CORONAKRISE: WO STEHEN WIR? WAS KOMMT? - MAKRO UND MÄRKTE KOMPAKT - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Makro und Märkte kompakt № 34 / April 2020 Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? Die Corona-Pandemie hat die Weltwirtschaft fest im Griff. Die Dr. Martin Altemeyer-Bartscher weitgehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens werden Dr. Max Hanisch zu einer tiefen globalen Rezession führen. Auch an der deutschen Versicherungswirtschaft wird die Krise nicht spurlos vorüber gehen. Jakob Hohenstein → Wegen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens und des Produktions- Dr. Rolf Ketzler stopps in einer Vielzahl von Firmen wird der wirtschaftliche Einbruch aller Dr. Anja Theis Voraussicht nach größer als im Jahr 2009. Dr. Klaus Wiener → Es besteht aber die Hoffnung, dass d ie Krise mit der räumlichen Trennung der Menschen und den vielen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein- gedämmtwerden kann, sodass die Einschränkungen schrittweise gelockert und in einigen Monaten eine Erholung beginnen kann. → Zudem ist zu hoffen, dass man die richtigen Lehren aus der Krise zieht: So sollte eine S tärkung des gesellschaftlichen Risikomanagements sowie der Präventionerfolgen und die D igitalisierung beschleunigt vorange- triebenwerden. → Auch die V ersicherungswirtschaftist von der Krise betroffen. So erschwe- ren die Verwerfungen an den Finanzmärkten die Neuanlage. Auch das Neu- geschäft dürfte aufgrund der Einschränkungen im öffentlichen Leben und der Einkommensverluste leiden. Gleichwohl könnte sich d ie langfristige Ausrichtung des Geschäftsmodells auch in dieser Krise als wesentliches Pluserweisen.
02 Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? Wirtschaft unter Schock Fiskalpolitik gefordert Das Corona-Virus hat sich in weniger als drei Monaten zu Als Antwort auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des einer Pandemie ausgeweitet. Nach China und Europa liegt „Corona-Schocks“ hat die Bundesregierung ein umfas- das Epizentrum des Ausbruchs mittlerweile in den USA. In sendes Rettungspaket geschnürt. Dieses setzt insbeson- Europa sind Italien und Spanien am stärksten betroffen, dere auf den Erhalt der unternehmerischen Kapazitäten aber auch in Deutschland hat sich das Virus insbesondere und soll einen Anstieg der Insolvenzen sowie eine Zu- im März sprunghaft verbreitet. Die zum Teil schweren nahme der Arbeitslosenzahlen verhindern. Zu den we- Krankheitsverläufe, die durch das Corona-Virus ausge- sentlichen Elementen gehören ein milliardenschwerer löst werden, stellen die Gesundheitssysteme vor große Schutzschirm für Unternehmen, Steuerstundungen und Herausforderungen. ein erleichterter Zugang zum Kurzarbeitergeld. Letz- Zur Eindämmung des Virus wurden weltweit drasti- teres hat bereits in der globalen Finanzkrise die Ein- sche Maßnahmen ergriffen, die bis hin zu weitreichenden kommensentwicklung stabilisiert. Insgesamt belaufen Ausgangssperren reichen. In Deutschland ist das öffent- sich die Maßnahmen allein in Deutschland auf knapp liche Leben derzeit u. a. durch eine Kontaktsperre stark 1.200 Mrd. EUR inkl. Garantien; dies entspricht einem eingeschränkt. Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Auswirkun- Deutschland verfügt aufgrund der guten konjunk- gen sind massiv und ziehen sich durch nahezu alle Wirt- turellen Entwicklung (sprudelnde Steuereinahmen) und schaftssektoren. Die Industrie hat teilweise ihre Produktion des Zinsverfalls (Verringerung Zinslast) in den letzten eingestellt und im Einzelhandel sind zahlreiche Geschäfte Jahren über vergleichsweise große finanzielle Spielräu- geschlossen. Unter den Dienstleistungen müssen vor allem me. Anders sieht es bei vielen ebenfalls stark betroffe- der Tourismus, das Gastgewerbe sowie der Veranstaltungs- nen Euromitgliedstaaten aus. Dabei steht es außer Fra- bereich deutliche Einbußen hinnehmen. Lediglich der Bau- ge, dass angesichts der Schwere der Krise europäische sektor scheint bisher nur wenig betroffen zu sein. Einen Solidarität jetzt unverzichtbar ist. Andernfalls droht die ersten Hinweis auf das Ausmaß der Krise gibt der Einbruch europäische Integration dauerhaft beschädigt zu wer- des ifo-Geschäftsklimaindexes im März, der stärker ausfiel den. Insofern ist es richtig, dass die EU-Finanzminis- als zu Beginn der globalen Finanzkrise im September 2008 ter vor ein paar Tagen ein knapp 500 Mrd. EUR schwe- (s. Abbildung 1). Eine genaue Abschätzung ist angesichts der res Hilfspaket geschnürt haben, das aus drei Elemen- großen Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pan- ten besteht (Hilfskredite für Staaten im Rahmen des demie aktuell nur schwer möglich. Fest steht aber, dass für ESM, Bürgschaften und Kredite für Unternehmen über das Jahr 2020 mit einer ausgeprägten Rezession gerechnet die EIB sowie ein Programm zur Finanzierung der Ar- werden muss, die das Ausmaß der Finanzkrise übertreffen beitslosenunterstützung). Auch wenn von einigen Län- dürfte (2009: -5,7 %). Plausibel erscheint die Einschätzung dern erhofft, sind Corona-Bonds nicht Teil des Pakets. zahlreicher Volkswirte, die für 2020 derzeit einen Rück- Corona-Bonds erfordern eine gemeinsame, demokra- gang des Bruttoinlandsproduktes um 5 % bis 10 % erwarten. tisch legitimierte Wirtschafts- und Sozialpolitik; beides liegt aber bislang nicht vor. Besser ist es daher, den ESM zu nutzen. Sein Vorteil ist die schnelle Verfügbarkeit; Abrupter Einbruch des ifo Geschäftsklimaindex die Mittel können sofort bereitgestellt werden. Und da Abbildung 1 · Verlauf des ifo-Index im Vergleich zur Finanzkrise es sich um keine selbstverschuldete Krise handelt, kön- ifo Index vor Corona-Krise, Monat 0: März 2020 nen die Auflagen im aktuellen Umfeld auf ein Minimum ifo Index vor Finanzkrise, Monat 0: Oktober 2008 (rechte Skala) beschränkt werden. 105 100 Auch die Geldpolitik hat kurzfristig verschiedene Sept 2008 geldpolitische Maßnahmen ergriffen, insbesondere mit 100 Lehmann Insolvenz 95 dem Ziel, das Finanzsystem zu stabilisieren und die Liqui- ditätsversorgung zu sichern. Als Hilfe für hoch verschul- 95 90 dete Euro-Staaten hat die EZB ein neues umfassendes Ankaufprogramm für Wertpapiere über 750 Mrd. EUR 90 85 beschlossen. Allerdings rückt die EZB mit der möglichen 85 80 Aufgabe der Ankäufe gemäß Kapitalschlüssel und dem möglichen Wegfall der Obergrenze pro Emission (bisher 80 75 33 %) noch dichter an die Grenzen ihres Mandats. Insge- Monate -6 -4 -2 0 2 4 6 samt sind die Möglichkeiten der Geldpolitik zur Stimu- Quelle: Thomson Reuters lierung des Wachstums wie schon in unserem letzten Makro und Märkte kompakt № 34
Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? 