Das kommende Kalifat? - SWP-Studie Felix Heiduk (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SWP-Studie Felix Heiduk (Hg.) Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien: Erscheinungsformen, Reaktionen und Sicherheitsrisiken Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 9 Juni 2018
Der »Islamische Staat« (IS) wurde in seinen syrisch-irakischen Kerngebieten zwar für besiegt erklärt, doch hat er sich mittlerweile in andere Regionen ausgebreitet. Dies betrifft auch Asien, einen Kontinent, auf dem mehr als 500 Millionen Muslime leben. Zu den Ländern, in denen IS-affiliierte Grup- pen 2017 verstärkt aufgefallen sind, gehören unter anderem Afghanistan, Indonesien und die Philippinen. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Studie das Auftreten des IS in Asien, die Reaktionen darauf und die Auswirkungen des Phänomens auf nationale und regionale Stabilität. Die Befunde der Studie entkräften zunächst Befürchtungen, es könnte in der Region zu einer raschen Wiedergeburt des IS kommen. Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass sich die Erfolge der Organisation auf irakischem und syrischem Gebiet kurz- bis mittelfristig in Teilen Asiens wiederholen werden. Den dortigen IS-Ablegern fehlt es dafür an militärischer Stärke, logistischer Infrastruktur und lokaler Verankerung. Die Gewaltaktionen asiatischer IS-Ableger beschränken sich vielerorts auf sporadische Anschläge und Vorstöße. Militärische Siege über den vermeintlichen Gegner oder dauerhafte Geländegewinne werden dabei nur selten erreicht. Dies sollte jedoch nicht zur Einschätzung verleiten, der IS in Asien sei lediglich ein Schreckgespenst. IS-Gruppen dort profitieren, wie andere militante Akteure auch, vielfach von Legitimitätsdefiziten politischer Eliten und der Schwäche staatlicher Strukturen. Und gerade weil solche Gruppen weitgehend unabhängig von der Zentrale des IS entstanden sind, ist dessen militärische Niederlage in Syrien und Irak kein Garant dafür, dass die Ab- leger in Asien ebenfalls geschwächt sind oder auseinanderfallen.
SWP-Studie Felix Heiduk (Hg.) Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien: Erscheinungsformen, Reaktionen und Sicherheitsrisiken Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 9 Juni 2018
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372
Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Der »Islamische Staat« (IS) in Asien: Einleitung und Vorüberlegungen Felix Heiduk 13 Der »Islamische Staat« in Zentralasien Uwe Halbach 23 Der »Islamische Staat« in Südasien Christian Wagner 39 Der »Islamische Staat« in Afghanistan Nicole Birtsch 49 China und der Kampf gegen die »drei üblen Kräfte« Gudrun Wacker 59 Der »Islamische Staat« in Südostasien Felix Heiduk 74 Schlussfolgerungen Felix Heiduk 77 Anhang 77 Abkürzungen 78 Die Autorinnen und Autoren
Problemstellung und Empfehlungen Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien: Erscheinungsformen, Reaktionen und Sicherheitsrisiken Der »Islamische Staat« (IS) hat 2017 massiv an politi- scher und militärischer Macht in seinen syrischen und irakischen Kerngebieten verloren. Große Teile des ehemals vom IS beherrschten Territoriums im Irak werden mittlerweile wieder von Regierungs- einheiten bzw. anderen bewaffneten Gruppen kon- trolliert. Die De-facto-Hauptstadt des IS, Raqqa, fiel im Oktober an die von den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF). Im Dezember erklärte der irakische Premier Haider al-Abadi den Krieg gegen die Organisation, der bis dahin mehr als drei Jahre angedauert hatte, für beendet. