Sicherheitspolitische Alternativen zur NATO
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Sicherheitspolitische Alternativen zur NATO www.linksfraktion.de Die internationalen Überlegungen zur Neubelebung der OSZE, der russische Vorschlag eines Europäischen Sicherheitsvertrages, eine kooperative Sicherheitsarchitektur – Schritte zur Auflösung der NATO
Inhaltsverzeichnis Vorwort 3 4. Der KSE-Vertrag 15 1. Vom Kriegsende zur NATO-Gründung 5 4.1. Der KSE-Vertrag von 1990 15 1.1. Die UN-Charta – Konsequenz aus den 4.2. Die Anpassung von 1999 15 Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges 5 4.3. Die russische Vertragskündigung 15 1.2. Kapitel VIII der UN-Charta – Die Idee der Regionalisierung der UN 6 5. NATO kontra OSZE 17 1.3. 1947/48: Der Beginn des Kalten Krieges 6 5.1. Eindämmung Russlands statt kollektive europäische Sicherheit 17 2. Die Gründung der NATO 7 5.2. Präzedenzfall Kosovo 19 2.1. Strategie-Entwicklung der NATO 7 5.3. Russische Reaktionen: 2.2. Flexible Response 7 Zwischen konstruktiven Vorschlägen und Konfrontation 21 2.3. Sowjetische Reaktion auf die NATO-Gründung 8 6. OSZE in der Krise 23 2.4. NATO und KSZE – Entspannung 6.1. OSZE scheitert im Georgien-Krieg 24 und kollektive Sicherheit 9 7. Russischer Vorschlag: 2.4.1. Die Vorgeschichte der KSZE 9 Europäischer Sicherheitsvertrag 25 2.4.2. Der Vertragsinhalt der 8. OSZE statt NATO 27 Schlussakte von Helsinki 10 8.1. Möglichkeiten für eine friedliche 2.4.3. Victory is possible? – Koexistenz zwischen NATO und OSZE? 28 Die NATO zu Beginn der 1980er Jahre 11 8.2. Möglichkeiten für eine friedliche 3. Hoffnung nach dem Kalten Krieg 12 Koexistenz zwischen EU und OSZE 28 3.1. Die OSZE und die Charta von Paris 12 3.2. Das Problem des Rechtsstatus der OSZE 13 3.3. Die Agenda für den Frieden 13 1
Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22 751170, Fax: 030/22 75 6128 E-Mail: fraktion@linksfraktion.de V.i.S.d.P.: Ulrich Maurer, MdB Parlamentarischer Geschäftsführer Mehr Informationen zu unseren parlamentarischen Initiativen finden Sie unter: www.linksfraktion.de 2
Vorwort Die NATO begeht am 3./4. April 2009 den 60. Jah- Es ist an der Zeit, eine neue friedens- und sicherheits- restag ihrer Gründung. 60 Jahre NATO sind jedoch für politische Alternative zu entwickeln. Diese können nur uns kein Grund zum Feiern. Die NATO steht für die jenseits neuer militärischer Optionen in Europa und Ost-West-Konfrontation, die nukleare Erstschlagsop- im transatlantischen Raum gestaltet werden. tion, die nukleare Abschreckung, den atomaren und konventionellen Rüstungswettlauf, für Stellvertreter- Unser Papier mit dem Titel „Sicherheitspolitische kriege, für Imperialismus, für US-amerikanische Domi- Alternativen zur NATO“, soll einen Beitrag zur längst nanz in und über Europa, für die Rückkehr des Krieges überfälligen Diskussion leisten. Das Papier ist chrono- als Mittel der Politik, wie der Angriffskrieg gegen die logisch aufgebaut, um das Bewusstsein für die Entste- Bundesrepublik Jugoslawien vor zehn Jahren und der hungsgeschichte der NATO und ihre Rolle im Kalten seit Jahren währende sogenannte „Krieg gegen Terror“ Krieg und in den 20 Jahren danach zu schärfen. Nur in Afghanistan dokumentieren. so ist zu verstehen, dass DIE LINKE. feststellt, dass 60 Jahre NATO 60 Jahre zu viel sind. Abschließend Die NATO braucht(e) nach dem Ende des Kalten Krie- wird die OSZE als eine sicherheits- und friedenspoliti- ges zu ihrem Selbstverständnis und somit zur Legiti- sche Optionen jenseits der NATO diskutiert. mation ihrer fortgesetzten Existenz die geographische Ausdehnung (NATO-Osterweiterung) sowie die Hand- lungskompetenz, weltweit militärisch zu intervenieren, wie die Luft zum Leben. Vor zehn Jahren entschied Monika Knoche die NATO auf dem 50. jährigen Jahrestag und noch Stellvertretende Fraktionsvorsitzende und während des Krieges gegen Jugoslawien auch formal Leiterin des Arbeitskreises Internationale Politik ein global agierendes Interventions- und Kriegsbünd- der Fraktion DIE LINKE. nis zu sein. Heute ist sie in Afghanistan im Wesentli- chen verantwortlich für das nicht Zustandekommen des Friedens und der Sicherheit. Die internationale Rechtsordnung jenseits ihres „Rechtsempfindens“ Wolfgang Gehrcke lehnt sie faktisch ab. Die NATO stellt seit dem Ende Obmann der Fraktion DIE LINKE. der Ost-West-Konfrontation die größte Sicherheitsbe- im Auswärtigen Ausschuss drohung für die Welt dar. Die NATO bindet nicht nur finanzielle, personelle und ideelle Kräfte, die zur Be- wältigung der wirklichen Risiken, wie Klima, Energie, Armut etc. erforderlich sind. Sie trägt vielmehr mit Paul Schäfer ihrem militärisch untermauertem Hegemonialstreben Verteidigungspolitischer Sprecher und Obmann zur Verschärfung dieser Risiken bei. der Fraktion DIE LINKE im Verteidigugnsausschuss Berlin, den 19. März 2009 3
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1. Vom Kriegsende zur NATO-Gründung 1.1. Die UN-Charta – Konsequenz aus lektiver Sicherheit geschaffen. Kern dieses kollektiven den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges Sicherheitssystems ist das allgemeine Gewaltverbot: Als unmittelbare Konsequenz aus den Erfahrungen „Alle Staaten unterlassen in ihren internationalen des Zweiten Weltkrieges wurden die Vereinten Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrt- Nationen (UN) gegründet. Ihre Charta wurde am heit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates 26. Juni 1945 durch die 50 Gründungsmitglieder in gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten San Francisco unterzeichnet. Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“.3 In der Präambel heißt es: Trotz des allgemeinen Gewaltverbots schließt die „WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST Charta die Gewaltanwendung nicht völlig aus. Sie ist ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Gei- neben dem individuellen Selbstverteidigungsrecht ßel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren jedes Landes auf den Sicherheitsrat konzentriert: Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit Kollektive Maßnahmen gegen Friedensstörer unter gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte Beachtung des Kapitels VII, wie wirtschaftliche, kom- des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen munikative und sonstige nichtmilitärische Sanktionen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann bis erforderlichenfalls hin zur Gewaltanwendung. Der und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder Sicherheitsrat wird dadurch zum Träger des „Gewalt- klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, monopols“. unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen Allerdings lässt Artikel 51 das individuelle und kollek- des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozia- tive Selbstverteidigungsrecht der Staaten bestehen: len Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, UND FÜR DIESE ZWECKE „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffne- Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frie- ten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen den miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, keineswegs das naturgegebene Recht zur individu- um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit ellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnah- noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, men getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in und internationale Einrichtungen in Anspruch zu neh- Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind men, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren aller Völker zu fördern - HABEN BESCHLOSSEN, IN in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.