03 Makro und Märkte kompakt1 diskutiert in der aktuellen Teile der Produktionskapazitäten könnten trotz staatli- Krise sehr begrenzt. Eine höhere (wirtschaftliche) Akti- cher Hilfe unwiederbringlich verloren gehen. Zudem sind vität darf aktuell gerade nicht gefördert werden; räum erhebliche strukturelle Anpassungen zu erwarten. Wäh- liche Trennung und Vermeidung „sozialen Konsums“ rend die Digitalisierung mit vermutlich noch größerer sind die Stichworte. Der Fokus der geldpolitischen Maß- Intensität vorangetrieben wird, könnte der ohnehin in nahmen muss daher auf der Bereitstellung von Liquidi- die Kritik geratene Freihandel einem Protektionismus tät zur Wahrung der Finanzstabilität liegen. weichen, der nicht bei der Produktion essentieller Güter wie der Schutzkleidung für medizinisches Personal halt- macht. Für die Weltwirtschaft insgesamt könnte dies eine Erholungsszenarien: V, U oder L? Phase geringeren Wachstums bedeuten. Dafür spricht Die Perspektiven für eine wirtschaftliche Erholung sind auch, dass der in Teilen erforderliche Neustart mit einem grundsätzlich günstig, da die Krise durch einen exoge- größeren Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit verbunden nen Schock und nicht durch strukturelle Ungleichge- werden dürfte. In diesem Zusammenhang hat die Europä- wichte ausgelöst wurde. Ein dauerhafter Wachstums- ische Kommission bereits deutlich gemacht, dass sie den rückgang (L-Szenario) erscheint daher wenig wahr- Green Deal noch stärker mit der Förderung von Nachhal- scheinlich. Die Erholung wird aber erst dann einsetzen, tigkeit verbinden wird. Dies ist mit Blick auf den Klima- wenn eine wirksame Eindämmung des Virus gelungen wandel sicher zu begrüßen; die damit einhergehenden ist, damit dann die sozialen und wirtschaftlichen Ein- Anpassungen hin zu einer kohlenstoffärmeren Produk- schränkungen wieder aufgehoben werden können. tion werden aber zumindest zeitweise Wachstum kosten. Sollte sich zeitnah ein Erfolg der Maßnahmen ab- zeichnen – die jüngsten Verbreitungsdaten aus Euro- pa geben hier ja durchaus Anlass zur Hoffnung –, dann Flexible Exit Strategie besteht die Chance auf eine rasche Erholung der Kon- Um die Anlaufkosten und die in Teilen wohl auch er- junktur im zweiten Halbjahr 2020. Voraussetzung da- forderlichen Kosten des Wiederaufbaus so gering wie für wäre, dass die wirtschaftspolitischen Maßnahmen möglich zu halten, muss jetzt auch über eine Exit-Stra- greifen und so das Produktionspotential der Wirtschaft tegie nachgedacht werden. Dabei wird es darauf ankom- weitgehend erhalten bliebe (V-Szenario). men, die richtige Balance zwischen weiter bestehenden Eine Gefahr ist allerdings, dass nach Lockerung der gesundheitlichen Risiken und der wirtschaftlichen Ent- Einschränkungen die Neuinfektionszahlen wieder stei- wicklung zu finden. Das schließt gegebenenfalls auch gen. Eine rasche und vollständige Lockerung des Shut- eine flexible Reaktion auf sich ändernde Neuinfektions- downs wird es daher nicht geben. Aber auch darüber zahlen ein. Sollten sich Lockerungen als kontraproduk- hinaus dürfte das „Hochfahren“ der Wirtschaft mit tiv erweisen, muss das öffentliche Leben wieder ein- zahlreichen Herausforderungen verbunden sein. Hier- geschränkt und öffentliche Hilfen verlängert werden. zu zählt die rasche Wiederherstellung der Lieferketten. Je mehr sich die Unternehmen und Haushalte auf eine Die deutschen Exporteure dürften zudem die Auswir- evidenzbasierte Vorgehensweise und ggf. weitere Hilfen kungen des Virus bei wichtigen Handelspartnern zu spü- verlassen können, desto größer dürfte auch die Bereit- ren bekommen; von Bedeutung ist dabei unter anderem schaft sein, den für die Bekämpfung der Krise erforder- der Einbruch des amerikanischen Konsums. lichen langen Atem mitzubringen. Umbau zu mehr Nachhaltigkeit Bondmärkte zwischen den Fronten Solange ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff Spiegel der großen Unsicherheit über die weitere real- nicht verfügbar ist, scheint aus unserer Sicht daher ein wirtschaftliche Entwicklung sind die Finanzmärkte. Auf U-förmiger Verlauf das wahrscheinlichste Szenario. Nach den Anleihemärkten