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Studie im Frühjahr 2018 waren nur noch ein schmaler Streifen syrischen Territoriums an der Grenze zum Irak sowie kleinere Gebiete in Zentral- und Südsyrien unter der Kontrolle des IS. Dass er in seinen Hochburgen eine fast vollständige militärische Niederlage erlitten hat, ist jedoch keines- wegs gleichbedeutend mit einem Sieg über ihn oder gar mit seinem Ende. In einigen Gebieten außerhalb Syriens und des Irak haben Angriffe von IS-Gruppen während der letzten Monate sogar an Intensität zugenommen. Dies gilt unter anderem für einige Länder Asiens wie Afgha- nistan, Indonesien und die Philippinen. Angesichts des Niedergangs in seinem Kernland stellt sich die Frage, ob und inwieweit es dem IS gelingen wird, sich stärker in Asien auszubreiten. Ziel der vorliegenden Studie ist es, zu dieser Frage – jenseits der Betrach- tung einzelner Vorkommnisse – eine möglichst systematische Bestandsaufnahme zu leisten. Dabei gibt es drei Analyseschritte: Untersucht werden das Auftreten des IS in Asien, die Reaktionen darauf in Politik und Gesellschaft sowie die Auswirkungen des Phänomens auf die nationale und regionale Stabilität. Die Untersuchung erfolgt auf Grundlage einer ver- gleichenden Fallanalyse. Die Befunde der Studie entkräften Befürchtungen, es könnte zu einer raschen Wiedergeburt des IS in Asien kommen. Erstens gibt es derzeit keine Anzei- chen dafür, dass sich die Erfolge des IS auf irakischem und syrischem Gebiet kurz- bis mittelfristig in Teilen SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 5
Problemstellung und Empfehlungen Asiens wiederholen werden. Den dortigen IS-Ablegern Teilen der lokalen Bevölkerung die Wahrnehmung fehlt es dafür an militärischer Stärke, logistischer besteht, das Vorgehen staatlicher Sicherheitskräfte Infrastruktur und lokaler Verankerung. Bislang lässt gegen »den IS« sei vornehmlich gegen sie selbst sich auch kaum beobachten, dass sie Koalitionen mit gerichtet. anderen militanten Gruppen eingehen oder diese unterwandern würden. Die einzelnen Analysen dieser Studie ergeben zugleich ein sehr heterogenes Bild des IS in Asien. Sie ziehen die Annahme in Zweifel, die Organisation würde hier rasant an Boden gewinnen. Nach wie vor sind Verbindungen zwischen der IS- Führung und asiatischen Ablegern jenseits punk- tueller personeller Kontakte kaum nachweisbar. Die vorhandenen Informationen lassen vielmehr den Schluss zu, dass sich die IS-Gruppen in Asien – rhetorisch wie praktisch – primär an perzipierten Missständen vor Ort orientieren. Entsprechend räu- men sie ihren lokalen bzw. nationalen Zielen meist weit mehr Platz ein als dem Kampf für ein globales Kalifat. Personelle Verbindungen zur IS-Zentrale (wie auch von asiatischen IS-Gruppen untereinander) können zwar in einer Reihe von Fällen nachgewiesen werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die lokalen IS-Ableger vom Nahen Osten aus gesteuert würden. Zweitens reagieren die asiatischen Staaten, teils in Verbindung mit dem Vorgehen externer Mächte (allen voran der USA), viel schneller und repressiver auf IS-Aktivitäten, als dies in Syrien und dem Irak der Fall war. Viele Regierungen in Asien haben bereits vor einigen Jahren das nötige Spektrum an Anti-Terror-Instrumenten entwickelt. Daher sind dauerhafte Geländegewinne oder militärische Siege des IS bislang ausgeblieben. Dies sollte – drittens – jedoch nicht zur Ein- schätzung verleiten, der IS in Asien sei lediglich ein Schreckgespenst. Gerade weil entsprechende Gruppen hier weitgehend unabhängig von der Zentrale des IS entstanden sind, ist dessen militärische Niederlage in Syrien und dem Irak kein Garant dafür, dass die asiatischen Ableger ebenfalls geschwächt sind oder auseinanderfallen. Denn das Bündel an politischen und sozio-ökonomischen Faktoren, von denen sie profitieren, bleibt bestehen. Die Propaganda des IS ist auch für Angehörige der Mittelschicht attraktiv, die sich vielfach über soziale Medien radikalisieren. Dies stellt asiatische Staaten vor neue Herausforde- rungen ideologischer, technologischer und politischer Art. Es ist anzunehmen, dass in naher Zukunft wei- tere Mutationen der Idee eines islamischen Kalifats in Asien auftreten werden – als eine Option unter vielen verschiedenen Formen des Ringens um eine islamische Ordnung. Dazu trägt bei, dass vielerorts in SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 6
