Das Dublin-Verfahren Im Spannungsfeld einer menschenwürdigen und solidarischen Verantwortung für Flüchtlinge in Eur opa
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INTERNATIONALE POLITIKANALYSE Das Dublin-Verfahren Im Spannungsfeld einer menschenwürdigen und solidarischen Verantwortung für Flüchtlinge in Europa KLAUDIA DOLK Oktober 2011 Dass das Dublin-System sein wesentliches Ziel – die Vermeidung von Sekundärwan- derungen von Flüchtlingen – nicht erreichen konnte, ist systemimmanent. Flücht- linge werden nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte eines technischen, zwischenstaatlichen Zuständigkeitsverfahrens betrachtet. In der Konsequenz werden die Bedürfnisse von Flüchtlingen in Dublin-Verfahren kaum berücksichtigt. Die aktuelle Solidaritätskrise unter den Mitgliedstaaten ist eine Folge des der Dublin II- Verordnung zugrunde liegenden Verantwortungsprinzips, nach welchem diejenigen Mitgliedstaaten zuständig sind, in deren Gebiet Flüchtlinge unerlaubt über eine EU- Außengrenze einreisen. Bis zur Vollendung einer Harmonisierung der Schutzstandards für Flüchtlinge inner- halb der EU ist ein flexibler und punktueller Aussetzungsmechanismus von Über- stellungen nach der Dublin II-Verordnung einzuführen, wie er von der EU-Kommis- sion vorgeschlagen wurde. Dieser müsste allerdings durch verschiedene flankierende Maßnahmen ergänzt werden.
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren Inhalt 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Die Dublin II-Verordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Defizite der Dublin II-Verordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 4. Handlungsbedarf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5.1 Systemimmanente Lösungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5.1.1 Änderungsvorschläge der EU-Kommission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5.1.2 Aussetzung der Zuständigkeit wegen unerlaubter Einreise über eine EU-Außengrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 5.2 Alternativen zum Dublin-System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 5.2.1 Vorübergehende Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verordnung . . 9 5.2.2 Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 5.2.3 Verteilung der Kosten für Asylsuchende nach Quoten . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 5.2.4 Relocation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 5.2.5 Freizügigkeit für Flüchtlinge innerhalb der EU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 5.2.6 Saldierung der Überstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 5.2.7 Menschenwürde und Verantwortungsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 6. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 6.1 Zusammenfassende Schlussfolgerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren 1. Einleitung halten und vielmehr in einem Beschluss vom 25.1.20114 erklärt, »dass mit der Überforderung des Asylsystems ei- Flüchtlinge, die von Verfolgung in ihrem Heimatstaat nes Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene bedroht sind, sollen in der Europäischen Union (EU) transnationale Probleme vornehmlich auf der Ebene der Schutz erhalten. Ein Flüchtling1, der das Gebiet der EU Europäischen Union zu bewältigen sind«. erreicht hat, darf sich allerdings nicht selbst den Staat für die Durchführung seines Asylverfahrens und seinen Und nicht nur aus Flüchtlingssicht ist das Dublin-System Aufenthalt aussuchen. Die Zuständigkeit des jeweiligen in die Krise geraten. Auch die Mitgliedstaaten an den süd- EU-Staates wird vielmehr in einer EU-Verordnung, der so lichen EU-Außengrenzen fühlen sich angesichts erhöhter genannten Dublin II-Verordnung, geregelt und in einem Zugangszahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus so genannten Dublin-Verfahren für jeden Flüchtling ge- Nordafrika überfordert und fordern insoweit die Solida- prüft. rität der anderen Mitgliedstaaten ein. Überlegungen zur Einführung vorübergehender Kontrollen an den EU-Bin- Das Dublin-Verfahren ist in den letzten Jahren zuneh- nengrenzen in »wahrhaft kritischen Situationen« – d. h. mend in die öffentliche Kritik geraten, seit in Berichten bei hohem Druck an den EU-Außengrenzen5 – runden die prekäre Flüchtlingssituation in Griechenland doku- die immer offensichtlicher werdende Akzeptanzkrise des mentiert und dennoch weiterhin die Überstellung von Dublin-Systems auch unter den Mitgliedstaaten ab. Flüchtlingen nach Griechenland vorgenommen wurde. Handlungsbedarf sahen die anderen Mitgliedstaaten Auf politischer Ebene konnte in Europa bis heute keine nicht, denn sie waren ja nicht zuständig. Erst mittelbare Einigung für eine Änderung der Dublin II-Verordnung und unmittelbare Interventionen von Gerichten in den erzielt werden; die Diskussion der EU-Kommission dau- europäischen Mitgliedstaaten führten zu nationalstaat ert seit Dezember 2008 ergebnislos an. Am 13.12.2011 lichen Abschiebungsstopps nach Griechenland.2 Kürzlich steht die Diskussion der Dublin II-Verordnung beim Rat verurteilte nun auch der Europäische Menschenrechts- erneut auf der Tagesordnung. gerichtshof (EGMR) in einer Grundsatzentscheidung (M.S.S.3) Griechenland wegen der menschenrechtswid- Ist das Dublin-System also gescheitert? Wie ist mit der rigen Haft-, Verfahrens- und Aufnahmebedingungen. M.S.S.-Grundsatzentscheidung des EGMR umzugehen? Zudem wurde gleichzeitig Belgien verurteilt, weil es ei- Welche Lösungen könnte es geben, um sowohl dem nen afghanischen Flüchtling in Kenntnis der griechischen Flüchtlingsschutz als auch der Solidarität unter den Mit- Bedingungen im Dublin-Verfahren nach Griechenland gliedstaaten ausreichend Rechnung zu tragen? abgeschoben hatte. Denn laut EGMR dürfen sich die Staaten durch die Zuständigkeitsverlagerung nach der Ziel der vorliegenden Studie ist die Darstellung einiger Dublin II-Verordnung nicht ihrer Verantwortung entzie- aktuell diskutierter Lösungsansätze, ohne diese jedoch hen, wenn bei einer Abschiebung Menschenrechtsver- bis ins letzte technische Detail verfolgen zu können. Der letzungen drohen. Diese Entscheidung erschüttert das so Fokus soll hier auf grundsätzlichen Fragen liegen: Lässt genannte Dublin-System in seinen Grundsätzen. sich das derzeitige Dublin-System im Spannungsfeld zwi- schen einem menschenwürdigen Flüchtlingsschutz und Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang einer einer solidarischen Verantwortungsteilung unter den Grundsatzentscheidung zur Dublin II-Verordnung ent- Mitgliedstaaten weiterhin rechtfertigen oder müssen Al- ternativen entwickelt werden? 