“1 treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit Als eine der Hauptaufgaben sahen und sehen die Ver- für erforderlich hält.“4 einten Nationen die Friedenssicherung. Ihre Bedeu- tung wird deutlich hervorgehoben, indem bereits im Unter kollektiver Sicherheit verstanden die Vereinten ersten Artikel der UN-Charta das Ziel formuliert wird, Nationen bei ihrer Gründung dennoch ein universales „... den Weltfrieden und die internationale Sicherheit Sicherheitssystem, das nach innen Wirksamkeit ent- zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektiv- faltet und nicht gegen einen äußeren Feind gerichtet maßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens ist. Ein solches System sollte die allgemeine und um- zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen fassende Abrüstung unter wirksamer internationaler und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und Kontrolle ermöglichen. Diesem System sollte auch die internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu Bildung regionaler Einrichtungen dienen. einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“2 Dabei haben die Vereinten Nationen durch die freiwil- lige Einbindung ihrer Mitgliedstaaten ein System kol- 1 UN-Charta: englische Originalfassung:http://www.un.org/abou- tun/charter/, deutsche Übersetzung: http://www.unric.org/index. php?option=com_content&task=view&lang=de&id=108&Itemid=196 3 UN-Charta, Art. 2, Ziff. 4. 2 UN-Charta, Art. 1, Ziff. 1. 4 UN-Charta, Art. 51. 5
1.2. Kapitel VIII der UN-Charta – Nach Roosevelts Tod am 12. April 1945 zerbrach die Die Idee der Regionalisierung der UN sogenannte Anti-Hitler-Koalition. Unter seinem Nach- folger Harry S. Truman war es das Ziel der Westmäch- Die Vereinten Nationen sahen zur besseren Regelung te, die „kommunistische Ausbreitung“ in Europa nach von Konflikten auch die Bildung regionaler Einrich- dem Sieg über Nazideutschland zu verhindern. tungen vor. Ausdrücklich heißt es in Kapitel VIII der UN-Charta: Bereits am 5. März 1946 beschwor der unmittelbar nach Kriegsende abgewählte britische Premiermi- „Regionale Abmachungen nister Winston S. Churchill in seiner berühmt gewor- Art. 52 denen Ansprache in Fulton (Missouri) eine „kommu- Regionale Abmachungen zur Wahrung des Friedens nistische Gefahr“ herauf und prägte den Begriff des „Eisernen Vorhanges“. „Niemand weiß“, so Churchill (1) Diese Charta schließt das Bestehen regionaler in dieser Rede, „was Sowjetrussland und die kommu- Abmachungen oder Einrichtungen zur Behandlung nistische internationale Organisation in der nächs- derjenigen die Wahrung des Weltfriedens und der ten Zukunft zu tun gedenken oder was für Grenzen internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenhei- ihren expansionistischen und Bekehrungstendenzen ten nicht aus, bei denen Maßnahmen regionaler Art gesetzt sind, wenn ihnen überhaupt Grenzen gesetzt angebracht sind; Voraussetzung hierfür ist, daß diese sind. (...) Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Abmachungen oder Einrichtungen und ihr Wirken mit Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle vereinbar sind. Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuro- pas, Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, (2) Mitglieder der Vereinten Nationen, die solche Ab- Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen machungen treffen oder solche Einrichtungen schaf- in der Sowjetsphäre, und alle sind sie in dieser oder fen, werden sich nach besten Kräften bemühen, durch jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluss Inanspruchnahme dieser Abmachungen oder Einrich- ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem tungen örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizu- Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen.“5 legen, bevor sie den Sicherheitsrat damit befassen.“ Dieser ersten Brandrede des aufziehenden Kalten Mit der Gründung der Vereinten Nationen hatten sich Krieges folgte ein Jahr später, am 12. März 1947, die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges also auf ein weiterer wichtiger Schritt. US-Präsident Harry den Aufbau eines umfassenden Systems kollektiver S. Truman verkündete in einer Botschaft an den Sicherheit für die Nachkriegszeit geeinigt, das den Kongress die so genannte Truman-Doktrin, die der Weltfrieden nach einer gewissen Übergangsphase der Sowjetunion eine expansive Politik unterstellte. Er multilateralen Kooperation hätte sichern sollen. In ei- beschwor die Bedrohung der „ freien Welt“ durch den ner solchen Weltordnung waren regionale Bündnisse, Kommunismus: „Ich bin der Ansicht, daß es die Politik die nicht nach dem Prinzip der kollektiven Sicherheit, der Vereinigten Staaten sein muss, die freien Völker sondern der kollektiven Verteidigung funktionieren, zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch nicht vorgesehen. bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen.“6 Die Entstehung von NATO und Warschauer Vertrag ist also kein unmittelbares oder gar zwangsläufiges Er- Am 5. Juni 1947 folgte der Marshall-Plan, der eine gebnis des Zweiten Weltkrieges, sondern ein Ergebnis europäische Wiederaufbauhilfe in Höhe von 17 des beginnenden Kalten Krieges. Milliarden Dollar vorsah, gleichzeitig als Hilfe für die notleidende Bevölkerung des durch den Krieg zerstör- 1.3. 1947/48: Der Beginn des Kalten Krieges ten Europas, zur Eindämmung der kommunistischen Sowjetunion und zur Schaffung eines Absatzmarktes Heute – im Rückblick – wird häufig die gesamte Zeit für die amerikanische Überproduktion. zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Warschauer Vertrages (1991) als Kalter Die Positionen zwischen Ost und West verhärteten Krieg bezeichnet. Diese Vergröberung der sicherlich sich auf den Vier-Mächte Außenministertreffen in die ganze Zeit über vorhandenen Konfrontation ist Moskau (März/April) und London (November/Dezem- nicht hilfreich. Sie lenkt ab von der Erkenntnis der ber 1947). Den Alliierten gelang es nicht, sich ich auf leichten, jedoch folgenreichen Modifikationen und eine gemeinsamen Lösung der Deutschen Frage zu Entwicklungen in der Stimmungslage der Beziehungen einigen. Das System der alliierten Kooperation und zwischen Ost und West, dem Wechsel von Spannung gegenseitigen Abstimmung scheiterte damit in einer und Entspannung in den internationalen Beziehungen. ganz zentralen Frage und brach in der Folgezeit insge- samt auseinander. Sicherlich: Die Errichtung eines universalen Systems der kollektiven Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen fiel bereits dem beginnenden Kalten Krieg zum Opfer. 5 Archiv der Gegenwart (AdG), CD 1999, 00669. 6 Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz. Würzburg, 1959, S. 305. 6
