NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz? - Johannes Varwick

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?
         Johannes Varwick

         NATO und EU: Ein »geklärt ungeklärtes« Verhältnis

         Die transatlantischen Beziehungen sind sicher mehr als das Verhältnis zwischen
         Nordatlantischer Vertragsorganisation (NATO) und Europäischer Union (EU), und es
         spricht vieles dafür, dass die Nordatlantische Allianz als zentraler transatlantischer Rah-
         men zu eng geworden ist.1 Dennoch stehen die Beziehungen zwischen den beiden
         wichtigsten Organisationen des politischen Westens aus guten Gründen im Zentrum
         der Analyse. Ohne die Rolle von Institutionen überbewerten zu wollen: mit den in-
         stitutionellen Arrangements und den inhaltlichen Beziehungen zwischen NATO und
         EU wird darüber mit entschieden, wie sich das Verhältnis zwischen Europa und den
         USA zukünftig entwickeln wird.2 Beide Organisationen haben in den vergangenen
         Jahren ein enges Kooperationsgeflecht entwickelt und seit 2001 finden regelmäßige
         Konsultationen auf verschiedenen Ebenen statt. Auf dem Gipfel vereinbarten die Mit-
         glieder zwei NATO-EU-Treffen auf Außenministerebene pro Jahr, ein Minimum von
         drei gemeinsamen Treffen auf Ebene des Nordatlantikrates und des Politischen und Si-
         cherheitspolitischen Komitees sowie zwei gemeinsame Treffen der beiden Militäraus-
         schüsse pro Halbjahr. Die NATO- und EU-Botschafter treffen sich zudem alle vier bis
         sechs Wochen, und auf Ebene der Sekretariate gibt es eine breite Palette an informel-
         len Kontakten. Im März 2003 wurden dauerhafte Vereinbarungen wirksam, mit denen
         die EU auf Mittel und Fähigkeiten der Allianz zurückgreifen kann, und seit Mai 2003
         gibt es zudem eine »NATO-EU Capability Group«. Das Verhältnis beider Organisationen
         zueinander scheint also auf den ersten Blick geklärt, eng und unproblematisch.

         Den Kommentatoren aber in der deutschen Presse zufolge verdächtigt Washington
         die EU, sich unter der Führung Frankreichs und Deutschlands sicherheitspolitisch
         selbstständig zu machen. Umgekehrt werde den USA unterstellt, die NATO zu einem
         Instrument umzuschmieden, mit dem die EU militärisch am Zügel der USA gehalten
         werden solle. Weil beides im Prinzip stimme, »liegen die Nerven blank«.3 Damit der
         Konflikt zwischen NATO und EU bzw. der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-

         1 So auch der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder im Frühjahr 2005 auf der
           Münchner Sicherheitskonferenz, 
           (abgerufen am 15.8.2005).
         2 Das Verhältnis zwischen beiden Organisationen hat auch in der Wissenschaft zunehmende
           Aufmerksamkeit gefunden; als jüngste Beispiele umfangreicher Studien siehe Johannes Varwick
           (Hrsg.), Die Beziehungen zwischen NATO und EU. Partnerschaft, Konkurrenz, Rivalität?, Opladen
           2005, sowie Frances G. Burwell u.a., Transatlantic Transformation: Building a NATO-EU Security
           Architecture, Washington, DC, 2006.
         3 Martin Winter, Von Weißen Elefanten und bitteren Pralinen. In der NATO steht die offene Schlacht
           zwischen Washington und Europas sicherheitspolitischen Autonomisten bevor, in: Frankfurter
           Rundschau, 2.9.2003.

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            gungspolitik (ESVP) auf offener Bühne ausbreche, fehle nur noch der richtige Anlass.4
            Die offizielle Sichtweise der beteiligten Akteure fällt gleichwohl anders aus. So werden
            in Abschlusskommuniqués des Nordatlantikrats regelmäßig die gemeinsamen strate-
            gischen Interessen zwischen NATO und EU betont,5 und auch in Erklärungen des Eu-
            ropäischen Rats heißt es unmissverständlich: »Die transatlantischen Beziehungen sind
            unersetzlich. Die EU bekennt sich weiterhin uneingeschränkt zu einer konstruktiven,
            ausgewogenen und zukunftsgerichteten Partnerschaft mit unseren transatlantischen
            Partnern«.6

            Allerdings gibt es auch von offizieller Seite Kritik an dem Stand der Beziehungen zwi-
            schen NATO und EU. So betrachtet der NATO-Generalsekretär im Frühjahr 2006 die
            Entwicklung der formellen Beziehungen beider Organisationen »mit großer Sorge«7
            und beklagt, dass es immer noch »zu viele« gebe, »die NATO und EU als Konkurrenz-
            unternehmen missverstehen und in einer Art Nullsummendenken einen Protektio-
            nismus zum Schutz der ESVP an den Tag legen«.8 Tatsächlich sind nach Aussagen von
            NATO-Mitarbeitern gegenüber dem Verfasser im März 2006 die NATO-EU-Beziehun-
            gen derzeit an einem »historischen Tiefpunkt angelangt«. Dies liegt einerseits an den
            permanenten türkischen Bedenken hinsichtlich einer Teilnahme von Zypern und
            Malta an NATO-EU Gesprächen (auf der die EU besteht), andererseits auch an französi-
            schen Vorstellungen hinsichtlich einer Priorität der EU in der Sicherheitspolitik. Auch
            der deutsche militärische Vertreter bei NATO und EU beklagt offen: »wir sind weit
            davon entfernt, fertige Lösungen für die Ausgestaltung der strategischen Partnerschaft
            zwischen NATO und EU zu haben, obwohl diese in Gipfelerklärungen immer wieder
            beschworen wird«.9

            Was gilt also? Versuchen die Partner auf beiden Seiten des Atlantiks eine Schadens-
            begrenzung angesichts einer zunehmend divergenten Politik? Oder wird ein Dissens
            herbeigeredet, der in der praktischen Politik so nicht existiert? Grund genug also, dem
            Verhältnis beider Organisationen analytisch auf den Grund zugehen. Dieser Beitrag
            fragt zunächst nach den Veränderungen im transatlantischen Sicherheitsgefüge, die
            sich aus der zunehmenden Europäisierung der Sicherheitspolitik ergeben (Abschnitt
            2), skizziert dann die Entwicklungen der Beziehungen zwischen NATO und EU (Ab-

            4 Christian Wernicke, Gestern Kampfanzug, heute Zwangsjacke, in: Süddeutsche Zeitung,
              18.8.2003.
            5 Vgl. statt vieler NATO Press Release 152/2003, Punkt 15.
            6 Erklärung des Europäischen Rates zu den Transatlantischen Beziehungen vom 13.12.2003, Punkt
              1.
            7 Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.2.2006, S. 2.
            8 Jaap de Hoop Scheffer, Perspektiven der Sicherheitspolitik im Zusammenspiel von EU und
              NATO. Rede des NATO-Generalsekretärs am 12.5.2005 in Berlin  (abgerufen am 1.2.2006).
            9 Klaus Olshausen, Kooperation oder Wettbewerb? Die strategische Partnerschaft von NATO und
              EU, in: Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.), Deutsche Sicherheitspolitik. Rückblick, Bilanz und Pers-
              pektiven, München 2005, S. 19–28, hier S. 25.

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         schnitt 3) und diskutiert darauf aufbauend Modelle und Konsequenzen für eine erneu-
         erte NATO-EU-Beziehung (Abschnitt 4).