1. Der Begriff Flüchtling wird in dieser Studie untechnisch verwendet; gemeint sind alle potenziell schutzbedürftigen Drittstaatsangehörige, 4. So in den Schlussfolgerungen des EU-Gipfels vom 23./24.6.2011; d. h. nicht nur diejenigen, die bereits Asyl oder die Feststellung von Ab- http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/11/4&fo schiebungsverboten beantragt haben. rmat=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (aufgerufen am 2. Auch in Deutschland entschloss sich das Bundesministerium des In- 15.09.2011). nern (BMI) erst im Rahmen eines Grundsatzverfahrens vor dem Bundes- 5. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur verfassungsgericht im Januar 2011 dazu, bis zum 12.1.2012 von Dublin- Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitglied- Überstellungen nach Griechenland abzusehen. Siehe Kurzmeldung des staats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in BMI vom 19.1.2011; http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldun- einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 vom gen/DE/2011/01/selbsteintrittsrecht.html (aufgerufen am 13.09.2011). 25.2.2003); die VO gilt in allen EU-Staaten sowie in Norwegen, Island, 3. BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 – 2 BvR 2015/09. der Schweiz und Liechtenstein. 3
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren 2. Die Dublin II-Verordnung Hintergrund für die Regelung der Dublin II-Verordnung war vor allem die Abschaffung der Kontrollen an den Bin- Nach der Dublin II-Verordnung6 müssen die Mitgliedstaa- nengrenzen der EU. Mit dieser europaweiten Zuständig- ten feststellen, welcher Staat für die Prüfung eines im Ge- keitsregelung sollten einerseits Wanderbewegungen der biet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrags zuständig Flüchtlinge verhindert werden, die mehrfache Asylver- ist. Hält sich der Flüchtling danach in einem unzustän- fahren in verschiedenen Mitgliedstaaten zur Folge hätten digen Mitgliedstaat auf, kann der zuständige Staat um (sog. asylum shopping). Andererseits sollten aber auch Aufnahme bzw. Wiederaufnahme des Flüchtlings ersucht alle Flüchtlinge das Recht auf eine inhaltliche Prüfung ih- werden. Erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zustän- rer Asylanträge bekommen und verhindert werden, dass digkeit an, wird der Flüchtling innerhalb bestimmter Fris- sie zwischen den Mitgliedstaaten ohne Prüfung ihrer An- ten in denselben überstellt. träge hin- und hergeschoben werden (sog. refugees in orbit). Nach den Erwägungsgründen der Dublin II-Verord- Im Jahre 2009 wurden in Europa insgesamt 266 400 nung soll die Bestimmung auf objektiven und für beide Asylanträge gestellt, wovon mehr als 46 000 Aufnahme- Seiten (Mitgliedstaat und Betroffener) gerechten Krite- bzw. Wiederaufnahmeersuchen (rund 17 Prozent) an rien beruhen, um ein Gleichgewicht – auch im Geiste der andere Mitgliedstaaten gerichtet wurden. Zu tatsächli- Solidarität – zu erreichen. chen Überstellungen kam es in circa einem Viertel die- ser Dublin-Verfahren, d. h. nach einer Asylantragstellung Die Bestimmung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates wurden Dublin-Überstellungen in vier Prozent der Fälle für ein Asylverfahren folgt in der Dublin II-Verordnung tatsächlich durchgeführt. Deutschland hat im Jahr 2009 Kriterien, die sich insbesondere nach dem »Prinzip der beispielsweise knapp 4 000 Ersuche von anderen Mit- Verantwortung« richten: Diejenigen Staaten, die für die gliedstaaten erhalten, wovon letztlich jedoch nur 1 258 Einreise oder den Aufenthalt eines Flüchtlings in einem Flüchtlinge im Dublin-Verfahren nach Deutschland über- Mitgliedstaat verantwortlich sind, sollen auch für die stellt worden sind. Dagegen richtete Deutschland im Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein. Verant- Jahr 2009 an andere Mitgliedstaaten insgesamt 8 695 wortlich in diesem Sinne ist ein Staat vor allem dann, Ersuche, wovon tatsächlich nur 2 932 Flüchtlinge in an- wenn der Flüchtling unerlaubt (ohne Visum) über seine dere Mitgliedstaaten überstellt wurden.7 Im Ergebnis hat EU-Außengrenze eingereist ist oder auch wegen der Er- Deutschland somit aufgrund der Dublin II-Verordnung teilung eines Einreisevisums bzw. eines Aufenthaltstitels. im Jahr 2009 insgesamt – bei einer solch bilanzieren- Dieses Verantwortungsprinzip wird nur dann teilweise den Betrachtung – 1 674 Flüchtlinge an andere Mitglied- durchbrochen, wenn es gilt, die Kernfamilie – d. h. Ehe- staaten zuständigkeitshalber abgegeben. Eine ähnliche leute oder Eltern und minderjährige Kinder – nicht zu Bilanz weisen die Schweiz und die Niederlande für das trennen, sowie bei unbegleiteten minderjährigen Flücht- Jahr 2009 auf; von dort wurden in Dublin-Verfahren lingen und – in wenigen Ausnahmefällen – aus humani- 1 709 bzw. 1 135 Flüchtlinge in andere Mitgliedstaaten tären Gründen.8 überstellt. Weitere vierstellige Zahlen finden sich in der Überstellungsbilanz ansonsten nur noch für Griechen- Die Dublin II-Verordnung dient auch dem Ziel einer ge- land und Italien, allerdings umgekehrt. Italien hat im Jahr meinsamen EU-Asylpolitik einschließlich eines Gemein- 2009 im Ergebnis 1 759 Flüchtlinge in Dublin-Verfahren samen Europäischen Asylsystems.9 Sie beruht auf der aufgenommen, Griechenland bei dieser bilanzierenden Annahme, dass Asylsuchende in allen Mitgliedstaaten Betrachtungsweise 1 194 Flüchtlinge. vergleichbare (Mindest-)Aufnahmebedingungen vorfin- den und dass über ihre Asylanträge unter vergleichba- ren (Mindest-) Verfahrensgrundsätzen mit vergleichbaren Chancen auf eine Anerkennung entschieden wird. Hier- 6. Quelle: Eurostat; die Zahlen für das Jahr 2010 sind dort bislang nicht vollständig abrufbar, weshalb hier die Zahlen für das Jahr 2009 verwen- für sind verschiedene EU-Richtlinien erlassen worden.10 det werden. Die bei Eurostat abrufbaren Zahlen weichen von den veröf- fentlichten Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ab, nach welchen Deutschland im Jahre 2009 3 027 Flüchtlinge überstellt und 8. Erwägungsgrund 1 der Dublin II-Verordnung. 1 517 aufgenommen hat. 9. Insbesondere die Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG vom 7. Zur Übersicht der Zuständigkeitskriterien siehe Dolk, Klaudia: Zustän- 29.4.2004), Verfahrensrichtlinie (RL 2005/85/EG vom 1.12.2005), Auf- digkeitsregelungen in der Dublin-Verordnung, in: Asylmagazin 3/2009, nahmerichtlinie (RL 2003/9/EG vom 27.1.2003). 12 f. 10. Siehe Fn. 4. 4
