CORONAKRISE: WO STEHEN WIR? WAS KOMMT? - MAKRO UND MÄRKTE KOMPAKT - GDV

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CORONAKRISE: WO STEHEN WIR? WAS KOMMT? - MAKRO UND MÄRKTE KOMPAKT - GDV
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

    Makro und Märkte kompakt
    № 34 / April 2020

   Coronakrise: Wo stehen wir?
   Was kommt?

   Die Corona-Pandemie hat die Weltwirtschaft fest im Griff. Die                         Dr. Martin
                                                                                    Altemeyer-Bartscher
   weitgehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens werden
                                                                                      Dr. Max Hanisch
   zu einer tiefen globalen Rezession führen. Auch an der deutschen
   Versicherungswirtschaft wird die Krise nicht spurlos vorüber gehen.               Jakob Hohenstein

   → Wegen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens und des Produktions-           Dr. Rolf Ketzler

     stopps in einer Vielzahl von Firmen wird der wirtschaftliche Einbruch aller      Dr. Anja Theis
     Voraussicht nach größer als im Jahr 2009.
                                                                                      Dr. Klaus Wiener
   → Es besteht aber die Hoffnung, dass d
                                         ie Krise mit der räumlichen Trennung
     der Menschen und den vielen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein-
     gedämmtwerden kann, sodass die Einschränkungen schrittweise gelockert
     und in einigen Monaten eine Erholung beginnen kann.

   → Zudem ist zu hoffen, dass man die richtigen Lehren aus der Krise zieht: So
     sollte eine S tärkung des gesellschaftlichen Risikomanagements sowie
     der Präventionerfolgen und die D   igitalisierung beschleunigt vorange-
     triebenwerden.

   → Auch die V
               ersicherungswirtschaftist von der Krise betroffen. So erschwe-
     ren die Verwerfungen an den Finanzmärkten die Neuanlage. Auch das Neu-
     geschäft dürfte aufgrund der Einschränkungen im öffentlichen Leben und
     der Einkommensverluste leiden. Gleichwohl könnte sich d    ie langfristige
     Ausrichtung des Geschäftsmodells auch in dieser Krise als wesentliches
     Pluserweisen.
02     Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt?