2. Die Gründung der NATO Trotz aller Bekenntnisse zur UN setzten die großen Das Memorandum NSC-68 erlaubt jegliche „offene Mächte auch nach dem Zweiten Weltkrieg in sicher- oder verdeckte, gewaltsame oder gewaltlose“ Maß- heits- und verteidigungspolitischen Fragen vornehm- nahmen zur Erreichung der politischen Ziele weltweit lich auf traditionelle Instrumente: die eigene militä- und legitimiert diese mit dem Verweis auf das Recht rische Stärke und den Beistand von Verbündeten. In zur Selbstverteidigung. Seine Autoren plädierten für Artikel 51 der UN-Charta hatten sich die einzelnen eine massive nukleare Aufrüstung, aber auch für star- Staaten ja ausdrücklich das Recht auf individuelle und ke konventionelle Streitkräfte der USA und der NATO.9 kollektive Selbstverteidigung vorbehalten. So verdreifachten die USA ab August 1950 ihre in Bereits ab dem 6. Juli 1948 berieten Delegierte der Großbritannien stationierten Bomberverbände und am USA, Großbritanniens, Frankreichs, Kanadas, Italiens, 7. Februar 1951 billigte die US-Regierung den Pleven- der Benelux-Staaten, Dänemarks, Norwegens und Plan zur Aufstellung einer europäischen Armee. Portugals über die Gründung des Nordatlantikpakts Auf der vom 10. bis 14. September 1951 tagenden (NATO), eines militärischen Bündnisses europäischer Außenministerkonferenz der USA, Frankreichs und und nordamerikanischer Staaten. Dieser Vertrag wur- Großbritanniens in Washington wurde bereits die de am 4. April 1949 unterzeichnet und auf zunächst Aufstellung westdeutscher Streitkräfte geplant, die in 20 Jahre geschlossen. eine europäische Armee eingegliedert werden sollten. Der NATO-Gründung folgten eine Reihe von weiteren Am 9. Dezember 1952 verabschiedete der NATO-Rat Regionalpakten, so 1952 der Pazifik-Pakt zwischen die Strategie der „Massiven Vergeltung“, Massive Australien, Neuseeland und USA (ANZUS), 1954 die Retaliation (MC 14/1). Dabei wurden für den Fall eines Südostasiatische Vertragsorganisation (Southeast Asia sowjetischen Angriffs auf Westeuropa operative Maß- Treaty Organization, SEATO) und 1955 der „Bagdad- nahmen beschlossen, die bereits in der ersten Phase pakt“ zwischen dem Irak und der Türkei, der 1959 mit vorsahen, den Feindangriff durch den Einsatz aller ver- den USA, Großbritannien, Pakistan und dem Iran zur fügbaren konventionellen Streitkräfte bei gleichzeitiger Zentralen Vertragsorganisation (Central Treaty Orga- nuklearer Offensive der strategischen Luftstreitkräfte nization, CENTO) erweitert und 1979 nach dem Sturz zu verzögern. Dieser martialische Plan basiere zugleich des Schah-Regimes im Iran wieder aufgelöst wurde. auf einer relativ schwachen strategische Luftwaffe der USA und einem noch geringen konventionellen Potenti- Im Mai 1949 wurden die drei Westzonen zur Bundes- al. So standen zum Beispiel 1953 in der Bundesrepub- republik Deutschland vereinigt. Als Antwort folgte im lik östlich des Rheins nur 16 1/3 Divisionen.10 Oktober die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Damit war die Teilung Deutschlands und Durch die Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Europas besiegelt und die bipolare Weltordnung ze- Oktober 1954 wurde die Bundesrepublik Deutschland mentiert. Ebenfalls 1949 zündete die UdSSR ihre erste zum Beitritt eingeladen und am 6. Mai 1955 Mitglied Atombombe. 1955 gründeten die Sowjetunion, Albani- der NATO. Am 19. Mai 1955 wurde wegen ihres en, Bulgarien. Polen, Rumänien, die CSSR und Ungarn NATO-Beitritts der Warschauer Pakt gegründet. Vier den Warschauer Vertrag als Gegengewicht zur NATO. Tage zuvor, am 15. Mai 1955, war der Österreichische Staatsvertrag in Wien unterzeichnet worden, der die Beide Allianzen beriefen sich in ihren Gründungsdoku- Souveränität Österreichs wiederherstellte und bis menten ausdrücklich auf Artikel 51 der UN-Charta. Oktober 1955 zur Beendigung der Besatzungszonen führte. 2.1. Strategie-Entwicklung der NATO Am 13. März 1957 gab das US-Hauptquartier in der In den ersten Jahren nach der Berlin-Blockade, der Bundesrepublik bekannt, die US-Streitkräfte mit Zündung der ersten sowjetischen Atombombe und Atomwaffen auszurüsten. dem Korea-Krieg formulierte die NATO ihr strate- gisches Ziel als Abwehr eines Angriffs durch die 2.2. Flexible Response Sowjetunion. Das „National Security Memorandum“ Nr. 68 (NSC-68)7 von 1950 formuliert die militärische In den 1960er Jahren ersetzte John F. Kennedy die Variante der Containmentstrategie, „die vor allem auf Strategie der „Massiven Vergeltung“ als Antwort mit der militärischen Überlegenheit der USA und ihrer Atomwaffen auf einen konventionellen Angriff der Alliierten basieren sollte, zur Sicherung der amerikani- schen Hegemonie.“8 9 Warren I. Cohen (Hg.), The Cambridge History of American Foreign Relations, Volume IV, Cambridge, u.a. (Cambridge Univ. Press), 1993, 7 NSC-68 s. unter: www.fas.org/irp/offdocs/nsc-hst/nsc-68.htm. S. 42-43. 8 Harald Müller/Stephanie Sohnius, Intervention und Kernwaffen, 10 http://www.gerline.de/wb/pages/1950--1955/nato-strategie-der- Zur neuen Nukleardoktrin der USA, HSFK-Report 1/2006, S.3. massiven-vergeltung.php 7
UdSSR, durch die Strategie der „flexible response“. • vorbedachte Eskalation durch Steigerung oder Dabei sollte der Feind im Sinne einer „abgestuften räumliche Ausweitung der Kampfhandlungen, unter Kriegsführung“, auf jedem Eskalationsniveau mit Umständen auch Einsatz weiter reichender Atom- jeweils angemessenen Mitteln bekämpft werden. waffen. Hintergrund war, dass die UdSSR 1957 mit ihren Interkontinentalraketen eine Zweitschlagskapazität er- • Androhung eines allgemeinen Atomwaffeneinsatzes langte. Ein Atomwaffeneinsatz sollte jetzt als zu riskant durch Einsatz strategischer Atomwaffen gegen geg- vermieden werden und nicht als Erstschlag erfolgen. nerische Atomwaffensysteme und andere industriel- Diese strategische Umorientierung wurde bereits vor le und kriegswichtige Ziele. der Kubakrise formuliert und dort auch praktiziert. 