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren Letztlich soll es also für Flüchtlinge unerheblich sein, in haben auch den Vorteil einer schnelleren Integration in welchem EU-Staat ihr Asylverfahren durchgeführt wird. die Verhältnisse des fremden Landes. Die Dublin II-Ver- ordnung schützt grundsätzlich allerdings nur die Einheit der Kernfamilie, wenn diese bereits im Herkunftsland be- 3. Defizite der Dublin II-Verordnung standen hat. Unbeachtet bleibt allerdings, dass das Bild der Kernfamilie dem »westlichen« Familienbild entspre- In der Praxis konnte die Prämisse vergleichbarer Min- chen mag, es in vielen anderen Gesellschaften jedoch deststandards innerhalb Europas bislang nicht realisiert einen erheblich weiter gefassten Familienbegriff gibt, werden. Ein Blick in die Statistiken von Eurostat zeigt, weshalb viele Flüchtlinge eine solche Beschränkung nicht dass beispielsweise im Jahr 2010 europaweit in 25 Pro- nachvollziehen können. Und selbst die Einheit der Kern- zent der erstinstanzlichen Verfahren ein Schutzstatus ge- familie wird bei der Zuständigkeitsbestimmung nach der währt wurde, die Schutzquoten der einzelnen Mitglied- Dublin II-Verordnung nur eingeschränkt geschützt; eine staaten jedoch erheblich divergieren: Die Chancen für Zusammenführung ist nur dann vorgesehen, wenn der in eine Flüchtlingsanerkennung betrugen beispielsweise im der EU bereits lebende Angehörige sich noch im Asylver- Jahr 2010 statistisch gesehen in Norwegen knapp 20 Pro- fahren vor einer ersten Sachentscheidung befindet oder zent, in Deutschland 17 Prozent, in den Niederlanden als Flüchtling anerkannt wurde.12 Ansonsten ist nur eine nur knapp fünf Prozent und in der Slowakei weniger als verfahrensrechtlich komplizierte Zusammenführung aus zwei Prozent. humanitären Gründen in besonderen Ausnahmefällen möglich.13 Auch der EGMR wies in der M.S.S.-Grundsatzentschei- dung11 ausdrücklich auf die unterschiedlichen Schutz- Auch nach Abschluss des Asylverfahrens gilt die einmal quoten innerhalb der Mitgliedstaaten hin. Unter diesen getroffene Zuständigkeitsbestimmung selbst für aner- Umständen sei es verständlich, dass der afghanische kannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte fort, Flüchtling im oben beschriebenen Verfahren angesichts da diese keine mit Unionsbürgern vergleichbare Freizü- der extrem niedrigen Schutzquote in Griechenland kein gigkeit genießen.14 Eine einmal nach der Dublin II-Verord- Vertrauen mehr in das dortige Verfahren hatte, und in nung bestimmte Zuständigkeit führt somit regelmäßig einen anderen Mitgliedstaat weiterwandern wollte. Grie- zur dauerhaften Festlegung darüber, in welchem Mit- chenland und Belgien wurden zudem wegen unzurei- gliedstaat ein Flüchtling lebt, und mitunter zu einer dau- chender Asylverfahren verurteilt, Griechenland zusätz- erhaften Trennung von in anderen Mitgliedstaaten leben- lich noch aufgrund der gegen Art. 3 EMRK verstoßenden den Familienangehörigen. Auch anerkannte Flüchtlinge15 Aufnahmebedingungen. wandern daher weiter, mitunter auch wegen der sehr unterschiedlichen Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten: Da die Prämisse vergleichbarer Mindeststandards für Anerkannte Flüchtlinge erhalten zwar dieselben Sozial- Flüchtlinge also bislang nicht europaweit gewährleistet leistungen wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, werden kann, ist es für einen Flüchtling nicht unerheb- in dem sie anerkannt wurden, dies genügt in manchen lich, in welchem Mitgliedstaat sein Asylverfahren durch- geführt wird. 12. Art. 15 Dublin II-VO: eine Familienzusammenführung nach dieser Vor- schrift hat wegen der restriktiven Ermessensanwendung in den Mitglied- staaten wenig Praxisrelevanz, wie auch die hiermit korrespondierende Auch die eingeschränkte Möglichkeit der Familienzu- Souveränitätsklausel des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO. Siehe Anwendungs- sammenführung in Dublin-Verfahren entspricht nicht praxis in Deutschland: Dolk, Klaudia: Das Dublin-Verfahren in Deutsch- land, Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, 16 ff. den Bedürfnissen vieler Flüchtlinge und führt deshalb 13. Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte werden aller- oft zu Weiterwanderungen innerhalb Europas. Regelmä- dings zukünftig in den Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtli- nie fallen, d. h. unter bestimmten Voraussetzungen wird Ausländern aus ßig wünschen Flüchtlinge, bei Angehörigen, Freunden Drittstaaten nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt ein Um- oder etwa früheren Nachbarn innerhalb der EU leben zu zug in einen anderen Mitgliedstaat ermöglicht (ÄnderungsRL zur Dauer- aufenthaltsRL vom 19.5.2011, ABl L 132/1). können, da die sozialen Netzwerke in derlei krisenhaften 14. Mit dem Begriff »anerkannte Flüchtlinge« sind im Folgenden Flücht- Ausnahmesituationen das Gefühl von Sicherheit und Ge- linge gemeint, die internationalen Schutz genießen. borgenheit in der Fremde vermitteln. Soziale Netzwerke 15. Die anerkannten Flüchtlinge werden allerdings nicht in die EU-Staa- ten, in denen sie anerkannt wurden, abgeschoben, da diese Personen- gruppe nicht (mehr) in den Anwendungsbereich der Dublin II-Verordnung 11. Art. 7 und 8 Dublin II-VO. fällt. 5
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren Mitgliedstaaten jedoch nicht zur Sicherung des Existenz- Dringend zu klären sind ferner der Umgang mit Mitglied- minimums. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Flücht- staaten, in welchen die europarechtlichen Mindeststan- lingen regelmäßig die sozialen Netzwerke und Familien- dards nicht gewährt werden, sowie die Voraussetzun- verbände fehlen, die in Mitgliedstaaten mit geringen So- gen für einen solidarischen, entlastenden Umgang mit zialhilfesätzen bei der Sicherung des Existenzminimums Mitgliedstaaten, die von erhöhten Zugangszahlen von Unterstützung bieten.16 Flüchtlingen betroffen sind und hierdurch mitunter in eine Notsituation geraten. Aus Sicht der südlichen Mitgliedstaaten wird die Zustän- digkeitsverteilung nach der Dublin II-Verordnung als ein- seitig belastend empfunden. Daher fordern sie von den 5. Lösungsansätze anderen Mitgliedstaaten mehr Solidarität bei der Auf- nahme von Flüchtlingen. Mit diesen Forderungen wird Trotz der oben dargestellten Kritik konnte bislang auf eu- letztlich der Kern der Dublin II-Verordnung – nämlich das ropäischer Ebene keine nachhaltige politische Lösung ge- den Zuständigkeitskriterien im Wesentlichen zugrunde funden werden. Die bislang praktizierte freiwillige reloca- liegende