Das Ende der Meinungsfreiheit? - Johannes Mosmann
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6 Zeitgeschehen
Zeitgeschehen
Johannes Mosmann
Das Ende der Meinungsfreiheit?
Ein Faktencheck zum ›Digital Service Act‹
Im Juni 2022 stimmte der EU-Binnenmarktausschuss der ›Verordnung über digitale Dienste‹ zu, die
weitreichende Folgen für die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung hat. Unverblümt sprechen
die EU-Funktionäre nun auch das zugrunde liegende Weltbild aus: Unwahrheiten verhalten sich
wie Viren, weshalb eine gute Regierung die Wahrheit ebenso pflegen muss wie die Volksgesundheit.
Und zwar mit denselben Methoden: Verhinderung des Erstkontakts mit Unwahrheiten, Isolierung
der infizierten Träger und perspektivisch Impfungen gegen falsche Meinungen. Der folgende Essay
erläutert das neue Gesetz und seine Hintergründe.
Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung Verbreitungskanälen zu priorisieren« und »die
der Corona-Pandemie lassen sich in zwei Kate- Platzierung von Werbung auf Konten und Web-
gorien einteilen: Versammlungsverbote, Mas- sites, die Desinformationsanbietern gehören,
kenpflicht, Schulschließungen oder Impfkam- wirksam zu prüfen, zu kontrollieren und zu
pagne zielten direkt auf die Eindämmung der begrenzen.«3 Mit anderen Worten: ihre Suchal-
Pandemie. Flankiert wurden diese durch Maß- gorithmen zu manipulieren, Inhalte zu löschen
nahmen zur Durchsetzung »verlässlicher Infor- und Webseiten, die »Falschbehauptungen« ver-
mationen« in den Medien und zur »Bekämp- öffentlichten, Werbeeinnahmen zu entziehen.
fung von Desinformation«, die sich in atembe- Darüber, wie sie Desinformation unschädlich
raubender Geschwindigkeit ihre strukturellen machten und »verlässliche Informationen«
Voraussetzungen verschafften, etwa durch die durchsetzten, mussten die Konzerne der EU-
Einrichtung der ›Europäischen Beobachtungs- Kommission monatlich Bericht erstatten.
stelle für digitale Medien‹ (EDMO) bereits im Die wenigsten Betroffenen dürften die finanzi-
Juni 20201 oder der erstmaligen Unterstellung ellen Mittel gehabt haben, sich dagegen gericht-
aller »journalistisch-redaktionell gestalteten An- lich zur Wehr zu setzen. Die Künstlergruppe
gebote« unter die staatliche Aufsicht gemäß des ›#allesaufdentisch‹ versuchte es und klagte vor
›Medienstaatsvertrags‹ fünf Monate später.2 dem Landgericht Köln gegen die Löschung ihrer
Mit Unterzeichnung des ›Verhaltensko- Videos. Das Gericht gab den Künstlern recht.4
dex zur Bekämpfung von Desinformation‹ Google jedoch ging in Berufung und sperrte we-
verpflichteten sich die Digitalkonzerne, »in nige Tage nach dem Urteil vorsorglich weitere
technologische Mittel zu investieren, um re- Videos der Initiative.5 Ob diese ihr Recht auf
levante, authentische und maßgebliche In- freie Meinungsäußerung letztendlich durchset-
formationen gegebenenfalls in der Suche, in zen wird, dürfte den »öffentlich-privaten Part-
Feeds oder anderen automatisch eingestuften nerschaften« egal sein.
die Drei 4/2022Zeitgeschehen 7
Im August 2021 erklärte Neal Mohan, Pro- oft nur scheinbar eingehen, während sie selbst
duktleiter von Youtube, dass die Google-Toch- neue in die Welt setzen.
ter bislang mehr als eine Million Videos mit Ein Beispiel hierzu aus dem unverdächtigen
Corona-Bezug gelöscht habe.6 Effektiver noch Bayrischen Rundfunk: Der ›#Faktenfuchs‹ be-
als die Löschungen sei allerdings die Vorzugs- antwortet die Frage, ob in Deutschland zensiert
behandlung für »vertrauenswürdige Informati- werde, damit, dass Zensur laut Grundgesetz
onen« gewesen. »Bei COVID verlassen wir uns verboten sei. Der befragte »Experte« fügt hinzu:
auf den Expertenkonsens von Gesundheits- Wenn jemand nicht sagen dürfe, was er wolle,
organisationen wie der CDC und der WHO«, sei das noch keine Zensur. Im weiteren Verlauf
so Mohan.7 Dasselbe machte Google mit den philosophiert der vermeintliche »Faktencheck«
Trefferlisten der Suchmaschine.8 Unabhängig dann über »Grenzen der Meinungsfreiheit«, um
vom Sinn der Suchanfragen wurden »vertrau- Deutschland schließlich eine Spitzenposition
enswürdige Informationen« von Regierungen in Sachen Meinungsfreiheit zu bescheinigen.
