Das haptische Gedächtnis - (ZNL) Ulm

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Das haptische Gedächtnis - (ZNL) Ulm
Geist & Gehirn

       Das haptische Gedächtnis

Ohne Körper könnten wir keine Individu-                    Sensoren zum Ersten statische Kräfte (z. B.     ein bereits betrachtetes Bild und ein neues
en sein [3, 4]. Daher können wir nicht, wie                der auf den Fußsohlen lastende Druck, die       Bild – dasjenige herauszusuchen, dass sie
die Transhumanisten glauben, demnächst                     Dehnung der Haut) mit langsam adaptie-          zuvor gesehen hatten. Das klappte sehr gut
in der Cloud ewig leben, wenn es nur erst                  renden Rezeptoren, zum Zweiten Verän-           mit 10, 20 und mit 40 Bildern, sodass man
einmal möglich wäre, unseren Geist dort                    derungen bzw. Bewegungen (schnell ad-           mit 100, 200 und 400 Bildern weitermach-
„down zu loaden“, wie man heute sagt. Die                  aptierenden Rezeptoren) und zum Dritten         te. Auch das klappte sehr gut und so mach-
Christen haben da schon lange konsequen-                   Beschleunigung (also Veränderungen von          te man weiter. Bei 10 000 Bildern – für je-
ter gedacht und glauben daher an die Auf-                  Geschwindigkeiten mit sehr schnell adap-        weils 5 Sekunden über 5 Tage verteilt be-
erstehung des Leibes. Man kann sich sonst                  tierenden Rezeptoren). Direkt gemessen          trachtet – hörte man auf. Es klappte noch
auf Wolke 7 einfach nicht mit seinen Uren-                 werden also Werte sowie die erste und           immer, aber zum Weitermachen fehlte of-
keln treffen!                                              zweite Ableitung von Weg- (bzw. Winkel-,        fenbar die Lust [3].
                                                           bei Gelenken)Zeit-Funktionen. Über schnell
Unser für die Wahrnehmung von Raum,                        leitende Nervenfasern gelangen diese In-        Auch Gehörtes können wir uns sehr gut
Körperlichkeit, Mein versus Nicht-mein,                    formationen ins ZNS. Mit geschätzten 300        merken: Zehntausende von Wörtern erken-
Außen und Innen zuständiger Sinn ist der                   Millionen bis 600 Millionen Rezeptoren ist      nen wir vollkommen problemlos beim Ver-
Tastsinn. Weder Sehen noch Hören infor-                    die Haut damit das mit Abstand größte Sin-      stehen von Sprache, Schauspieler kennen
mieren uns über uns selbst, und auch die                   nesorgan des Menschen. (Zum Vergleich:          ihre Rollen wörtlich, Sänger ihre Texte etc.
Nahsinne (die man von den beiden genann-                   Im Innenohr bewirken gerade einmal etwa
ten, als Fernsinne bezeichneten, Modalitä-                 3000 innere Haarzellen das Hören, und           Zwei deutsche Psychologen von der Uni-
ten unterscheidet) Geruch und Geschmack                    in der Netzhaut des Auges befinden sich         versität Regensburg gingen nun der Frage
tun dies nicht. Einzig der Tastsinn informiert             etwa 120 Millionen Stäbchen und 6 Milli-        nach, wie es sich mit dem Gedächtnis für
uns über uns selbst.                                       onen Zapfen). Die Weiterverarbeitung des        Informationen des Tastsinns verhält [2]. In
                                                           Tastsinns ist komplex und besteht unter an-     einem ersten Experiment mussten 26 Ver-
Er ist so elementar, dass wir ihn oft nicht be-            derem darin, dass er mit den anderen Sin-       suchspersonen (15 davon weiblich, mitt-
merken. Wie ein gutes Betriebssystem auf                   nen vernetzt wird. Hieraus ergibt sich dann     leres Alter: knapp 24 Jahre) insgesamt