Prinzip der Verantwortung – als unsolidarisch tion von Flüchtlingen aus Malta sowie zeitlich begrenzte kritisiert. freiwillige Überstellungsstopps nach Griechenland führ- ten zunächst zu einer leichten Entspannung in den dorti- Der European Council on Refugees and Exiles (ECRE) gen Ländern. Ausreichend sind diese Mittel jedoch nicht, bezeichnet das Dublin-System insgesamt als geschei- wie sich kürzlich etwa am Beispiel Italiens zeigte, welches tert.17 Das Dublin-System sei ineffizient und teuer; mehr eine vergleichbare Solidarität vergeblich von den anderen als die Hälfte der Dublin-Überstellungen würden nicht Mitgliedstaaten einforderte. Italien fühlte sich angesichts realisiert; nach wie vor würden Flüchtlinge Asylanträge in erhöhter Flüchtlingszahlen aus Nordafrika unverhältnis- mehreren Mitgliedstaaten stellen; das Dublin-Verfahren mäßig belastet. Als die anderen Mitgliedstaaten ihre So- führe auch zu einer erheblichen Verzögerung der Asyl- lidarität verweigerten, stellten die italienischen Behörden verfahren. Flüchtlingen kurzerhand Aufenthaltstitel »zur Weiter- reise« in andere Mitgliedstaaten aus. Hierbei handelte es sich zweifellos um einen lediglich demonstrativen Akt, 4. Handlungsbedarf denn nach der Dublin II-Verordnung bleibt Italien für die Asylverfahren weiterhin zuständig und die Flüchtlinge Dringender Handlungsbedarf besteht spätestens seit können nach Italien zurücküberstellt werden. Ein solcher der M.S.S.-Grundsatzentscheidung des EGMR vom Konflikt kann und darf jedoch nicht auf dem Rücken der 21.1.2011: Bei drohenden Verletzungen von Art. 3 Flüchtlinge ausgetragen werden, weshalb eine für alle EMRK dürfen Dublin-Überstellungen nicht erfolgen. Ein Beteiligten als gerecht empfundene Lösung gefunden vorläufiger Rechtsschutz und eine gründliche Prüfung werden muss. drohender Verletzungen von Art. 3 EMRK müssen daher in jedem Fall ermöglicht werden, um einen irreparablen Schaden zu vermeiden. Auf eine Fiktion vergleichbarer 5.1 Systemimmanente Lösungsansätze Schutzstandards innerhalb der EU darf nicht zuständig- keitshalber pauschal verwiesen werden.18 5.1.1 Änderungsvorschläge der EU-Kommission Die EU-Kommission hatte dem Europäischen Parlament und dem Rat drei Jahre nach Inkrafttreten der Dublin II- 16. ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dub- VO über deren Anwendung Bericht zu erstatten und ge- lin Reconsidered (31.3.2008); http://www.ecre.org/component/content/ article/57-policy-papers/134-sharing-responsibility-for-refugee-protec- gebenenfalls erforderliche Änderungsvorschläge zu un- tion-in-europe-dublin-reconsidered.html (aufgerufen am 13.9.2011). terbreiten. Hierfür legte sie zunächst am 6.6.2007 einen 17. Auch beim EuGH sind Vorlagefragen zu der Frage anhängig, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen von Dublin-Überstellungen abzuse- Evaluierungsbericht19 und am 8.12.2008 daraus resultie- hen und der Selbsteintritt auszuüben ist, wenn in anderen Ländern die europarechtlichen Mindeststandards für Flüchtlinge nicht gewährleistet 19. Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen sind. Mit einer Entscheidung wird voraussichtlich Ende 2011 gerechnet. Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren 18. Evaluierungsbericht der EU-Kommission vom 6.6.2007. zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von ei- 6
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren rende Vorschläge zur Änderung der Dublin II-Verordnung Die Asylsysteme der belasteten Mitgliedstaaten sind vor.20 Das Europäische Parlament begrüßte diese Ände- während des Aussetzungszeitraums teilweise entlastet, rungsvorschläge unter Vornahme weniger Änderungen da aus anderen Mitgliedstaaten keine Flüchtlinge mehr im Mai 2009.21 überstellt werden. Die sonstigen Zuständigkeitskriterien bleiben jedoch in Kraft, d. h. die belasteten Mitgliedstaa- Vorgeschlagen wird insbesondere eine neue Regelung ten sind weiterhin für die Flüchtlinge zuständig, die sich für die Möglichkeit einer generellen Aussetzung von in diesen Staaten bei Beginn einer solchen Aussetzung Überstellungen in einen Mitgliedstaat durch die EU-Kom- bereits aufhalten bzw. in diese Staaten auch während des mission, wenn dieser Mitgliedstaat mit einer Notsitua- Überstellungsstopps einreisen. Die belasteten Mitglied- tion konfrontiert wird, die seine Aufnahmekapazitäten, staaten haben nach dem Änderungsvorschlag zudem die sein Asylsystem oder seine Infrastruktur außergewöhn- Möglichkeit, finanzielle Solidarhilfen der EU im Rahmen lich schwer belasten.22 Die EU-Kommission stellt das Vor- der EG-Sofortmaßnahmen zur Behebung der Notsitua- liegen einer solchen Notsituation von sich aus oder auf tion zu erhalten. Antrag eines Mitgliedstaats innerhalb eines Monats fest. Der Rat kann daraufhin innerhalb eines Monats die Ent- Überlastete Staaten können sich infolge dieser Ausset- scheidung überprüfen und ggf. mit qualifizierter Mehr- zungsmöglichkeiten ihrer Verpflichtung entziehen, recht- heit abändern. Im Falle einer Aussetzung wären nach der zeitig für Abhilfe zu sorgen, und dadurch die aktuelle So- Dublin II-Verordnung diejenigen Mitgliedstaaten zustän- lidaritätskrise verschärfen. UNHCR schlägt daher ergän- dig, in welchen die Flüchtlinge sich gerade aufhalten. zende Änderungen vor, um die überlasteten Staaten zu Eine solche Aussetzung solle für einen Zeitraum von bis zwingen, im Falle einer Aussetzung effektive und rasche zu sechs Monaten mit Option auf Verlängerung möglich Schritte zur Beseitigung der Mängel zu unternehmen.23 sein. Im Ergebnis würde die Aussetzung einen zeitlich Problematisch ist ferner, dass Flüchtlinge oder Flücht- befristeten europaweiten Überstellungsstopp bedeuten. lingsorganisationen sowie UNHCR kein entsprechendes Dieses Verfahren hätte den Vorteil einer einheitlichen und Antragsrecht auf die Aussetzung von Überstellungen ha- solidarischen Regelung aller Mitgliedstaaten gegenüber ben. Insoweit bleibt der Flüchtling weiterhin Objekt des dem in Not geratenen Staat. Vor allem würde die Neu- Dublin-Verfahrens. Schließlich ist unsicher, in welchem regelung eine Verbesserung für die Flüchtlinge bedeu- Ausmaß und in welchen Fallkonstellationen die EU-Kom- ten. Deutschland überstellt beispielsweise derzeit keine mission tatsächlich von der Möglichkeit Gebrauch ma- Flüchtlinge mehr nach Griechenland, es sind jedoch Fälle chen würde, Überstellungen in einen Mitgliedstaat aus- bekannt, in denen eine Überstellung in Mitgliedstaaten, zusetzen. Wann eine außergewöhnliche Belastung vor- die neben Griechenland noch zuständig sein könnten, liegt, wird in dem vorgeschlagenen neuen Art. 31 nicht versucht wird.