oder regierungsnahen Institutionen im Ranking Die wichtigste Botschaft steckt jedoch in den
nach oben gedrückt, wohlwissend, dass alles, fett gedruckten einleitenden Worten: »Die AfD
was nicht auf den ersten drei Seiten erscheint, und andere Akteure äußern immer wieder den
kaum mehr einen Leser findet. In bislang nie Vorwurf, dass in Deutschland zensiert wird.
da gewesenem Ausmaß kuratierte Google ins- Wer sich regierungskritisch äußere, dessen In-
besondere die erste Seite seiner Trefferliste9 und halte würden gelöscht.«.14 Der Leser erfährt also
kooperierte hierbei mit der WHO und der Johns durch den »Faktencheck« , dass die Meinung, in
Hopkins Universität, aber auch mit Jens Spahn Deutschland werde zensiert, von Rechtsaußen
und dem Bundesgesundheitsministerium.10 kommt, und daher auch, in welches Lager er
selbst gehört, falls er sie teilen sollte.
Tatsächlich glaubt jedoch laut einer Allens-
Spiel mit Fakten
bach-Umfrage über die Hälfte der Deutschen,
Direkte Anweisungen von Regierungsvertretern dass man seine Meinung nicht mehr frei äu-
an Zeitungsverlage, Sendeanstalten oder Nach- ßern könne.15 Rudolf Thiemann, Präsident
richtenportale waren so weitgehend überflüssig. der Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger,
Das naturgemäße Interesse am wirtschaftlichen findet gar, die Kooperation des Gesundheits-
Überleben zwang die Medienanbieter zur Ver- ministeriums mit Google sei ein »einmaliger
breitung einer einzigen, monotonen Botschaft. und neuartiger Angriff auf die Pressefreiheit.«16
Eine wichtige Rolle spielen hier die »Fakten- Noch deutlicher wird der Kommunikations-
checker«. Ihre deutschen Flaggschiffe wie ›Cor- wissenschaftler Dr. Prof. Michael Meyen von
rectiv‹ oder ›dpa-Faktencheck‹ sind unter dem der Ludwig-Maximilians-Universität München
Dach des US-amerikanischen ›Poynter-Instituts‹ im linksliberalen ›der Freitag‹: »Der Staat greift
organisiert11 und werden u.a. von Facebook für nach dem Internet – und die Öffentlichkeit
die Identifizierung von »Falschbehauptungen« schaut weg. […] Der Staat hat Zensurbehörden
bezahlt.12 Künftig sollen alle Wahrheitsprüfer installiert und dafür auf der großen Bühne so-
in einem von der ›Europäischen Beobachtungs- gar Beifall bekommen. [...] Meinungs- und Me-
stelle für digitale Medien‹ geführten Netzwerk dienfreiheit waren gestern. Heute bestimmt die
zusammenarbeiten und von den Digitalkon- Politik, was öffentlich gesagt werden darf.«17
zernen einen Pflichtbeitrag erhalten.13 »Fakten- Weder die Mehrheit der Deutschen noch
checks« sind somit keineswegs rein informativ, VDZ-Präsident Thiemann oder Professor Mey
sondern beeinflussen als Dienstleistung für die en stehen der AfD nahe. Dennoch sagt der
Digitalkonzerne, welche Meinungen sichtbar ›#Faktenfuchs‹ nicht die Unwahrheit. Er wählt
werden und sich verbreiten können. Zugleich nur die Fragestellung so aus, dass mit dem
wirken sie ihrerseits meinungsbildend, indem »Faktencheck« zugleich ein ganzes Meinungs-
sie auf die zu überprüfenden Behauptungen spektrum diffamiert werden kann. Ähnlich
die Drei 4/20228 Zeitgeschehen
geht auch ›Correctiv‹ vor. »Gefangener mit Ha- Privatwirtschaft verwischen, liegt in der Natur
kenkreuz-Tattoos: Foto stammt nicht aus der der Sache. Trotzdem kann auch der Begriff der
Ukraine, sondern von 2005 aus Belarus« titelte »freiwilligen Selbstregulierung« längst nicht
die Faktencheck-Organisation am 1. Juli 2022. mehr verbergen, dass es sich hier tatsächlich