     Wirtschaft unter Schock                                                         Fiskalpolitik gefordert
     Das Corona-Virus hat sich in weniger als drei Monaten zu                        Als Antwort auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des
     einer Pandemie ausgeweitet. Nach China und Europa liegt                         „Corona-Schocks“ hat die Bundesregierung ein umfas-
     das Epizentrum des Ausbruchs mittlerweile in den USA. In                        sendes Rettungspaket geschnürt. Dieses setzt insbeson-
     Europa sind Italien und Spanien am stärksten betroffen,                         dere auf den Erhalt der unternehmerischen Kapazitäten
     aber auch in Deutschland hat sich das Virus insbesondere                        und soll einen Anstieg der Insolvenzen sowie eine Zu-
     im März sprunghaft verbreitet. Die zum Teil schweren                            nahme der Arbeitslosenzahlen verhindern. Zu den we-
     Krankheitsverläufe, die durch das Corona-Virus ausge-                           sentlichen Elementen gehören ein milliardenschwerer
     löst werden, stellen die Gesundheitssysteme vor große                           Schutzschirm für Unternehmen, Steuerstundungen und
     Herausforderungen.                                                              ein erleichterter Zugang zum Kurzarbeitergeld. Letz-
           Zur Eindämmung des Virus wurden weltweit drasti-                          teres hat bereits in der globalen Finanzkrise die Ein-
     sche Maßnahmen ergriffen, die bis hin zu weitreichenden                         kommensentwicklung stabilisiert. Insgesamt belaufen
     Ausgangssperren reichen. In Deutschland ist das öffent-                         sich die Maßnahmen allein in Deutschland auf knapp
     liche Leben derzeit u. a. durch eine Kontaktsperre stark                        1.200 Mrd. EUR inkl. Garantien; dies entspricht einem
     eingeschränkt.                                                                  Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung.
           Die damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkun-                              Deutschland verfügt aufgrund der guten konjunk-
     gen sind massiv und ziehen sich durch nahezu alle Wirt-                         turellen Entwicklung (sprudelnde Steuereinahmen) und
     schaftssektoren. Die Industrie hat teilweise ihre Produktion                    des Zinsverfalls (Verringerung Zinslast) in den letzten
     eingestellt und im Einzelhandel sind zahlreiche Geschäfte                       Jahren über vergleichsweise große finanzielle Spielräu-
     geschlossen. Unter den Dienstleistungen müssen vor allem                        me. Anders sieht es bei vielen ebenfalls stark betroffe-
     der Tourismus, das Gastgewerbe sowie der Veranstaltungs-                        nen Euromitgliedstaaten aus. Dabei steht es außer Fra-
     bereich deutliche Einbußen hinnehmen. Lediglich der Bau-                        ge, dass angesichts der Schwere der Krise europäische
     sektor scheint bisher nur wenig betroffen zu sein. Einen                        Solidarität jetzt unverzichtbar ist. Andernfalls droht die
     ersten Hinweis auf das Ausmaß der Krise gibt der Einbruch                       europäische Integration dauerhaft beschädigt zu wer-
     des ifo-Geschäftsklimaindexes im März, der stärker ausfiel                      den. Insofern ist es richtig, dass die EU-Finanzminis-
     als zu Beginn der globalen Finanzkrise im September 2008                        ter vor ein paar Tagen ein knapp 500 Mrd. EUR schwe-
     (s. Abbildung 1). Eine genaue Abschätzung ist angesichts der                    res Hilfspaket geschnürt haben, das aus drei Elemen-
