Das Europäische Semester - Hauptverband der österreichischen ...
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EUROPA GOVERNANCE-MECHANISMUS
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Das Europäische Semester
Das „Europäische Semester“ wurde gemeinsam mit der als Beurteilungskriterium der EU-Mitgliedsstaaten
Strategie „Europa 2020“ als Governance-Mechanismus mitberücksichtigt. Ob sich die fiskalpolitischen Ziel-
eingeführt. Es bezeichnet ein Bündel an Prozessen, die setzungen der Europäischen Union mit humanisti-
mit dem Ziel der Vermeidung übermäßiger öffentlicher schen Grundwerten im Sinne der Unionsbürger in Ein-
Defizite und Schuldenstände oder makroökonomischer klang bringen lassen oder ob es sich dabei um ein
Ungleichgewichte von der Europäischen Kommission „sozialpolitisches Feigenblatt“ handelt, werden erst
orchestriert werden und in auf die einzelnen EU-Mit- die Entwicklungen der nächsten Jahre zeigen.
gliedsstaaten maßgeschneiderten Berichten, Empfeh-
lungen und zu einem kleineren Teil auch in sanktionier- Geschichte des
ten Vorgaben münden. Damit erhielt die Kommission Europäischen Semesters
ein Instrument, um die politischen Vorgänge innerhalb Der Gründungshistorie der EU als Nachfolgerin der
der Mitgliedsstaaten zu bewerten und Zielvorgaben für Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entsprechend,
innerstaatliche Reformen zu definieren. Gemeinsam mit nimmt das finanz- und wirtschaftspolitische Regelwerk
dem sogenannten „nationalen Semester“, das zur Um- im Vergleich zu anderen Politikbereichen einen hohen
setzung der Zielvorgaben dient, stellt das Europäische Stellenwert ein. Dies ist auch einer der prominentesten
Semester einen jährlichen Zyklus dar. Kritikpunkte an der Union. Nichtsdestotrotz verlief die
Auf der Basis politischer Leitlinien, die zu Beginn des Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik in der
Semester-Prozesses durch den Europäischen Rat, in Vergangenheit nicht immer reibungslos – vielmehr
dem die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusam- wurden schon einige Steuerungsinstrumente vorge-
mentreffen, festgelegt werden, erarbeitet die Kommis- schlagen, zum Teil eingeführt und einige davon auch
sion jährlich Länderberichte und länderspezifische wieder verworfen.
Empfehlungen. Im Falle der Feststellung eines über- Als erster Meilenstein zu einer EU-weiten Wirtschafts-
mäßigen makroökonomischen Ungleichgewichts kann und Finanzpolitik gilt der 1993 in Kraft getretene
die Kommission zusätzlich auch Sanktionen gegen Maastricht-Vertrag.2 Neben Aspekten der gemeinsamen
den betroffenen Mitgliedsstaat erlassen. Außen- und Sicherheitspolitik sowie Abkommen über
Eine Besonderheit des Europäischen Semesters sind polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit wurde die
die davon erfassten Politikbereiche, die weit über die EU als übergeordneter Verbund für die Europäischen
in den EU-Verträgen festgelegten Kompetenzen der Gemeinschaften und die Wirtschafts- und Währungs-
EU-Institutionen hinausgehen. Davon betroffen sind union (WWU) gegründet. Insbesondere Letzteres stellte
auch unmittelbare wie mittelbare Agenden der öster- den größten Schritt der wirtschaftlichen europäischen In-
reichischen Sozialversicherung, darunter die nationale tegration seit der Gründung der Europäischen Gemein-
Pensions-, Gesundheits-, Pflege- und Armutspolitik. schaften im Jahr 1957 dar.