hat die Angst vor den gesundheit einem tiefen Einbruch des Wirtschaftsgeschehens im lichen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pande- ersten Halbjahr wird es zunächst eine Phase geben, in mie den Staatsanleihen im März ein heftiges Auf und der sich die wirtschaftliche Aktivität nur langsam belebt. Ab beschert. Die Reaktion folgte zunächst gewohnten Eine Normalisierung dürfte sich erst im Jahr 2021 einstel- Mustern: Flucht in sichere Anlagehäfen. Die Renditen len, wobei aus heutiger Sicht unklar ist, was Normalaus- fielen deutlich; zehnjährige Bundesanleihen notier- lastung der Wirtschaft in der Nachkrisenzeit bedeutet. ten zwischenzeitlich bei nie dagewesenen -0,86 %. Ihre amerikanischen Pendants sanken kurzzeitig auf bis zu 1 Vgl. Makro und Märkte kompakt: Corona: Angesteckt? Nr. 33. 0,34 %, ebenfalls ein historisches Tief. Zudem steigen die Makro und Märkte kompakt № 34
04 Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? Zinsaufschläge zahlreicher Länder des Euroraums ge- Negativzinsen beendet. Die EZB ist diesem Schritt An- genüber deutschen Bundesanleihen markant an. fang März zwar noch nicht gefolgt. Eine weitere Leit- Dann setzte jedoch eine Gegenbewegung ein, die die zinssenkung fand sich aber nicht unter den vielen Maß- Rendite der 10-jährigen Bundesanleihe Mitte März um nahmen, die zur Bekämpfung der Corona-Krise beschlos- über 60 Basispunkte (amerikanische Treasuries: 30 Ba- sen wurden. Sollte es also zu weiteren Zinsrückgängen sispunkte) nach oben schnellen ließ. Unternehmensan- kommen, dann wohl eher in den längeren Laufzeiten. leihen traf es ebenso, auch jene mit höherer Bonität. Of- Vorstellbar wäre eine solche Situation angesichts des fenbar waren die Verluste insbesondere auf den Aktien- ohnehin bereits sehr niedrigen Zinsniveaus aber wohl und Derivatemärkten (Stichwort: Margin Calls) so groß, nur dann, wenn die Wirtschaftskrise in eine echte De- dass Investoren mit Bondverkäufen dringend Liquidität flation münden würde. beschaffen mussten. Die Spreads gegenüber Ländern des Euroraums mit hoher Staatsverschuldung stiegen noch weiter. Erst die Ankündigung umfassender Hilfs- Starke Kursabschläge auf den Aktienmärkten maßnahmen seitens der EZB konnte dieser Dynamik Die Tumulte haben auch vor den Aktienmärkten nicht Einhalt gebieten und die Renditen der Staatsanleihen haltgemacht. Die Kurse brachen auf breiter Front ein: Vom auf ein niedrigeres – aber im Vergleich zum Vorkrisen- frisch erklommenen Hochpunkt Ende Februar 2020 (Dax: niveau weiterhin erhöhtes – Level drücken. 13.789 Punkte; S&P 500: 3.389 Punkte) ging es um ganze Angesichts des massiven Wirtschaftseinbruchs 5.347 Punkte bzw. 39 % auf zwischenzeitlich 8.442 Punk- stellt sich für viele Marktbeobachter insbesondere in te für den Dax, und um 1.149 Punkte bzw. 34 % auf zwi- Deutschland die Frage, ob das Zinsniveau noch weiter schenzeitlich 2.237 Punkte für den S&P 500, bergab. Noch fallen könnte. Hier muss zwischen kurz- und langfristi- nie hat sich ein Bärenmarkt in so kurzer Zeit manifestiert. gen Zinsen unterschieden werden. Während kurzfristige Im S&P 500 hat es, gemessen ab dem letzten Höchststand Zinsen nahezu ausschließlich von der Geldpolitik deter- vom 20. Februar, lediglich 14 Börsentage gedauert, bis der miniert werden, spielen in den längeren Laufzeiten auch Verlust 25 % betrug (s. Abbildung 2). Erwartungen hinsichtlich des Wirtschaftswachstums Zuletzt konnten sich die Aktienmärkte etwas erho- und der Risikolage eine Rolle. Was die Leitzinsen an- len. Allerdings dürfte dies vor allem an den umfangrei- geht, so scheint sich zunehmend die Erkenntnis