     großen Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pan-                          ten besteht (Hilfskredite für Staaten im Rahmen des
     demie aktuell nur schwer möglich. Fest steht aber, dass für                     ESM, Bürgschaften und Kredite für Unternehmen über
     das Jahr 2020 mit einer ausgeprägten Rezession gerechnet                        die EIB sowie ein Programm zur Finanzierung der Ar-
     werden muss, die das Ausmaß der Finanzkrise übertreffen                         beitslosenunterstützung). Auch wenn von einigen Län-
     dürfte (2009: -5,7 %). Plausibel erscheint die Einschätzung                     dern erhofft, sind Corona-Bonds nicht Teil des Pakets.
     zahlreicher Volkswirte, die für 2020 derzeit einen Rück-                        Corona-Bonds erfordern eine gemeinsame, demokra-
     gang des Bruttoinlandsproduktes um 5 % bis 10 % erwarten.                       tisch legitimierte Wirtschafts- und Sozialpolitik; beides
                                                                                     liegt aber bislang nicht vor. Besser ist es daher, den ESM
                                                                                     zu nutzen. Sein Vorteil ist die schnelle Verfügbarkeit;
     Abrupter Einbruch des ifo Geschäftsklimaindex                                   die Mittel können sofort bereitgestellt werden. Und da
     Abbildung 1 · Verlauf des ifo-Index im Vergleich zur Finanzkrise                es sich um keine selbstverschuldete Krise handelt, kön-
         ifo Index vor Corona-Krise, Monat 0: März 2020                              nen die Auflagen im aktuellen Umfeld auf ein Minimum
         ifo Index vor Finanzkrise, Monat 0: Oktober 2008 (rechte Skala)             beschränkt werden.
     105                                                                       100        Auch die Geldpolitik hat kurzfristig verschiedene
                                               Sept 2008
                                                                                     geldpolitische Maßnahmen ergriffen, insbesondere mit
     100                                       Lehmann Insolvenz               95    dem Ziel, das Finanzsystem zu stabilisieren und die Liqui-
                                                                                     ditätsversorgung zu sichern. Als Hilfe für hoch verschul-
      95                                                                       90    dete Euro-Staaten hat die EZB ein neues umfassendes
                                                                                     Ankaufprogramm für Wertpapiere über 750 Mrd. EUR
      90                                                                       85
                                                                                     beschlossen. Allerdings rückt die EZB mit der möglichen
      85                                                                       80
                                                                                     Aufgabe der Ankäufe gemäß Kapitalschlüssel und dem
                                                                                     möglichen Wegfall der Obergrenze pro Emission (bisher
      80                                                                       75    33 %) noch dichter an die Grenzen ihres Mandats. Insge-
     Monate   -6       -4        -2        0         2         4           6         samt sind die Möglichkeiten der Geldpolitik zur Stimu-
     Quelle: Thomson Reuters                                                         lierung des Wachstums wie schon in unserem letzten