Diese Richtigstellung ist sicherlich korrekt. um eine staatliche Regulierung, und somit auch
›Correctiv‹ fährt jedoch fort: »Das Foto wird nach »offizieller« Lesart um Zensur handelt. Der
als vermeintlicher Beleg für Neonazis in der »Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desin-
Ukraine herangezogen – ein Narrativ, mit dem formation« wurde bereits 2018 verabschiedet
der russische Präsident Wladimir Putin seinen und zielte ursprünglich auf die Eindämmung
Angriffskrieg rechtfertigt.«18 Das geprüfte Fak- vermeintlicher russischer oder russlandfreund-
tum repräsentiert also ein »Narrativ«, das mit licher »Propaganda« vor dem Hintergrund der
seiner Richtigstellung scheinbar widerlegt und Krim-Krise und der angeblichen Unterstützung
zur »Desinformation« wird. Tatsächlich gibt für Donald Trump durch Wladimir Putin.21
es aber keinen Zweifel daran, dass auf ukra Die Pandemie diente laut EU-Kommission
inischer Seite auch Neonazis kämpfen – ganz dann als »Stresstest« für den Kodex und sollte
gleich, wo jenes Foto herstammt.. genutzt werden, um diesen zu bewerten und zu
verbessern. Im Juni 2020 erklärte die EU-Vize-
präsidentin Věra Jourová: »Die COVID-19-Pan-
Wer hat die bessere Propagandamaschine?
demie ist nur eine Erinnerung an das riesige
Wer mit Michael Meyen meint, in Deutschland Problem der Fehlinformationen, Desinforma-
werde zensiert, lebt gefährlich. Der Kommu- tionen und Falschinformation. [...] Die Arbeit
nikationswissenschaftler berichtet über die ist noch nicht getan. Ganz im Gegenteil. Die
Folgen seiner Äußerungen: »Ich soll nach dem Krise hat uns erneut gezeigt, dass auch andere
Prinzip Kontaktschuld mundtot gemacht und staatliche Akteure über mächtige Propaganda-
möglicherweise sogar aus der Universität ent- maschinen verfügen. Ich erinnere mich, dass
fernt werden.«19 Kein Wunder – schließlich ich schockiert war, als ich eine Meinungsum-
gilt auch diese Meinung als »Desinformation«. frage in Italien sah, die zeigte, dass die Italiener
Die Logik dahinter: Wenn Konzerne zensieren, China viel mehr als Freund und Deutschland
heißt das nicht »Zensur«, denn die geht immer als Feind betrachteten. […] Es ist höchste Zeit,
vom Staat aus. Die Bundeszentrale für poli- dies zu verbessern und nicht zuzulassen, dass
tische Bildung erläutert: »Die Freiheit der Pres- andere – wie China – den Raum besetzen.«22
se und der Berichterstattung vor staatlichen Im Juli gab die EU-Präsidentin Ursula von der
Eingriffen werden durch das Zensurverbot des Leyen dann bekannt, dass ihrer Behörde, »auf-
Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG verboten. Gemeint ist da- bauend auf den Maßnahmen« zur »Bekämp-
mit eine Vorkontrolle von Veröffentlichungen fung von Desinformation zu COVID-19«, zu-
durch staatliche Behörden. Zulässig sind aber künftig viel weitreichendere Möglichkeiten zur
freiwillige Selbstkontrollen«20. »Bewältigung von Desinformation« verschafft
Diese Definition geht jedoch völlig an der werden sollten.23 Im Rahmen eines »Aktions-
Lebenswirklichkeit einer digitalisierten Gesell- plans für Demokratie« sollten zunächst die Er-
schaft vorbei. Wer heute zensieren will, quält fahrungen mit den oben skizzierten Methoden
sich nicht mit einer bürokratischen »Vorkon- zur Erlangung der Meinungshoheit über das Vi-
trolle von Veröffentlichungen«, wie das in fa- rus ausgewertet werden, um dann in ein »Ge-
schistischen oder sozialistischen Systemen setzespaket über digitale Dienste« einzufließen.