einem Computer läuft er immer mit und                      der Gesamteindruck des Objekts, das man         168 Objekte für jeweils 10 Sekunden mit
wird meist nur bemerkt, wenn er ausfällt.                  sehen, hören und tasten kann.                   verbundenen Augen be- bzw. ertasten
Anders als bei Computer-Betriebssystemen                                                                   (▶ Abb. 1). Danach erhielten sie einen der
kommt es dabei nie zum Totalausfall. Denn                  Gelegentlich stolpert man über eine Arbeit,     zuvor ertasteten Gegenstände und einen
er ist – im Gegensatz zur heute in unseren                 die ganz schlicht und einfach daherkommt,       neuen, ähnlichen Gegenstand gleicher Ka-
Computern üblichen Hardware – eher so                      ohne teure Scanner oder schwierige For-         tegorie (jedoch mit Unterschieden in hap-
wie das Internet aufgebaut: Dezentral und                  meln, und gerade dadurch – ihre Einfach-        tischen Details) und sollten angeben, wel-
mit Redundanz bei zentralen Leitungen und                  heit und Klarheit – den Leser in ihren Bann     chen der beiden sie zuvor schon ertastet
Knotenpunkten.                                             zieht. So ging es mir mit einer Arbeit über     hatten (man spricht auf Neudeutsch von
                                                           das haptische Gedächtnis, die im Dezember       „two-alternative forced-choice test“). Um
Das fängt schon bei den Rezeptoren an. Im                  im Fachblatt Psychological Science publiziert   die Stabilität der Gedächtnisspuren im Be-
Gegensatz zum Sehen (Stäbchen und Zap-                     wurde, und deren Inhalt ich im Folgenden        reich des Tastsinnes zu beurteilen, wurde
fen) und Hören (innere Haarzellen) gibt                    kurz nachzeichnen möchte.                       die Hälfte der Objekte direkt nach dem Be-
es beim Tastsinn eine ganze Reihe unter-                                                                   tasten in der beschriebenen Weise haptisch
schiedlicher Rezeptoren mit historisch be-                 Wenn wir Dinge sehen, Geräusche, Sprache        „abgefragt“, die andere Hälfte dagegen
dingten klangvollen Namen1 wie Vater-Pa-                   oder Lieder hören oder an einer Rose oder       erst nach einer Woche (▶Abb. 2).
cini-Körperchen, Krause-Endkolben, Mer-                    frischen Erdbeeren riechen, dann merken
kel-Tastscheibe oder Ruffini-Körperchen                    wir uns das – nicht selten erstaunlich gut,     Das Ergebnis überraschte durchaus, konn-
(▶ Tab. 1). Gemessen werden mit diesen                     mit vielen Details. Seit Jahrzehnten weiß       ten die Teilnehmer des Experiments direkt
                                                           man, dass beispielsweise unser visuelles        danach doch 80 der 84 zuvor ertasteten
                                                           Gedächtnis über erstaunlich viel Speicher-      Objekte (94,4 % ± 4,3 % SD) korrekt iden-
1    Was wenigen Anatomie-Professoren im vor-              kapazität verfügt: Man lies Versuchsperso-      tifizieren. Selbst nach einer Woche lagen
     vorigen Jahrhundert zu ewiger Berühmt-
                                                           nen eine größere Anzahl von Bilder für je-      sie in 71 Durchgängen (84,6 % ± 8,6 % SD)
     heit verholfen hat, bildet nun das Leidwesen
     heutiger Anatomie-Studenten: Viele klang-
                                                           weils 5 Sekunden betrachten und bat sie da-     richtig (▶Abb. 3). Sie hatten im Verlauf der
     volle wie nichtssagende Namen.                        nach, von zwei gezeigten Bildern – jeweils      einen Woche also nur 9 Objekte vergessen.