     Makro und Märkte kompakt № 34
Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt?                03

Makro und Märkte kompakt1 diskutiert in der aktuellen          Teile der Produktionskapazitäten könnten trotz staatli-
Krise sehr begrenzt. Eine höhere (wirtschaftliche) Akti-       cher Hilfe unwiederbringlich verloren gehen. Zudem sind
vität darf aktuell gerade nicht gefördert werden; räum­        erhebliche strukturelle Anpassungen zu erwarten. Wäh-
liche Trennung und Vermeidung „sozialen Konsums“               rend die Digitalisierung mit vermutlich noch größerer
sind die Stichworte. Der Fokus der geldpolitischen Maß-        Intensität vorangetrieben wird, könnte der ohnehin in
nahmen muss daher auf der Bereitstellung von Liquidi-          die Kritik geratene Freihandel einem Protektionismus
tät zur Wahrung der Finanzstabilität liegen.                   weichen, der nicht bei der Produktion essentieller Güter
                                                               wie der Schutzkleidung für medizinisches Personal halt-
                                                               macht. Für die Weltwirtschaft insgesamt könnte dies eine
Erholungsszenarien: V, U oder L?                               Phase geringeren Wachstums bedeuten. Dafür spricht
Die Perspektiven für eine wirtschaftliche Erholung sind        auch, dass der in Teilen erforderliche Neustart mit einem
grundsätzlich günstig, da die Krise durch einen exoge-         größeren Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit verbunden
nen Schock und nicht durch strukturelle Ungleichge-            werden dürfte. In diesem Zusammenhang hat die Europä-
wichte ausgelöst wurde. Ein dauerhafter Wachstums-             ische Kommission bereits deutlich gemacht, dass sie den
rückgang (L-Szenario) erscheint daher wenig wahr-              Green Deal noch stärker mit der Förderung von Nachhal-
scheinlich. Die Erholung wird aber erst dann einsetzen,        tigkeit verbinden wird. Dies ist mit Blick auf den Klima-
wenn eine wirksame Eindämmung des Virus gelungen               wandel sicher zu begrüßen; die damit einhergehenden
ist, damit dann die sozialen und wirtschaftlichen Ein-         Anpassungen hin zu einer kohlenstoffärmeren Produk-
schränkungen wieder aufgehoben werden können.                  tion werden aber zumindest zeitweise Wachstum kosten.
     Sollte sich zeitnah ein Erfolg der Maßnahmen ab-
zeichnen – die jüngsten Verbreitungsdaten aus Euro-
pa geben hier ja durchaus Anlass zur Hoffnung –, dann          Flexible Exit Strategie
besteht die Chance auf eine rasche Erholung der Kon-           Um die Anlaufkosten und die in Teilen wohl auch er-
junktur im zweiten Halbjahr 2020. Voraussetzung da-            forderlichen Kosten des Wiederaufbaus so gering wie
für wäre, dass die wirtschaftspolitischen Maßnahmen            möglich zu halten, muss jetzt auch über eine Exit-Stra-
greifen und so das Produktionspotential der Wirtschaft         tegie nachgedacht werden. Dabei wird es darauf ankom-
weitgehend erhalten bliebe (V-Szenario).                       men, die richtige Balance zwischen weiter bestehenden
     Eine Gefahr ist allerdings, dass nach Lockerung der       gesundheitlichen Risiken und der wirtschaftlichen Ent-
Einschränkungen die Neuinfektionszahlen wieder stei-           wicklung zu finden. Das schließt gegebenenfalls auch
gen. Eine rasche und vollständige Lockerung des Shut-          eine flexible Reaktion auf sich ändernde Neuinfektions-
downs wird es daher nicht geben. Aber auch darüber             zahlen ein. Sollten sich Lockerungen als kontraproduk-
hinaus dürfte das „Hochfahren“ der Wirtschaft mit              tiv erweisen, muss das öffentliche Leben wieder ein-
zahlreichen Herausforderungen verbunden sein. Hier-            geschränkt und öffentliche Hilfen verlängert werden.
zu zählt die rasche Wiederherstellung der Lieferketten.        Je mehr sich die Unternehmen und Haushalte auf eine
Die deutschen Exporteure dürften zudem die Auswir-             evidenzbasierte Vorgehensweise und ggf. weitere Hilfen
kungen des Virus bei wichtigen Handelspartnern zu spü-         verlassen können, desto größer dürfte auch die Bereit-
ren bekommen; von Bedeutung ist dabei unter anderem            schaft sein, den für die Bekämpfung der Krise erforder-
der Einbruch des amerikanischen Konsums.                       lichen langen Atem mitzubringen.