funktioniert haben mag. Vielmehr spricht er Der »Verhaltenskodex zur Bekämpfung von
von einer »freiwilligen Selbstregulierung« der- Desinformation« sollte verschärft und in die
jenigen Konzerne, welche die Infrastruktur der geplante Neufassung des ›Digital Service Act‹,
Meinungsbildung und -äußerung dominieren. eingebunden werden. Zugleich sollte dieser die
Dass dabei die Grenzen zwischen Staat und Grundlage für die Errichtung einer Infrastruk-
die Drei 4/2022Zeitgeschehen 9
tur zur permanenten Überwachung, Kontrolle Nutzer nicht Google & Co. umgehen und auf
und Moderation der Medienlandschaft bieten. alternative Suchmaschinen ausweichen kön-
Ein Jahr später »unterrichtete« die EU-Kom- nen, sei eine »breitere Beteiligung« auch klei-
mission den deutschen Bundesrat über ihre nerer Dienste anzustreben. Um Webseiten,
bisherigen Erfolge und ihre weiteren Pläne.24 die absichtlich oder unabsichtlich Artikel mit
Anerkennend stellte sie zunächst fest: »Im Falschbehauptungen veröffentlichen, vollstän-
Rahmen des Überwachungsprogramms wurde dig zu »demonetarisieren«, müssten nun auch
nicht nur ein detaillierter Überblick über die »elektronische Zahlungsdienste, E-Commerce-
Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinforma- Plattformen« und »Crowdfunding-/Spendensys-
tion rund um COVID-19 auf der Grundlage der teme« einbezogen werden. Außerdem fordert
Verpflichtungen des Kodex gewonnen, sondern die EU-Kommission vollen Zugriff auf »perso-
der Kodex wurde ferner einem ›Stresstest‹ un- nenbezogene Daten« der Leser solcher Artikel
terzogen.« Dieser habe insbesondere die Wirk- (also beispielsweise des vorliegenden), um de-
samkeit der Maßnahmen zur »Erhöhung der ren Verhalten zu studieren und »angemessene«
Sichtbarkeit von zuverlässigen Quellen« und Gegenmaßnahmen entwickeln zu können«26.
zur »Beseitigung von Inhalten, die falsche oder
irreführende Informationen enthalten und da-
Verschärfte Medienkompetenz
durch körperliche Schäden verursachen oder
die Wirksamkeit der öffentlichen Gesundheits- Genau ein weiteres Jahr später, am 16. Juni 2022,
politik beeinträchtigen können«25, bewiesen. wurde der »Verschärfte Verhaltenskodex gegen
Allerdings bemängelte die EU-Kommission Desinformation« verabschiedet und von Goo-
auch eine Reihe von Unzulänglichkeiten. Der gle, Microsoft, Avaaz und vielen weiteren Digi-
Begriff »Desinformation« werde oft noch zu eng talkonzernen unterzeichnet.27 Was in der frühe-
gefasst. Es käme nicht darauf an, ob bewusst ren Fassung noch recht allgemein gehalten war,
Falsches behauptet werde, sondern darauf, wird nun konkret benannt: Medienplattformen,
dass Fehlinformationen einen »erheblichen Verlage und Werbeagenturen sollen Schritte
öffentlichen Schaden anrichten können, wenn ergreifen, um »die Schaltung von Werbung in
sie viral werden.« Auch seien die von den Di- der Nähe von Desinformationsinhalten oder an
gitalkonzernen gelieferten Daten noch nicht Orten zu vermeiden, an denen wiederholt Des-
»detailliert genug, um das Ausmaß der Umset- informationen veröffentlicht werden«, sowie
zung von Verpflichtungen oder die Wirkung der »Maßnahmen zur Entfernung, Sperrung oder
ergriffenen Maßnahmen zu messen.« Deshalb anderweitigen Einschränkung von Werbung auf
könne man nicht sicher sein, ob die »gemeldeten Seiten und/oder Domains«, die »schädliche Des-
Maßnahmen« wirklich flächendeckend »in al- informationen verbreiten.28 Die Unterzeichner
len Mitgliedstaaten bzw. in allen EU-Sprachen werden außerdem mit allen »Akteuren, die in
umgesetzt wurden«. Außerdem fehle noch ein der Wertschöpfungskette der Online-Monetari-
»zentrales Verzeichnis für Faktenprüfungen«, sierung tätig sind, zusammenarbeiten«29, damit
sodass gegenwärtig noch Informationen, die die Verbreitung von Desinformation »nieman-
von »Faktenprüfern als falsch eingestuft wur- dem einen einzigen Euro« bringt30, wie EU-Kom-
den, auf verschiedenen Plattformen wieder auf- missar Breton erklärt.