Mag. Marcel Jira Kritisiert wird unter anderem die Fokussierung der Im Jahr 1997 folgte der Stabilitäts- und Wachstumspakt,
ist in der Abteilung Analyse auf den Faktor Kosteneffizienz, weil dabei der vor der Einführung des Euro als Buchgeld im Jahr
Leistungs-, Versicherungs- etwa Versorgungziele vernachlässigt werden.1 Auch 1999 die daran teilnehmenden Länder an eine modera-
und Beitragswesen im droht der im Selbstverständnis der österreichischen te Neuverschuldung binden und dem mit der Verschul-
Hauptverband tätig und Sozialversicherung liegende Solidaritätsgedanke zu dung einhergehenden Anstieg der Inflation vorbeugen
war der erste nationale
kurz zu kommen. Zwar wurde im Länderbericht von sollte.3 Konkret verpflichteten sich die Euroländer
Experte in der Europaver-
tretung der österreichi- 2018 erstmals die europäische Säule sozialer Rechte dazu, die Höhe des jährlichen Haushaltsdefizites auf
schen Sozialversicherung
1 Vgl. Hacker, Sozialplan ohne Risiko, Zeit Online, 17.11.2017.
in Brüssel. 2 Rat der Europäischen Gemeinschaft/Kommission der Europäischen Gemeinschaft, ABl. C 191.
3 Die zugrundeliegenden Rechtsakte sind die Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam über den Wachstums- und
Stabilitätspakt, 17.6.1997, die Verordnung (EG) Nr. 1466/97, 7.7.1997 und die Verordnung (EG) Nr. 1467/97, 7.7.1997.
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drei Prozent und die Gesamtverschuldung auf 60 Pro- sabon-Strategie auf zehn Jahre ausgelegt ist und neben
zent des BIP zu beschränken. Bei Überschreitung dieser mehreren umwelt-, bildungs-, sozial- und (am markan-
Grenzen kann der „Rat für Wirtschaft und Finanzen“ testen vertreten) wirtschaftspolitischen Zielsetzungen
(EU-Finanzministerrat) ein Verfahren mit diversen auch die Einführung des Europäischen Semesters als
Sanktionsmöglichkeiten gegen das betroffene Land ein- Kontrollmechanismus für diese Ziele vorsah.6 Manuel
leiten. Barroso, der damalige Präsident der Europäischen
Als nächster Schritt in der wirtschaftspolitischen Ge- Kommission, verfasste das Vorwort zur Strategie Euro-
schichte der Europäischen Union ist die im Jahr 2000 pa 2020 und hielt darin kritisch fest:
beschlossene Lissabon-Strategie zu nennen.4 Darin de-
finierte der Europäische Rat eine Reihe von Zielen, die „Die Krise ist ein Weckruf. Wir müssen erkennen: ein
innerhalb von zehn Jahren umgesetzt werden sollten. ‚Weiter so wie bisher‘ würde uns in der neuen Weltord-
Konkret wollte man die Produktivität und Innovations- nung schrittweise in die Zweitrangigkeit zurückfallen
lassen. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit für Euro-
geschwindigkeit der EU erhöhen, um den wettbewerbs-
pa. Jetzt ist die Zeit für entschlossenes und ambitio-
fähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirt- Die Koordination der Wirt-
niertes Handeln.
schaftsraum der Welt zu schaffen, wobei man sich schafts- und Finanzpolitik in
[…]
insbesondere mit Japan und (noch mehr) den USA der EU verlief nicht immer
messen wollte. Auch die soziale Sicherheit stand im Fo- Um aber in Zukunft nachhaltig wirtschaften zu kön- reibungslos – schon einige
kus der Lissabon-Strategie. Dies erfolgte in erster Linie nen, müssen wir über die kurzfristigen Aufgaben hin- Steuerungsinstrumente
ausdenken. Europa muss wieder auf Kurs kommen
durch Beschäftigungsprogramme und Maßnahmen, die wurden wieder verworfen.
und dann auf dem richtigen Kurs bleiben. Das ist das
den sozialen Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten för-
Anliegen von Europa 2020. Es geht um mehr Arbeits-
dern sollten.