Umbau zu mehr Nachhaltigkeit                                   Bondmärkte zwischen den Fronten
Solange ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff            Spiegel der großen Unsicherheit über die weitere real-
nicht verfügbar ist, scheint aus unserer Sicht daher ein       wirtschaftliche Entwicklung sind die Finanzmärkte. Auf
U-förmiger Verlauf das wahrscheinlichste Szenario. Nach        den Anleihemärkten hat die Angst vor den gesundheit­
einem tiefen Einbruch des Wirtschaftsgeschehens im             lichen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pande-
ersten Halbjahr wird es zunächst eine Phase geben, in          mie den Staatsanleihen im März ein heftiges Auf und
der sich die wirtschaftliche Aktivität nur langsam belebt.     Ab beschert. Die Reaktion folgte zunächst gewohnten
Eine Normalisierung dürfte sich erst im Jahr 2021 einstel-     Mustern: Flucht in sichere Anlagehäfen. Die Renditen
len, wobei aus heutiger Sicht unklar ist, was Normalaus-       fielen deutlich; zehnjährige Bundesanleihen notier-
lastung der Wirtschaft in der Nachkrisenzeit bedeutet.         ten zwischenzeitlich bei nie dagewesenen -0,86 %. Ihre
                                                               amerikanischen Pendants sanken kurzzeitig auf bis zu
1 Vgl. Makro und Märkte kompakt: Corona: Angesteckt? Nr. 33.   0,34 %, ebenfalls ein historisches Tief. Zudem steigen die

Makro und Märkte kompakt № 34
04     Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt?