tauchen« können. Und der Entzug von Werbe- Vor allem aber entwickeln die Unterzeichner
einnahmen habe sich zwar als wirksame Waffe weitere »Maßnahmen zur Begrenzung der Ver-
erwiesen, sei aber noch nicht ausreichend, um breitung schädlicher falscher oder irreführender
Verbreiter von »Desinformationen« jeglicher Informationen (je nach Dienst z. B. Verbot, He-
Einnahmen zu berauben. rabstufung oder Nichtempfehlung schädlicher,
Künftig sollten alle Faktenchecker mit der falscher oder irreführender Informationen, an-
»Europäischen Beobachtungsstelle für digitale gepasst an die Schwere der Auswirkungen und
Medien zusammenarbeiten«. Damit Internet- unter gebührender Berücksichtigung der Mei-
die Drei 4/202210 Zeitgeschehen
nungs- und Informationsfreiheit) und setzen Dienste.«34 Das heißt, die EU finanziert die Fak-
diese durch; außerdem ergreifen sie Maßnah- tenchecks zwar nicht direkt, zwingt aber die
men gegen Webseiten oder Akteure, die diese Digitalkonzerne, dies zu tun. George Soros, Bill
Maßnahmen nachhaltig verletzen.«31 Gates und Pierre Omidyar, die zu den wich-
Die Digitalkonzerne sollen darüber hinaus die tigsten Geldgebern etwa von ›Correctiv‹ oder
Nutzer erziehen, indem sie ihnen »helfen, sach- ›Full Fact‹ gehören,35 dürften sich über diese
kundigere Entscheidungen zu treffen«, und ih- indirekte staatliche Subvention für ihre bislang
nen »Signale für die Vertrauenswürdigkeit« von »unabhängigen« Förderprojekte freuen.
Inhalten senden.32 »Medienkompetenz« wird Eingebettet ist der ›Verschärfte Verhaltens-
nun ganz groß geschrieben: »Die betreffenden kodex gegen Desinformation‹, wie im ›Aktions-
Unterzeichner werden Aktivitäten zur Ver- plan für Demokratie‹ vorgesehen, in ein zeit-
besserung der Medienkompetenz und des kri- gleich verabschiedetes Gesetzespaket, darun-
tischen Denkens entwickeln, fördern und/oder ter eine Neufassung des »Digital Service Act«
unterstützen oder fortsetzen, wie z.B. Kampa- und der ebenfalls grundlegend überarbeitete
gnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit in ›Digital Market Act‹. Der Clou dabei: Die Un-
der gesamten Europäischen Union für Desinfor- terzeichnung des Verhaltenskodexes bleibt for-
mation sowie für die von böswilligen Akteuren« mell freiwillig. Das Gesetz verlangt von Google
verwendeten Taktiken. Aber auch die EU-Kom- & Co. aber zwingend genau das, was durch den
mission will kompetent werden, indem sie den Verhaltenskodex geregelt ist. Mit anderen Wor-
Digitalkonzernen bei der Volkserziehung über ten: Die Unterzeichnung des Verhaltenskodex
die Schulter schaut: »Die betreffenden Unter- ist der bequemere Weg, den Bestimmungen des
zeichner berichten über ihre Strategien und ›Digital Service Act‹ nachzukommen. Wer ihn
Maßnahmen, mit denen sie sicherstellen, dass nicht freiwillig unterschreibt, wird zu gleich-
die Algorithmen, die zur Erkennung, Mäßigung wertigen Maßnahmen gezwungen.
und Sanktionierung von unzulässigem Verhal- Aber der Reihe nach: In Artikel 26 des 324
ten und Inhalten in ihren Diensten verwendet Seiten umfassenden ›Digital Service Act‹ wird
werden, vertrauenswürdig sind«, und melden zunächst allgemein verfügt: »Die Anbieter sehr
»die Anzahl der Verlage«, deren »Konformitäts- großer Online-Plattformen ermitteln, analysie-
bzw. Vertrauenswürdigkeitswerte sich dadurch ren und bewerten sorgfältig alle systemischen
verbessert haben.«33 Risiken, die sich aus der Konzeption, ein-
schließlich der algorithmischen Systeme, der
Funktionsweise und der Nutzung ihrer Dienste
Der Mensch ist ein Systemrisiko in der Union ergeben«.36 Dabei wird insbeson-
Die EU möchte also mithilfe der Digitalkon- dere der Kontakt von »Empfängern« (gemeint
zerne die »Konformitäts- bzw. Ver trau
ens sind Menschen) mit ansteckenden »Desinfor-
würdigkeitswerte« der Presse erhöhen. Vor mationen« als »systemisches Risiko« für die
aussetzung ist natürlich, dass Google & Co. EU eingestuft. Zwar sollen auch Cyberkrimina-