         Europäisierung der Sicherheitspolitik als transatlantischer Streitpunkt
         Die transatlantischen Beziehungen befinden sich in einer Phase der grundlegenden
         Neuorientierung. Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts haben sich wichtige Parame-
         ter in den Beziehungen gewandelt, die nunmehr – anderthalb Jahrzehnte nach dem
         Ende dieses weltpolitischen Ordnungskonflikts – voll auf das Verhältnis zwischen
         Europa und den USA durchschlagen. Die transatlantischen Beziehungen sind komplex
         und erstrecken sich auf kulturelle, politische, ökonomische und sicherheitspolitische
         Aspekte. Sie sind zudem dadurch gekennzeichnet, dass beide Akteure für den jeweils
         anderen der wichtigste internationale Partner sind. Zwar sind Amerika und Europa
         zu Beginn des 21. Jahrhunderts enger denn je durch Interessen, Kultur, Wirtschaft
         sowie durch moderne Kommunikations- und Transportmittel verbunden, gleichzeitig
         nehmen aber die Reibungsflächen und damit auch die potenziellen Konflikte zu.
         Europa – sofern hier bereits von einem einheitlichen Akteur gesprochen werden
         kann – und die USA entwickeln trotz enger Zusammenarbeit und ebenso enger
         institutioneller Verbindungen oftmals konkurrierende Vorstellungen im Hinblick auf
         wichtige Zukunftsfragen der internationalen Politik.10 Vom ehemaligen stellvertreten-
         den Außenminister in der zweiten Clinton-Administration stammt die Aussage, dass
         die USA keine ESVP wünschten, die zunächst innerhalb der Allianz entstehe, dann aus
         ihr hinauswachse und schließlich außerhalb der NATO mit dieser in Konkurrenz ge-
         rate.11 Der US-Politikwissenschaftler Robert Kagan hatte bereits im Sommer 2002 in
         einem viel beachteten Essay die Wurzeln dieser Debatte freigelegt und argumentiert,
         dass es an der Zeit sei, mit der Illusion aufzuräumen, »Europäer« und »Amerikaner«
         lebten in ein und derselben Welt oder besäßen gar ein gemeinsames Weltbild. Er ar-
         gumentiert, dass in der »alles entscheidenden Frage der Macht, in der Frage nach der
         Wirkungskraft der Ethik, der Erwünschtheit von Macht, […] die amerikanischen und
         europäischen Ansichten auseinander [gehen]. Europa wendet sich von der Macht ab.
         Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen, Regelungen, transnationalen
         Verhandlungen, die der Verwirklichung von Kants ewigem Frieden gleichkommt.
         Dagegen bleiben die USA einer hobbes’schen Welt verhaftet, in der auf internationale
         Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wirkliche Sicherheit sowie die
         Förderung einer liberalen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer

         10 Siehe als guten aktuellen Überblick über die Probleme im transatlantischen Verhältnis statt vieler
            Werner Weidenfeld, Rivalität der Partner. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen – Die
            Chance eines Neubeginns, Gütersloh 2006.
         11 Vgl. Strobe Talbott, Das neue Europa und die neue NATO, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik
            (2) 1999, S. 52–57. Im Übrigen wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass bei einem amerika-
            nischen Rückzug aus Europa Frankreich zuerst aufgrund der dann einsetzenden Furcht vor einer
            deutschen Hegemonie Probleme hätte, vgl. Joseph S. Nye, The Paradox of American Power. Why
            the Worlds only Superpower can’t go it alone, Oxford 2002, S. 32.

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            Macht abhängen.«12 Die Differenzen zwischen den USA und Europa seien damit zu
            erklären, dass die Möglichkeiten der Machtprojektion unterschiedlich seien. Kagan
            schlussfolgert, dass die USA »vom Mars« und die Europäer »von der Venus« stamm-
            ten. Auch für Thomas Risse verbirgt sich hinter dem Streit um den Irak-Krieg eine
            dreifache Auseinandersetzung um »konstitutive Prinzipien und Werte der westlichen
            Sicherheitsgemeinschaft«.13 Dieser innerwestliche Weltordnungskonflikt habe drei
            Komponenten. Es gehe erstens um die Bedeutung multilateraler Institutionen und völ-
            kerrechtlicher Arrangements, zweitens um die Frage, welchen Stellenwert Demokratie
            und Menschenrechte haben und auf welche Weise sie durchgesetzt werden können
            und drittens darum, wie mit den neuartigen Sicherheitsbedrohungen umzugehen sei
            bzw. welche Rolle dabei der Einsatz militärischer Mittel spielen soll.

            Diese Unterschiede spiegeln sich auch in wichtigen Strategiedokumenten der EU und
            der USA wider. Zwar ist zwischen der jüngsten National Security Strategy der USA14
            vom März 2006 und der bislang einzigen Europäischen Sicherheitsstrategie15 vom
            Dezember 2003 hinsichtlich der grundlegenden Ziele, Wertvorstellungen und Bedro-
            hungswahrnehmungen ein hohes Maß an Gemeinsamkeit feststellbar, hinsichtlich der
            sicherheitspolitischen Prioritäten, der Umsetzung der Ziele bzw. der Wahl der Mittel
            gibt es aber erhebliche Unterschiede. Dies zeigt sich auch in den militärischen Pla-
            nungszielen von EU und USA.Während die USA jede Art von Konflikt mit überlegender
            Stärke ihrer Streitkräfte dominieren können sollen, begnügt sich die EU mit Militärein-
            sätzen im Spektrum der so genannten Petersberg-Aufgaben.16 Daraus resultiert auch
            eine andere finanzielle Prioritätensetzung, und die Wahl der Mittel ist unterschiedlich.
            Denn den jährlich (!) etwa 463 Milliarden Dollar Verteidigungsausgaben der USA ste-
            hen Ausgaben von etwa 186 Milliarden Dollar der 25 EU-Staaten gegenüber.17

            Dieser Befund kann auch das Verhältnis zwischen EU und NATO nicht unberührt
            lassen. Die oben beschriebene Debatte bildet die Hintergrundfolie für die transatlanti-
            schen Differenzen und ist somit von zentraler Bedeutung für die zukünftige Entwick-
            lung. Dabei geht der Streit weit über aktuelle Themen hinaus und berührt grundsätzli-

            12 Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York ,
               NY, 2003, S. 1.
            13 Vgl. Thomas Risse, Die neue Weltordnung: US-amerikanische Hypermacht – europäische Ohn-
               macht?, in: WeltTrends, Sommer 2003, S. 114 ff. Siehe auch die Debatte in der darauf folgenden
               Ausgabe (Herbst 2003) dieser Zeitschrift.
            14 Vgl. The National Security Strategy of the United States of America, Washington 2006.
            15 Vgl. Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sichereres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 2003;
               auch in: IP, Nr. 6/2004, S. 162–170. Siehe auch Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrags.
            16 Humanitäre Hilfe, friedenserhaltende Maßnahmen und kleinere Kampfeinsätze, darauf wird in
               Abschnitt 2.3 des vorliegenden Beitrags detaillierter eingegangen. Siehe zu dieser Argumentation
               Volker Heise/Peter Schmidt, NATO und EU: Auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft?,
               in: Thomas Jäger/Alexander Höse/Kai Oppermann (Hrsg.), Transatlantische Beziehungen. Sicher-
               heit, Wirtschaft, Öffentlichkeit, Wiesbaden 2005, S. 65–84.
            17 So die Berechnungen für 2004 bei Gustav Lindstrom, EU-US Burdensharing. Who does what?
               (Chaillot Paper 82), Paris 2005, S. 89.