     Zinsaufschläge zahlreicher Länder des Euroraums ge-              Negativzinsen beendet. Die EZB ist diesem Schritt An-
     genüber deutschen Bundesanleihen markant an.                     fang März zwar noch nicht gefolgt. Eine weitere Leit-
          Dann setzte jedoch eine Gegenbewegung ein, die die          zinssenkung fand sich aber nicht unter den vielen Maß-
     Rendite der 10-jährigen Bundesanleihe Mitte März um              nahmen, die zur Bekämpfung der Corona-Krise beschlos-
     über 60 Basispunkte (amerikanische Treasuries: 30 Ba-            sen wurden. Sollte es also zu weiteren Zinsrückgängen
     sispunkte) nach oben schnellen ließ. Unternehmensan-             kommen, dann wohl eher in den längeren Laufzeiten.
     leihen traf es ebenso, auch jene mit höherer Bonität. Of-        Vorstellbar wäre eine solche Situation angesichts des
     fenbar waren die Verluste insbesondere auf den Aktien-           ohnehin bereits sehr niedrigen Zinsniveaus aber wohl
     und Derivatemärkten (Stichwort: Margin Calls) so groß,           nur dann, wenn die Wirtschaftskrise in eine echte De-
     dass Investoren mit Bondverkäufen dringend Liquidität            flation münden würde.
     beschaffen mussten. Die Spreads gegenüber Ländern
     des Euroraums mit hoher Staatsverschuldung stiegen
     noch weiter. Erst die Ankündigung umfassender Hilfs-             Starke Kursabschläge auf den Aktienmärkten
     maßnahmen seitens der EZB konnte dieser Dynamik                  Die Tumulte haben auch vor den Aktienmärkten nicht
     Einhalt gebieten und die Renditen der Staatsanleihen             haltgemacht. Die Kurse brachen auf breiter Front ein: Vom
     auf ein niedrigeres – aber im Vergleich zum Vorkrisen-           frisch erklommenen Hochpunkt Ende Februar 2020 (Dax:
     niveau weiterhin erhöhtes – Level drücken.                       13.789 Punkte; S&P 500: 3.389 Punkte) ging es um ganze
          Angesichts des massiven Wirtschaftseinbruchs                5.347 Punkte bzw. 39 % auf zwischenzeitlich 8.442 Punk-
     stellt sich für viele Marktbeobachter insbesondere in            te für den Dax, und um 1.149 Punkte bzw. 34 % auf zwi-
     Deutschland die Frage, ob das Zinsniveau noch weiter             schenzeitlich 2.237 Punkte für den S&P 500, bergab. Noch
     fallen könnte. Hier muss zwischen kurz- und langfristi-          nie hat sich ein Bärenmarkt in so kurzer Zeit manifestiert.
     gen Zinsen unterschieden werden. Während kurzfristige            Im S&P 500 hat es, gemessen ab dem letzten Höchststand
     Zinsen nahezu ausschließlich von der Geldpolitik deter-          vom 20. Februar, lediglich 14 Börsentage gedauert, bis der
     miniert werden, spielen in den längeren Laufzeiten auch          Verlust 25 % betrug (s. Abbildung 2).
     Erwartungen hinsichtlich des Wirtschaftswachstums                     Zuletzt konnten sich die Aktienmärkte etwas erho-
     und der Risikolage eine Rolle. Was die Leitzinsen an-            len. Allerdings dürfte dies vor allem an den umfangrei-
     geht, so scheint sich zunehmend die Erkenntnis durch-            chen Hilfspaketen gelegen haben, mit denen die Folgen
     zusetzen, dass mit Negativzinsen eine Reihe von gra-             der Krise zumindest gelindert werden. Ob damit die Tief-
     vierenden Nebenwirkungen einhergehen, allen voran                punkte auf den Aktienmärkten schon erreicht sind, ist of-
     Belastungen für die Kreditvergabe der Geschäftsban-              fen. In den kommenden Wochen und Monaten müssen
     ken. Wohl auch aus diesem Grund hat die schwedische              die Finanzmärkte eine Vielzahl sehr schlechter Konjunk-
     Reichsbank schon vor der Corona-Krise das Experiment             turnachrichten verdauen. Und auch die Gewinnmeldun-

     Der schnellste Bärenmarkt der Geschichte
     Abbildung 2 · Verlauf historischer Einbrüche des S&P 500 um 25 %, skaliert auf den 20.02.2020

      Prozent                                                                             20.02.2020    26.08.1987      04.09.1929
      0                                                                                   31.05.1946    13.12.1961      05.09.2000
                                                                                          10.10.2007    12.01.1973      02.12.1968
      -5

     -10

     -15

     -20

     -25

     -30

     -35
     FEB ’20                             JUL ’20                               DEZ ’20                               MAI ’21
     Quelle: Bloomberg

