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Russland – NATO – EU – Neutralität Univ. Prof. Dr. Heinz Gärtner Analysepapier für Forum Einiges Europa 1
Russland – NATO – EU - Neutralität Heinz Gärtner Putin ist unangefochten Im Russischen Parlament, der Staatsduma, hat die Regierungspartei Vereinigtes Russland mit fast 55 Prozent und 343 eine komfortable Mehrheit. Es ist zu erwarten, dass es bei den Wahlen zur Staatsduma am 19. September 2021 keine großen Verschiebungen geben wird. Putin selbst hat trotz des von dem Regierungskritiker Nawalny veröffentlichten Videos über dessen angeblichen Besitz eines riesigen Wohnkomplexes am Schwarzen Meer weiterhin hohe Umfragewerte. Seine Position ist ungefährdet. Die Russen haben gerade 2020 mit einer Mehrheit von fast 80 Prozent einer Verfassungsänderung zugestimmt, die ihm eine längere Amtsführung ermöglicht. NATO-Beitritt der Ukraine durch Intervention verhindern Die russische Intervention in der Ukraine und die Besetzung der Krim 2014 erfolgten aus außenpolitischen und nicht inneren Gründen, obwohl Putin davon vielleicht sogar unerwartet innenpolitischen Kollateralnutzen davontrug. Die Kehrseite war, dass sich in der Ukraine, in der man sich durchaus der wirtschaftlichen Vorteile der Beziehungen mit Russland bewusst war, ein antirussischer Nationalismus durchsetzte. Vielmehr noch, die Ukraine betrachtete sich vor 2014 als neutral. Die Mehrheit seiner Bevölkerung, die mehrheitlich gegen einen Beitritt zur NATO war, war nach russischen Intervention dafür. Das war tatsächlich ein Eigentor Putins, war es doch gerade seine Gegnerschaft zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die ihm zu diesem Abenteuer veranlasste. Die NATO hatte zwei Osterweiterungsrunden hinter sich. Die erste Runde von 1997 umfasste die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes Polen, Tschechien und Ungarn. In der zweiten Runde 2002 waren, neben Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, auch die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen dabei. Die Ukraine hat auch offen ihren Wunsch bekundet, der NATO beitreten zu wollen. Die NATO-Formel lautete, dass jeder Staat das Recht hätte, darüber selbst zu entscheiden, was ein Euphemismus war, weil die NATO vorerst selbst nicht daran dachte, einer Mitgliedschaft der Ukraine zuzustimmen. Putin hatte gedacht, dass die Staatengemeinschaft über die Besetzung der Krim hinwegsehen würde, wie in anderen ähnlichen Fällen in der Nachkriegszeit. Beispiele dafür sind die Besetzung Goas durch indische Truppen 1961, die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens 2
durch Israel oder die Nordzyperns durch die Türkei 1974. Allerdings hat sich Großbritannien den Landraub der Falkland Inseln durch Argentinien 1982 nicht gefallen lassen. Die Baltischen Staaten sind nicht die Ukraine Mit dem „feindlichen Bündnis“ NATO wollte Putin nicht an noch einer Grenze konfrontiert sein, stand es doch schon in den baltischen Staaten vor der Tür. Gorbatschow hatte 1990 noch den zugegeben vagen Versprechungen des Westens vertraut, dass die NATO nicht an die sowjetische Grenze heranrücken würde. Putin sah darin ein gebrochenes Versprechen. Im Gegenzug hielt er sich nicht mehr an das sogenannte Budapester Memorandum von 1994, das der Ukraine territoriale Integrität zusicherte, falls es die Nuklearwaffen an Russland ablieferte. Die NATO ist ein Bündnis mit nuklearen Kapazitäten und ihr Vertrag enthält eine Beistandsklausel, die alle Mitglieder verpflichten, einem Mitglied beizustehen, falls es Ziel eines Angriffes werden würde. Dieses Bündnis schützt auch Estland, Lettland und Litauen. Mit der Ukraine, die kein NATO-Mitglied war, hat sich Putin in deinen Dauerkonflikt mit der internationalen Staatengemeinschaft und einen regionalen Abnützungskrieg eingehandelt. Eine NATO-Mitgliedschaft der Baltischen Staaten kann er nicht mehr verhindern. Wollte er die NATO militärisch vertreiben, indem er dort einmarschiert, würde er die Macht des Bündnisses zu spüren bekommen. Die Rüstungsausgaben Russlands betragen ja gerade acht Prozent von denen der NATO-Staaten. Eine demütigende Niederlage wäre die Folge. Kriegsverlierer sind in den eigenen Staaten meist nicht mehr lange an der Macht geblieben. Warum sollte Putin ein derartiges Risiko eingehen – um vielleicht die Parlamentswahlen zu gewinnen, die ihm ohnehin sicher sind? Es kann natürlich sein, dass die NATO ihre eigen Beistandsverpflichtung nicht einhält, dann wäre die Furcht Putins vor dem Bündnis aber von vorneherein ungerechtfertigt gewesen. Über eine Aggression Russlands auf die Baltischen Staaten braucht sich die EU nicht Sorgen. Zurecht macht sie sich Sorgen über die innere Entwicklung der Ukraine. Die Reaktion der EU Vor 2014 hatten sich Russland und die EU sich auf einen unseligen Streit darüber eingelassen, ob die Ukraine ein Assoziationsabkommen mit der EU abschließen, oder der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten soll. Tatsächlich war die „entweder – oder“ Entscheidung unnotwendig, gibt es doch in der Welt viele überlappende Freihandelszonen. Um eine Westintegration mit NATO-Beitritt zu verhindern, begannen russisch unterstützte Milizen einen 3