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         che Strukturfragen der europäischen und der internationalen Politik: Bleiben die USA
         führende Ordnungsmacht in Europa und wie sieht die künftige Machtverteilung in
         der Sicherheitspolitik aus? Wie viel sicherheitspolitische Autonomie kann und soll sich
         die EU leisten? Sind NATO und EU tatsächlich komplementär angelegt oder entwickelt
         sich zunehmend ein Konkurrenzverhältnis, das eines Tages sogar in eine Konfrontati-
         on führen könnte?

         Die EU auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik?
         Ohne die dynamische Entwicklung der ESVP müsste man sich keine Gedanken über
         die Beziehungen zwischen NATO und EU machen, denn die jeweiligen Rollen in der
         Sicherheitspolitik wären noch immer klar zugeteilt. Zunächst ist allerdings zu fragen,
         ob die EU bereits als einheitlicher Akteur in der Sicherheitspolitik betrachtet werden
         kann. Die europäische Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft (EG),
         der Westeuropäischen Union (WEU) und heute der Europäischen Union ist seit ihren
         ersten Schritten eine Sicherheitsgemeinschaft im doppelten Sinne gewesen: Ihre Ziele
         waren »Sicherheit voreinander« durch Integration auf wirtschaftlichem und politi-
         schem Gebiet und »Sicherheit miteinander« vor äußeren Bedrohungen durch Koope-
         ration in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen.18 Sollte zunächst
         mit der im Jahre 1954 gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
         der Weg von der gemeinsamen Verteidigungspolitik über die Sicherheitspolitik hin zu
         einer Politischen Union mit gemeinsamer Außenpolitik gegangen werden, so hat sich
         im weiteren Integrationsverlauf eine andere Logik durchgesetzt.

         Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vollzogen ihre Sicherheits- und
         Verteidigungspolitik bis in die neunziger Jahre nur in sehr engen Grenzen im Rahmen
         der europäischen Organisationen, etwa im Schattenbündnis WEU oder in der Europä-
         ischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) der siebziger Jahre. Es bedurfte erneut ver-
         änderter weltpolitischer Konstellationen, bis sich die EU schließlich im Maastrichter
         Vertrag (1992) zur Gründung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
         entschloss. Über verschiedene Stufen gelang auf dem Gipfel von Helsinki im Jahre
         1999 die Etablierung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.19 Erst
         seit den Entscheidungen von Nizza im Dezember 2000 versteht sich die EU als Sicher-
         heitsgemeinschaft mit einer gemeinsamen (aber eben nicht einheitlichen!) Außen-,
         Sicherheits- und Verteidigungspolitik.20

         18 Siehe zu diesem Zusammenhang ausführlich Varwick, Sicherheit und Integration in Europa. Zur
            Renaissance der Westeuropäischen Union, Opladen 1998.
         19 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 10. und 11.12.1999 in Helsinki
            (gekürzt), in : Internationale Politik (IP), Nr. 2/2000, S. 80–104, hier S. 84 f. und S. 96–104.
         20 Vgl. die Anlage VI zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza vom
            7., 8. und 9.12.2000: Bericht über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: IP, Nr.
            5/2001, S. 62–98.

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            Die Problematik der »Sicherheit voreinander« kann mit der hohen Verflechtung inner-
            halb der EU als gelöst betrachtet werden. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Mitgliedstaat
            der EU erneut zu einer militärischen Bedrohung für einen anderen Mitgliedstaat wird.
            Krieg als Mittel der Politik ist also im Binnenverhältnis der EU de jure und de facto
            undenkbar geworden. Die EU kann aber nicht darauf beharren, diesen Zustand zu
            sichern, sondern muss auf ihre Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten sehen. Bei
            dem erreichten Integrationsstand innerhalb der EU ist es keine Frage mehr, ob, son-
            dern allenfalls wie sie sich als potenter internationaler Akteur versteht. Die EU und
            ihre Mitgliedstaaten haben im Grundsatz erkannt, dass die wachsende Diskrepanz
            zwischen ihrer bedeutenden Rolle als internationaler Akteur in wirtschafts-, handels-,
            finanz- und entwicklungspolitischen Fragen und ihrer vergleichsweise geringen Rolle
            in sicherheitspolitischen Fragen überwunden werden muss. Dazu muss die EU in
            Zukunft über Instrumente zur Bewältigung eines breiten Aufgabenspektrums der
            Konfliktprävention bis hin zum Krisenmanagement wirkungsvoll verfügen.

            Seit Ende 1998, nicht zuletzt unter dem Eindruck der militärischen Handlungsunfä-
            higkeit im Kosovo-Konflikt, haben die EU-Staaten ihre sicherheits- und verteidigungs-
            politischen Einigungsbemühungen erheblich intensiviert und Fortschritte gemacht,
            die noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen wären. Ein entscheidender
            Wendepunkt hierfür war zunächst der britische Meinungsumschwung in der Fra-
            ge einer eigenständigeren EU-Verteidigungspolitik. Mit dem britisch-französischen
            Gipfel von St. Malo im Dezember 1998 wurde diese Wende zu einer europäischen
            Initiative für die Stärkung der europäischen Sicherheitsanstrengungen ausgeweitet.21
            Auf dem Europäischen Ratstreffen von Köln im Juni 1999 wurde dann die ESVP als
            integraler Bestandteil der bereits im Maastrichter Vertrag beschlossenen GASP aus
            der Taufe gehoben. In der »Erklärung zur Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und
            Verteidigungspolitik«22 kündigten die EU-Staaten an, dass die EU ihre Rolle auf der
            internationalen Bühne künftig »uneingeschränkt« wahrnehmen will. Dazu sollen der
            Union die notwenigen Mittel und Fähigkeiten an die Hand gegeben werden, damit sie
            ihrer Verantwortung im Rahmen der ESVP gerecht werden kann. Zur Erfüllung der im
            Amsterdamer Vertrag enthaltenen Petersberg-Aufgaben soll die Union die Fähigkeit zu
            autonomem Handeln, gestützt auf militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die
            Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um auf internationale Krisensitu-
            ationen zu reagieren. Die Mitglieder verpflichten sich, die militärischen Fähigkeiten
            auszubauen, die industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu stärken sowie
            die Rüstungsplanung und -beschaffung zu harmonisieren.

            21 Vgl. Französisch-britisches Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 4. Dezember 1998 in
               St. Malo, in IP, Nr. 2–3/1999, S. 127 f.
            22 Anhang III zu den Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Köln (3./4.6.1999):
               Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und
               Verteidigungspolitik, in: IP, Nr. 10 / 1999, S. 133–137.