2.3. Sowjetische Reaktion auf Der mit der „flexible response“ einhergehende Ver- die NATO-Gründung zicht auf einen atomaren Erstschlag wurde begleitet von einer verstärkten Ausrüstung der Streitkräfte der Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Allianz mit taktischen Atomwaffen und einer Dislozie- die UdSSR, ihr in Europa neugewonnenes Einflussge- rung nuklearer Mittelstreckenraketen an der Peri- biet zu halten und zu stabilisieren. Das schloss auch pherie der Sowjetunion. Im Zuge der Beilegung der Repressionen in ihrem Einflussgebiet wie die stalinis- Kuba-Krise verzichtete aber nicht nur die UdSSR auf tischen Verfolgungen 1948 (z.B. Slansky-Prozess) und die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba, auch den Einsatz von Waffengewalt wie am 17. Juni sondern auch die USA zogen bereits stationierte Mit- 1953 in der DDR mit ein. Darüber hinaus arbeitete die telstreckenraketen aus der Türkei zurück. UdSSR mit Hochdruck daran, das Atomwaffenmono- pol der USA zu brechen, was ihr 1949 gelang. Es gab Die Grundlagen der neuen Militärstrategie „flexible aber keine aggressiven Akte gegen Staaten außerhalb response“ trug US-Verteidigungsminister Robert S. ihres Einflussbereiches, wie die NATO befürchtete. McNamara erstmals in seiner Rede von Ann Arbor am 16. Juni 1962 vor.11 Die neue Strategie sollte dem Der Warschauer Vertrag entstand also als ein Er- amerikanischen Präsidenten ein Repertoire militäri- gebnis der seit 1947 zunehmenden Spannungen scher Machtanwendung auf der gesamten Bandbreite zwischen den Alliierten des Zweiten Weltkriegs und moderner Waffentechnologie und damit eine Vielfalt der Gründung der NATO 1949. Als die Bundesrepublik an Reaktionsmöglichkeiten an die Hand geben. Deutschland durch die Pariser Verträge vom 5. Mai 1955 in das westliche Militärbündnis (Westeuropäi- Bei den strategischen Atomwaffen legte die Regierung sche Union) einbezogen wurde, reagierten die UdSSR Kennedy großer Wert auf eine gesicherte Zweit- und die mit ihr befreundeten Staaten ihrerseits mit schlagskapazität, um glaubwürdig Abschreckung zu der Gründung eines eigenen Militärbündnisses als Ge- gewährleisten. Ein umfangreiches Rüstungsprogramm gengewicht zur NATO und schlossen am 14. Mai 1955 wurde aufgelegt mit dem Ziel, die strategischen Atom- in Warschau den Warschauer Vertrag. waffen auf unterschiedliche Trägersysteme zu vertei- len, in erster Linie auf bemannten Bombern, 1.000 Der Wortlaut des Vertrages ähnelt in weiten Teilen landgestützten Interkontinentalraketen (ICBM) und auf dem des NATO-Vertrages. Die Mitgliedsstaaten versi- 40 Atom-U-Booten installierten Mittelstreckenraketen cherten in Artikel 4 einander ihren Willen zur Frie- (SLBM).12 Damit wurde zugleich eine wichtige Grund- denssicherung und zur gegenseitigen militärischen lage für einen groß angelegten atomaren Rüstungs- Hilfeleistung im Falle eines Angriffs auf einen oder wettlauf gelegt. mehrere der Teilnehmerstaaten. Dabei beriefen sie sich auf Artikel 51 der UN-Charta.13 Nachdem jahrelang in der NATO über einen Strategie- wechsel debattiert wurde, erklärte der NATO-Rat im Mit Militäreinsätzen und Interventionen sicherte Dezember 1967 – nach Ausscheiden Frankreichs aus die UdSSR auch 1956 in Ungarn und 1968 in der der NATO – flexible response zur verbindlichen Strate- CSSR die Aufrechterhaltung ihres Einflussbereiches, gie. Details der neuen Militärstrategie wurden in dem griff aber nicht über die in Jalta 1944 vereinbarte Dokument des Militärausschusses MC 14/3 vom 16. Linie hinaus. Der Westen protestierte politisch und Januar 1968 niedergelegt, das drei Reaktionsformen diplomatisch, hielt sich aber – trotz gegenteiliger auf einen gegnerischen Angriff vorsah, die gleich- Aufforderung durch die ungarische Regierung 1956 – zeitig, nacheinander oder in beliebiger Reihenfolge, militärisch zurück und damit ebenfalls an die Jalta- angewandt werden sollten: Vereinbarungen. Auch der Mauerbau durch die DDR 1961 und die Reaktion darauf im Westen verliefen im • Verteidigung gegen einen Angriff auf gleicher Stufe, Rahmen dieser vereinbarten Grundlage. gegebenenfalls Eskalation durch Einsatz von takti- schen Atomwaffen. Die militärischen Strukturen wurden am 31. März 1991, der Warschauer Vertrag selbst am 1. Juli 1991 offiziell 11 http://www.defenselink.mil/specials/secdef_histories/bios/ mcnamara.htm 12 http://www.gerline.de/wb/pages/1960--1970/mcnamara- engl. Vertragstext in: http://www.fordham.edu/halsall/ 13 formuliert-eine-neue-strategie.php mod/1955warsawpact.html 8
aufgelöst. Die in der ehemaligen DDR, Polen, der Tsche- Wurde der UdSSR und dem Warschauer Vertrag choslowakei und Ungarn stationierten sowjetischen anfangs von den NATO-Staaten vorgehalten, mit dem Truppen wurden abgezogen. Ausschluss der NATO-Staaten USA und Kanada von dieser Konferenz Europa von diesen Staaten zu tren- 2.4. NATO und KSZE – nen, so fand man schließlich die Kompromisslösung, Entspannung und kollektive Sicherheit auch diese beiden Staaten als Teilnehmer einzuladen. 2.4.1. Die Vorgeschichte der KSZE Als zentrale Frage im Vorfeld der Konferenz schälte Die Kuba-Krise im Oktober 1962 – mit ihrer hohen sich die „deutsche Frage“ heraus. So hatte bereits Konfrontationsintensität bis an den Rand eines der Harmel-Bericht der NATO aus dem Jahr 1967 Atomkrieges zwischen den USA und der UdSSR – die Deutschland-Frage als Kern der Spannungen in stellte einen letzten Höhepunkt im Kalten Krieg dar. Europa gesehen. Für die Warschauer Vertrags-Staaten Danach setzte zuerst zwischen den beiden atomaren stand die Sicherung der Grenzen in Europa an erster Hauptmächten USA und UdSSR und später in Europa Stelle. Dazu gehörte die Forderung nach Anerkennung das ein, was später Entspannungspolitik genannt der DDR und der Anerkennung der Nachkriegsgren- wurde. zen der anderen Staaten, vor allem Polens und der CSSR. Für die Bundesregierung unter Kurt-Georg Hauptfelder dieser Entspannungspolitik wurden die Kiesinger war eine DDR-Anerkennung absolut inak- Rüstungskontrolle und die Wirtschaftsbeziehungen. zeptabel. Erst die „neue Ostpolitik“ von Willy Brandt Dabei handelte es sich um eine schlichte Anerken- eröffnete Möglichkeiten zu realistischen und für die nung der Realitäten. Die Kuba-Krise hatte das atoma- unterschiedlichen Seiten akzeptablen Lösungen. Dazu re Patt deutlich gemacht und keine der beiden Seiten gehörte als erstes der Abschluss des „Moskauer Ver- konnte sich Hoffnungen machen, einen Atomkrieg trages“ zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik überleben, geschweige denn gewinnen zu können. Deutschland am 12. August 1970. Den ersten Vorschlag, eine „Konferenz über Fragen In diesem Schlüsselvertrag hieß es, dass beide Seiten der europäischen Sicherheit“ einzuberufen, unterbrei- von der in Europa „bestehenden wirklichen Lage“ tete der Politische Beratende Ausschuss, das höchste ausgehen (Art. 1), sich in ihren gegenseitigen Bezie- Organ des Warschauer Vertrages, in der „Bukarester hungen „der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung Erklärung“ vom 5. Juli 1966.14 von Gewalt... enthalten“ (Art. 2) und darin überein- stimmen, „daß der Friede in Europa nur erhalten wer- Der Westen reagierte auf der Tagung des NATO-Rates den kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen im Dezember 1967 in Brüssel gesprächsbereit. Die antastet“ (Art. 3).16 NATO nahm auf dieser Tagung ein neues Konzept „Verteidigung und Entspannung“ an, den so genann- Dem „Moskauer Vertrag“ folgte das „Vierseitige Ab- ten „Harmel-Bericht“, benannt nach dem damaligen kommen“ der Siegermächte UdSSR, USA, Großbritan- belgischen Außenminister, der