� definiert. In den Vorbemerkungen erläutert die Kommis- sion allerdings, dass von solchen Aussetzungsverfahren Derartige generelle, zeitlich befristete Aussetzungsmög- auch in Fällen Gebrauch gemacht werden kann, in denen lichkeiten haben den Vorteil, dass Flüchtlinge nicht in Flüchtlingen kein angemessenes Schutzniveau, insbeson- Mitgliedstaaten überstellt werden, in denen EU-Min- dere hinsichtlich Aufnahmebedingungen und Zugang deststandards nicht gewährleistet werden können. Die zum Asylverfahren, gewährleistet wird. EU-Kommission hat insoweit eine flexible und punktuelle Reaktionsmöglichkeit. Bisher konnte noch keine Zustimmung für den Vorschlag einer solchen Aussetzungsmöglichkeit im Rat gefunden nem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat werden. Die ungarische Ratspräsidentschaft wollte im gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) ersten Halbjahr 2011 einen Kompromiss zwischen dem vom 8.12.2008, KOM(2008) 820 endgültig; http://eur-lex.europa.eu/Le- xUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0820:FIN:DE:PDF (aufgerufen am Europäischen Parlament und dem Rat finden, die vor- 23.9.2011) geschlagene Aussetzungsmöglichkeit sollte auf außerge- 20. Das sodann im Juni 2009 neu gewählte Europäische Parlament bestä- tigte die Position vom Mai 2009 im November 2010 nochmals ausdrück- wöhnliche, besonders eilbedürftige Notsituationen und lich. 21. Vorgeschlagener neuer Art. 31. 23. UNHCR-Analyse der vorgeschlagenen Neufassung für die Dublin II- 22. Das VG Ansbach setzte im Eilverfahren die geplante Dublin-Überstel- Verordnung und die Eurodac-Verordnung, 18.3.2009, 16; http://www. lung eines Flüchtlings nach Italien aus, weil Griechenland zuständig war, unhcr.de/recht/i2-europ-fluechtlingsrecht/22-asyl.html?L=0#c3149 (ab- Beschluss vom 9.3.2011 – AN 11 E 11.30089. gerufen am 23.9.2011). 7
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren auf eine Höchstdauer von sechs Monaten beschränkt Am 13.12.2011 steht eine neue Diskussion der Dublin II- werden. Eine Aussetzungsmöglichkeit wegen unzurei- Verordnung beim Rat auf der Tagesordnung. chender Schutzstandards sollte nach diesem Kompro- missvorschlag nicht mehr in Betracht kommen. Die Ent- scheidung für die Aussetzung sollte ferner nicht allein bei 5.1.2 Aussetzung der Zuständigkeit wegen uner- der Kommission liegen, der Rat würde eine Beteiligungs- laubter Einreise über eine EU-Außengrenze möglichkeit bekommen. Dieser Kompromissvorschlag, welcher im Rat während der ungarischen Ratspräsident- Angesichts erheblich divergierender Schutzstandards in schaft ebenfalls keine Zustimmung finden konnte, hätte den einzelnen Mitgliedstaaten schlägt ECRE vor, dass die Aussetzungsmöglichkeiten nach dem Vorschlag der Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung bis auf weiteres nicht EU-Kommission erheblich zulasten des Flüchtlingsschut- mehr angewandt werden sollte.26 zes reduziert. Nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung ist ein EU-Staat Die EU-Kommission hat darüber hinaus zahlreiche wei- für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, tere Änderungsvorschläge zur Dublin II-Verordnung ge- wenn der Flüchtling unerlaubt über diesen Staat in die macht. Insbesondere soll der Anwendungsbericht der EU eingereist ist. Von dieser Zuständigkeitsregelung sind Verordnung auf subsidiär Geschützte ausgedehnt und die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen beson- das Recht auf Einheit der Familie gestärkt werden. Es ders betroffen. Insbesondere die Flüchtlinge, die über wird vorgeschlagen, dass eine Zusammenführung unbe- das Mittelmeer in Griechenland, Malta und Italien unter gleiteter Minderjähriger und abhängiger Familienange- Lebensgefahr mit oft seeuntauglichen kleinen Booten höriger24 zwingend vorgeschrieben wird. Eine erhebliche ankommen, fallen regelmäßig unter Art. 10 Abs. 1 Dub- Reduzierung von Sekundärwanderungen der Flüchtlinge lin II-Verordnung. Begünstigt werden daneben jedoch zu ihren sozialen Netzwerken ist jedoch auch anhand der Mitgliedstaaten an EU-Außengrenzen, die ohnehin nur Änderungsvorschläge der EU-Kommission zur Auswei- sehr geringe Zugangszahlen von Flüchtlingen haben.27 tung des Rechts auf Einheit der Familie nicht zu erwarten, Deren Privilegierung durch eine Aussetzung von Art. 10 da dem Familienbegriff weiterhin nur die Kernfamilie zu- Abs. 1 Dublin II-Verordnung würde nicht dem Gedanken grunde liegt und die sog. communities von Flüchtlingen der Solidarität unter den Mitgliedstaaten entsprechen. In- weiterhin unberücksichtigt bleiben. Dies betrifft außer- soweit wären die Änderungsvorschläge der EU-Kommis- dem darüber hinausgehende Bedürfnisse der Flüchtlinge, sion hinsichtlich eines Aussetzungsmechanismus besser etwa in einem Land zu leben, dessen Sprache sie bereits geeignet, flexibel und punktuell im Falle einer besonde- sprechen. ren Belastung einzelner Mitgliedstaaten mit deren vorü- bergehender Entlastung zu reagieren. Gerade für deutsche Dublin-Verfahren würden die Än- derungsvorschläge der EU-Kommission aber hinsichtlich Flüchtlinge wandern nicht nur unmittelbar nach ihrer An- des effektiven Rechtsschutzes für Flüchtlinge einen er- kunft und vor ihrer ersten Asylantragstellung innerhalb heblichen Fortschritt bedeuten. Vorgeschlagen wird eine Europas in einen anderen Mitgliedstaat weiter, sondern verbesserte Information der Flüchtlinge über laufende oft auch während des laufenden Asylverfahrens oder Dublin-Verfahren, Überstellungsbeschlüsse und vor allem nach dessen Beendigung. Für diese Flüchtlingsgruppe die rechtzeitige Information für die Beantragung des ge- würden auch bei einer Aussetzung von Art. 10 Abs. 1 richtlichen Rechtsschutzes. Damit würden die in Deutsch- Dublin II-Verordnung nach einer Asylantragstellung wei- land kritisierte sog. Zustellungspraxis und die Problematik terhin die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen gemäß des faktisch und rechtlich kaum möglichen gerichtlichen Art. 13 Dublin II-Verordnung zuständig bleiben, sofern Rechtsschutzes in Dublin-Verfahren gelöst.25 keine anderen vorrangigen Zuständigkeitskriterien grei- 26. ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 18. 24. Gemeint sind Angehörige, die auf die Unterstützung des Asylantrag- 27. Nach Eurostat wurden im Jahr 2010 etwa in Estland 35 Asylanträge stellers angewiesen sind oder ein Asylantragsteller, der auf die Unterstüt- gestellt, in Lettland 65, in Portugal 160, in Litauen 495, in Bulgarien zung eines Familienangehörigen angewiesen ist. 1 025, in Spanien 2 740, in Rumänien 885, in der Slowakei 540, in Polen 25. Siehe hierzu Dolk, Klaudia: Das Dublin-Verfahren in Deutschland, ebd. dagegen 6 540, in Italien 10 050, in Griechenland 10 275. 8