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         Mit Inkrafttreten des Vertrags von Nizza zum Februar 2003 verfügt die EU auch über
         einen institutionellen Unterbau zur Umsetzung der ESVP. Neben einem Politischen
         und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK), das die Tagungen des Europäischen Rats in
         GASP/ESVP-Fragen vorbereitet und die Beschlüsse umsetzt, sind dies unter anderem
         der EU-Militärausschuss (EUMC), der das PSK in militärischen Fragen berät sowie der
         EU-Militärstab (EUMS), der Operationen und Übungen plant.Auch wenn diese Struktu-
         ren in keiner Weise mit den etablierten NATO-Strukturen vergleichbar sind: In Brüssel
         ist es inzwischen selbstverständlich geworden, dass auch auf EU-Ebene militärischer
         Sachverstand in die Entscheidungsprozesse einbezogen wird.Wer noch in Erinnerung
         hat, wie peinlich genau bis in die 1990er Jahre darauf geachtet wurde, dass im EG/EU-
         Rahmen nicht über die militärischen Aspekte der Sicherheitspolitik debattiert werden
         sollte, der kann die Veränderung ermessen, die mit diesen Entwicklungen verbunden
         ist.23

         Die EU hat sich zudem weitgehende Ziele bei den militärischen und zivilen Fähig-
         keiten gesetzt. Auf dem Ratstreffen von Helsinki im Dezember 1999 konkretisierten
         die EU-Staaten diese Absicht dahingehend, dass ein bis zum Jahr 2003 zu erfüllendes
         militärisches Fähigkeitsziel definiert wurde. Auf den Gipfeln von Feira (Juni 2000)
         und Göteborg (Juni 2001) wurden diese Beschlüsse durch einen Maßnahmenkatalog
         im Bereich der nichtmilitärischen Aspekte der Krisenbewältigung, insbesondere in
         den Bereichen Polizei, Rechtsstaatlichkeit, Zivilverwaltung und Katastrophenschutz
         ergänzt und 2004 nochmals präzisiert. Das 1999 formulierte »Helsinki-Fähigkeitsziel«
         (Bereitstellung einer europäischen Eingreiftruppe in der Stärke von 60 000 Mann, die
         binnen 60 Tagen zur Verlegung bereit ist und ein Jahr lang im Einsatz bleiben kann)
         wurde zwar 2003 quantitativ erreicht, allerdings wurden qualitative Fähigkeitslücken
         sichtbar.

         Die Unionsstaaten einigten sich deshalb auf ein »European Headline Goal«. Bis 2010
         soll mit Hilfe eines Aktionsplans die militärische Handlungsfähigkeit verbessert
         werden. Dazu sollen auch neue Instrumente wie Rollenspezialisierung und Zusam-
         menlegung von Ressourcen entwickelt werden. Zwar sind immer wieder diskutierte,
         weitreichende Pläne wie etwa die Schaffung einer Europäischen Armee einstweilen
         nicht mehrheitsfähig. Mit Gründung der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA)
         sollen aber die rüstungstechnologische Basis in Europa verbessert und nationale Be-
         schaffungsprogramme zunehmend europäisiert werden. Zudem wurde 2004 mit dem
         Aufbau von bis zu 13 EU-Gefechtsverbänden zur Krisenreaktion (EU Battle Groups)
         begonnen, die 2007 mit einer Stärke von je 1500 Soldaten mit sehr schnellen Reakti-
         onszeiten im Rahmen der ESVP auch für anspruchsvolle Missionen einsatzbereit sein
         sollen. Die bisherige Bilanz der Verbesserungen der Kapazitäten sieht aber bescheiden

         23 Wichtige Dokumente zur Entwicklung der ESVP und den Beziehungen zur NATO finden sich in
            den vom EU-Institut für Sicherheitsstudien herausgebenden Chaillot Papers Nr. 47 (Mai 2001), 51
            (April 2001), 67 (Dezember 2003) und 75 (Februar 2005).

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            aus. Wie aus dem jüngsten »Improvement Chart«, das dem Rat inzwischen alle sechs
            Monate vorgelegt wird, ersichtlich ist, sind zwischen 2002 und 2005 die Fähigkeiten
            in den meisten Bereichen nicht verbessert worden.24

            Eine offene Frage ist, für welche Einsätze eine Europäische Eingreiftruppe eingesetzt
            werden soll. Anhaltspunkte bietet zunächst die bereits erwähnte Petersberg-Erklä-
            rung vom 19.6.1992.25 Die damaligen WEU-Mitgliedstaaten erklären sich darin bereit,
            militärische Einheiten des gesamten Spektrums ihrer konventionellen Streitkräfte zur
            Verfügung zu stellen. Insbesondere werden drei Aufgaben genannt: humanitäre Aufga-
            ben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der
            Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens. Mit
            dem Amsterdamer Vertrag sind die Petersberg-Aufgaben in den EU-Vertrag integriert
            worden. Der (gescheiterte) Verfassungsvertrag erweitert die Petersberg-Aufgaben um
            Abrüstungsmaßnahmen, militärische Beratung, Aufgaben der Konfliktverhütung und
            Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten (EVV Art. I-41 Abs. 1, III-309,
            Abs. 1). Weitere Anhaltspunkte liefert die erste gemeinsame europäische Sicherheits-
            strategie, die der Europäische Rat am 12. Dezember 2003 mit dem Titel »Ein sicheres
            Europa in einer besseren Welt« verabschiedet hat.26 Diese definiert erstmals eine EU-
            Sicht der im 21. Jahrhundert vorherrschenden Sicherheitsgefahren und möglichen
            Antworten darauf. Die Strategie identifiziert den internationalen Terrorismus, die Ver-
            breitung von Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikte, staatliche Instabilität und
            Staatsversagen sowie die organisierte Kriminalität als die fünf Hauptbedrohungen für
            die europäische Sicherheit und zeigt Grundsätze und Ansätze für Maßnahmen zu ihrer
            Bewältigung auf. So definiert sie strategische Ziele zur Abwehr der Bedrohungen, zur
            Stärkung der Sicherheit in der europäischen Nachbarschaft und für eine Weltordnung
            auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus. Sie plädiert für ein aktiveres
            außenpolitisches Handeln der EU mit verbesserten Fähigkeiten und mit größerer
            Kohärenz. Ferner propagiert sie die Stärkung internationaler Institutionen und des
            internationalen Rechts und betont das präventive Gesamtinstrumentarium der EU,
            wobei der Einsatz militärischer Gewalt als letztes Mittel der Konfliktprävention und
            Krisenbewältigung nicht ausgeschlossen wird.27

            In diesem Zusammenhang sind auch die im November 2004 beschlossenen EU Battle
            Groups zu sehen.28 Diese sollen ab 2007 innerhalb von fünf bis zehn Tagen in ein

            24 Rat der Europäischen Union 2005: Capabilities Improvement Chart I/2005,  (abgerufen am 6.10.2005).
            25 Text in: Europa-Archiv (EA), Nr. 14/1992, S. D 479–485.
            26 Siehe Anm. 15.
            27 Siehe dazu Svenja Sinjen/Johannes Varwick, NATO und EU im »Broader Middle East«: Möglich-
               keiten und Grenzen einer transatlantischen Strategie, in: Hans-Georg Ehrhart/Margret Johannsen
               (Hrsg.), Herausforderung Mittelost: Übernimmt sich der Westen?, Baden-Baden 2005, S. 95–114,
               hier S. 104–110.
            28 Rat der Europäischen Union 2004: Declaration on European Military Capabilities,  (abgerufen am 6.10.2005).