dieses Konzept feder- nien und Frankreich zur Regelung der Angelegenheiten führend ausgearbeitet hatte. Im März 1969 konkreti- um Westberlin am 3. September 1970, der „Warschau- sierte der Warschauer Vertrag mit dem „Budapester er Vertrag“ zwischen Polen und der Bundesrepublik Appell“ des Politischen Beratenden Ausschusses, am 7. Dezember 1970, der Vertrag über die Grundla- den Vorschlag eine „Gesamteuropäische Konferenz“ gen der Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepub- einzuberufen, die durch ein Vorbereitungstreffen lik am 21. Dezember 1972 sowie der Vertrag über die eingeleitet werden sollte. Der NATO-Rat erklärte gegenseitigen Beziehungen zwischen der CSSR und sich auf seiner Tagung im April 1969 in Washington der Bundesrepublik am 11. Dezember 1973. bereit, in Verhandlungen einzutreten. Die Regierung des neutralen Finnlands unterbreitete allen europä- Mit diesen Verträgen waren die offenen Fragen, die ischen Ländern im Mai 1969 ein Memorandum, die mit der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung der Konferenz und ihre Vorbereitungstreffen in Helsinki Nachkriegsgrenzen durch die Bundesrepublik und auszurichten.15 den gegensätzlichen Rechtspositionen in Bezug auf Westberlin zusammenhingen und seit Jahrzehnten die Lage in Europa belastet hatten, zumindest soweit geregelt, dass sie die europäischen Beziehungen nicht mehr belasteten. 14 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1966: 1. Januar bis 30. Juni / 1. Juli bis 31. Dezember. Von Rainer „Mit dem Abschluss der Ostverträge war der Weg frei Achim Blasius, Hans-Peter Schwarz, Matthias Peter, Harald Rosen- für die Konferenz über Sicherheit und Zusammenar- bach, Germany Auswärtiges Amt, Institut für Zeitgeschichte (Munich, Germany), S. 1006 ff. beit in Europa. Die Unterzeichnung der KSZE-Schluss- 15 Lehren aus dem Potsdamer Abkommen? Die 1970er und 1980er Jah- akte von Helsinki im Jahr 1975 markiert den Beginn re: KSZE und Gemeinsames Haus Europa. Von Dr. Erhard Crome, Berlin, eines grundlegend neuen, multilateralen Entspan- Rosa-Luxemburg-Stiftung; Beitrag auf der internationalen wissenschaft- lichen Konferenz des Bundesausschusses Friedensratschlag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, die das Thema hatte: „Die Potsdamer Konferenz. Bedeutung und Wirkung für ein friedliches und sozial gerechtes Europa“, am 8. Mai 2005 in Potsdam. In: http://www. http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUnd 16 uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Befreiung/potsdam-crome.html Wandel_vertragMoskauerVertrag/index.html 9
nungsdialogs in Europa. Erstmals verständigten sich Korb III Grundsätze der Zusammenarbeit im huma- West und Ost auf gemeinsame Werte als Grundlage nitären und anderen Bereichen, Erleichterung von ihrer Innen- und Außenpolitik. Mit der Teilnahme der menschlichen Kontakten über die Blockgrenzen USA und Kanadas an der Konferenz erkannte auch hinweg, Informationsaustausch die Sowjetunion die Verantwortung dieser Staaten in und für Europa endgültig an. Die multilaterale Anlage Außerdem enthält sie eine Präambel und einen der Entspannungspolitik sicherte ein höheres Maß an Schlussteil mit dem Titel „Folgen der Konferenz“. Einfluss aller europäischen Staaten in West und Ost, nicht nur der Großmächte.“17 In der KSZE-Schlussakte wurden auch Vereinbarun- gen über konkrete vertrauensbildende militärische Nach der Unterzeichnung der Ostverträge begann Maßnahmen festgehalten. Hierzu gehörte die Ankün- eine Serie von Konferenzen, beginnend am 22. No- digung von Manövern ab 25.000 Soldaten mindestens vember 1972 in Helsinki, danach in Genf und schließ- 21 Tage im Voraus und die Einladung von Beobach- lich wieder in Helsinki, wo am 1. August 1975 die tern zu diesen Manövern. Schlussakte verabschiedet wurde. Die Konferenz war selbstverständlich ein Kompromiss. 2.4.2. Der Vertragsinhalt der Für die Staaten des Warschauer Vertrages brachte Schlussakte von Helsinki sie die völkerrechtliche Anerkennung der Nachkriegs- In der Schlussakte von Helsinki der Konferenz für grenzen (insbesondere Polens und der DDR), die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurden Anerkennung des Prinzips der „Nichteinmischung“ in Vereinbarungen über Sicherheitsfragen, die Zusam- die inneren Angelegenheiten und einen stärkeren wirt- menarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und schaftlichen Austausch mit dem Westen. Im Gegenzug Umwelt, die Menschenrechte, sowie Fragen der machten die sozialistischen Staaten Zugeständnisse in Zusammenarbeit in humanitären Angelegenheiten Fragen der Menschenrechte. Die im Korb 3 anerkann- getroffen.18 ten Regeln im Umgang mit den Menschenrechten bil- dete die Grundlage für die Arbeit vieler osteuropäischer Das Dokument ist in drei „Körbe“ gegliedert: Dissidenten und Menschenrechtsorganisationen. Korb I Prinzipiendekalog Damit war die KSZE zwischen 1975 und 1990 eine „Antwort auf den Kalten Krieg, ein etwas sperriges • Souveräne Gleichheit, Achtung der Instrument für den Dialog und für Verhandlungen Souveränität innewohnenden Rechte selbst in den düstersten Tagen der Spaltung zwischen Ost und West.“19 Sie diente „in erster Linie als ein • Enthaltung von der Androhung Mechanismus, der die Stabilität der europäischen oder Anwendung von Gewalt Nachkriegsordnung unter den Bedingungen der Kon- frontation zweier Systeme gewährleisten sollte. Die • Unverletzlichkeit der Grenzen zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki wurden implizit als ‚Spielregeln‘ und als Grundlage für eine • Territoriale Integrität der Staaten friedliche Koexistenz akzeptiert.“20 • Friedliche Regelung von Streitfällen „Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte im Jahre 1975 wurde der Grundstein für die heute um- • Nichteinmischung in innere Angelegenheiten fassendste Sicherheitsorganisation in Europa gelegt. Was vor rund einem Vierteljahrhundert geschah, wird • Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der historischen Würdigung der Geschichte des 20. einschließlich der Gedanken-, Jahrhunderts als eines der herausragenden Ereignisse Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit bewertet werden. In einer Zeit der tiefsten Spaltung unseres Kontinents, geprägt von tief greifenden • Gleichberechtigung und ideologischen Gegensätzen und geplagt von einer Selbstbestimmung der Völker einmaligen militärischen Konfrontation, trafen sich die Staats- und Regierungschefs von 35 Staaten, um • Zusammenarbeit zwischen den Staaten sich über die Regeln des künftigen Zusammenlebens zu verständigen. ... Von besonderer Bedeutung war, • Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben 19 Eric Mlyn, Die USA, Russland und die OSZE – Europäische Sicherheit Korb II Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, im 21. Jahrhundert. In: Institut für Friedensforschung und Sicherheits- Wissenschaft, Technik und Umwelt, Sicherheit in Europa politik an der Universität Hamburg / IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2002, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Baden-Baden 2002, S. 33. 20 Michail Petrakow, Die Rolle der OSZE aus russischer Sicht, In: 17 Hans-Dietrich Genscher, Wird die OSZE unterschätzt? In: OSZE-Jahr- Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Univer- buch 2001, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenar- sität Hamburg / IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2000, Jahrbuch zur beit in Europa (OSZE), Baden-Baden 2001, S. 22. Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 18 http://www.osce.org/documents/mcs/1975/08/4044_de.pdf Baden-Baden 2000, S. 57. 10