Der »Islamische Staat« (IS) in Asien: Einleitung und Vorüberlegungen Felix Heiduk Der »Islamische Staat« (IS) in Asien: Einleitung und Vorüberlegungen Der IS wurde in seinen syrisch-irakischen Kern- lierten Gebiete im afghanisch-pakistanischen Grenz- gebieten zwar für besiegt erklärt, doch hat er sich gebiet sowie die erwähnte Besetzung der philippini- mittlerweile in andere Regionen ausgebreitet. Nach schen Stadt Marawi. Und auch wenn in einigen Fällen Medienberichten konnte der IS im Jemen 2017 seine die Präsenz ausländischer Kämpfer (aus Nachbarlän- Truppenstärke verdoppeln. Er bekannte sich auch dern oder dem Nahen Osten) nachgewiesen werden zu dem Anschlag, der im November des Jahres eine konnte, so bewegt sich deren Zahl allen Schätzungen Moschee auf der Sinai-Halbinsel traf und mehr als zufolge nur im zweistelligen Bereich. Selbst nach der 300 Menschenleben forderte – der verheerendste militärischen Niederlage des IS in Syrien und Irak ist Terrorangriff in der Geschichte Ägyptens. Auch in bislang keine jihadistische »Ausreisewelle« Richtung Asien traten IS-affiliierte Gruppen 2017 verstärkt in Asien feststellbar. Erscheinung. Ableger in Afghanistan bekannten sich Auch war die Zahl der Jihadisten, die von Asien unter anderem zu dem Anschlag auf ein schiitisches in den Nahen Osten ausreisten, verglichen mit den Kulturzentrum in Kabul, bei dem im November Ausreisezahlen westeuropäischer Länder sehr gering. 40 Menschen starben, und zu einem Attentat auf Nur wenige Hundert begaben sich zwischen 2014 und einen Markt, das im Januar 2018 über 20 Todesopfer 2016 aus Zentral-, Süd-, Ost- und Südostasien in die hinterließ. 1 In Kabul kamen Ende 2017 mehr Men- vom IS kontrollierten Gebiete in Syrien und dem Irak. schen durch IS-Anschläge ums Leben als durch Und auch die in Asien selbst operierenden IS-Ableger Angriffe der Taliban. Auf den Philippinen eroberten verfügen in den seltensten Fällen über mehr als 100 IS-Kämpfer im Mai 2017 die 200 000 Einwohner zäh- bewaffnete Kämpfer. Mehr noch, sie konkurrieren vor lende Stadt Marawi auf der Insel Mindanao. Erst Ort in der Regel mit anderen militanten Gruppierun- nach monatelanger verlustreicher Belagerung gelang gen, die qualitativ wie quantitativ besser aufgestellt es dem philippinischen Militär im Oktober, die IS- sind, um Rekruten, Geld und die Unterstützung der Kämpfer aus Marawi zu vertreiben. Bevölkerung. Solche Konkurrenten sind beispiels- Die Gewaltaktionen der asiatischen IS-Ableger weise die Taliban in Afghanistan oder die »Islamische beschränken sich vielerorts auf sporadische Anschlä- Befreiungsfront der Moros« (MILF) auf den Philippi- ge und Angriffe. Sie gelten Zielen, die aus Sicht des nen. Bislang ist in Asien nicht zu beobachten, dass IS hohen Symbolcharakter haben – wie Militär, Anhänger des IS – wie es etwa im Irak geschah – Polizei, Regierungsvertreter, »Ausländer« aus west- andere militante Gruppen unterwandern und an- lichen Staaten oder China sowie religiöse Minder- schließend deren Führung übernehmen. Vielmehr heiten und »Apostaten«. Militärische Siege über den sind IS-Anhänger in einigen asiatischen Ländern auch vermeintlichen Gegner oder dauerhafte Gelände- in bewaffnete Auseinandersetzungen mit anderen gewinne werden dabei aber nur selten erreicht. Aus- jihadistischen Organisationen verwickelt. Zudem ist nahmen bilden die von IS-Gruppen partiell kontrol- es den IS-affiliierten Gruppen Asiens allenfalls in eng umgrenzten Gebieten gelungen, die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung zu erlangen. Eine 1 Fahim Abed, »ISIS Suicide Bomber Kills 20, Including flächendeckende lokale Verankerung des IS, die Members of Police Force, at Afghan Market«, in: The New York den Aufbau parastaatlicher Strukturen ermöglichen Times, 5.1.2018, (eingesehen am sein. 23.2.2018). SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 7