Spitzer M. Das haptische Gedächtnis Nervenheilkunde 2019; 38: 49–52                                                                                 49
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     ▶Tab. 1 Rezeptoren des Tastsinns

     Name                                Abbildung                        Typ             Lokalisation im Körper                Empfindung

     Vater-Paccini-Körper (nach dem                                       rasch adap-     Unterhaut (Subcutis),                 Vibration
     deutschen Anatom Abraham Vater,                                      tierender Me-   besonders Handflächen und
     1684–1751, und dem italienischen                                     chanorezeptor   Fußsohlen; auch an den
     Anatom Filippo Pacini, 1812–1883)                                                    großen Sehnen­platten, in der
                                                                                          Bauchspeicheldrüse, der Kno-
                                                                                          chenhaut, der Vaginalwand, im
                                                                                          Retroperitonealraum und im
                                                                                          Gewebe um die Harnblase

     Krause-Endkolben (nach dem                                           rasch adap-     Lederhaut                             Vibration
     deutschen Anatom Wilhelm Krause,                                     tierender Me-
     1833–1910)                                                           chanorezeptor

     Merkel-Tastscheibe (nach dem                                         langsam         Basalzellschicht der Oberhaut         Druck
     ­deutschen Anatomen Friedrich                                        adaptierender
     Merkel, 1845–1919)                                                   Mechanore-
                                                                          zeptor

     Ruffini-Körperchen (nach dem                                         langsam         Lederhaut (stratum reticula-          Druck und Dehnung,
     ­italienischen Anatomen Angelo                                       adaptierender   re), Wurzelhaut der Zähne,            Gelenkstellung,
     Ruffini, 1864–1929)                                                  Dehnungsre-     Gelenkkapseln                         Winkelgeschwin-
                                                                          zeptor                                                digkeit

      Meissner-Körperchen (nach dem                                       rasch adap-     Lederhaut (stratum papillare),        Druckveränderun-
      deutschen Anatomen Georg                                            tierender Me-   besonders in den Fingerkup-           gen
     ­Meissner, 1829–1905)                                                chanorezeptor   pen

In einem zweiten Experiment wurde unter-         stimmen hatten. Die Autoren beschreiben          Auch die Notwendigkeit einer weiteren Ex-
sucht, ob sich dieses Ergebnis auch dann         ihre Instruktion wie folgt: „To ensure that      perimentalsitzung wurde nicht mit „wir
replizieren lässt, wenn man die Versuchs-        the participants explored the objects tho-       machen dann in einer Woche noch ’nen
personen nicht zuvor instruiert, sich die Ob-    roughly, we told them that aesthetic judg-       Gedächtnistest“ erklärt, sondern damit,
jekte zu merken. Es wurde ihnen vielmehr         ments may depend on small details and            dass nach einer Woche weitere 168 Ob-
gesagt, dass es in dem Test um die Beurtei-      that they should hence pay attention to          jekte ästhetisch zu beurteilen seien und
lung der ästhetischen Qualität von Objek-        the objects’ texture, shape, and weight“         dass man nicht alle auf einmal durchgehen
ten geht, die sie auf einer Skala von 1 (sehr    [2, S. 2034].                                    könne. Dennoch fielen 5 Teilnehmer nicht
unangenehm) bis 7 (sehr angenehm) zu be-                                                          auf diesen „Trick“ herein und vermuteten

50                                                                                    Spitzer M. Das haptische Gedächtnis Nervenheilkunde 2019; 38: 49–52
▶Abb. 1 Beispiele der einzeln für jeweils 10 Sekunden zu ertastenden Objekte (die Bilder
   wurden, den Angaben der Autoren entsprechend, heruntergeladen von „Open Science
   ­Framework at osf.io/bnsqw“; nach [2], Abb. 1a).

(wie durch eine entsprechende Nachfrage                    Im Hinblick auf die Einschätzung ihrer je-
am Ende des gesamten Experiments in Er-                    weiligen Gedächtnisleistung ergab sich zu-
                                                                                                                 ▶Abb. 2 Visuelle Beispiele für die
fahrung gebracht wurde), dass es um eine                   nächst, dass diese bei der haptischen Er-
                                                                                                                 haptische Abfrageprozedur (nach [2],
Gedächtnisaufgabe gehen würde. Deren                       innerung gleich verteilt war (1/3 „erin-              Abb. 1a). Für das Experiment wurden
Daten wurden von der Auswertung aus-                       nert“, 1/3 „bekannt“ und 1/3 „geraten“).              insgesamt 168 Objekt-Paare verwendet.
geschlossen, sodass bei insgesamt 48 Teil-                 Beim visuellen Erinnern der haptisch en-
nehmern 43 Datensätze (39 von weibli-                      kodierten Information ergab sich hinge-
chen Teilnehmern, Durchschnittsalter gut                   gen, dass vergleichsweise weniger „erin-           Die beiden Experimente zusammen zei-
20 Jahre) zur Verfügung standen.                           nert“ und mehr „geraten“ wurde. Schau-             gen damit erstens, dass unser Gedächtnis
                                                           te man nach, wie gut diese Einschätzung            für Tast-Erinnerungen bemerkenswert gut
Die Abfrage erfolgte nach einer Woche auf                  mit der tatsächlichen Gedächtnisleistung           funktioniert. Zum zweiten sind diese Erin-
2 Weisen: 84 Objekte waren wie im ersten                   übereinstimmte, so ergab sich, dass „erin-         nerungen offenbar gut mit anderen Moda-
Experiment haptisch durch Vergleich mit                    nert“ eingeschätzte Objekte auch zu etwa           litäten vernetzt, was sich an der sehr guten
einem neuen ähnlichen Objekt zu identi-                    90 % korrekt identifiziert wurden, „bekann-        Leistung der Probanden beim visuellen er-
fizieren. Die anderen 84 Objekte wurden                    te“ Objekte zu knapp 80 % und „geratene“           innern haptisch enkodierter Gedächtnisin-
hingegen mitsamt dem zweiten ähnlichen                     Objekte zu etwa 65 %.                              halte zeigte. Drittens zeigt sich diese Er-
Objekt visuell dargeboten. Es handelte sich                                                                   innerungsleistung auch dann fast so gut,
also um eine die Sinnesmodalitäten Tasten
und Sehen übergreifende Erkennungsauf-
gabe („cross-modal recognition test“).
Zudem wurden alle Teilnehmer bei jedem                                                  100
einzelnen Erkennungsdurchgang danach
gefragt, wie sicher sie sich sind, d. h. ob sie
                                                                                              90
                                                                                  % korrekt