plätze und mehr Lebensqualität. Das Papier zeigt
Schon bei einem Zwischenbericht im Jahr 2005 musste
Wege auf, wie Europa ein intelligentes, nachhaltiges
der Europäische Rat aber feststellen, dass sich der und integratives Wachstum verwirklichen, neue Ar-
Wachstumsabstand zu den USA zwischenzeitlich ver- beitsplätze schaffen und unseren Gesellschaften Ori-
größert hatte. Im Schlussbericht der EU-Kommission im entierung vermitteln kann.“7
Jahr 2010 konnte schließlich das Scheitern der Lissabon-
Strategie nicht verborgen werden – das deutliche Verfeh- Für das Scheitern der vorangegangenen EU-Initiativen
len der angestrebten Ziele konnte lediglich mit dem Hin- erklärte man in Brüssel primär gegenläufige Interessen
weis auf die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten und die der Mitgliedsstaaten als verantwortlich. Das Europäi-
sich durch die Weltwirtschaftskrise verschärfenden wirt- sche Semester sollte als Governance-Instrument die
schaftlichen Bedingungen kommentiert werden.5 Umsetzung der „Europa 2020“-Ziele in den Mitglieds-
Ebenso gescheitert waren die im selben Zeitraum ge- staaten gewährleisten. Dabei wollte man rigoros auch
starteten Kampagnen zu einer gemeinsamen „Verfas- jene Politikbereiche in das Europäische Semester ein-
sung für Europa“. Nachdem der Entwurf über den Ver- beziehen, die nach den EU-Verträgen ganz klar in die
fassungsvertrag im Oktober 2004 in Rom bereits Länderkompetenzen fallen und von EU-Regulierungen
feierlich von den Staats- und Regierungschefs der EU- weitgehend ausgenommen sind. Dies stieß erwartungs-
Mitgliedsstaaten unterzeichnet worden war, scheiterte gemäß auf Widerstand bei den Mitgliedsstaaten, wes-
dessen Ratifizierung schließlich in den Parlamenten halb die von der Kommission im Semester-Prozess
einiger Nationalstaaten. Dem gingen Volksabstimmun- ausgearbeiteten Länderempfehlungen schließlich rein
gen in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 empfehlenden Charakter bekamen.
voraus, bei denen die europäische Verfassung mit deut-
lichen Mehrheiten (Frankreich: 56 Prozent, Niederlan- Die Struktur des
de: 62 Prozent) abgelehnt wurde. Speziell in Frankreich Europäischen Semesters
griffen diverse Gruppen die mangelnde soziale Aus- Das Europäische Semester zielt darauf ab, die Wirt-
richtung des Verfassungsentwurfs an; Man kritisierte, schafts- und Fiskalpolitik der EU-Mitgliedsstaaten
dass sich der Vertrag in erster Linie an einem (neolibe- aufeinander abzustimmen, und besteht aus mehreren,
ralen) Wirtschaftsverständnis orientiere, nicht aber am sich jährlich wiederholenden und miteinander verbun-
Ausmaß sozialer Gerechtigkeit und an sozialem Schutz. denen Konsultationselementen8 (siehe Abbildung).
Vor dem Hintergrund dieser beiden gescheiterten Der Anstoß eines Semester-Zyklus erfolgt im Zeit-
„Leuchtturmprojekte“ und unter dem Eindruck der raum von November bis Dezember, wenn die Europä-
drastischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ische Kommission einen Jahreswachstumsbericht
entstand die Strategie „Europa 2020“, die wie die Lis- („Annual Growth Survey“) und einen Warnmechanis-
4 Europäischer Rat, Lissabon-Strategie, 24.3.2000.
5 Europäische Kommission, Bewertung der Lissabon-Strategie, 2.2.2010.
6 Mitteilung der Kommission – Europa 2020.
7 José Manuel Barroso, Mitteilung der Kommission – Europa 2020.
8 Rat der Europäischen Union, Europäisches Semester – Consilium, http://www.consilium.europa.eu/de/policies/european-semester/.
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Abbildung: Ablauf des Europäischen Semesters mus-Bericht („Alert Mechanism Report“) für das fol-
(Quelle: Europäische Kommission 2017) gende Jahr vorlegt.9 Auf Basis des Letzteren kann die
EU-Kommission ein „Verfahren bei einem übermäßi-
gen Ungleichgewicht“ („Excessive Imbalance Proce-
dure“) durchführen. Im Jahr 2016 sprach man Öster-
reich eine derartige Warnung aus, in weiterer Folge
wurde aber festgestellt, dass kein makroökonomisches
Ungleichgewicht vorliegt.