durch- chen Hilfspaketen gelegen haben, mit denen die Folgen zusetzen, dass mit Negativzinsen eine Reihe von gra- der Krise zumindest gelindert werden. Ob damit die Tief- vierenden Nebenwirkungen einhergehen, allen voran punkte auf den Aktienmärkten schon erreicht sind, ist of- Belastungen für die Kreditvergabe der Geschäftsban- fen. In den kommenden Wochen und Monaten müssen ken. Wohl auch aus diesem Grund hat die schwedische die Finanzmärkte eine Vielzahl sehr schlechter Konjunk- Reichsbank schon vor der Corona-Krise das Experiment turnachrichten verdauen. Und auch die Gewinnmeldun- Der schnellste Bärenmarkt der Geschichte Abbildung 2 · Verlauf historischer Einbrüche des S&P 500 um 25 %, skaliert auf den 20.02.2020 Prozent 20.02.2020 26.08.1987 04.09.1929 0 31.05.1946 13.12.1961 05.09.2000 10.10.2007 12.01.1973 02.12.1968 -5 -10 -15 -20 -25 -30 -35 FEB ’20 JUL ’20 DEZ ’20 MAI ’21 Quelle: Bloomberg Makro und Märkte kompakt № 34
Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? 05 gen der Unternehmen dürften alles andere als positiv sein. „Normalfall“ zu finden. In einer zunehmend vernetzten Eine nachhaltige Wende zum Besseren ist wohl erst dann Welt und in Zeiten des Klimawandels ist dies eine der zu erwarten, wenn sehr deutliche Signale für eine dauer- Zukunftsfragen der Menschheit. hafte Überwindung der Pandemie vorliegen. Zweitens sind in der Krise die Vorteile des digitalen Wandels klar zu Tage getreten. Was noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen wäre, ist breiten Kreisen in Stabiles Finanzsystem Wirtschaft und Gesellschaft nun in kürzester Zeit ge- Als massiver realwirtschaftlicher Schock zieht die Coro- lungen: Viele Unternehmen haben ihren Betrieb ganz na-Krise unweigerlich erhebliche Konsequenzen für die oder teilweise auf dezentrales Arbeiten in digitaler Ver- Finanzindustrie nach sich. Diese reichen von der Neube- netzung umstellen können. Im Gesundheitssektor erlebt preisung vieler Finanztitel über veränderte Kreditwür- die Telemedizin einen Aufschwung. Über den eigenen digkeiten bis hin zu Anpassungen in Ersparnis und Ka- Hausstand hinaus nutzen immer mehr Menschen die pitalanlage der privaten Haushalte. Eine Finanzkrise ist Möglichkeiten der virtuellen Welt, um trotz Abstands- damit jedoch bisher nicht verbunden. gebot soziale Kontakte aufrechtzuhalten und zu pfle- Jetzt bewähren sich erfreulicherweise die Regulie- gen. In dieser Situation manifestieren sich aber auch rungs-Reformen des letzten Jahrzehnts, die zu einer sehr deutlich die noch bestehenden Hindernisse in der di- leistungsfähigen Finanzaufsicht geführt haben. Für die gitalen Transformation. Dazu gehören Schwächen in europäische Versicherungswirtschaft war dies die Ein- der Netzinfrastruktur ebenso wie gesetzliche Vorschrif- führung von Solvency II im Jahre 2016. Damit ist ge- ten, die der neuen digitalen Realität noch nicht Rech- währleistet, dass bei den Versicherern substanzielle Puf- nung tragen, z. B. Papier- und Unterschriftserfordernis- fer zur Abfederung von Verlusten sowie umfassende und se. Der Digitalisierungsschub durch die Krise sollte da- effektive Governance-Strukturen und Risikomanage- her zum Anlass genommen werden, die digitale Agenda mentsysteme vorhanden sind. von Bundesregierung und EU-Kommission beschleu- Das bestehende Regelwerk ermöglicht zudem für nigt voranzutreiben. Krisensituationen ein signifikantes Maß an aufsicht licher Flexibilität. Die Aufsichtsbehörden haben bereits verdeutlicht, dass sie diese Flexibilität ausschöpfen wer- Auch das Geschäft der Versicherer betroffen den, um die beaufsichtigten Unternehmen bei der