wissen, was »konform« ist und die »Wahrheit« lität, Kindesmissbrauch und andere Gefahren
kennen, die Verlage und Leser ohne die Fürsor- besser bewältigt werden, aber das Hauptziel
ge der Regierung mit einer »Lüge« verwechseln ist klar formuliert: »Mit dieser Ver ordnung
würden. Deshalb müssen die Unterzeichner werden die für Vermittlungsdienste im Bin-
nun Vereinbarungen mit »unabhängigen Fact- nenmarkt geltenden Vorschriften vollständig
Checking-Organisationen« abschließen, um harmonisiert, um ein sicheres, vorhersehbares
»eine flächendeckende Faktenüberprüfung in und vertrauenswürdiges Online-Umfeld zu
allen Mitgliedstaaten zu erreichen«, und leis gewährleisten, in dem die Verbreitung ille-
ten diesen Organisationen »einen angemes- galer Online-Inhalte und die gesellschaftlichen
senen finanziellen Beitrag für ihre Arbeit zur Risiken, die durch die Verbreitung von Desin-
Bekämpfung von Desinformation über ihre formationen oder anderen Inhalten entstehen
die Drei 4/2022Zeitgeschehen 11
können, bekämpft werden«.37 Ausdrücklich wiederum »Flaggenführer« aus den Verbänden
sollen die Konzerne über die Bekämpfung ille- der Digitalwirtschaft, mit denen sie direkt zu-
galer Inhalte hinausgehen und sich auf »Infor- sammenarbeiten.43 Außerdem verleihen sie den
mationen konzentrieren, die zwar nicht illegal Titel des »geprüften Forschers« an »unabhängige
sind, aber zu den in dieser Verordnung ge- Dritte«, die von den Digitalkonzernen »zur Auf-
nannten Systemrisiken beitragen. Die Anbieter deckung, Identifizierung und zum Verständnis
sollten daher besonders darauf achten, wie ihre von Systemrisiken« nicht nur anonymisierte,
Dienste genutzt werden, um irreführende oder sondern auch die personenbezogenen Nutzer-
täuschende Inhalte, einschließlich Desinforma- daten »in Echtzeit« erhalten sollen.44
tion, zu verbreiten oder zu verstärken.«38 Das ist aber noch nicht alles. Im Falle ei-
Die Verordnung verpflichtet Google & Co. ner »Krise«, wie z.B. der Corona-Pandemie
aber nicht nur, das in Suchtreffern lau ern
de oder dem Ukraine-Krieg, greift der »Krisen-
»Systemrisiko« zu bewerten, sondern auch zu reaktionsmechanismus«. In diesem Fall kann
wirksamen »Maßnahmen zur Risikominderung, die EU-Kommission direkt eingreifen und von
die auf die gemäß Artikel 26 ermittelten spe den Digitalkonzernen verlangen, sofort »spezi-
zifischen Systemrisiken zugeschnitten sind«39. fische, wirksame und verhältnismäßige Maß-
Als »wirksame Maßnahmen« gelten u.a.: »An- nahmen, wie die in Artikel 27 Absatz 1 oder
passung der Gestaltung, der Merkmale oder der Artikel 37 Absatz 2 vorgesehenen, zu ermitteln
Funktionsweise ihrer Dienste«, das »Anpassen und anzuwenden, um einen solchen Beitrag
ihrer algorithmischen Systeme, einschließlich zu der gemäß Buchstabe a ermittelten ernsten
ihrer Empfehlungssysteme« und »gezielte Maß- Gefahr zu verhindern, zu beseitigen oder zu
nahmen«, die darauf »abzielen, die Darstellung begrenzen.«45 Was als »Krise« anzusehen ist,
von Werbung in Verbindung mit dem von ih- bleibt unbestimmt: »Für die Zwecke dieses
nen angebotenen Dienst einzuschränken oder Artikels gilt eine Krise als eingetreten, wenn
anzupassen«.40 Bei Verstößen kann die EU- außergewöhnliche Umstände zu einer ernst-
Kommission gegen den betreffenden Konzern haften Bedrohung der öffentlichen Sicherheit
»Geldbußen von bis zu 6 % seines gesamten oder der öffentlichen Gesundheit in der Union
weltweiten Jahresumsatzes im vorausgegan- oder in wesentlichen Teilen davon führen.«46
genen Geschäftsjahr verhängen.«41 Josep Borell, EU-Vertreter für Außen- und
Sicherheitspolitik, weist auf die dahinterste-
hende Weltanschauung hin: »Es ist wirklich
Ein neuartiges Gehirnvirus
offensichtlich, dass die Viruspandemie von
Der Schwerpunkt des ›Digital Service Act‹ liegt einer Infodemie, einer Pandemie der Desin-
weniger auf einzelnen Maßnahmen als auf dem formation, begleitet wurde«.47 Es wird also das