Felix Heiduk Nach wie vor sind Verbindungen zwischen der nennen sind hier die Gefahren, die von militärisch IS-Führung und asiatischen Ablegern jenseits punk- geschulten und ideologisch radikalisierten Rückkeh- tueller personeller Kontakte kaum nachweisbar. Die rern ausgehen, gerade nachdem das IS-Kalifat als vorhandenen Informationen lassen vielmehr den territoriale Einheit zerschlagen worden ist. Vor neuen Schluss zu, dass sich die IS-Gruppen in Asien – Problemen stehen die Staaten Asiens auch deshalb, rhetorisch wie praktisch – primär an perzipierten weil lokale Gruppen auftreten, die Ideologie, Strategie Missständen vor Ort orientieren. Entsprechend räu- und Taktik vom IS übernommen haben. Ausdruck men sie ihren lokalen bzw. nationalen Zielen meist findet dies unter anderem im Alleinvertretungs- weit mehr Platz ein als dem Kampf für ein globales anspruch solcher Akteure, in ihrem gewaltsamen Kalifat. Personelle Verbindungen zur IS-Zentrale (wie Vorgehen gegen vermeintliche Apostaten sowie auch von asiatischen IS-Gruppen untereinander) andere Religionsgruppen und in ihrer vollständigen können zwar in einer Reihe von Fällen nachgewiesen Ablehnung moderner politischer Institutionen (ein- werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die lokalen IS- schließlich Staatsgrenzen). Der IS präsentiert sich Ableger vom Nahen Osten aus gesteuert würden. Der somit auch in Asien als radikalere Alternative zu Blick auf das Auftreten des IS in unterschiedlichen anderen militanten Gruppen, selbst jenen aus dem Ländern Asiens zieht so zunächst einmal die Annah- Al-Qaida-Lager. me in Zweifel, die Organisation würde hier rasant an IS-Gruppen in Asien profitieren dabei, wie andere Boden gewinnen. Denn auf operativer Ebene ist der militante Akteure auch, vielfach von Legitimitäts- IS in weiten Teilen Asiens nach wie vor schwach defiziten politischer Eliten und der Schwäche staat- aufgestellt. licher Strukturen. Die entsprechenden Gruppen stoßen in Räume schwacher oder erodierter Staatlich- IS-Gruppen in Asien profitieren von keit vor und besetzen diese. In überwiegend musli- den Legitimitätsdefiziten und der mischen Ländern Asiens kommt erschwerend hinzu, Schwäche staatlicher Strukturen. dass innerhalb der Mehrheitsgesellschaft orthodoxe oder konservativere Islam-Interpretationen an Bedeu- Doch für einige Länder der Region weisen die tung gewinnen. Die zunehmende Diskriminierung Ergebnisse dieser Studie deutlich darauf hin, dass IS- religiöser Minderheiten (vor allem von Christen affine Organisationen an Präsenz gewinnen und und Buddhisten) sowie Gewaltakte gegen islamische einen wachsenden Aktivismus an den Tag legen. Vor »Häretiker« (wie etwa Ahmadiyah oder Schiiten) wer- diesem Hintergrund befürchten Beobachter, dass die den vielerorts gutgeheißen oder gar offen unterstützt. erwähnten Anschläge und bewaffneten Operationen Solche Phänomene sind Ausdruck weitverbreiteter erste Anzeichen für künftige Bemühungen des IS sein gesellschaftlicher Einstellungsmuster. könnten, in Asien sehr viel stärker als bisher Fuß zu Dabei unterscheidet den IS in seinem wahrnehm- fassen – einem Kontinent, auf dem über 500 Millio- baren Verhalten zunächst wenig von anderen mili- nen Muslime leben, mehr als in den Ländern des tanten revolutionären Bewegungen. Weder ist der Nahen und Mittleren Ostens. Für solche Absichten Versuch, die gesellschaftliche, soziale und politische spricht nicht nur der Umstand, dass die Aktionen Ordnung durch extreme Gewaltanwendung zu über- propagandistisch über Asien hinaus aufbereitet wer- winden, als Alleinstellungsmerkmal des IS zu werten, den. Auch gibt es Berichte, wonach asiatische IS- noch gilt dies für seinen Anspruch, durch göttliche Gruppen aus dem Nahen Osten finanziert werden Vorsehung legitimiert zu sein. Auch die Vorgehens- und IS-affine Akteure in der Region selbst sich zuneh- weise, die der IS in Syrien und dem Irak erfolgreich mend vernetzen. 2 angewandt hat, ähnelt der vieler anderer bewaffneter Somit stellt das Phänomen IS für die Länder Asiens Bewegungen: Man sickert zunächst über klandestine in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Zu Netzwerke in gegnerische Gebiete ein, gewinnt dort die Unterstützung von Teilen der Bevölkerung, er- obert dann Territorium, indem man Guerillakrieg mit 2 Bilveer Singh/Kumar Ramakrishna, Islamic State’s Wilayah konventioneller Militärtaktik kombiniert, und baut Philippines: Implications for Southeast Asia, Singapur: RSIS, 21.7.2016, (eingesehen am 23.2.2018). SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 8