Be- Die deutsche Versicherungswirtschaft ist direkt und in- wältigung der Krise zu unterstützen. direkt den Folgen der Pandemie ausgesetzt. Als bedeu- tender langfristiger Investor mit einem Anlagevolumen von rund 1,7 Billionen EUR sind die deutschen Versi- Risikoprävention stärken und Digitalisierung cherer von den aktuellen Entwicklungen an den Kapi- beschleunigen talmärkten betroffen, allerdings deutlich weniger stark Auch wenn die Implikationen der Krise zum jetzi- als oftmals befürchtet. Dies liegt zum einen am langfris- gen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind und voreilige tigen Geschäftsmodell der Versicherer. Da Verbindlich- Schlussfolgerungen vermieden werden sollten: Erste keiten oftmals erst weit in der Zukunft fällig werden, ist Lehren zeichnen sich ab, die perspektivisch wichtige der Druck gering, Vermögenswerte in der Krise zu un- Potenziale für eine Stärkung der deutschen Volkswirt- günstigen Konditionen veräußern zu müssen. Hinzu schaft und Gesellschaft aufzeigen. kommt, dass die Allokationsquoten in risikobehafteten An erster Stelle ist die große Bedeutung von gesell- Assetklassen gering sind. Mit gut 5 % ist z. B. die Akti- schaftlichem Risikomanagement und Risikoprävention enquote niedrig. Deutlich stärker schlägt die allgemeine zu nennen. Alle Akteure sind hier gefragt – Staat, priva- Zinsentwicklung zu Buche, denn mit der nun voraus- te Wirtschaft sowie Bürgerinnen und Bürger. Viele Prä- sichtlich noch länger währenden Niedrigzinsphase ge- ventionsmaßnahmen haben sich in der Krise bewährt, staltet sich die Neuanlage schwierig. Allerdings gilt hier z. B. die Pandemie-Notfallpläne von Behörden und pri- zu bedenken, dass die Investitionen der Versicherer in vaten Unternehmen. An anderer Stelle sind Lücken zu Staatsanleihen in den letzten Jahren zugunsten von An- Tage getreten, etwa in der Bevorratung von Schutzklei- leihen mit höheren Renditen abgenommen haben. Mit dung und Desinfektionsmitteln. Für die Zukunft wird dem Anstieg der Risikoprämien etwa für Unternehmens- es darauf ankommen, eine ausgewogenere Abwägung anleihen ergeben sich daher nun auch Investitionschan- zwischen der Prävention zwar wenig wahrscheinlicher, cen, zumindest solange, wie das Risiko für Zahlungsaus- aber in ihren Auswirkungen potenziell katastrophalen fälle begrenzt bleibt. Und schließlich haben die Versiche- Risiken und dem effizienten Einsatz von Mitteln für den rer bereits vor der aktuellen Krise auf das Niedrigzins- Makro und Märkte kompakt № 34
06 Coronakrise: Wo stehen wir? Was kommt? umfeld reagiert: So wurden in der Lebensversicherung wege mit persönlichem Kontakt immer noch einen neue Produkte mit flexiblen Garantien geschaffen, die hohen Stellenwert haben, ist mit einem schwächeren aufgrund der höheren Flexibilität in der Asset Alloka- Neugeschäft zu rechnen. Auch wird sich die wirtschaft- tion sehr viel besser geeignet sind für volatile Märkte liche Lage der privaten Haushalte im laufenden Jahr und niedrige Zinsen. merklich verschlechtern. Noch im vergangenen Jahr zählten die vergleichsweise hohen verfügbaren Einkom- men zu den Wachstumstreibern in den meisten Ver Geschäftsbetrieb läuft weiter sicherungsbereichen. In der Krise nimmt allerdings die Wie in vielen anderen Branchen auch haben die Versi- Verbreitung von Kurzarbeitergeld zu, Bonuszahlungen cherer ihren Geschäftsbetrieb in kürzester Zeit an die sowie Gewinnausschüttungen gleichzeitig ab. neuen Herausforderungen angepasst. Um zur Verlang- samung der Virus-Verbreitung beizutragen, arbeitet der Großteil der Mitarbeiter im Homeoffice. Mitarbeiter, die Stabilität im