Aufbau einer Infrastruktur zur Erforschung, naturwissenschaftliche Bild, welches man sich
Überwachung und Steuerung des digitalen vom Virusgeschehen machte, auf das soziale
Raumes als solchem. Die EU-Kommission will Leben übertragen. Auch Kodex und Verordnung
lernen. Deshalb müssen die Digitalkonzerne verweisen mehrfach auf die »virale« Verbrei-
nun ihre Algorithmen offenlegen, sämtliche tung von »Desinformationen« und ziehen den
Daten bereitstellen und unter Leitung der EU- Vergleich zur Pandemie. Die Corona-Krise be-
Kommission kontinuierlich an der Entwicklung weist angeblich, dass sich Meinungen wie Viren
effizienterer Methoden zur Ausschaltung von verhalten. So wie Viren in den menschlichen
»Systemrisiken« mitarbeiten. Die Daten werden Körper eindringen und ihn krank machen, so
zentral zusammengeführt, während zugleich auch falsche Gedanken und Einstellungen. Wer
ein hierarchisches System von »Koordinatoren« einmal mit einer »Desinformation« Kontakt hat-
für jeden Mitgliedsstaat die flächendeckende te, trägt das »Gehirnvirus« in sich und steckt
»Durchsetzung« der »Wahrheit« nach unten ge- andere Menschen damit an. Folglich muss die
währleistet.42 Diese »Koordinatoren« ernennen Regierung nicht nur die »Volksgesundheit«,
die Drei 4/202212 Zeitgeschehen
sondern auch »die Wahrheit« pflegen. Falsche »Schließlich ist das ultimative Ziel der psy-
Meinungen sind auf dieselbe Art zu bekämp- chologischen Impfung die Herdenimmunität:
fen wie Viren, nämlich durch Verhinderung des Welcher Prozentsatz einer Online-Community
Erstkontakts und Isolierung der Infizierten. Das muss geimpft werden, mit welcher Rate und für
ist der Sinn der neuen Digital-Gesetze. wie lange, um eine ausreichende Immunität zu
Sogar an einer »Impfung« gegen die Geistes- erreichen? [...] Computermodelle, die die ex-
krankheit der falschen Meinung wird bereits perimentellen Effekte der oben beschriebenen
geforscht. Laut einer gemeinsamen Studie der Maßnahmen nutzen, werden derzeit entwi-
Universitäten Cambridge und Yale können ckelt, um Schätzungen auf Bevölkerungsebene
durch Kontakt mit einer »abgeschwächten Do- für das Erreichen einer psychologischen Herde-
sis« der »Falschinformation« im Empfänger »An- nimmunität gegen Fehlinformationen zu simu-
tikörper« gebildet werden, die das (psychische) lieren. Denn wenn genügend Menschen geimpft
Immunsystem gegen »künftige Infektionen« mit sind und psychologische Antikörper entwickelt
Fake News stärken.48 Sander van der Linden, der haben, ist es weniger wahrscheinlich, dass Fehl-
das Projekt am ›Social Decision-Making Lab‹ in informationen verbreitet werden.«50
Cambridge leitet, ist auch Co-Autor einer ent- Es mag scheinen, als würde ich hier die Be-
sprechenden NATO-Studie 49, die im November griffe »Information« und »Meinung« durchein-
2021 dem ›Sonderausschuss zu Einflussnahme anderwerfen. In der Tat versucht die EU-Kom-
aus dem Ausland auf alle demokratischen Pro- mission, beides scharf zu trennen. Aus ihrer
zesse in der Europäischen Union‹ vorgestellt Sicht ist ein Gedanke wie z.B. der, dass die
wurde. Die Studie schließt mit den Worten: Impfungen nicht vor Corona schützen, keine
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be-allesaufdentisch-loeschung-100.html id_12648364.html
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about-covid-19-and-why-they-should-do-better/ rus/
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kooperation-gegen-pressefreiheit onalen-sicherheitsstrategie
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13 https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library 24 www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksa-
/2022-strengthened-code-practice-disinformation chen/2021/0501-0600/554-21.pdf