     Makro und Märkte kompakt № 34
Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt?                05

gen der Unternehmen dürften alles andere als positiv sein.   „Normalfall“ zu finden. In einer zunehmend vernetzten
Eine nachhaltige Wende zum Besseren ist wohl erst dann       Welt und in Zeiten des Klimawandels ist dies eine der
zu erwarten, wenn sehr deutliche Signale für eine dauer-     Zukunftsfragen der Menschheit.
hafte Überwindung der Pandemie vorliegen.                        Zweitens sind in der Krise die Vorteile des digitalen
                                                             Wandels klar zu Tage getreten. Was noch vor wenigen
                                                             Jahren unmöglich gewesen wäre, ist breiten Kreisen in
Stabiles Finanzsystem                                        Wirtschaft und Gesellschaft nun in kürzester Zeit ge-
Als massiver realwirtschaftlicher Schock zieht die Coro-     lungen: Viele Unternehmen haben ihren Betrieb ganz
na-Krise unweigerlich erhebliche Konsequenzen für die        oder teilweise auf dezentrales Arbeiten in digitaler Ver-
Finanzindustrie nach sich. Diese reichen von der Neube-      netzung umstellen können. Im Gesundheitssektor erlebt
preisung vieler Finanztitel über veränderte Kreditwür-       die Telemedizin einen Aufschwung. Über den eigenen
digkeiten bis hin zu Anpassungen in Ersparnis und Ka-        Hausstand hinaus nutzen immer mehr Menschen die
pitalanlage der privaten Haushalte. Eine Finanzkrise ist     Möglichkeiten der virtuellen Welt, um trotz Abstands-
damit jedoch bisher nicht verbunden.                         gebot soziale Kontakte aufrechtzuhalten und zu pfle-
     Jetzt bewähren sich erfreulicherweise die Regulie-      gen. In dieser Situation manifestieren sich aber auch
rungs-Reformen des letzten Jahrzehnts, die zu einer sehr     deutlich die noch bestehenden Hindernisse in der di-
leistungsfähigen Finanzaufsicht geführt haben. Für die       gitalen Transformation. Dazu gehören Schwächen in
europäische Versicherungswirtschaft war dies die Ein-        der Netzinfrastruktur ebenso wie gesetzliche Vorschrif-
führung von Solvency II im Jahre 2016. Damit ist ge-         ten, die der neuen digitalen Realität noch nicht Rech-
währleistet, dass bei den Versicherern substanzielle Puf-    nung tragen, z. B. Papier- und Unterschriftserfordernis-
fer zur Abfederung von Verlusten sowie umfassende und        se. Der Digitalisierungsschub durch die Krise sollte da-
effektive Governance-Strukturen und Risikomanage-            her zum Anlass genommen werden, die digitale Agenda
mentsysteme vorhanden sind.                                  von Bundesregierung und EU-Kommission beschleu-
     Das bestehende Regelwerk ermöglicht zudem für           nigt voranzutreiben.
Krisensituationen ein signifikantes Maß an aufsicht­
licher Flexibilität. Die Aufsichtsbehörden haben bereits
verdeutlicht, dass sie diese Flexibilität ausschöpfen wer-   Auch das Geschäft der Versicherer betroffen
den, um die beaufsichtigten Unternehmen bei der Be-          Die deutsche Versicherungswirtschaft ist direkt und in-
wältigung der Krise zu unterstützen.                         direkt den Folgen der Pandemie ausgesetzt. Als bedeu-
                                                             tender langfristiger Investor mit einem Anlagevolumen
                                                             von rund 1,7 Billionen EUR sind die deutschen Versi-
Risikoprävention stärken und Digitalisierung                 cherer von den aktuellen Entwicklungen an den Kapi-
beschleunigen                                                talmärkten betroffen, allerdings deutlich weniger stark
Auch wenn die Implikationen der Krise zum jetzi-             als oftmals befürchtet. Dies liegt zum einen am langfris-
gen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind und voreilige         tigen Geschäftsmodell der Versicherer. Da Verbindlich-
Schlussfolgerungen vermieden werden sollten: Erste           keiten oftmals erst weit in der Zukunft fällig werden, ist
Lehren zeichnen sich ab, die perspektivisch wichtige         der Druck gering, Vermögenswerte in der Krise zu un-
Potenziale für eine Stärkung der deutschen Volkswirt-        günstigen Konditionen veräußern zu müssen. Hinzu
schaft und Gesellschaft aufzeigen.                           kommt, dass die Allokationsquoten in risikobehafteten
     An erster Stelle ist die große Bedeutung von gesell-    Assetklassen gering sind. Mit gut 5 % ist z. B. die Akti-
schaftlichem Risikomanagement und Risikoprävention           enquote niedrig. Deutlich stärker schlägt die allgemeine
zu nennen. Alle Akteure sind hier gefragt – Staat, priva-    Zinsentwicklung zu Buche, denn mit der nun voraus-
te Wirtschaft sowie Bürgerinnen und Bürger. Viele Prä-       sichtlich noch länger währenden Niedrigzinsphase ge-
ventionsmaßnahmen haben sich in der Krise bewährt,           staltet sich die Neuanlage schwierig. Allerdings gilt hier
z. B. die Pandemie-Notfallpläne von Behörden und pri-        zu bedenken, dass die Investitionen der Versicherer in
vaten Unternehmen. An anderer Stelle sind Lücken zu          Staatsanleihen in den letzten Jahren zugunsten von An-
Tage getreten, etwa in der Bevorratung von Schutzklei-       leihen mit höheren Renditen abgenommen haben. Mit
dung und Desinfektionsmitteln. Für die Zukunft wird          dem Anstieg der Risikoprämien etwa für Unternehmens-
es darauf ankommen, eine ausgewogenere Abwägung              anleihen ergeben sich daher nun auch Investitionschan-
zwischen der Prävention zwar wenig wahrscheinlicher,         cen, zumindest solange, wie das Risiko für Zahlungsaus-
aber in ihren Auswirkungen potenziell katastrophalen         fälle begrenzt bleibt. Und schließlich haben die Versiche-
Risiken und dem effizienten Einsatz von Mitteln für den      rer bereits vor der aktuellen Krise auf das Niedrigzins-