sich entweder klar erinnern konnten, oder                                                     80
ob ihnen das Objekt vage bekannt sei oder
ob sie schlicht geraten hätten.                                                               70

Auch das Ergebnis des zweiten Experiments                                                     60
überraschte, konnten die Teilnehmer des                                                       50
Experiments eine Woche nach unbeabsich-                                            Latenz: sofort 1 Woche 1 Woche 1 Woche
tigtem Enkodieren noch 79,2 % (± 6,4 % SD)                                       Modalität: haptisch haptisch haptisch visuell
der Objekte korrekt identifizieren. Selbst                                    Enkodierung:       bewusst         akzidentiell
beim kreuzmodalen visuellen Abfragen lag
die korrekte Identifikation des Objekts noch
bei 73,3 % (± 7,3 % SD; Abb. 3).                               ▶Abb. 3 Ergebnisse des ersten (linke Säulen) und zweiten (rechte Säulen) Experiments. Mit-
                                                               telwerte und Standardabweichungen; man beachte, dass 50% die Zufallswahrscheinlichkeit
                                                               darstellt und damit den relevanten „Nullpunkt“ der Säulen (nach Daten aus [2]).

Spitzer M. Das haptische Gedächtnis Nervenheilkunde 2019; 38: 49–52                                                                                         51
wenn nicht bewusst enkodiert, sondern                 Literatur
„nur“ verarbeitet wird. Hierbei handelt es
sich letztlich um eine sehr grundlegende              [1]   Grunwald M. Homo Hapticus. München:
                                                            Droemer 2017.
Eigenschaft unseres Gehirns: Seine synap-
tischen Verbindungen ändern sich, wenn                [2]   Hutmacher F, Kuhbandner C. Long-term
                                                            momory for haptically explored objects: Fi-
sie benutzt werden, oder anders ausge-
                                                            delity, Durability, incidental encoding, and
drückt: Verarbeiten und Lernen sind 2 As-                   cross-modal transfer. Psychological Science
pekte des gleichen Prozesses. Dass dieser                   2018; 29: 2013–2018.
Prozess in uns abläuft, ohne dass wir dem             [3]   Standing L. Learning 10,000 pictures. The
gewahr sind, zeigen schließlich viertens                    Quarterly Journal of Experimental Psycholo-
auch die Urteile der Probanden im Hin-                      gy 1973; 25: 207–222.
blick auf ihr Gedächtnis: Wenn sie sich si-           [4]   Strawson P. Einzelding und logisches Sub-
cher waren, dann stimmte dies meistens,                     jekt (Individuals). Stuttgart: Reclam 1972.

wenn sie meinten, sich erinnern zu können,
stimmte es noch in drei Vierteln der Fälle.
Wenn sie jedoch meinten, sie hätten „nur              Bibliografie
geraten“, war die Gedächtnisleistung den-
noch deutlich über dem Zufallsniveau. Das             DOI https://doi.org/10.1055/a-0824-2347
                                                      Nervenheilkunde 2019; 38: 49–52
Gehirn lernt immer. Es kann nicht anders.
                                                      © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
                                                      ISSN 0722-1541

Interessenkonflikt

    Es besteht kein Interessenkonflikt.

Korrespondenzadresse

    Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
    Universität Ulm
    Abteilung für Psychiatrie
    Leimgrubenweg 12–14
    89075 Ulm

                                          Spitzer M. Das haptische Gedächtnis Nervenheilkunde 2019; 38: 49–52
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