die Drei 4/2022Zeitgeschehen 13 »Meinung«, sondern eine »Falschinformation« verabscheue Krieg«. Nur eben nicht »Corona- und muss daher »entfernt« werden. Borrell Impfungen schaden mehr als sie nutzen«, oder: bringt die Haltung der EU-Kommission auf den »Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwor- Punkt: »Fakten sind eine Sache und Meinungen tung am Ukraine-Krieg.« Die eingangs gestell- eine andere. Meinungen sind frei; Fakten sind te Frage kann demnach wie folgt beantwortet Fakten.«51 Demnach können nur solche Gedan- werden: Nein, der ›Digital Service Act‹ bedeutet ken frei geäußert werden, die nicht den An- nicht das Ende der Meinungsfreiheit. Gleich- spruch erheben, sich auf die Wirklichkeit zu be- wohl ist die Bereitschaft der Bevölkerung, die ziehen. Die Freiheitssphäre wird in den Bereich Corona-Maßnahmen mitzutragen, genauso der subjektiven Befindlichkeit zurückgedrängt. wenig zufällig wie die weitgehende Einigkeit Die Wirklichkeit dagegen gehört der staatlich in der Haltung gegenüber Russland. In beiden geprüften Wissenschaft und ihren Helfern aus Fällen ist es der EU-Kommission hervorragend Politik und Digitalindustrie. Diese produzieren gelungen, die »hybride Kriegsführung« feind- zweifelsfreies »Faktenwissen«. Deshalb kann es licher Mächte zu bekämpfen und »die Wahr- in allen Dingen, über welche die Wissenschaft heit« durchzusetzen. Wir können also gelassen etwas zu sagen hat, keine Freiheit geben. der nächsten Krise entgegensehen. Aus demselben Grund ist aber auch der Zen- sur-Vorwurf unangebracht – schließlich wird Johannes Mosmann ist Mitarbeiter des ›Insti- die »Meinungsfreiheit« vom ›Digital Service tuts für soziale Dreigliederung‹ und Geschäfts- Act‹ gar nicht berührt. Ich darf weiterhin sa- führer der Freien Interkulturellen Waldorfschule gen: »Die Impfung macht mir Angst«, oder: »Ich Berlin und freischaffender Autor. 25 A.a.O., S. 5. 40 A.a.O., Artikel 59. 26 A.a.O., S. 8. 41 A.a.O., Artikel 59a. 27 https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/poli- 42 Die ominösen »Koordinatoren« finden sich über cies/code-practice-disinformation (deepl) den gesamten Gesetzestext verstreut, werden aber 28 A.a.O., SLI 111. nirgends spezifiziert. Klar ist bislang nur, dass nati- 29 A.a.O., Maßnahme 3.1 onale Koordinatoren die Verordnung gegenüber klei- 30 www.bayern.de/gerlach-begruesst-verschaerf- neren Plattformen, Webseiten und Verlagen durch- ten-eu-verhaltenskodex-gegen-desinformation-im- setzen und deren Verstöße sanktionieren sollen, netz-kommissar-breton-sagt-unterstuetzung-fuer- während die EU-Kommission sich um die globalen startups-und-kmus-bei-eu-satellitenprogramm-zu/ Konzerne kümmert. Vgl. https://ec.europa.eu/com- 31 https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/poli- mission/presscorner/detail/de/qanda_20_2348) cies/code-practice-disinformation Maßnahme 18.2. 43 Siehe Anm. 36, Artikel 19. Klammer im Original (übersetzt mit deepl.) 44 A.a.O., Artikel 31. 32 A.a.O., Selbstverpflichtung 22. 45 A.a.O., Artikel 27a. 33 A.a.O., SLI 22.5.2. 46 Ebd. 34 A.a.O., Maßnahme 30.1 und 30.2. 47 www.eeas.europa.eu/eeas/covid-19-disinfor- 35 Vgl. https://correctiv.org/en/finances/; und mation-remarks-hrvp-josep-borrell-european-parlia- https://www.theguardian.com/technology/2017/ ment-session-tackling-covid_en aug/08/fake-news-full-fact-software-immune-sys- 48 https://www.sonntagsblatt.de/artikel/medien/ tem-journalism-soros-omidyara ein-impfstoff-gegen-die-fake-news-pandemie 36 w w w . e u r o p a r l . e u r o p a . e u / m e e t d o c s 49 https://stratcomcoe.org/publications/inoculati- /2 0 1 4 _ 2 0 1 9 / p l m r e p / C O M M I T T E E S / I M C O / on-theory-and-misinformation/217 DV/2022/06-15/DSA_2020_0361COD_EN.pdf, Arti- 50 https://www.europarl.europa.eu/committees/ kel 26 (Übersetzt mit deepL). de/disinformation-and-conspiracy-theories-v/pro- 37 A.a.O., Präambel (9). duct-details/20211111CHE09681 (deepl) 38 A.a.O., Präambel (57). 51 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ 39 A.a.O., Artikel 27. detail/en/SPEECH_20_1036 die Drei 4/2022
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