Ebenfalls im November reist das jeweils zuständige
Komitee der Europäischen Kommission im Rahmen
der sogenannten „Mission“ in die Mitgliedsstaaten, um
Gespräche mit Vertretern von Ministerien, sozialpart-
nerschaftlichen Organisationen sowie anderer, anlass-
bezogen ausgewählten Institutionen zu führen. Zweck
der Reise ist ein Informationsaustausch mit nationalen
Experten im Hinblick auf den nächstjährigen Länder-
bericht. Im Jahr 2016 wurden etwa auch mit Vertretern
der Sozialversicherung Gespräche geführt.
Danach, im Jänner und Februar, berät der Rat der Eu-
ropäischen Union (das Gesetzgebungsorgan der EU, in
dem die Minister der Mitgliedsstaaten vertreten sind)
über den Jahreswachstumsbericht, formuliert übergrei-
fende politische Leitlinien und verabschiedet Schluss-
folgerungen dazu. Das Europäische Parlament hat eine
Stellungnahme zu den beschäftigungspolitischen Leit-
linien abzugeben.
Im März werden die Länderberichte („Country Re-
ports“) veröffentlicht. Diese enthalten eine Reihe von
Analysen, darunter gegebenenfalls auch jene zu mög-
lichen makroökonomischen Ungleichgewichten. Auf
Basis dieser Analysen kann die Kommission auch
Empfehlungen zur Korrektur der Ungleichgewichte
ausarbeiten. Etwa zeitgleich gibt der Europäische Rat
auf Basis der Analysen und Schlussfolgerungen des
Rates der Europäischen Union politische Leitlinien
vor. Diese sollten von den Mitgliedsstaaten bei der
Ausarbeitung der nationalen Stabilitäts- oder Konver-
genzprogramme bzw. bei nationalen Reformprogram-
men berücksichtigt werden, woran allerdings keine
unmittelbaren Sanktionen geknüpft sind.
Die Mitgliedsstaaten müssen im April ihre mittel-
fristigen Haushaltsstrategien an die Europäische
Kommission übermitteln. Darin sind die geplanten
Strukturreformen, insbesondere zur Förderung von
Wachstum und Beschäftigung, darzulegen. Die Kom-
mission hat diese Papiere im Mai zu bewerten. Im
selben Monat wird auch der erste Entwurf für die
länderspezifischen Empfehlungen („Country Specific
Recommendations – CSRs“) herausgegeben. Dieser
wird von den „Country Leaders“ des Generalsekreta-
riats der Europäischen Kommission koordiniert und
von den anderen Generaldirektionen der Europäi-
schen Kommission erarbeitet. Intensiv eingebunden
sind die Generaldirektionen für Wirtschaft und Finan-
9 Rat der Europäischen Union, Ablauf des Europäischen Semesters – Consilium,
http://www.consilium.europa.eu/de/policies/european-semester/how-european-semester-works/.
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zen (DG ECFIN), Beschäftigung (DG EMPL) und
Wachstum (DG GROW).
Schließlich werden die Länderempfehlungen im Juni
vom Rat der Europäischen Union diskutiert und finali-
siert. Die Endfassung muss vom Europäischen Rat ab-
genommen werden, bevor der Rat der Europäischen
Union im Juli die Endfassung der CSRs beschließt.
In der zweiten Jahreshälfte, die gelegentlich auch als
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„nationales Semester“ bezeichnet wird, sind die Mit-
gliedsstaaten am Zug. Diese sind dazu angehalten, die
Länderempfehlungen bei der Haushaltsplanung für
das folgende Jahr umzusetzen. Bis Mitte Oktober sind
die entsprechenden nationalen Haushaltsentwürfe der
Kommission und der Euro-Gruppe vorzulegen, damit Außerdem wird im Länderbericht davon ausgegangen,
auf deren Basis wieder ein Jahreswachstumsbericht, dass die Zusammenlegung der Krankenversicherungs-
ein Warnmechanismus-Bericht und ein Entwurf einer träger ein Potenzial für Effizienzgewinne birgt. Argu-
Empfehlung für die Euro-Gruppe erarbeitet werden mentiert wird das mit dem Umstand, dass die Kosten
und das Semester von Neuem beginnen kann. für die Verwaltung der Gesundheitsversorgung in Ös-
terreich mit 0,4 Prozent des BIP höher als im EU-
Der Länderbericht und Schnitt liegen würden.