Kleinkrieg im Osten der Ukraine. Von der EU und anderen Staaten wurde Russland geächtet und mit Sanktionen überhäuft. Russland hat zwar die Krim gewonnen, sich aber sonst in eine Sackgasse und einen Dauerkrieg manövriert. Die Reaktion der EU auf die Krise in der Ukraine nach 2014 war, eine Beratungsmission (EUAM) zu entsenden. Vor allem sollte die Reform der Sicherheitsbehörden und der Justiz unterstützt werden. Die EU hat erkannt, dass die inneren Instabilitäten vor allem wegen der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und des unzureichenden Gewaltmonopols gefördert werden. Allerdings werden die gutgemeinten Absichten der EU wegen des Widerstandes von Interessensgruppen, Oligarchen, organisierter Kriminalität und ethnischen Spannungen kaum umgesetzt. Das außenpolitische Dilemma ist aber mit der Beratungsmission auch nicht gelöst. Russland wird nicht zulassen, dass die Ukraine, so wie die Baltischen Staaten, der NATO beitritt. Es wird weiterhin die Milizen in der Ostukraine mit Waffen versorgen. Eine für Russland angenehme Nebenerscheinung ist, dass es indirekten Einfluss auf ukrainische Innenpolitik ausüben und die Bemühungen der EU zusätzlich stören kann. Permanente Teilung oder permanente Neutralität Eine Abspaltung der Ostukraine, käme, anders als die der Krim, Russland allerdings nicht gelegen, weil dann die Westukraine ungehindert der NATO beitreten könnte. Solange die Ukraine ihre NATO-Mitgliedschaftsambitionen aufrechterhält und die NATO die Tür dafür offen hält, solange wird Russland die Ostukraine in Kämpfe verwickeln. Eine weitere geopolitische Konsequenz wäre, dass je näher die Ukraine einer NATO-Mitgliedschaft rückt, desto stärker wird Russland Weißrussland – und nicht die Baltischen Staaten - an sich binden. Die EU konnte der Ukraine bisher auch keine außenpolitische Alternative anbieten. Es gäbe eine Möglichkeit, die das Gesicht aller beteiligten Akteure wahren könnte, bei der jedoch keiner das Maximum seiner Interessen durchsetzen kann. Diese Lösung ist nicht der NATO Beitritt, die die Baltischen Staaten wählten, sondern völkerrechtlich anerkannte Neutralität. Als Modell kann Österreichs Neutralität dienen. Die Besatzungstruppen, einschließlich der sowjetischen, verließen 1955 das Land und Österreich versprach, keinem Militärbündnis beizutreten. Österreich bekam seine Souveränität und territoriale Integrität zurück. Die Neutralität hinderte Österreich nicht, der Europäischen Union beizutreten. Im Gegensatz dazu blieb Ostdeutschland Teil des sowjetischen Blocks, während Westdeutschland der NATO beitrat. 4
Deutschland blieb für mehrere Jahrzehnte geteilt. Die Ukraine hat nun die Wahl, entweder den österreichischen oder den deutschen Weg zu gehen: permanente Neutralität oder permanente Teilung. Wenn die Ukraine der NATO beitritt, werden die russisch unterstützten Milizen im Osten bleiben. Eine völkerrechtlich garantierte Neutralität wäre für Russland Anreiz genug, den Milizen die Waffen zu entziehen. Russland würde allerdings den potentiell destabilisierenden Einfluss in der Ukraine verlieren. Die Ukraine würde die Souveränität und territoriale Integrität bekommen, aber auf den NATO-Beitritt verzichten. Der Krim müsste Autonomie nach dem Modell Südtirol oder dem der finnischen Aland Inseln mit schwedischer Bevölkerungsmehrheit zugestanden werden. Die Option eines EU-Beitritts der Ukraine müsste offen bleiben. Man kann einwenden, dass man Russland nicht trauen kann, Abmachungen einzuhalten, wie das beim Budapester Memorandum der Fall war. Erstens war das Budapester Memorandum kein völkerrechtlicher Vertrag sondern eine politische Absichtserklärung. Die Neutralität der Ukraine vor 2014 war selbsterklärt und nicht rechtlich abgesichert. Zweitens könnte man das Argument auf jeden völkerrechtlichen Vertrag anwenden und damit das Völkerrecht überhaupt verwerfen. Eine Basis von Vertrauen ist unerlässlich. Gerade das haben die Beteiligten nicht. Russland glaubt, dass die Ukraine letztlich doch der NATO beitreten würde. Die Ukraine glaubt, dass die Russen wieder einmarschieren würden. So wird der Status Quo des langegezogenen Konflikts festgeschrieben, völlig unabhängig von den russischen Wahlen. Univ. Prof. Dr. Heinz Gärtner ist Lektor an den Universitäten Wien und Krems. Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) in Wien sowie des Beirates Strategie und Sicherheit der Wissenschaftskommission des Österreichischen Bundesheeres. Heinz Gärtner war langjähriger wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u.a. an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Sein Werk „Modelle europäischer Sicherheit: Wie entscheidet Österreich?“ wurde mit dem »Bruno Kreisky Anerkennungspreis für das Politische Buch« ausgezeichnet. 5
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