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         Krisengebiet verlegt werden können und dort selbstständig über einen Zeitraum von
         30 Tagen (bei Rotation bis zu 120 Tagen) einsatzfähig sein. In der »Declaration on Euro-
         pean Military Capabilities« heißt es, dass die Truppen in der Regel auf Basis eines Man-
         dates der Vereinten Nationen (UN) eingesetzt werden sollen und u.a. auch günstige
         Bedingungen für größere Friedenssicherungseinsätze der UN schaffen sollen. Konkre-
         te Einsatzszenarien werden allerdings nicht genannt. Einen anderen Weg skizziert ein
         Vorschlag des EU-Instituts für Sicherheitsstudien für ein »European Defence Paper«.29
         Das Papier untersucht die Bedingungen, Mittel und Möglichkeiten für die Anwendung
         der EU-Sicherheitsstrategie. Es wurde zwar von den EU-Staats- und Regierungschefs
         in Auftrag gegeben, aber aufgrund von Bedenken einiger EU-Staaten nicht als eine Art
         »Weißbuch« präsentiert. Kernaussage des Papiers ist, dass die von der EU aufgestellten
         Ziele im sicherheitspolitischen Bereich mit den vorhandenen militärischen Mitteln
         nicht zu erreichen sind. Es werden in einer Zeitperspektive von zehn bis 20 Jahren
         fünf denkbare Szenarien für mögliche Krisenreaktionseinsätze der EU aufgestellt:

         1. Operationen der Friedensunterstützung in großem Maßstab nach dem Vorbild
            der IFOR/SFOR in Bosnien-Herzegowina oder der KFOR im Kosovo. Dabei wird
            angenommen, dass die EU 30000 Soldaten, 40 Kampfflugzeuge, sechs Überwasser-
            kampfschiffe plus einige Überwachungsflugzeuge binnen 30 Tagen für bis zu drei
            Jahre und bis zu 2000 Kilometer Entfernung von Brüssel einsetzen könnte.
         2. Humanitäre Interventionen in hochintensiven Gefahrensituationen nach dem Vor-
            bild Ruanda (1993) und Ost-Timor (1999). Die EU könnte dafür 10000 Soldaten
            sowie 105 Flugzeuge und bewaffnete Hubschrauber, zehn Überwasserkampfschif-
            fe, vier Transport- bzw. Landungsschiffe, zehn Seeaufklärungsflugzeuge für ein Jahr
            bei sechsmonatiger Einsatzdauer vor Ablösung, einsatzbereit binnen 15 Tagen, in
            einer Distanz von 5000 Kilometer von Brüssel (bei einem Seehafen in bis zu 300
            Kilometer vom Einsatzraum) bereithalten.
         3. Regionalkriege zur Verteidigung europäischer strategischer Interessen, etwa durch
            Unterbrechung oder massive Verteuerung von Erdölversorgung, durch Störung des
            Güteraustausches und der Verkehrsverbindungen. Für einen größeren Regionalkon-
            flikt könnte die EU ein Expeditionskorps in einer Stärke von zehn Brigaden mit
            60000 Soldaten, 360 Kampfflugzeugen, zwei maritimen Kampfgruppen mit vier
            Flugzeugträgern, 16 amphibischen Schiffen, zwölf U-Booten, 40 Überwasserkampf-
            schiffen, acht Unterstützungsschiffen und 20 maritimen Überwachungsflugzeugen
            bereitstellen.
         4. Prävention von Angriffen mit Massenvernichtungswaffen durch Bereitstellung
            von 1500 operativen Spezialeinsatzkräften für verdeckte Operationen plus einer
            Brigade mit vier Bataillonen Spezialkräfte, unterstützt von 60 Kampfflugzeugen,
            40 Versorgungsflugzeugen sowie Hubschraubern, ergänzt von einem Flugzeugträ-
            ger, zehn Überwasserkampfschiffen, drei U-Booten und zwei Versorgungsschiffen,

         29 EU Institute for Security Studies (Hrsg.), European Defence: A Proposal for a White Paper, Paris
            2004, S. 67-98.

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

               einsatzbereit binnen 15 Tagen, in einer Entfernung von bis zu 5000 Kilometer von
               Brüssel.
            5. Heimatverteidigung, die aber in dem Papier nur marginal behandelt wird; eingegan-
               gen wird aber auf Aspekte wie Zivilschutz zur Schadensbegrenzung.

            Die fünf Szenarien zeigen nach Ansicht des Instituts für Sicherheitsstudien der EU
            die Diskrepanz zwischen den Bedrohungen, den Aufgaben, den zu erwartenden Ein-
            satzarten und den vorhandenen militärischen Mitteln der EU-Staaten. Daher wird der
            Entwicklung EU-spezifischer militärischer Kapazitäten sowie der Entwicklung einer
            eigenständigen politisch-militärischen Handlungsfähigkeit der EU breite Aufmerksam-
            keit gewidmet.30 Die ersten militärischen Einsätze der EU sind zwar weniger visionär,
            dafür aber politisch gewollt und einstweilen praktikabel.

            Die EU ist 52 Jahre nach dem Scheitern der EVG und sechs Jahre nach Gründung der
            ESVP auf dem Kölner Gipfeltreffen zu einem sicherheitspolitischen Akteur neuer Art
            herangereift. Sie verfügt über ein breites Spektrum an politischen, militärischen und
            zivilen Handlungsmöglichkeiten, mit dem sie potenziell enormen Einfluss in der inter-
            nationalen Politik ausüben könnte.Trotz aller Erfolge bleibt aber der ambivalente Cha-
            rakter der GASP/ ESVP zwischen Integration und nationaler Souveränitätswahrung er-
            halten. Auf die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP/ESVP
            konnten sich die EU-Staaten bisher ebenso wenig einigen wie auf ein gemeinsames
            »Leitbild« für dieses Politikfeld. Auch das vorläufige Scheitern des Europäischen Verfas-
            sungsvertrages mit den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühsom-
            mer 2005 hat gezeigt, dass derzeit in der europäischen Politik wohl nicht die Stunde
            für große Visionen gekommen ist. Die Tatsache, dass mit der im Verfassungsvertrag
            vorgesehenen Solidaritätsklausel, der Schaffung einer Verteidigungsagentur sowie den
            EU Battle Groups drei Elemente schon vor Inkrafttreten angegangen worden sind, be-
            legt aber, dass sich der Bereich ESVP unabhängig von diesen weitgehenden Entwürfen
            pragmatisch fortentwickelt.

            Auf dem Weg zu einer tragfähigen Beziehung
            Mit der Konkretisierung der ESVP stellt sich grundsätzlicher die Frage nach dem Ver-
            hältnis der Europäer zur NATO und damit letztlich die Frage nach der Rolle der USA
            in und für Europa. Nach der Erweiterung der NATO auf 26 Mitgliedstaaten zum April
            2004 und der Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedstaaten zum Mai 2004 ist eine weit-
            gehende Mitgliederkongruenz zwischen beiden Organisationen gegeben.31 Daraus

            30 Ein ausführliches Kapitel des White Paper (Anm. 24) befasst sich mit den Anforderungen für au-
               tonomes militärisches Handeln der EU und macht hier zahlreiche Vorschläge, die an dieser Stelle
               nicht diskutiert werden können.
            31 Z.Z. sind lediglich sechs Staaten (Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden und Zypern) Mit-
               glied in der EU, aber nicht in der NATO, während fünf Staaten (Island, Norwegen, Kanada, die USA

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         entsteht eine für die Kooperation zwischen NATO und EU eigentümliche Situation.
         Denn »einerseits kooperieren die Mitgliedstaaten der EU – soweit sie zugleich Allianz-
         mitglieder sind – in den gemeinsamen Gremien von EU und NATO gewissermaßen
         mit sich selbst. Andererseits treten sie sich – vermittelt über die Institutionen und
         Einrichtungen von NATO und EU – als getrennte Akteure gegenüber«.32 Dies bedeutet
         allerdings nicht, dass in den gemeinsamen Sitzungen Entscheidungen getroffen wür-
         den, vielmehr »sind beide Organisationen streng darauf bedacht, die eigene Entschei-
         dungsautonomie zu wahren«.33