die länderspezifischen In den Mitte Mai 2018 veröffentlichten länderspezifi-
Empfehlungen schen Empfehlungen wird Österreich geraten, Refor-
Wie bereits dargelegt, setzt sich das Europäische Se- men im Gesundheits-, Langzeitpflege- sowie im Pen-
mester aus einer Reihe unterschiedlicher, größtenteils sionssystem umzusetzen, das gesetzliche Pensions-
aufeinander aufbauender Konsultationsmechanismen antrittsalter (speziell jenes der Frauen) anzuheben und
zusammen. Die zwei maßgeblichsten Instrumente des den Zugang zu Frühpensionierungen zu erschweren.11 Die EU-Kommission lobt
Europäischen Semesters sind der Länderbericht und die Weiters sollen die öffentlichen Dienstleistungen, unter soziale Indikatoren in
länderspezifischen Empfehlungen, die in jährlichen In- anderem durch eine Angleichung der Finanzierungs- Österreich, fordert aber
tervallen erstellt werden. und Ausgabenverantwortlichkeiten, effizienter ge- gleichzeitig, die Kosten im
Im Länderbericht 2018 für Österreich wird die positive macht werden. All diese Maßnahmen sollen primär der Gesundheits- Langzeits-
wirtschaftliche Entwicklung Österreichs gelobt.10 Diese Erreichung des Haushaltsziels des Jahres 2019 dienen. pflege und Pensionssystem
wird als gute Grundlage dafür angesehen, aufgeschobe- Darüber hinaus wird in den länderspezifischen Emp- zu senken.
ne Reformen anzupacken. Im Bereich der Sozialpolitik fehlungen der Arbeitsmarkt angesprochen. Hier soll
sind dies insbesondere die mittel- und langfristig hohen speziell der Anteil der Geringverdiener durch eine Ver-
Pensions- und Gesundheitsausgaben, zeigt sich die Eu- lagerung der Steuerlast auf weniger wachstumsschädli-
ropäische Kommission überzeugt. che Quellen reduziert werden. Außerdem soll sich, so
Im Bereich der Pensionen plädiert die Kommission für die Empfehlung des Rates der Europäischen Union, der
eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters, Abbau regulierungsbedingter Hürden positiv auf meh-
da diese ein größeres Sparpotenzial birgt als die reine rere Wachstumsfaktoren auswirken.
Annäherung des faktischen an das gesetzliche Pensi-
onsantrittsalter. Für die zu hohen Gesundheitsausgaben Die Effektivität des
ist gemäß den Ausführungen im Länderbericht ein Europäischen Semesters
überdimensionierter Spitalssektor verantwortlich, der Das Europäische Semester betrifft hauptsächlich The-
seinerseits auf eine zersplitterte Finanzierungs- und Or- mengebiete, die klar in die nationalen Kompetenzen
ganisationsstruktur im Gesundheitswesen zurückzu- der Mitgliedsstaaten fallen. Obwohl seine Architektur
führen ist. Die Kommission schlägt als Gegenmaßnah- auf ein Governance-Instrument hinweist, hat die Euro-
me eine Reform der Primärversorgung vor. päische Kommission nur stark beschränkte Möglich-
Soziale Indikatoren in Österreich werden – auch im keiten, die propagierten Maßnahmen unmittelbar
erstmals im Rahmen des Länderberichts zur Anwen- durchzusetzen. Der reale Einfluss des Europäischen
dung gebrachten „Social Scoreboard“ – positiv bewer- Semesters auf die Politik der Mitgliedsstaaten liegt zwi-
tet. Kritisch sieht die Europäische Kommission hinge- schen einer unverbindlichen Policy-Empfehlung und
gen die starke Belastung des Faktors Arbeit, was sie einer konkret formulierten Erwartung durch eine hier-
primär auf die hohen Sozialversicherungsbeiträge zu- archisch übergeordnete Instanz. Es handelt sich um ein
rückführt. „weiches Instrument“, das gelegentlich für die im Ver-
10 Vgl. Europäische Kommission, Länderbericht Österreich 2018, 7.3.2018.
11 Vgl. Europäische Kommission, Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zum Nationalen Reformprogramm Österreichs 2018, 23.5.2018.