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren fen. Diese Flüchtlingsgruppe würde also dennoch in ei- der Praxis »fremdländisch« Aussehende – insbesondere nem Dublin-Verfahren in die zuständigen Mitgliedstaa- nach der Überquerung einer EU-Binnengrenze – häufi- ten an den Außengrenzen zurückgeschickt werden. ger kontrolliert, wenn auch in unterschiedlichem Aus- maß. Ersuchen Flüchtlinge bei einer solchen Kontrolle nicht sogleich Asyl, droht ihnen eine Inhaftierung und 5.2 Alternativen zum Dublin-System Abschiebung in den Herkunftsstaat oder auch eine Zu- rückschiebung in den EU-Staat, aus welchem die Einreise 5.2.1 Vorübergehende Aussetzung oder erfolgt ist. Ohne die Stellung eines Asylantrags haben Abschaffung der Dublin II-Verordnung sie kein Aufenthaltsrecht. Sie wären dann gezwungen, sofort Asyl zu beantragen, obwohl sie noch nicht im Ziel- Es gibt auch die Forderung nach einer vorübergehenden staat ihrer Flucht angekommen sind. Aussetzung oder endgültigen Abschaffung des Dublin- Systems.28 Sollte die Dublin II-Verordnung insgesamt so- Eine Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verord- lange ausgesetzt werden, bis in allen Mitgliedstaaten nung würde aber auch dazu führen, dass gut informierte das Asylrecht harmonisiert oder zumindest vergleich- Flüchtlinge bzw. jene, die eine effektive Schlepperorga- bare Mindeststandards entsprechend des geltenden EU- nisation gefunden haben, in demjenigen EU-Staat ihren Rechts realisiert sind? Oder sollte sie insgesamt außer Asylantrag stellen, in dem für sie gute Anerkennungs- Kraft gesetzt werden? Käme eine vorübergehende Aus- chancen und Aufnahmebedingungen bestehen.31 Dies setzung oder Abschaffung mit flankierenden rechtlichen würde ihrem Bedürfnis nach Schutz entsprechen. Die- Änderungen in Betracht? ser als »pull-Faktor« bezeichnete Aspekt sollte in Form einer gerechten und objektiven Zuständigkeitsbestim- Eine Aussetzung oder auch Abschaffung der Dublin II- mung durch das Dublin-System allerdings gerade ver- Verordnung würde dazu führen, dass in die Europäische mieden werden. Würde die Dublin II-Verordnung ohne Union einreisende Flüchtlinge grundsätzlich die Möglich- flankierende rechtliche Änderungen ausgesetzt oder keit hätten, den EU-Staat selbst auszuwählen, in dem sie abgeschafft, würden auch das Prinzip des »one-chance- ihren Asylantrag stellen möchten. Ein Flüchtling könnte only« und die Regelung zur Vermeidung von »refugees entsprechend seiner Bedürfnisse in denjenigen EU-Staat in orbit« obsolet. Dies wäre weder im Interesse der Mit- weiterreisen, dessen Sprache er spricht oder in dem be- gliedstaaten noch im Interesse der Flüchtlinge. reits Angehörige, Freunde oder frühere Nachbarn leben. Dies würde ihm nach den Aufregungen der Flucht29 in Wenn einem EU-Staat die Zugangszahl neuer Asylsu- der Fremde eine gewisse Sicherheit und Unterstützung chender zu hoch erscheint, könnte er zur Absenkung bei der Integration geben.30 dieser Zahl ferner die Standards herabsetzen, Kontrollen bei der Einreise an den Binnengrenzen intensivieren und Es wäre jedoch eine Fiktion zu glauben, dass Flücht- Kontrollen bei der Ausreise reduzieren. Dies wäre zwar linge innerhalb der EU ungehindert in den Staat ihrer kein solidarisches Verhalten, es erscheint angesichts des Wahl weiterreisen könnten. Trotz der Abschaffung von aktuell zu beobachtenden Konfliktverhaltens einzelner Personenkontrollen an den Binnengrenzen werden in EU-Staaten allerdings nicht ausgeschlossen.32 Im Ergebnis würde eine reine Aussetzung oder Abschaf- 28. So alternativ zur Aussetzung von Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erneut ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin fung der Dublin II-Verordnung also weder für Flüchtlinge Reconsidered, ebd. 29 mwN. noch für die EU-Staaten zu einer fairen Aufnahme bzw. 29. Unabhängig von einer Verfolgung im Herkunftsland ist für Flüchtlinge bereits die Flucht an sich oft mit großen Risiken verbunden, da eine legale Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU führen. Ob Einreise in die EU für Asylsuchende nicht vorgesehen ist. Nicht nur die le- bensgefährliche Überquerung des Mittelmeeres, sondern auch die Reise durch Länder wie etwa Weißrussland, führt mitunter zu traumatischen Er- 31. Zu den unterschiedlichen Schutzquoten, Verfahrens- und Aufnahme- lebnissen. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge sich regelmäßig für eine Flucht standards siehe oben. in die EU der Hilfe von Schlepperorganisationen bedienen müssen, die 32. So hat etwa Dänemark die Kontrollen an den Binnengrenzen im Juni hierfür Wucherpreise verlangen und Flüchtlinge bisweilen in Gruppen mit 2011 trotz erheblicher Proteste anderer EU-Staaten und der EU-Kom- Gewaltmärschen durch Wälder führen oder in Lkw ohne genügend Luft mission intensiviert. Da die Einführung von Personenkontrollen rechtlich und Wasser pferchen. nicht zulässig war, wurden die intensivierten Kontrollen als Zollkontrollen 30. So werden beispielsweise in Deutschland keine Dolmetscher für Vor- bezeichnet. Die EU-Kommission kündigte eine Überprüfung dieser Maß- sprachen bei den Ausländerbehörden, Sozialämtern oder Ärzten gestellt. nahmen an. 9
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren eine Abschaffung oder Aussetzung der Verordnung an- Unverhältnismäßig teuer und daher impraktikabel wäre gesichts der aktuellen Problembereiche hingegen eine es, wenn tatsächlich jeder einzelne Flüchtling im Rah- Verbesserung für die Flüchtlinge bedeuten würde, kann men eines EU-Zuweisungsverfahrens in einen anderen durchaus diskutiert werden. In jedem Fall würde dies je- EU-Staat »verschickt« würde. Sinnvoller wäre, wenn der doch nicht die Solidarität und Harmonie unter den EU- EU-Staat des aktuellen Aufenthalts bis zur Erfüllung der Staaten stärken und voraussichtlich zu einer erheblichen Landesquote für das Asylverfahren zuständig bliebe. Verschärfung der aktuellen Asylkrise führen – zumindest Dies dürfte auch den Bedürfnissen der Flüchtlinge ent- solange Flüchtlinge in den EU-Staaten als Belastung und sprechen, da sie häufig Gründe für die Antragstellung Kostenfaktor gesehen werden. in einem bestimmten EU-Staat haben, jedenfalls sofern sie den Asylantrag nicht aus Furcht vor Inhaftierung und Abschiebung bei einer Personenkontrolle