         An den Entscheidungsprozessen Beteiligte stellen in Anspielung auf das Prinzip des
         »single set of forces« fest, dass in den vergangenen Jahren »ein weiteres ›set of struc-
         tures and institutions‹ geschaffen worden [ist], das knappe Ressourcen bindet. Manche
         Abläufe sind komplizierter geworden und bei entstehenden Redundanzen ist immer
         wieder ihr Mehrwert auf den Prüfstand zu stellen«.34

         Wie eine moderne Arbeitsteilung zwischen EU und NATO aussehen könnte, ist eine
         offene Frage. Die damalige Außenministerin der Clinton-Administration, Madeleine Al-
         bright, skizzierte 1998, unter welchen Voraussetzungen die USA eine eigenständigere
         EU-Sicherheitspolitik akzeptieren würden: Der Ausbau der ESVP dürfe erstens nicht
         zu einer sicherheitspolitischen Entkoppelung (decoupling) zwischen EU und USA
         führen, zweitens sei eine unnötige Duplizierung (duplication) der militärischen Kapa-
         zitäten und Strukturen zu vermeiden und drittens müsse eine Diskriminierung (dis-
         crimination) der nicht der EU angehörigen NATO-Staaten ausgeschlossen werden.35
         Diesen eher mahnend gemeinten »drei D’s« setzte der damalige NATO-Generalsekretär,
         Lord Robertson, seine »drei I’s« entgegen, an denen sich eine erfolgreiche Zusammen-
         arbeit zwischen EU und NATO orientieren solle. Die transatlantische Sicherheit sei
         unteilbar miteinander verbunden (indivisibility), diejenigen NATO-Staaten, die nicht
         der EU angehören, seien an den künftigen EU-Operationen angemessen zu beteiligen
         (inclusiveness), und zusätzliche militärische Fähigkeiten seien von den Europäern
         bereitzustellen (improvement). Wenn dies beachtet werde, habe die NATO »keinen
         Grund, eine ESVP zu fürchten. Sie hat vielmehr allen Grund, sie zu fördern«.36

              und die Türkei) NATO-Mitglieder sind, die nicht der EU angehören. Nach dem für 2007 geplanten
              EU-Beitritt der NATO-Mitglieder Rumänien und Bulgarien wird die Mitgliederkongruenz weiter
              zunehmen.
         32   Heise/Schmidt 2005 (Anm. 16), S. 66.
         33   Pol de Witte/Fritz Rademacher, Partnerschaft oder Rivalität? Ein Blick aus der Praxis, in: Varwick
              2005 (Anm. 2), S. 271–292, hier S. 275.
         34   Olshausen 2005 (Anm. 9), S. 25.
         35   Vgl. Madeleine K. Albright, The Right Balance will Secure NATO’s Future, in: Financial Times,
              7.12.1998.
         36   George Robertson, Die NATO und die EU: Partner oder Rivalen?, in: Werner Hoyer/Gerd F. Kal-
              drack (Hrsg.), Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Weg zu integrierten euro-
              päischen Streitkräften?, Baden-Baden 2002, S. 181–189, hier S. 189. In diesem Sinne jüngst auch
              Ronald Asmus, der argumentiert, dass die USA heute eine funktionierende EU mehr benötigen

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            Nach einer langen Phase der Unsicherheit, wie seitens der USA mit den europäischen
            Ambitionen im sicherheitspolitischen Bereich umzugehen sei, wurde im Jahr 2002 ein
            Verfahren entwickelt, mit dem das zukünftige Verhältnis zwischen NATO und EU prak-
            tisch gestaltet werden soll.37 Es stützt sich auf die so genannten »Berlin-plus-Vereinba-
            rungen« und wurde zuletzt in der gemeinsamen EU-NATO-Erklärung vom 16.12.2002
            festgeschrieben.38 Grundgedanke der Berliner Vereinbarung aus dem Jahr 1996 war
            seinerzeit die Schaffung von militärischen Strukturen der Europäer, die »separable but
            not separated« sein sollten. Eine eigene und permanente militärische EU-Führungs-
            struktur war demnach nicht geplant. Dieser Kompromiss sah folgende Punkte vor:

            – Die NATO identifiziert Mittel und Kapazitäten einschließlich von Hauptquartieren,
              die, eine fallweise Zustimmung des NATO-Rats vorausgesetzt, der damaligen WEU
              zur Verfügung gestellt werden könnten. Dabei sicherte sich die NATO das Recht
              einer Überwachung des Gebrauchs dieser Mittel und Kapazitäten zu und bestand
              auf Rückrufmöglichkeiten.
            – Daneben sollten innerhalb der NATO Kommandostrukturen ausgewiesen werden,
              die von der WEU verantwortete Operationen planen, vorbereiten und durchführen.
              Dazu sollte speziell ausgewiesenem NATO-Personal eine zweite WEU-Funktion
              zugewiesen werden. Besondere Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang
              das so genannte »Deputy-Proposal«, demzufolge der stellvertretende SACEUR – al-
              ternierend ein britischer oder deutscher General – mit einem zweiten WEU-Hut
              ausgestattet europäische Operationen führen könnte.
            – Wichtig war auch das Gebot, dass alle europäischen NATO-Partner an WEU-geführ-
              ten Operationen teilnehmen können.

            Auch das 1999 unterzeichnete »Framework Document on the Release, Monitoring,
            and Return or Recall of Assets and Capabilities« blieb in zentralen Fragen der Freigabe,
            Rückrufmöglichkeiten und Kontrollen vage. Frankreich beharrte weiter auf garan-
            tiertem Zugriff (guaranteed access), während in der NATO nur die Bereitschaft vor-
            handen war, einen gesicherten Rückgriff (assured access) zu gewähren. Offen bleibt
            somit, wann konkret eine solche Situation gegeben sein soll und wer die Definitions-
            macht darüber haben soll. Die »Berlin-plus-Vereinbarungen« aus dem Dezember 2002
            enthalten dann folgende Zusagen für EU-geführte Krisenmanagementeinsätze:

               würden als eine effektive NATO. Der Grund liege darin, dass eine strategische Partnerschaft zwi-
               schen einer funktionsfähigen EU und den USA in der Lage sei, die globale Agenda zu definieren,
               beide Partner alleine könnten dies nicht, Ronald Asmus, Rethinking EU: Why Washington Needs
               to Support European Integration, in: Survival, Nr. 3/2005, S. 93–102.
            37 Vgl. zum Folgenden Matthias Dembinski, Die Beziehungen zwischen NATO und EU von »Berlin«
               zu »Berlin plus«: Konzepte und Konfliktlinien, in: Varwick 2005 (Anm. 2), S. 61–80, hier S. 72–78
               und De Witte/Rademacher 2005 (Anm. 3), S. 272–282.
            38 Das Abkommen ist klassifiziert und lediglich hinsichtlich der allgemeinen Grundsätze veröffent-
               licht, siehe EU-NATO Declaration on ESDP, 
               (abgerufen am 1.3.2006); siehe dazu aus NATO-Sicht
NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         – gesicherter Zugriff auf Planungskapazitäten der NATO,
         – Verfügbarkeit von NATO-Ressourcen und Fähigkeiten,
         – Verfahren für die Freigabe, Überwachung, Rückgabe und Rücknahme von NATO-
           Mitteln und Fähigkeiten,
         – Konsultationsmechanismen zwischen NATO und EU bei der Nutzung von NATO-
           Ressourcen,
         – Einrichtung einer NATO-EU Capability Group.