daß hiermit ein multilateraler Entspannungsprozess Die NATO beschloss die Stationierung der bereits ab zustande kam, der auch in schwierigen Situationen 1976 entwickelten Pershing-II-Raketen in Westeuropa aufrechterhalten wurde. Und es war vor allem die am 9.12.1979. Nach der Zustimmung des Deutschen Aufnahme einer Bestimmung über die friedliche Ver- Bundestages am 22.11.1983 wurden die Raketen bis änderbarkeit der Grenzen in Europa, die die Chance 1985 in der Bunderepublik stationiert. In Folge des für die deutsche Einheit eröffnete, aber auch für den INF-Vertrages vom 8.12.1987 wurden bis Mai 1991 immer engeren Zusammenschluss der damals noch alle Pershing-II-Raketen unter Kontrolle der Vertrags- Europäische Gemeinschaft genannten Europäischen partner (USA und UdSSR) demontiert und zerstört. Union.“21 Differenzierter verlief die Debatte innerhalb der NATO 2.4.3. Victory is possible? – über das geplante weltraumgestützte Raketenab- Die NATO zu Beginn der 1980er Jahre wehrsystem der USA (SDI). Hier befürchtete vor allem Anfang der 1980er Jahre suchten vor allem die USA die Bundesregierung, SDI könne den Zusammenhalt einen Ausweg aus dem atomaren Patt. Dazu sollten des Bündnisses gefährden, da SDI zwei Klassen von in Westeuropa erstmals seit der Kuba-Krise wieder Mitgliedern schaffe, „solche, die unter dem Schutz atomare Mittelstreckenraketen stationiert werden. der Raketenabwehr ständen, und solche, die draußen Die dazu ausgesuchten Pershing-II-Raketen mit einer bleiben, also die USA und Kanada einerseits und die Reichweite bis Moskau waren mit ihren speziellen europäischen Länder andererseits.“24 Der Generalins- Sprengköpfen weniger darauf ausgerichtet, eine pekteur der Bundeswehr Altenburg prägte den Begriff, maximale Vernichtung der Zivilbevölkerung zu errei- SDI schaffe „Zonen ungleicher Sicherheit“.25 chen, als vielmehr gehärtete Bunker der politischen und militärischen Führung zu zerstören. Dazu diente Im April 1985 forderten die Unionspolitiker Franz vor allem die verringerte Vorwarnzeit gegenüber den Josef Strauß und Alfred Dregger eine „europäische Interkontinentalraketen und eine Treffgenauigkeit von strategische Verteidigungsinitiative“ als „Ergänzung zwölf bis 40 Metern.22 zu SDI“ (Strauß) und als Abwehr gegen alle Bedro- hungen, die durch SDI nicht abgedeckt würden Auf dem Hintergrund der von Colin S. Grey und Keith (Dregger).26 Paine in dem Aufsatz „Victory is possible“ formulier- ten Strategie sollte hier ein Weg gefunden werden, die Der INF-Vertrag (INF = Intermediate Range Nuclear seit der Kuba-Krise aufgegebene Hoffnung auf einen Forces) zwischen der UdSSR und den USA vom Sieg im Atomkrieg wiederzubeleben. Wörtlich heißt es 8.12.1987 sah die Vernichtung aller Raketen mit in diesem Aufsatz: „Wenn die atomare Macht der USA mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5500 Kilo- dazu dienen soll, den außenpolitischen Zielen der USA meter) und deren Produktionsverbot vor. Der Vertrag zu dienen, dann müssen die Vereinigten Staaten in war zugleich ein Durchbruch bei den Bemühungen der Lage sein, rational Atomkrieg führen zu können“ um Abrüstung, da es sich nicht nur wie zuvor um und weiter: „Die Vereinigten Staaten sollten planen, eine Festlegung von Obergrenzen, sondern um einen die Sowjetunion zu besiegen und dies zu einem Preis, wirklichen Verzicht auf eine ganze Familie von Waffen der eine Erholung der USA erlauben würde. Washing- handelte, verbunden mit wirksamen Kontrollverfah- ton sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die ren. 1991 folgte der START-Vertrag zur gemeinsamen, Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und schrittweisen Reduzierung atomarer Trägerwaffensys- das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den teme. westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht zu ziehen.“23 21 Hans-Dietrich Genscher, Wird die OSZE unterschätzt? In: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg / IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2001, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Baden-Baden 2001, S.21 ff. 24 „Bonn besorgt über US-Weltraumstrategie“, in: SZ v. 29.3.1984. 22 http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument. 25 Wolfgang Altenburg, Stärkung der konventionellen html?id=14340691&top=SPIEGEL Verteidigungsfähigkeit, in: Wehrtechnik 7/1984. S. 22. 23 Colin S. Grey und Keith Paine, Victory is possible, in: Foreign Policy, 26 Strauß fordert europäische SDI, in: GRAZ v. 23.4.1985, Heft 39, 1980. Deutsche Übersetzung in: Karl D. Bredthauer, Klaus Abwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper Mannhardt (Hrsg.), Es geht ums Überleben, Köln 1981, S. 181 ff. gefordert, in: FAZ v. 23.4.1985. 11
3. Hoffnung nach dem Kalten Krieg 3.1. Die OSZE und die Charta von Paris des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sind, werden wir nicht nur darum bemüht sein, nach Die Umwälzungen in den sozialistischen Staaten in wirksamen Verfahren zur Verhütung immer noch den Jahren 1989/90 und die deutsche Wiederver- möglicher Konflikte durch politische Mittel zu suchen, einigung am 3.10.1990 veränderten schlagartig die sondern im Einklang mit dem Völkerrecht auch geeig- strategische Situation in Europa. Auf einmal standen nete Mechanismen zur friedlichen Beilegung eventuel- sich nicht mehr zwei hochgerüstete, gegensätzliche ler Streitfälle festzulegen. Wir verpflichten uns daher, politische und soziale Systeme mit ihren Militärallian- nach neuen Formen der Zusammenarbeit in diesem zen gegenüber. Bereich zu suchen, insbesondere nach einer Reihe von Methoden zur friedlichen Beilegung von Streitfäl- „Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmer- len, einschließlich der obligatorischen Hinzuziehung staaten der Konferenz über Sicherheit und Zusam- einer Drittpartei.“ menarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusam- Die „quasi-notarielle Beurkundung der Beendigung mengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der des Ost-West- Konflikts“28 durch die „Charta von Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, Paris“ markierte zugleich das Ende der bisherigen daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und KSZE-Praxis mit allen Widersprüchlichkeiten und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich Balanceakten. In diesem Sinne hatte die KSZE ihre vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Män- bisherige Funktion verloren. nern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Die in der „Charta von Paris“ formulierten Ziele wur- Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Frie- den zwei Jahre später auf dem KSZE-Gipfeltreffen in dens und der Einheit an“, schrieben die Staats- und Helsinki 1992 weiterentwickelt. Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konfe- renz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa „Dabei wurde der umfassende Sicherheitsbegriff be- (KSZE) in die Präambel des Dokumentes ihres Treffens stätigt, der einen Zusammenhang zwischen Friedens- in Paris vom 19.-21. November 1990, die „Charta von sicherung und der Wahrung von Menschenrechten Paris für ein neues Europa“.27 und Grundfreiheiten sowie zwischen Solidarität und Zusammenarbeit in wirtschafts- und umweltpoliti- Weiter heißt es: „Nun ist die Zeit gekommen, in der schen Bereichen und friedlichen zwischenstaatlichen sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Er- Beziehungen hergestellt hatte. Es wurden Möglichkei- wartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches ten zur Friedenserhaltung durch die KSZE vorgesehen, Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grund- und zwar in Konflikten sowohl innerhalb von als auch freiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch zwischen wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder“. Teilnehmerstaaten. Die Institution des Hohen Kom- missars für nationale Minderheiten und andere Ausdrücklich begrüßten die Staats- und Regie- Einrichtungen wurden in Helsinki geschaffen. Das rungschefs die Unterzeichnung des Vertrages über Treffen formulierte ein umfassendes Mandat, auf Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) durch dessen Grundlage die Organisation sich zu einem zweiundzwanzig Teilnehmerstaaten, der zu niedrigeren systembildenden Faktor europäischer Sicherheit hätte Niveaus der Streitkräfte führen sollte. In dem sich entwickeln können.“29 wandelnden politischen und militärischen Umfeld in Europa sahen sie neue Möglichkeiten für gemeinsame Die sich neu eröffnenden Möglichkeiten zur Zusam- Anstrengungen im Bereich der militärischen Sicher- menarbeit motivierten die Teilnehmer des KSZE-Gip- heit. Dabei sollte auf den Ergebnissen des KSE-Vertra- feltreffen am 5. und 6. Dezember 1994 in Budapest, ges aufgebaut werden. die bisherige „Konferenz“ KSZE in eine Organisation umzuwandeln und mit Wirkung vom 1. Januar 1995 In Anerkennung der Prinzipien der UN-Charta und in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in der bisherigen KSZE-Praxis hielten sie fest: „In dem Europa (OSZE) umzubenennen. Bewusstsein, daß die friedliche Beilegung von Streit- fällen eine wesentliche Vervollständigung der Pflicht Nach dem Gipfel von Budapest rückte die OSZE der Staaten ist, sich der Androhung oder Anwendung allerdings mehr und mehr vom gesamteuropäischen von Gewalt zu enthalten, und daß beide wesentliche Faktoren für die Aufrechterhaltung und Festigung 28 Wilfried von Bredow, Konstruktions- und Identitätsprobleme der OSZE. In: OSZE-Jahrbuch 2000, S. 49. 27 Originaltext der Charta in: http://www.menschenrechtsbuero.de/ 29 Michail Petrakow, Die Rolle der OSZE aus russischer Sicht. pdf/paris90g.pdf In: OSZE-Jahrbuch 2000, S. 58. 12
Sicherheitsmodell des KSZE-Gipfeltreffens von Helsin- Genscher geht mit seinen Vorschlägen weiter: „Die ki ab. Kritik gab es daher aus Moskauer Sicht: „In den OSZE als Organisation sollte auf eine schrittweise Ver- Vordergrund rückte nunmehr eine Theorie, die das rechtlichung hinarbeiten. Dieser Weg sollte in einen Entstehen von Krisen im OSZE-Raum hauptsächlich OSZE-Vertrag einmünden, der Rechte und Pflichten auf innere soziale Probleme sowie soziale und wirt- postuliert und handlungsfähige Institutionen schafft. schaftliche Instabilitäten zurückführte. Diese Theorie Wenn das Verständnis der OSZE wurde später dem intrusiven Ansatz zugrunde gelegt, der die Aufmerksamkeit der OSZE primär auf inner- als einer regionalen Abmachung im Sinne von Artikel staatliche Entwicklungen in den OSZE-Teilnehmerstaa- VIII der VN-Charta zu nachhaltigen praktischen Konse- ten lenken sollte.“30 quenzen führen soll, muss die seit Beginn der neunzi- ger Jahre erhobene Forderung nach Einrichtung eines Aber auch Hans-Dietrich Genscher, einer der Grün- OSZE-Sicherheitsrates mit Entschlossenheit weiter- dungsväter der KSZE, äußerte sich bereits 2001 verfolgt werden. Die Möglichkeiten der VN-Satzung kritisch über den eingeschlagenen Weg: „Konflikt- - nämlich regionale Organisationen zu bilden - werden prävention und zivile Krisenbewältigung gehören zu durch die OSZE erfüllt. Ein OSZE-Sicherheitsrat hätte den Kernaufgaben der OSZE. Von entscheidender für die europäischen Angelegenheiten Befugnisse Bedeutung wird auch sein, die Handlungsfähigkeit inne, die sonst nur dem Weltsicherheitsrat zustehen; der OSZE zu stärken. Das bedeutet auch eine bessere er könnte aber sehr viel problemnäher, sehr viel kon- personelle und finanzielle Ausstattung der Organisa- kreter Entscheidungen treffen und Verhandlungen be- tion. Letztlich stehen die Teilnehmerstaaten vor der gleiten. Das alles verlangt aktive Initiativen. Denkbar Frage, ob sie bereit sind, eine Repolitisierung der und wünschenswert wäre es deshalb, dass sich die OSZE vorzunehmen. Ein Verständnis der OSZE als Europäische Union – als ein Teil ihrer Gemeinsamen eine Art Dienstleistungsorganisation für die Durchset- Außen- und Sicherheitspolitik – als ein Anwalt der zung von politischen Entscheidungen, die innerhalb OSZE versteht, wie sich die Bundesrepublik Deutsch- anderer Organisationen getroffen werden, müsste zu land in der Zeit des Kalten Krieges als ein Anwalt der einer Verkümmerung der OSZE führen. Das wieder- KSZE verstanden hat und dabei für sich als Erfolg um würde den Verzicht auf die großen Möglichkeiten verbuchen konnte, dass der Kalte Krieg überwunden bedeuten, die die Organisation mit ihrem Prinzip der werden konnte. Das kann beispielhafte Wirkungen Universalität im nordamerikanisch-europäischen auch für andere Teile der Welt haben.“33 Raum bereithält.