9 7 0 50 Jahre ADW & iz3w 1 17 6. bis 8. März 1970 machen und Entwicklungshilfe als „Ergänzungs- funktion innerhalb der gesamten Strategie des Erneut treffen sich VertreterInnen entwicklungs- Monopolkapitalismus“ zu kritisieren. politischer Organisationen – nun nicht mehr unter dem Namen „Gruppe Tegel“ –, um über Es wird eine achtköpfige Vorbereitungskom- das „Informationszentrum Dritte Welt“ zu disku- mission gewählt, die die Einrichtung des In- tieren. Aufgrund der noch nicht ausgeräumten formationszentrums organisieren soll. Ohne inhaltlichen Differenzen sowie der Freiburger Beteiligung kommen noch ausbleibenden „formaljuris- die Gewählten aus Köln, Bonn, tischen Trägerschaft“, die vom Entwicklungshilfe Bochum, Berlin und Marburg. BMZ zur Finanzierungsbedingung Als erste Amtshandlung trifft sich gemacht wurde, obliegt die pro- nicht nur als die Kommission im April mit Ver- visorische Organisation weiterhin „Almosengabe“ tretern des BMZ in Bonn. Das der Freiburger ADW. Aus dem Pro- BMZ zieht die in der Sitzung zuge- tokoll der Tagung in Neuweilnau sicherte zweijährige Finanzierung geht hervor, dass die Freiburger Position zur Aus- jedoch zurück und fordert einen „detaillierten richtung der Gruppe sich nicht durchgesetzt hat. Aufriß“ der geplanten „inhaltlichen und organi- Die Mehrheit der Anwesenden spricht sich dafür satorischen Arbeit“. Die Kommission sieht danach aus, den „antiimperialistischen und antikapitalis- „konterrevolutionäre“ Tendenzen am Werk und tischen Kampf“ zur „Basis der Arbeit des IZ“ zu weigert sich eine „kompromittierende Alibifunk-
Politische Chronik 1968 - 2018 tion“ für die Bundesregierung einzunehmen. Sie grausamen Kolonialregime Portugals ziehen, und beschließt, „das Projekt ‘Dritte Welt’ aufzuge- in Deutschland gelte das immer noch als Entwick- ben“ - Leute wie Siegfried Bartels würden aber lungshilfe. Auch die Waffenlieferungen in andere sicher schon bald versuchen werden „sich mit Länder der Dritten Welt gelte es zu kritisieren. dem IZ ‘Dritte Welt’ Pöstchen zu sichern“. Un- (FAZ, 28. und 29. April; ADW Presseerklärung 10. terdessen klagt man in Freiburg, man drohe „in Mai 1970) Informationsanfragen gleichsam zu ertrinken“. (Protokoll der Tagung Neuweilnau & Bericht der Vorbereitungskommission; 4. Rundbrief der 29. bis 3. Juli 1970 Freiburger ADW) „Machtwechsel in Freiburg“! Die Liste der ADW erlangt bei der Studentenratswahl mit 16,7 Pro- 27. bis 28. April 1970 zent der Stimmen fünf Sitze (Wahlbeteiligung: 32,7 Prozent) und bildet gemeinsam mit dem 18 Die ADW sorgt für Aufsehen in Bonn. Auf Anre- Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB; gung zahlreicher entwicklungspolitischer Grup- 33,9 Prozent, 11 Sitze) den neuen AStA. Er löst pen findet eine Anhörung des Bundestagsaus- die Demokratische Mitte (DM) ab. Für die ADW schusses für wirtschaftliche Zusammenar- ziehen in den Studentenrat ein: Wolfgang Gruber beit zum Thema Entwicklungshilfe statt. Peter (Medizin), Michael Schmidt-Hieber (Medizin), Riedesser ist als Vertreter der Francis Mukasa (Medizin), Martin einzigen „kritisch aktiven Arbeits- Weiss (Geowissenschaften) und gruppe“ eingela-den, die elf Fragen Christine Bender (Jura). Weitere auf des Ausschusses zu beantworten, Die ADW droht der Liste waren: Georg Stingl, Hei- verlässt die Anhörung allerdings in Informations- necke Werner, Gerd Schillmöller, am zweiten Tag unter Protest, noch Ruth Kronenberger, Bernd Mo- ohne selbst zu Wort gekommen zu anfragen zu ser, Arnold Hundsdörfer, Michael sein: Die Anhörung sei nicht mehr Müller Schwefe). Das Wahlergeb- als eine „unkritische Heerschau ertrinken nis wird als Zeichen gedeutet, dass mächtiger Industrieverbände und es gelungen sei, „Bedeutung und Interessengruppen“ gewesen. In ihrer Presseer- Problematik der Entwicklungsländer und ihre klärung richtet sich der Protest der ADW gegen Beziehung zu den Industrienationen in die Stu- die Einladung von lobbyistischen Vertretern der dentenschaft zu tragen“. Deutschen Bank, der Arbeitsgemeinschaft Ent- wicklungsländer des Bundesverbandes der deut- Nun will die ADW, nachdem sie in den letzten schen Industrie, des Deutschen Gewerkschafts- Semestern die außer-universitäre Aufklärung in bundes oder des Bundes Deutscher Steuerzahler. den Mittelpunkt gestellt hatte, ihr universitäres Engagement erneuern. Man sehe sich jedoch Zudem seien die Ausschussmitglieder zu inkom- nicht in Konkurrenz, sondern „komplementär petent gewesen, um die mächtigen Interessen- zu anderen progressiven Hochschulgruppen“: vertreter kritisch zu befragen. Und auch den Die gemeinsamen politischen Schnittmengen wenigen kirchlichen und wissenschaftlichen mit dem kritischen SPD-nahen SHB und dessen Vertretern hätte es mit ihren ahnungslosen „progressive Reformvorstellungen“ bieten dabei Fragen nicht gelingen können, einen kritischen den kooperativen Rahmen. So distanziert sich Impuls zu setzen. Unter diesen Umständen will der SHB vom nicht zur Wahl angetretenen SDS Riedesser nicht „die Alibi-Funktion des kritischen und dessen „halbstarken Gebaren rebellierender Hofnarrs“ ausfüllen und entschließt sich zu ge- Bürgersöhnchen“ gleichermaßen wie von einer hen. Kurzerhand organisiert man eine eigene opportunistischen „Chamäleon-Politik“ der auf Pressekonferenz: Thema ist das Cabora-Bassa- die Parteikarriere schielenden Konservativen. Staudammprojekt in der portugiesischen Kolonie Der neue AStA der „Linksgruppen“ (Badische Zei- Mosambik. Unternehmen wie AEG, Voith und die tung) hält ein „utopistisches Maximalprogramm“ Hochtief AG würden dort aktiv Gewinne aus dem für politisch unklug und verspricht mit einem
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