         Allerdings schien und scheint es unterschiedliche Interpretationen auf beiden Seiten
         des Atlantiks über den Gehalt der Vereinbarung zu geben. Frankreich bezweifelte, ob
         im Falle einer EU-Operation tatsächlich der Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der
         NATO gewährt würde. Ebenso schwer wog die Befürchtung, dass sich hinter der For-
         derung nach Transparenz der Anspruch auf Mitentscheidung über europäische Ope-
         rationen verbarg. Des Weiteren verwies Paris auf die praktischen und konzeptionellen
         Probleme, die mit der Forderung nach dem Recht auf den ersten Zugriff (right of first
         refusal) durch die NATO aufgeworfen würde. Diesem Begehren nachgeben hieße, die
         Handlungsfähigkeit der EU vom Nordatlantikrat und damit von den USA abhängig
         zu machen.39 Bereits 1999 hatte die EU auf ihrem Gipfeltreffen in Helsinki erklärt,
         sie wolle sich in die Lage versetzen, in den Fällen autonome Beschlüsse zu fassen, in
         denen die NATO als Ganzes nicht beteiligt ist. Unstrittig ist, dass die EU nur dann aktiv
         wird, wenn die NATO als Ganzes nicht eingesetzt wird. Strittig ist, ob die EU die NATO
         um Erlaubnis fragen muss, wenn eine EU-Aktion beginnt und ob die NATO (also die
         USA) über eine Art Vetorecht verfügen. Offen bleibt somit, wann eine solche Situation
         gegeben ist und wer die Definitionsmacht darüber haben soll.

         Nach Beilegung türkischer Bedenken und dem Abschluss eines Sicherheitsabkom-
         mens zwischen NATO und EU im März 2003 konnte »Berlin-plus« zum 17.3.2003 in
         Kraft treten. Vorraussetzung bleibt in jedem Fall die Zustimmung des Nordatlantik-
         rats, in dem bekanntlich jeder Staat ein Vetorecht hat. Danach gilt die Garantie des
         Zugriffs auf NATO-Planungsstrukturen nur mit der Einschränkung, dass die NATO
         den DSACEUR und ihre Planungskapazitäten nicht für eigene parallele Operationen
         braucht. Der Rückgriff auf vorher identifizierte Mittel und Kapazitäten der NATO wür-
         de ohnehin nur fallweise freigegeben. Darüber hinaus behält sich die NATO vor, diese
         Mittel und Kapazitäten in einer laufenden Operation wieder zurückzufordern, wenn
         sie selbst eine militärische Operation unternimmt (siehe auch Abschnitt 4).

            shape_eu/se030822a.htm> (abgerufen am 1.3.2006) und aus EU-Sicht  (abgerufen am 1.3.2006).
            Aus völkerrechtlicher Sicht lässt sich argumentieren, das Abkommen »is nothing but a non-bind-
            ing agreement«, so jedenfalls Martin Reichard, Some Legal Issues Concerning the EU-NATO Berlin
            Plus Agreement, in: Nordic Journal of International Law, Nr. 1/2004, S. 37–67.
         39 Siehe dazu auch Franz-Josef Meiers, Die »NATO Response Force« und die »European Rapid Reac-
            tion Force«: Kooperationspartner oder Konkurrenten?, in: Varwick 2005 (Anm. 2), S. 119–138.

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            Vor dem Hintergrund dieses Kompromisses versucht Frankreich weiterhin, eigene EU-
            Planungs- und -Führungsfähigkeiten durchzusetzen. Brisant war dabei insbesondere
            die gemeinsame Erklärung von Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg zur
            ESVP Ende April 2003 in Tervuren, originär europäische Strukturen für eine gemein-
            same Planung- und Führungskapazität aufbauen zu wollen. In der Abschlusserklärung
            wird u.a. die Gründung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion
            (ESVU) vorgeschlagen, bei der einzelne EU-Staaten raschere und weiter reichende
            Fortschritte bei der Verstärkung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich ma-
            chen können sollen. Die vier Staaten kündigten insgesamt sieben Initiativen an, die
            allen interessierten Mitgliedstaaten offen stehen sollen. Neben der Schaffung einer
            europäischen schnellen Reaktionsfähigkeit, eines europäischen strategischen Luft-
            transportkommandos, einer europäischen ABC-Abwehreinheit, eines europäischen
            humanitären Soforthilfesystems und militärischer europäischer Ausbildungszentren
            wird auch eine zum Sommer 2004 im belgischen Tervuren arbeitsfähige europäische
            Einsatzplanungs- und Durchführungsstelle vorgeschlagen.40 Dies würde aber auf die
            Gründung eines von der NATO unabhängigen »EU-Generalstabs« hinauslaufen, die
            NATO-Kapazitäten duplizieren und die im Dezember 2002 unter großen politischen
            Anstrengungen geschlossene Vereinbarung zwischen NATO und EU unterlaufen.41

            Damit drohte nicht nur ein transatlantischer, sondern aufgrund der mangelnden Mehr-
            heitsfähigkeit eines solchen Projektes innerhalb der EU auch ein innereuropäischer
            Bruch.42 Großbritannien hatte im August 2003 eine Initiative gestartet, die durch-
            setzen wollte, dass keine Parallelstrukturen zur NATO aufgebaut werden, sondern
            vielmehr eine Art EU-Zelle im Allied Command Operations (ACO, vormals SHAPE)
            der Allianz installiert wird. Vorläufiges Ergebnis dieses Streits ist, dass Großbritannien
            die Notwendigkeit einer autonomen Planungs- und Führungsfähigkeit für die EU an-
            erkennt. Die EU soll also über die Fähigkeit verfügen, ohne Rückgriff auf Mittel und
            Fähigkeiten der NATO Operationen durchzuführen. Die mit den USA abgesprochene
            Kompromisslinie läuft darauf hinaus, dass Missionen im Spektrum der so genannten
            Petersberg-Aufgaben (humanitäre Hilfe, friedenserhaltende Maßnahmen und kleinere
            Kampfeinsätze) unter Rückgriff auf EU-Planungs- und Führungskapazitäten erfolgen,
            während sich größere und anspruchsvollere Operationen auf Strukturen und Fähig-

            40 Gemeinsame Erklärung Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs und Belgiens zur Europäischen
               Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Brüssel, 29.4.2003, Punkt 6 und 7.
            41 Gleichwohl signalisierte etwa der damalige EU-Kommissionspräsident Sympathie für den Vorstoß
               der vier Staaten. Ihm gefalle das, so Romano Prodi. »Die NATO war ein Riese, umgeben von vielen
               Zwergen. Jetzt brauchen wir zwei Riesen, die zusammenarbeiten, den europäischen und der ame-
               rikanischen«, Interview mit Romano Prodi in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom
               23.3.2003, S. 9.
            42 So reagierte der amerikanische NATO-Botschafter mit dem Ruf nach einer NATO-Sondersitzung,
               als Großbritannien im September 2003 zeitweise signalisierte, dem deutsch-französisch-luxem-
               burgisch-belgischen Vorhaben der Einrichtung embryonaler europäischer Planungs- und Füh-
               rungsstrukturen zuzustimmen.Tervuren, so Burns, stelle die »ernsteste Bedrohung für die Zukunft
               der NATO dar«, vgl. Nicholas Burns, zitiert in der Süddeutschen Zeitung vom 30.5.2003.