Bestandsgeschäft weiterhin vor Ort gebraucht werden, sind häufig in se- Im branchenübergreifenden Vergleich dürfte sich das parierte Teams eingeteilt, um das Risiko von Ansteckun- Versicherungsgeschäft trotz des zu erwarteten Rück- gen innerhalb der Belegschaft zu verringern. gangs im Neugeschäft in diesem Jahr aber gleichwohl Außendienst- und Maklerbüros sind für den Pu- recht stabil entwickeln. Dabei wirkt sich einerseits aus, blikumsverkehr zwar nicht überall geschlossen. Der dass in vielen Zweigen der Schaden- und Unfallversiche- für viele Kunden wichtige persönliche Kontakt zu rung ein großer Teil des Geschäfts zu Beginn des Jahres Versicherungsmaklern und -vermittlern wird nun aber gezeichnet wird – für 2020 also bevor der Corona-Vi- häufig über Telefon und digitale Kommunikationswege rus in Deutschland ein Thema wurde. Die konjunkturel- weitergeführt. Hier zeigen sich die Früchte der zuneh- len Auswirkungen der Corona-Pandemie werden daher menden Digitalisierung in der Branche: Sichere Netz- zum Teil erst im Jahr 2021 sichtbar werden. Das betrifft werke und erprobte Prozesse ermöglichen auch in die- zum Beispiel die umsatztarifierten Betriebshaftpflicht- sem herausforderndem Umfeld eine hohe Leistungsfä- versicherungen. Gleichzeitig stützt der Bestand an rund higkeit der deutschen Versicherungswirtschaft. 442 Millionen Versicherungsverträgen die Beitragsent- wicklung. In der Lebensversicherung sollten zudem die zahlreichen staatlichen Hilfen etwa für Selbstständige … deutlich schwächeres Neugeschäft erwartet einen spürbaren Anstieg der Stornoquoten verhindern. Allerdings wird sich das Neugeschäft in der Versiche- Für Kunden mit vorübergehenden Liquiditätsengpässen rungswirtschaft im laufenden Jahr voraussichtlich deut- bieten Versicherungsunternehmen darüber hinaus Mög- lich schwächer entwickeln als in den beiden Jahren zu- lichkeiten wie etwa die Anpassung der Zahlungsweise vor. Denn in der aktuellen Pandemie haben der Erhalt oder die Stundung von Beitragszahlungen. Vor dem Hin- der Produktionskapazitäten und der Gesundheitsschutz tergrund der volatilen Entwicklung an den Finanzmärk- die höchste Priorität. Viele Versicherungsbedarfe könn- ten dürfte die Lebensversicherung in Beziehung zu ande- ten damit im Bewusstsein der Bevölkerung vorüberge- ren Anlageformen von den privaten Anlegern in Zeiten hend in den Hintergrund rücken. Darüber hinaus be- der Krise vermehrt als „sicherer Hafen“ aufgefasst wer- schränken die gegenwärtig geltenden Kontaktverbote den. Insbesondere Lebensversicherungsprodukte mit die persönliche Kundenansprache. Insbesondere in der Garantieelementen könnten in den kommenden Jahren Lebensversicherung, in der die klassischen Vertriebs daher vielleicht sogar weiter an Attraktivität gewinnen. Impressum Herausgeber Verantwortlich Autoren Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Dr. Klaus Wiener, Dr. Klaus Wiener Wilhelmstraße 43/43 G, 10117 Berlin Mitglied der Geschäftsführung, Chefvolkswirt Dr. Max Hanisch Postfach 08 02 64, 10002 Berlin Tel. 030 2020-5800 Dr. Anja Theis Tel. 030 2020-5000, Fax 030 2020-6000 E-Mail: k.wiener@gdv.de Dr. Martin Altemeyer-Bartscher www.gdv.de, berlin@gdv.de Publikationsassistenz Jakob Hohenstein Kerstin Handrack Bildnachweis Redaktionsschluss GDV 15.04.2020 Alle Ausgaben auf GDV.DE Disclaimer Die Inhalte wurden mit der erforderlichen Sorgfalt erstellt. Gleichwohl besteht keine Gewährleistung auf Vollständigkeit, Richtigkeit, Aktualität oder Angemessenheit der darin enthaltenen Angaben oder Einschätzungen. Makro und Märkte kompakt № 34
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