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EUROPA GOVERNANCE-MECHANISMUS
Für ein Governance- hältnis zum Aufwand mangelnde Durchsetzungskraft schaftlichen und politischen Spielraum erkaufen. Dies,
Instrument mangelt es dem kritisiert wird. Die dabei zum Tragen kommenden Me- so wird attestiert, zeigt sich auch daran, dass der Fort-
Europäischen Semester an chanismen gehen dennoch über die einfache Überzeu- schritt eines Mitgliedsstaats im Länderbericht auf Basis
Durchsetzungskraft – durch gungskraft guter Argumente hinaus und sollten nicht der durchgeführten Reformen bewertet wird, anstatt auf
die Verbreitung und unterschätzt werden. die Ergebnisse der Reformen abzuzielen. Den Mit-
Wiederholung von Normen Der einfachste Erklärungsansatz für die Wirkungswei- gliedsländern wird, so die These, damit die Möglichkeit
kann die Europäische Kom- se des Europäischen Semesters ist die Tendenz nationa- eingeräumt, ihren guten Willen zu demonstrieren.14
mission aber die öffentliche ler Regierungen, drohenden Sanktionen vorzubeugen. Ein ebenfalls häufig angeführter Mechanismus zur Be-
Debatte beeinflussen. Um Verfahren, die etwa bei einem makroökonomi- schreibung der Wirkungsweise des Europäischen Se-
schen Ungleichgewicht oder einem übermäßigen Defi- mesters ist Gruppendruck. Ein permanentes „naming
zit drohen würden (diese Sanktionen wurden mit der and shaming“ soll es den Mitgliedsstaaten der EU er-
Einführung des Europäischen Semesters aufgewertet), schweren, die Zielvorgaben der Kommission zu igno-
nehmen sie die Länderempfehlungen ernster, als die rieren.15 Die Effektivität der „peer pressure“ ist aber
unmittelbaren Konsequenzen einer Nichtbeachtung das fraglich – einerseits, weil die Mitgliedsländer nicht
nahelegen würden. Den Mitgliedsstaaten bleibt aber zuletzt aus strategischen Gründen die direkte Konfron-
immerhin die Möglichkeit, vom Vorschlag der EU- tation mit anderen EU-Mitgliedern scheuen, und ande-
Kommission abweichende Lösungsansätze zu suchen, rerseits, weil die nationalen Behörden gar nicht über
solange diese ebenfalls geeignet sind, die Zielvorgaben die notwendigen Ressourcen verfügen, sich derart in-
zu erreichen.12 tensiv mit den Empfehlungen für andere Mitglieds-
Andere Autoren sehen die Wirkmechanismen des Eu- staaten auseinanderzusetzen.
ropäischen Semesters als permanenten politischen Ver- Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle internationa-
handlungsprozess, der, je nach der wirtschaftlichen ler Finanzmärkte. Die von der Europäischen Kommis-
Ausgangssituation, auch hierarchische Züge annehmen sion attestierte Performance kann in weiterer Folge zu
kann.13 Die objektivierbare Überschreitung makroöko- einer Abwertung von Staatsanleihen führen – ein Um-
nomischer Schwellenwerte stellt nur einen groben stand, den die Mitgliedsstaaten vermeiden wollen.16
Richtwert dar und führt bei wirtschaftlich unabhängi- Indirekt kann über diesen Wirkmechanismus auch me-
gen Ländern nicht unbedingt zu einer verschärften dialer Druck und, da durch die Währungsunion von
Vorgehensweise der Kommission. Hingegen schlug einer Abwertung auch die anderen EU-Mitgliedsstaa-
z. B. beim in den letzten Jahren wirtschaftlich schwan- ten betroffen sind, unter Umständen auch der bereits
kenden Griechenland das Pendel in die andere Rich- angeführte Gruppendruck aus anderen EU-Staaten
tung aus: Als Bedingung für diverse Hilfestellungen aufgebaut werden.17
wurden hier von der Europäischen Kommission eine Erwähnung findet in der Literatur auch ein von der
Vielzahl von im Europäischen Semester beschriebenen EU-Kommission zuletzt sehr offen formulierter An-
Maßnahmen durchgesetzt, die nationalstaatliche Zu- satz, die Umsetzung von Reformen mit positiven
ständigkeit in diesen Fragen war nebensächlich. Anreizen zu verknüpfen. Gemeint ist damit etwa die
Einige Beobachtungen beschreiben das Verhältnis zwi- finanzielle Unterstützung von EU-Staaten bei Struk-
schen der Kommission und den nationalen Regierun- turreformen aus Mitteln des Europäischen Struktur-
gen im Rahmen des Europäischen Semesters sogar und Investitionsfonds.18
noch ausgeprägter als inoffiziellen Verhandlungspro- Zuletzt finden in der Auseinandersetzung mit EU-Po-
zess, in dem sich die Mitgliedsstaaten für Reformen im sitionen in den Mitgliedsstaaten auch verschiedene
Sinne der Semester-Empfehlungen sonstigen wirt- Lernmechanismen statt, die zu einer „freiwilligen An-
12 Vgl. De Búrca/Keohane/Sabel, Global Experimentalist Governance,
British Journal of Political Science 2014, 477–486.