Makro und Märkte kompakt № 34
06     Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt?

     umfeld reagiert: So wurden in der Lebensversicherung                          wege mit persönlichem Kontakt immer noch einen
     neue Produkte mit flexiblen Garantien geschaffen, die                         hohen Stellenwert haben, ist mit einem schwächeren
     aufgrund der höheren Flexibilität in der Asset Alloka-                        Neugeschäft zu rechnen. Auch wird sich die wirtschaft-
     tion sehr viel besser geeignet sind für volatile Märkte                       liche Lage der privaten Haushalte im laufenden Jahr
     und niedrige Zinsen.                                                          merklich verschlechtern. Noch im vergangenen Jahr
                                                                                   zählten die vergleichsweise hohen verfügbaren Einkom-
                                                                                   men zu den Wachstumstreibern in den meisten Ver­
     Geschäftsbetrieb läuft weiter                                                 sicherungsbereichen. In der Krise nimmt allerdings die
     Wie in vielen anderen Branchen auch haben die Versi-                          Verbreitung von Kurzarbeitergeld zu, Bonuszahlungen
     cherer ihren Geschäftsbetrieb in kürzester Zeit an die                        sowie Gewinnausschüttungen gleichzeitig ab.
     neuen Herausforderungen angepasst. Um zur Verlang-
     samung der Virus-Verbreitung beizutragen, arbeitet der
     Großteil der Mitarbeiter im Homeoffice. Mitarbeiter, die                      Stabilität im Bestandsgeschäft
     weiterhin vor Ort gebraucht werden, sind häufig in se-                        Im branchenübergreifenden Vergleich dürfte sich das
     parierte Teams eingeteilt, um das Risiko von Ansteckun-                       Versicherungsgeschäft trotz des zu erwarteten Rück-
     gen innerhalb der Belegschaft zu verringern.                                  gangs im Neugeschäft in diesem Jahr aber gleichwohl
         Außendienst- und Maklerbüros sind für den Pu-                             recht stabil entwickeln. Dabei wirkt sich einerseits aus,
     blikumsverkehr zwar nicht überall geschlossen. Der                            dass in vielen Zweigen der Schaden- und Unfallversiche-
     für viele Kunden wichtige persönliche Kontakt zu                              rung ein großer Teil des Geschäfts zu Beginn des Jahres
     Versicherungs­maklern und -vermittlern wird nun aber                          gezeichnet wird – für 2020 also bevor der Corona-Vi-
     häufig über Telefon und digitale Kommunikationswege                           rus in Deutschland ein Thema wurde. Die konjunkturel-
     weitergeführt. Hier zeigen sich die Früchte der zuneh-                        len Auswirkungen der Corona-Pandemie werden daher
     menden Digitalisierung in der Branche: Sichere Netz-                          zum Teil erst im Jahr 2021 sichtbar werden. Das betrifft
     werke und erprobte Prozesse ermöglichen auch in die-                          zum Beispiel die umsatztarifierten Betriebshaftpflicht-
     sem herausforderndem Umfeld eine hohe Leistungsfä-                            versicherungen. Gleichzeitig stützt der Bestand an rund
     higkeit der deutschen Versicherungswirtschaft.                                442 Millionen Versicherungsverträgen die Beitragsent-
                                                                                   wicklung. In der Lebensversicherung sollten zudem die
                                                                                   zahlreichen staatlichen Hilfen etwa für Selbstständige
     … deutlich schwächeres Neugeschäft erwartet                                   einen spürbaren Anstieg der Stornoquoten verhindern.
     Allerdings wird sich das Neugeschäft in der Versiche-                         Für Kunden mit vorübergehenden Liquiditätsengpässen
     rungswirtschaft im laufenden Jahr voraussichtlich deut-                       bieten Versicherungsunternehmen darüber hinaus Mög-
     lich schwächer entwickeln als in den beiden Jahren zu-                        lichkeiten wie etwa die Anpassung der Zahlungsweise
     vor. Denn in der aktuellen Pandemie haben der Erhalt                          oder die Stundung von Beitragszahlungen. Vor dem Hin-
     der Produktionskapazitäten und der Gesundheitsschutz                          tergrund der volatilen Entwicklung an den Finanzmärk-
     die höchste Priorität. Viele Versicherungsbedarfe könn-                       ten dürfte die Lebensversicherung in Beziehung zu ande-
     ten damit im Bewusstsein der Bevölkerung vorüberge-                           ren Anlageformen von den privaten Anlegern in Zeiten
     hend in den Hintergrund rücken. Darüber hinaus be-                            der Krise vermehrt als „sicherer Hafen“ aufgefasst wer-
     schränken die gegenwärtig geltenden Kontaktverbote                            den. Insbesondere Lebensversicherungsprodukte mit
     die persönliche Kundenansprache. Insbesondere in der                          Garantieelementen könnten in den kommenden Jahren
     Lebensversicherung, in der die klassischen Vertriebs­                         daher vielleicht sogar weiter an Attraktivität gewinnen.

     Impressum
     Herausgeber                                                 Verantwortlich                                                           Autoren
     Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.   Dr. Klaus Wiener,                                                        Dr. Klaus Wiener
     Wilhelmstraße 43/43 G, 10117 Berlin                         Mitglied der Geschäftsführung, Chefvolkswirt                             Dr. Max Hanisch
     Postfach 08 02 64, 10002 Berlin                             Tel. 030 2020-5800                                                       Dr. Anja Theis
     Tel. 030 2020-5000, Fax 030 2020-6000                       E-Mail: k.wiener@gdv.de                                                  Dr. Martin Altemeyer-Bartscher
     www.gdv.de, berlin@gdv.de                                   Publikationsassistenz                                                    Jakob Hohenstein
                                                                 Kerstin Handrack                                                         Bildnachweis
                                                                 Redaktionsschluss                                                        GDV
                                                                 15.04.2020                                                               Alle Ausgaben
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