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NATO und EU: Partnerschaft oder Konkurrenz?

         keiten der Allianz abstützen.43 In den Fällen, in denen die EU dabei auf NATO-Mittel
         und -Kapazitäten zurückgreift, bleibt das »Berlin-plus«-Arrangement gültig. Über das
         Bekannte hinaus wurde zum einen festgelegt, dass die Kooperation zwischen NATO
         und EU durch die Einrichtung einer kleinen Zelle der EU bei SHAPE verbessert wer-
         den soll. Zum anderen soll in den Fällen, in denen die EU eine autonome Operation
         beschließt, eine beim EU-Militärstab neu einzurichtende »civilian/military cell« von ca.
         30 Offizieren aktiviert werden können. Allerdings macht das Papier diese Möglichkeit
         von sehr restriktiven Bedingungen abhängig. So bleibt der Rückgriff auf ein nationales
         Hauptquartier die vorrangige Option. Nur wenn es der EU-Militärausschuss empfiehlt,
         eine zivil-militärische Operation geplant ist und ein nationales Hauptquartier nicht zur
         Verfügung steht, soll die Zelle beim Militärausschuss aktiv werden.44 Dies gibt etwa
         den Briten eine starke Vetomacht gegen den Einsatz der Zelle.

         Es zeichnet sich also eine Art Arbeitsteilung zwischen EU und NATO ab: Die Allianz
         wäre für robuste Kampfeinsätze zuständig, bei denen die Beteiligung der USA erfor-
         derlich ist, während die EU vorwiegend Friedenssicherungseinsätze übernehmen
         würde.45 Eine Arbeitsteilung, nach der die USA für die militärische Initiierung von
         Regimewechseln und die anschließende Demokratieförderung zuständig sind und
         die Europäer dies öffentlich kritisieren, sich schlussendlich dann aber doch im Rah-
         men von NATO und EU an den folgenden Stabilisierungsmissionen beteiligen, kann
         gleichwohl kein Modell sein, das der Definition einer gemeinsamen transatlantischen
         Strategie förderlich ist. Vielmehr bedarf es einer genau abgestimmten Koordination
         der Aktivitäten von NATO und EU in allen Phasen.

         Zum ersten Mal kamen die dauerhaften Arrangements bei der Operation Concordia
         zum Tragen, mit der die EU im März 2003 die NATO-Operation Allied Harmony in

         43 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), 12.12.2003, S. 23. Vgl. auch
            die Europäische Sicherheitsstrategie vom 12. Dezember 2003, verabschiedet auf dem Treffen
            der Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rates in Brüssel: Ein sicheres Europa in einer
            besseren Welt, in: IP, Nr. 6/2004, S. 162–170. Das britisch-deutsch-französische Dokument unter
            dem Titel »European Defence: NATO/EU Consultation, Planning and Operations« ist abgedruckt
            in Antonio Missiroli, From Copenhagen to Brussels. European defence: Core documents (Chaillot
            Papers 67), Paris 2003, S. 283–284.
         44 Vgl. Matthias Dembinski, Die Beziehungen zwischen NATO und EU von »Berlin« zu »Berlin plus«:
            Konzepte und Konfliktlinien, in: Varwick 2005 (Anm. 2), S. 61–80, hier S. 72–78.
         45 Siehe dazu auch Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags. In diesem Sinne auch die französische Ver-
            teidigungsministerin, die im Februar 2006 auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte: »The
            key word is complementarity in our actions. In terms of defense, we must make the specificities
            of NATO operations and EU operations clearer. Today, NATO is better equipped to handle heavy
            and long-lasting operations, when the United States are involved. ESDP is better adapted to ‘light-
            ning’ operations and civil-military actions. One should not think in terms of competition between
            organizations; one should rather provide the necessary flexibility in the procedures in order to
            allow the optimal use of capabilities in all circumstances«,  (abgerufen
            am 15.2.2006).

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Deutschland 50 Jahre in der NATO

            Mazedonien übernahm. Dabei ist der europäische Force Commander in Skopje »co-lo-
            cated« mit dem Senior Military Representative der NATO, den die Allianz weiterhin in
            Mazedonien stationiert hat, um das Land auf dem Weg zum eventuellen NATO-Beitritt
            zu beraten. Der DSACEUR fungierte als operation commander.Auch bei der Operation
            Althea, die die NATO-Mission SFOR in Bosnien-Herzegowina im Dezember 2004 ab-
            löste, wird nach dem »Berlin-plus-Verfahren« gearbeitet. Inzwischen (Frühjahr 2006)
            hat die ESVP vier Einsätze abgeschlossen (Concordia,Artemis, Proxima, Eujust Themis)
            und zehn Operationen durchgeführt (u.a. Althea, EUPM, EUPOL Kinshasa, Eujust Lex,
            EUSEC RD Congo und AMIS II Darfur), die noch andauern. Dabei reichte das Spektrum
            von kleineren Einsätzen zur Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in Georgien (Eujust
            Themis) bis hin zu mittleren Militäreinsätzen wie der Übernahme der zuvor von der
            NATO geführten SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina (Althea). Bemerkenswert ist
            dabei nicht nur die geographische Reichweite der Missionen (u.a. Mazedonien, Kongo,
            Georgien, Bosnien-Herzegowina), sondern auch die Tatsache, dass all diese Einsätze
            bisher als erfolgreich zu bezeichnen sind.46

            Gleichwohl ist das Berlin-plus-Verfahren bereits in mehreren Fällen missachtet wor-
            den. So hatte die EU im Dezember 2002 ohne Konsultationen mit der NATO ange-
            kündigt, die SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina übernehmen zu wollen, und auch
            im Falle der Kongo-Einsätze der EU im Juni 2003 und im Frühjahr 2006 gab es keine
            Konsultationen mit der NATO. Zu offener – wenngleich vergleichsweise harmloser
            – Konkurrenz zwischen NATO und EU kam es erstmals bei dem Darfur-Einsatz im
            Sommer 2005. Die USA drängten darauf, die Aktion unter NATO-Flagge durchzuführen,
            während insbesondere Frankreich und Deutschland auf einer EU-Mission bestanden.
            Im Ergebnis wurden beide Organisationen aktiv, amerikanische Transporthilfeeinhei-
            ten waren der NATO und französische und deutsche Soldaten der EU unterstellt (auf
            EU-Seite »EU-Unterstützungsaktion AMIS II«, auf NATO-Seite »NATO’s Assistance to the
            African Union for Darfur«). Ein solcher »Schönheitswettbewerb«47 zwischen NATO
            und EU ist wenig sinnvoll und eröffnet eine ungünstige Perspektive.

            4. Konsequenzen und Modelle für die NATO-EU-Beziehungen
            Bei den wichtigen Akteuren der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen bestehen
            ganz offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des zukünftigen
            Verhältnisses von NATO und EU. Großbritannien bevorzugt traditionell eine enge

            46 Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass es keine Probleme gegeben hat. Zudem war die Natur
               der Einsätze bisher vergleichsweise unproblematisch – eine echte Bewährungsprobe steht mithin
               noch aus. Eine aktuelle Liste der EU-Einsätze findet sich unter  (abgerufen am 1.3.2006).
            47 Martin Wanninger, Allianzen im Schönheitswettbewerb, in: Neue Passauer Presse, 16.7.2005.
               Siehe auch die kritischen Ausführungen von Sinjen/Varwick 2005 (Anm. 22) zu der Konkurrenz
               der institutionalisierten Mittelmeer-Dialoge von NATO und Europäischer Union.

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