13 Vgl. Dunlop/Radaelli, Policy learning in the Eurozone crisis:
modes, power and functionality, Policy Sciences 2016, 107–124.
14 Vgl. Deroose/Griesse, Implementing economic reforms – are EU
Member States responding to European Semester recommendations?,
ECFIN Economic Brief, Issue 37, October 2014.
15 Vgl. Gern/Jannsen/Kooths, Economic policy coordination in the euro
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area under the European Semester, 10.11.2015.
http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2015/
542678/IPOL_IDA(2015)542678_EN.pdf;
16 Vgl. Kelemen, Law, Fiscal Federalism and Austerity, Indiana Journal of
Global Legal Studies 2015, 379.
17 Vgl. Zeitlin/Vanhercke, Socializing the European Semester?
Economic Governance and Social Policy Coordination in Europe
2020, Swedish Institute for European Policy Studies (SIEPS) 2014, 7.
18 Vgl. Louvaris Fasois, The Subtle Mechanisms of Europeanization: The
European Semester and its Effects on the Social and Employment
Policies of Belgium; Conference Paper der Fifteenth Biennial
Conference of the European Union Studies Association (EUSA) in
Miami, Florida, May 4–6 2017; https://www.eustudies.org/conference/
papers/download/312
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passung“ nationaler Reformen führen. Die für dieses Jahr 2070 wird im Länderbericht als Indikator dafür
Argument herangezogenen Modelle gehen davon aus, herangezogen, dass die Nachhaltigkeit der österreichi-
dass Interessensvertreter das ihnen zur Verfügung ste- schen Haushaltspolitik gefährdet sei. Dass im für diese
hende Wissen nutzen, um ihre eigenen politischen Prognose herangezogenen „Ageing Report“ der Anteil
Ziele zu verfolgen. Die Kommission kann somit ihre der Personen im pensionsfähigen Alter (65+) um 11,9
Publikationen im Rahmen des Europäischen Semes- Prozentpunkte steigt, eine Senkung der Pensionskos-
ters nutzen, um politisch opportune Argumente zu ver- ten also nicht ohne negative Auswirkungen für die
breiten. Diese werden dann – so die Theorie – von Pensionsbezieher/-innen bleiben würde, ist für die
politischen Akteuren aufgegriffen und fließen in die Analyse der EU-Kommission irrelevant.
nationalen Debatten und in weiterer Folge auch in die Auch im Bereich der Gesundheitspolitik muss die
durchzuführenden Reformen ein.19 Analyse der Kommission in einigen Bereichen als zu
Ein weiterer Lern- und Adaptionsprozess findet durch oberflächlich bezeichnet werden. Die Kosten für die
die stetige Wiederholung von Konzepten und Normen Steuerung und Verwaltung der Gesundheitsversorgung
statt. Demnach führt die ständige mediale Präsenz der in Höhe von 0,4 Prozent des BIP im Jahr 2014 werden
Kommissionsposition mit der Zeit zu einer kognitiven von der Europäischen Kommission als vergleichs-
Assimilation, bei der die Zielvorstellungen der Euro- weise hoch eingestuft. Als Gegenmaßnahme wird die
päischen Kommission auch im nationalen Kontext geplante Zusammenlegung der Sozialversicherungs-
übernommen werden. träger begrüßt. Dabei übersieht die Kommission, dass
die Verwaltungskosten der österreichischen Sozialver-
Das Europäische Semester aus sicherung gemäß OECD-Daten nur zwei Prozent der
Sicht der österreichischen gesamten laufenden Gesundheitsausgaben ausmachen
Sozialversicherung und damit deutlich niedriger sind als in vergleichbaren
Nach dem Scheitern der EU-Verfassung vom Jahr europäischen Ländern wie Deutschland, Luxemburg
2004 und der fehlgeschlagenen Lissabon-Strategie be- oder Frankreich.