“31 Parlamentarische Initiativen für eine Verrechtlichung 3.2. Das Problem des Rechtsstatus der OSZE der OSZE dürften die größten Chancen auf eine breite Basis haben. Sie tragen dazu bei, im Bundestag und Mittlerweile zählt die OSZE 56 Teilnehmerstaaten, in der Öffentlichkeit das Verständnis für die OSZE zu darunter alle Staaten Europas, die Nachfolgestaaten stärken und können zugleich eine Basis für ein öffent- der Sowjetunion sowie die USA und Kanada. Sie lichkeitswirksames Auftreten gegen die NATO bilden. erfüllt damit alle Voraussetzungen, um als regionale Abmachung nach Kapitel VIII der UN-Charta als Sys- 3.3. Agenda für den Frieden tem kollektiver Sicherheit zu wirken und für die UN als erster internationaler Ansprechpartner bei Konflikten Eines der bedeutendsten Dokumente zum Problem innerhalb ihres Wirkungsbereiches zu dienen. der politischen Bearbeitung von Konflikten, die in organisierte Gewalttätigkeit zu eskalieren drohen Als System kollektiver Sicherheit steht die OSZE oder schon eskaliert sind, formulierte 1992 der damit in deutlicher Konkurrenz zur NATO. Und es sind damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali vornehmlich die USA, die die Fixierung des Rechts- in der „Agenda für den Frieden“.34 Sie besteht aus status der OSZE als internationale Organisation vier Handlungsebenen: der vorbeugenden Diplomatie verhindern. Artikel 22 der Budapester Erklärung sieht (preventive diplomacy), der Friedenschaffung (peace explizit keine Hinterlegung beim Generalsekretariat making, peace enforcement), der Friedenssicherung der Vereinten Nationen (gemäß Artikel 102 der UN- (peace keeping) und der Friedenskonsolidierung (post Charta) vor. Der Streit um den Rechtsstatus der OSZE conflict peace building). Das breite Spektrum von hält an. „Ohne Zweifel stellte die Etablierung der KSZE Maßnahmen zur Deeskalation legt einen Schwerpunkt als regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der auf Präventivhandlungen und Eingriffe in den Kon- Charta der Vereinten Nationen einen wichtigen Schritt fliktherd mit zivilen Mitteln, kennt aber ebenso wie nach vorn dar. Allerdings muss angemerkt werden, die UN-Charta militärische Interventionen mit und dass von den darin liegenden Möglichkeiten nur unzu- ohne Zustimmung aller lokalen Konfliktparteien und reichend Gebrauch gemacht wurde.“ 32 schließt auch die Nachbereitung von Konflikten ein, um Rückfälle in die Gewalt zu verhindern. 33 Ebd., S.26. 34 UN Dokument A/47/277 - S/24111vom 17 Juni 1992. In: http:// 30 Ebd. www.un.org/Docs/SG/agpeace.html. 31 Hans-Dietrich Genscher, Wird die OSZE unterschätzt?, a.a.O., S. 26. Deutsche Fassung in: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/the- 32 Ebd., S. 25. men/UN/agenda.html 13
Zu den in der Agenda aufgeführten Mitteln der und gemeinsame Jugend- und Bildungsprogramme. vorbeugenden Diplomatie zählen u.a. diplomatische Hier besteht das Ziel in einer Konsolidierung des Gespräche, vertrauensbildene Maßnahmen, Frühwarn- Friedens nach Beendigung eines Konflikts. Dabei sind systeme und die vorsorgliche Einrichtung entmili- die Konfliktparteien zum friedlichen Wiederaufbau tarisierter Zonen. Sie dienen dazu, die Entstehen anzuhalten. von Streitigkeiten zu verhindern, bzw. den Ausbruch schwelender Konflikte zu verhindern und bereits aus- Die Agenda stellt im Prinzip eine Konkretisierung der gebrochene Konflikte schnell einzugrenzen. bereits in der UN-Charta aufgeführten Orientierung auf internationale Konfliktlösungen dar. Jede dieser Die Mittel zur Friedensschaffung beinhalten Vermitt- Maßnahmen ist für bestimmte Abschnitte typischer lung und Verhandlungen, Schiedssprüche und Ent- Konfliktentwicklung gedacht. Die UN würde über scheidungen des internationalen Gerichtshofes. Dazu Möglichkeiten verfügen, das gesamte Spektrum der kommen als gewaltlose Sanktionen Wirtschafts- und in der Agenda aufgeführten Maßnahmen zum jeweils Verkehrsblockaden sowie der Abbruch der Beziehun- sinnvollsten Zeitpunkt einzusetzen. Sicherheitspolitik gen. Die Friedensdurchsetzung wird gegebenenfalls würde sich so stärker in Prävention verlagern. speziell ausgebildeten, ständig abrufbereiten bewaff- neten UN-Truppen übertragen, nicht aber Koalitionen Bemerkenswert ist an diesem Dokument, dass regio- von Willigen mit UN-Mandat. So kann unter Umstän- nalen Staatenorganisationen großes Gewicht bei der den auch militärische Gewalt zur Aufrechterhaltung Konfliktbearbeitung beigemessen wird, zugleich aber und Wiederherstellung des Weltfriedens und der auch Kritik an regionalen Staatenbünden geübt wird, internationalen Sicherheit eingesetzt werden, wenn die wie die NATO oder der Warschauer Vertrag nicht alle friedlichen Mittel versagen. Das Ziel besteht in auf dem universalen System der kollektiven Sicherheit jedem Falle darin, nach Ausbruch eines Konfliktes die beruhten. So heißt es in Artikel 63: „In der Vergan- feindlichen Parteien zu einer Einigung zu bringen. genheit entstanden regionale Abmachungen oftmals aufgrund des Fehlens eines universalen Systems der Als Mittel zur Friedenssicherung dienen neben einem kollektiven Sicherheit; somit kam es gelegentlich vor, umfassenden Konfliktmanagement die Entsendung daß ihre Aktivitäten im Widerspruch zu dem für die von Beobachtermissionen; der Einsatz von UN- Wirksamkeit der Weltorganisation erforderlichen Geist Truppen zur Untersuchung von Grenzverletzungen der Solidarität standen. In der heutigen Zeit jedoch, und zur Grenzkontrolle, zur Beobachtung von Wahlen, in der sich uns neue Möglichkeiten darbieten, können zur Überwachung von waffenstillstands- und Frie- regionale Abmachungen oder Einrichtungen wertvolle densvereinbarungen, zur Bildung von Pufferzonen Dienste leisten, wenn sie ihre Tätigkeit so gestalten, zwischen gegnerischen Mächten, zur Wahrnehmung dass sie mit den Zielen und Grundsätzen der Charta von Polizeiaufgaben und zur Sicherung humanitärer vereinbar ist, und wenn ihr Verhältnis zu den Verein- Maßnahmen. Das Ziel besteht in diesen Fällen darin, ten Nationen und insbesondere zum Sicherheitsrat die Lage in einer Konfliktzone zu entschärfen und zu den Bestimmungen von Kapitel VIII der Charta folgt.“35 stabilisieren und die Einhaltung der Vereinbarungen zwischen den Konfliktparteien zu überwachen und Hier kommt der OSZE Bedeutung zu: Konfliktbearbei- durchzusetzen. tung in einem frühen Stadium gehört seit Jahren zu den besonderen Fertigkeiten der OSZE. Hier spielen Als Mittel der Friedenskonsolidierung stehen nach Erfahrungen mit Rüstungskontrolle und vertrauensbil- einem Konflikt innerhalb eines Landes zur Verfügung: denden Maßnahmen sowie Missionen und Feldopera- die Entwaffnung der feindlichen Parteien, die Wieder- tionen eine wichtige Rolle. Auch Friedensaufbauarbeit herstellung der öffentlichen Ordnung, das Einsam- nach einem Krieg kann von der OSZE mit Aussicht meln von Waffen, die Minenräumung, die Repatriie- auf Erfolg geleistet werden. Für militärische Interven- rung von Flüchtlingen, die Ausbildung und Beratung tionen in gewalttätigen Konflikten ist die OSZE aber von Sicherheitskräften, die Überwachung von Wahlen, weder vorgesehen noch ausgestattet. der Schutz der Menschenrechte und die Reform oder der Neuaufbau staatlicher Institutionen. Nach einem Gerade im Bereich der internationalen zivilen Konflikt- internationalen Krieg stehen gemeinsame Projekte bearbeitung bieten sich parlamentarische Initiativen im Vordergrund, die der wirtschaftlichen und sozialen zur Stärkung der OSZE an. Zugleich kann anhand des Entwicklung dienen und das gegenseitige Vertrauen Verhaltens der NATO im aktuellen Fall fundierte Kritik stärken sowie der Abbau von Schranken zwischen angebracht und auf alternative Lösungsmöglichkeiten Nationen durch Kulturaustausch, Reiseerleichterung verwiesen werden. 35 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/UN/agenda.html 14
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