vor der An- 5.2.2 Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten kunft in ihrem persönlichen Zielstaat stellen mussten. Sofern Flüchtlinge nicht in dem von ihnen gewünschten Um dem Gedanken der Menschenwürde und der Solida- EU-Staat angekommen sind, könnten im Rahmen eines rität bei der Verantwortungsteilung für Flüchtlinge in der Zuweisungsverfahrens neben der Zusammenführung mit EU Rechnung zu tragen, wird als Alternative zum Dublin- der Kernfamilie auch die Bedürfnisse von Flüchtlingen System die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU berücksichtigt werden. nach Quoten diskutiert.33 Fraglich ist, ob die nach Erfüllung der Quote in einem In Deutschland werden beispielsweise Flüchtlinge nach EU-Staat ankommenden Flüchtlinge dann einem anderen dem Königsteiner Schlüssel34 auf die einzelnen Bundes- EU-Staat zugewiesen werden sollten, dessen Quote noch länder verteilt. Ist ein solches Modell auf die EU-Ebene nicht erfüllt ist. Dies wäre die Konsequenz einer solchen übertragbar?35 Verteilung nach Quoten innerhalb Europas. Sofern die maßgeblichen Kriterien zur Ermittlung von den EU-Staa- Zunächst ist anzumerken, dass die Verteilung von Asyl- ten als objektiv und gerecht empfunden werden, würde suchenden innerhalb Deutschlands auf die Bundeslän- ein solches Modell auch zu einer Lösung des derzeitigen der nach dem sog. EASY-Verfahren sowohl vonseiten der Solidaritätskonflikts unter den EU-Staaten führen. Alle Flüchtlinge als auch vonseiten der zuständigen Behörden EU-Staaten wären somit zahlenmäßig gleich an der Ver- umstritten ist. Bedürfnisse der Flüchtlinge werden, mit antwortungsteilung beteiligt. Ausnahme der Einheit der sog. Kernfamilie, nicht berück- sichtigt. Immerhin genießen Flüchtlinge nach der Aner- Aus der Perspektive der Flüchtlinge sollten derartige un- kennung unabhängig von einer Sicherung des Lebens- freiwillige »Verschickungen« jedoch vermieden werden, unterhalts Freizügigkeit innerhalb der Bundesrepublik, da sie häufig mit Inhaftierungen und somit erheblichen so dass nach der Rechtskraft einer Anerkennung viele Eingriffen in die Grundrechte einhergehen. Auch sollte Flüchtlinge sogleich zu ihren Bezugspersonen innerhalb Sekundärbewegungen entgegengesteuert werden, Deutschlands umziehen. wenn Flüchtlinge in dem von ihnen gewählten EU-Staat verbleiben dürfen. 33. Diese Diskussion wird häufig unter dem Schlagwort »Lastenvertei- lung« von Flüchtlingen geführt, treffender und wertfreier ist in diesem Eine vermittelnde Lösung wäre, im Rahmen des darge- Zusammenhang der Begriff der Verantwortungsteilung, der hier auch verwendet werden soll. Eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten stellten Quotenmodells bei erfüllter Quote einen finan- wird von vielen EU-Staaten abgelehnt, insbesondere von Österreich und ziellen Ausgleich der Überquote vorzusehen. Statt oder Deutschland. 34. In Deutschland werden Flüchtlinge bei der Meldung als Asylsuchende in Ergänzung zu einem solchen finanziellen Ausgleich einem bestimmten Bundesland zugewiesen. Diese Zuweisung richtet sich wäre auch eine Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen nach aktuellen Kapazitäten, dem Herkunftsland des Flüchtlings (da in dem zugewiesenen Land eine Außenstelle des BAMF für das Herkunfts- einer relocation denkbar. Die Maßnahmen des finanziel- land zuständig sein sollte) und bestimmter Aufnahmequoten der Bundes- len Ausgleichs nach Quoten und der relocation werden länder, berechnet nach deren Steuereinnahmen und der Bevölkerungs- zahl. weiter unten noch dargestellt. 35. Diesen Vorschlag machte MdEP Nadja Hirsch (FDP) auf dem 11. Ber- liner Symposium zum Flüchtlingsschutz am 21.6.2011. In derselben Dis- kussionsrunde lehnte MdB Thomas Silberhorn (CSU) diesen Vorschlag mit Verweis auf die Eigenverantwortung der EU-Staaten ab. 10
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren 5.2.3 Verteilung der Kosten für Asylsuchende darität mit dem aufgrund der aktuellen Lage in Libyen nach Quoten besonders belasteten Mitgliedstaat Malta«.39 Die finnische Ratspräsidentschaft brachte 2006 einen Eine solche freiwillige Aufnahme hat den Vorteil, dass die Vorschlag ein, wonach die EU einen wesentlichen Teil aufnehmenden Staaten keine Einigung über Zeitpunkt, der Kosten tragen sollte. Insbesondere die Kosten der Anzahl und Kriterien für die Auswahl der aufzunehmen- Aufnahme, des Aufenthalts, der Rückführung sowie Ver- den Flüchtlinge erzielen müssen. Zudem ist auch keine waltungskosten sollten dem Solidaritätsprinzip folgend Einigkeit über die Frage erforderlich, unter welchen Um- übernommen werden. Der Vorschlag fand laut ECRE ständen eine besondere Belastung des EU-Staats vorliegt. keine Zustimmung, da viele Details für die Umsetzung Es führt jedoch zu einer uneinheitlichen Anwendung und und Berechnung der tatsächlichen Kosten offen blie- somit zu keiner objektiven und gerechten Verfahrens- ben.36 weise der Mitgliedstaaten untereinander; bisher konnte es jedenfalls zu keiner ausreichenden Lösung der aktuel- Vorstellbar wäre eine Pauschale für jeden Asylbewerber: len Problembereiche des Dublin-Systems führen. So wird Da die tatsächlichen Kosten in den einzelnen EU-Staaten Malta im Rahmen des Pilotprojekts zwar etwas entlastet, angesichts unterschiedlicher Lebensstandards37 jedoch die dort verbleibenden Flüchtlinge sind jedoch weiterhin erheblich divergieren, müsste für jeden EU-Staat eine ge- den problematischen Standards eines überlasteten EU- sonderte Pauschale ermittelt werden. Staats ausgeliefert. Berichten zufolge kam es auch be- reits zu Problemen mit Flüchtlingen, die im Rahmen der Ein solches Modell könnte als solidarische und gerechte relocation nach Polen geschickt werden sollten, obwohl Lösung von den EU-Staaten akzeptiert werden, sofern sie dort nicht leben wollten. Auch hier sollten die Bedürf- ein finanzieller Ausgleich ermittelt würde, der die tat- nisse der Flüchtlinge geachtet werden.40 sächlichen Kosten abdeckt. Würden Flüchtlinge darüber hinaus nicht nur als Kostenfaktor gelten und würde in Eine weitere Gefahr besteht darin, dass sich jene EU- Kombination mit dem Kostenausgleich von zwangswei- Staaten, die durch das Instrument der relocation entlastet sen Überstellungen der Flüchtlinge in andere EU-Staaten werden, ausschließlich auf die Unterstützung von außen abgesehen, könnte dieses Instrument auch den Bedürf- verlassen und davon absehen, ihre Asylstandards und nissen der Flüchtlinge entsprechen. In der praktischen Aufnahmekapazitäten zu verbessern. Flankierend wäre Umsetzung dürfte die