fand sich die gemeinsame europäische Wirtschafts- Mit derartigen Positionierungen verletzt die Europäi-
und Finanzpolitik in einer ernstzunehmenden Krise. In sche Kommission auch die eigenen methodischen Vor-
einer Art „Flucht nach vorne“ gestattete man der Euro- gaben, nach denen der Länderbericht strukturelle Pro-
päischen Kommission im Rahmen des Europäischen bleme neutral, objektiv und nicht wertend aufzeigen
Semesters die routinemäßige Beschäftigung mit nahe- soll, ohne jedoch einer inhaltlichen politischen Debatte
zu allen nennenswerten Politikbereichen der Mit- auf nationaler Ebene vorzugreifen. Gerade in politisch Der Länderbericht soll
gliedsländer. sensiblen Bereichen wie im Gesundheitswesen und bei strukturelle Probleme
Entsprechend kompliziert ist die Klassifizierung des der sozialen Sicherheit wäre die Einhaltung dieses neutral, objektiv und nicht
Europäischen Semesters: Mit den periodisch erstellten Grundsatzes aber geboten. wertend aufzeigen – ein
Zielvorgaben, Berichten, Policy-Empfehlungen und Nicht zuletzt um den (auch durch den Brexit beflügel- Grundsatz der bei der
der Bewertung der Umsetzung der Empfehlungen ist ten) Tendenzen einer „sozialeren Europäischen Uni- Bewertung des österrei-
das Konzept klar auf einen Governance-Mechanismus on“ zu entsprechen, wurde die europäische Säule sozi- chischen Gesundheits-
ausgerichtet. Aufgrund der Tatsache, dass die (Nicht-) aler Rechte und das in diesem Rahmen entwickelte systems verletzt wird.
Berücksichtigung der vorgeschlagenen Maßnahmen Social Scoreboard erstmals in den im Februar erschie-
aber an keine unmittelbaren Sanktionen geknüpft ist, nenen Länderbericht 2018 aufgenommen. In diesem
bleibt der Umsetzungsgrad der Semester-Empfehlun- Benchmark schneidet Österreich sehr gut ab. Der der-
gen verhältnismäßig gering – Schätzungen zufolge zeitige Fokus des Europäischen Semesters liegt aber
werden zwischen 29 und 40 Prozent der Länderemp- weiterhin auf fiskalpolitischen Analysen – erst die Zu-
fehlungen umgesetzt. Dieser Umstand lässt das Euro- kunft wird zeigen, ob das Social Scoreboard ein „sozi-
päische Semester eher als unverbindlichen Konsulta- alpolitisches Feigenblatt“ bleibt.
tions-dennalsverbindlichenGovernance-Mechanismus Kritiker werfen dem Europäischen Semester demokra-
erscheinen. tische Mängel vor, etwa weil das Europäische Parla-
Aus Sicht der österreichischen Sozialversicherung ment darin nur Anhörungsrechte hat. Häufig wird auch
kann man die derzeitige Unverbindlichkeit der im bemängelt, dass der gesamte Prozess viele Ressourcen
Rahmen des Europäischen Semesters vorgeschlage- bindet, die sich durch die eingeschränkte Effektivität
nen Maßnahmen begrüßen, da einige davon nicht ohne des Semesters aber nicht legitimieren lassen. Trotz al-
eine substanzielle Verschlechterung der Versorgungs- lem ist die Relevanz des Europäischen Semesters für
situation der Versicherten möglich wären. Als Beispiel politische Entscheidungen hoch einzuschätzen. Aus
hierfür sei etwa der Abschnitt über die österreichische strategischer Sicht sind die Publikationen im Rahmen
Pensionspolitik angeführt: Der prognostizierte Anstieg des Europäischen Semesters daher weiterhin genau zu
der Pensionsausgaben um 0,5 Prozentpunkte bis zum verfolgen.
19 Ebenda
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