Ermittlung einer Kostenpauschale daher die Anwendung von Zwangsmitteln sinnvoll, damit für jeden EU-Bürger jedoch sehr problematisch sein. die überlasteten Staaten effektive und rasche Schritte zur Beseitigung der Mängel unternehmen.41 5.2.4 Relocation 5.2.5 Freizügigkeit für Flüchtlinge Derzeit läuft ein Pilotprojekt zur Umsiedlung von rund innerhalb der EU 250 Personen mit internationalem Schutzstatus aus Malta in zehn EU-Staaten.38 Im Rahmen dieses Projekts Keine eigenständige Lösung, aber eine flankierende ordnete auch das deutsche Bundesministerium des In- Maßnahme zu den bereits dargestellten Lösungsmo- nern (BMI) kürzlich die Aufnahme von 150 Personen an, dellen wäre die Gewährung von Freizügigkeit für aner- die Malta seit Ende März 2011 über das Mittelmeer er- kannte Flüchtlinge innerhalb der EU.42 Ähnlich etwa der reicht haben. Dies sei laut BMI ein »Zeichen der Soli- 39. ECRE schlägt die relocation auf der Grundlage einer doppelten Frei- willigkeit vor, d. h. neben der freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen durch andere EU-Staaten sollte auch das entsprechende Einverständnis des Betroffenen eingeholt werden. ECRE, Sharing Responsibility for Re- fugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 24. 40. Siehe hierzu beispielsweise die Vorschläge, die UNHCR zu den Ände- 36. ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin rungsvorschlägen der EU-Kommission gemacht hat in der UNHCR-Ana- Reconsidered, ebd., 31. lyse vom 18.3.2009, ebd. 37. Siehe hierzu die Statistiken von Eurostat. 41. Dies ist eine Forderung von ECRE, Sharing Responsibility for Refugee 38. Das Pilotprojekt EUREMA betrifft lediglich Flüchtlinge aus Malta; es Protection in Europe: Dublin Reconsidered, März 2008. wurde über den ursprünglich vorgesehenen Zeitraum hinaus verlängert. 42. Siehe oben Fn. 14. 11
Klaudia Dolk | Das Dublin-Verfahren Regelung innerhalb Deutschlands könnten Flüchtlinge nicht ausschließt. Eine Alternative wäre hingegen eine nach einer Anerkennung zu ihren Familienangehörigen, Saldierung der Überstellungszahlen auf bilateraler Ebene zu ihren sozialen Netzwerken oder in denjenigen EU- oder auch systematisch auf EU-Ebene. Staat umziehen, dessen Sprache sie beherrschen. Dies könnte einerseits ein Anreiz für die EU-Staaten sein, Asyl- Die EU-Kommission hat eine solche »Annullierung« des verfahren zügiger durchzuführen, andererseits aber auch Austauschs einer gleichen Zahl von Asylsuchenden auf zu dem Hemmnis führen, anerkannte Flüchtlinge im ei- bilateraler Ebene in ihrem Evaluierungsbericht 2007 er- genen Land zu integrieren. wogen, diesen Ansatz in den Änderungsvorschlägen zur Dublin II-Verordnung jedoch nicht weiterverfolgt. In dem Da aber selbst Unionsbürger innerhalb der EU keine un- Evaluierungsbericht stellte die EU-Kommission hierzu al- eingeschränkte Freizügigkeit genießen, ist fraglich, ob lerdings fest, dass eine solche Verrechnung bzw. Saldie- eine Besserstellung von anerkannten Flüchtlingen mög- rung die Effizienz des Dublin-Systems steigern würde, da lich wäre. Eine mit Unionsbürgern vergleichbare Frei- die Quote der überstellten Asylsuchenden im Vergleich zügigkeit wäre jedoch schon eine wesentliche Verbes- zu den akzeptierten Überstellungen gering sei und die serung, z. B. mit Blick auf den Anwendungsbereich der Effizienz des Systems ganz erheblich beeinträchtige. Eine Daueraufenthaltsrichtlinie43. Diese setzt für Drittstaatsan- Saldierung könnte den Arbeitsaufwand und die Überstel- gehörige mit Umzugswunsch in ein anderes EU-Land ei- lungskosten der Mitgliedstaaten demnach deutlich redu- nen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt voraus, wäh- zieren. Außerdem könnten weitere Sekundärbewegun- rend Unionsbürger zur Arbeitssuche, zur Ausübung einer gen nach den Überstellungen vermieden werden. Erwerbstätigkeit und als Familienangehörige jederzeit in andere EU-Staaten übersiedeln dürfen. Eine erneute ECRE stimmt zwar mit der EU-Kommission überein, dass Änderung der Daueraufenthaltsrichtlinie käme insofern die Effizienz durch eine Saldierung tatsächlich gesteigert ebenfalls in Betracht. werden könnte, für den Flüchtlingsrat zeigt sich jedoch darin die Absurdität des nach seiner Ansicht gescheiter- Die Gewährung von Freizügigkeit für anerkannte Flücht- ten Dublin-Systems. Wenn nämlich eine Effizienzsteige- linge könnte einen Anreiz für die EU-Staaten schaffen, rung nur dadurch ermöglicht wird, dass die Mitgliedstaa- das Asylverfahren zügig durchzuführen. Dies wäre auch ten vereinbaren, gerade nicht entsprechend der festge- im Sinne der Flüchtlinge, sofern sie das Bedürfnis haben, stellten Zuständigkeit Überstellungen durchzuführen, in einem anderen EU-Staat zu leben. wird das ganze System ad absurdum geführt.44 Begreift man das Dublin-System jedoch nicht vorrangig 5.2.6 Saldierung der Überstellungen als »Überstellungsmaschinerie«, die bereits als geschei- tert gilt, wenn nicht alle Flüchtlinge tatsächlich in den Flüchtlinge werden im Rahmen der Dublin II-Verord- zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, sondern als nung zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten hin- eine vom Verbleib des einzelnen Flüchtlings unabhängige und hergeschickt. So sendet Deutschland Flüchtlinge in europäische Verteilungsregelung, wäre eine Saldierung Dublin-Verfahren in andere zuständige Mitgliedstaaten, durchaus systemimmanent. Abstrakt betrachtet käme es während aus anderen Mitgliedstaaten Flüchtlinge nach somit lediglich darauf an, ob in jedem Mitgliedstaat tat- Deutschland überstellt werden.� Freiwillige Ausreisen in sächlich die Anzahl von Flüchtlingen verbleibt, für die den jeweils zuständigen Staat werden Flüchtlingen in der dieser nach den Kriterien der Dublin II-Verordnung auch Regel nicht ermöglicht. Dublin-Überstellungen gehen – zuständig ist. als so genannte »kontrollierte Überstellung« – grund- sätzlich als Verwaltungsvollstreckung (d. h. einer Abschie- Ein solches Verfahren würde zur Vermeidung von Ein- bung bzw. Überstellung) mit staatlichen Zwangsmitteln griffen in die Grundrechte bei den betroffenen Flücht- einher (Haft, »Abholung« und »Begleitung« zum Flug- lingen führen und dürfte auch im Sinne der Flüchtlinge hafen), obwohl die Dublin II-Verordnung freiwillige Aus- sein, denn sie werden in der Regel ihre Gründe für eine reisen der Flüchtlinge in den zuständigen Mitgliedstaat 44. ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin 43. Statistiken hierzu finden sich bei Eurostat. Reconsidered, ebd., 11. 12
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