Der »Islamische Staat« (IS) in Asien: Einleitung und Vorüberlegungen in dem Gebiet schließlich proto-staatliche Strukturen breite an Normen und Handlungsoptionen durch auf. 3 direkte Ableitung aus dem Koran als legitim definiert In Bezug auf die eigene Islam-Interpretation und und andere Normen und Handlungsoptionen wiede- das daraus abgeleitete Staatsverständnis unterscheidet rum als unislamisch verurteilt. 9 sich der IS jedoch von anderen Gruppierungen des Die ideologische Radikalität des IS, verbunden mit radikal-islamistischen Spektrums, einschließlich seinen militärischen Erfolgen 2014/2015, der Selbst- al-Qaida. Er versteht die Kerntexte des Islam als einzi- darstellung als wahr gewordene islamistische Utopie gen legitimen Bezugspunkt für politisches Handeln und dem Zugriff auf materielle Ressourcen (vor allem und die Ordnung von Staat und Gesellschaft. 4 Moder- Erdöl), verhalf der Organisation zu rascher Expan- ne politische Institutionen, etwa Wahlen oder auch sion. 10 Dabei ist es seit Jahren Teil der offiziellen IS- Staatsgrenzen, lehnt er als unislamisch ab. 5 Anerken- Strategie, in andere Gebiete der muslimischen Welt nung finden nur politische Autoritäten, die im Koran vorzudringen. Bereits kurz nach Ausrufung des Kali- als Führer des Gemeinwesens genannt werden. Der fats durch IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi im Juni IS versteht sich dabei als Gegenentwurf zur »korrup- 2014 machte die Organisation ihre territorialen Be- ten« Moderne. Das einzig mögliche Korrektiv sieht er strebungen öffentlich. Eine entsprechende Karte zeigt darin, eine gesellschaftliche und politische Ordnung als Expansionsräume neben dem afghanisch-pakista- zu errichten, die allein auf Gott ausgerichtet ist. nischen Grenzgebiet (der sogenannten IS-Provinz Der IS legitimiert sich über seinen Anspruch, »die Khorasan) auch große Teile Zentralasiens bis hin zum in Koran und Sunna vorgegebene göttliche Ordnung äußersten Westen Chinas. Auch aus vielen Teilen zur Anwendung zu bringen und/oder im Handeln Asiens reisten Jihadisten nach Syrien und in den Irak, von dieser Ordnung geleitet zu sein«. 6 Demnach sind um sich dem IS anzuschließen. Zudem leisteten loka- »keine Kompromisslösungen in den Konflikten mit le islamistische Gruppen unter anderem in Bangla- seinen Gegnern« denkbar. 7 Selbst konservative Mus- desch und Afghanistan sowie auf den Philippinen lime, deren Islam-Interpretation von jener des IS den Treueschwur (bai’at) auf al-Baghdadi. Bei ihren abweicht, werden konsequent als Apostaten gebrand- Aktionen bezogen sie sich vielfach direkt auf den IS. markt. Die spezifische Islam-Deutung des IS fungiert Von dessen Propagandamaschine wird das Auftreten somit als eine Art »enabler«, 8 indem sie eine Band- affiliierter Gruppen in Asien massiv ausgeschlachtet. Solche Ableger versuchten – oft mit ausländischer 3 Craig Whiteside, »New Masters of Revolutionary Warfare: Unterstützung –, die spektakulären Erfolge des IS in The Islamic State Movement (2002–2016)«, in: Perspectives der eigenen Region zu wiederholen. on Terrorism, 10 (2016) 4, (eingesehen am 23.2.2018); einige Überlegungen zur Methodik. 11 Denn Studien Stathis Kalyvas, »Is ISIS a Revolutionary Group and If Yes, zu Terrorismus im Speziellen und zu Gewaltakteuren What Are the Implications?«, in: Perspectives on Terrorism, im Allgemeinen müssen eine Reihe methodischer 9 (2015) 4, S. 42–47; Stephen M. Walt, »ISIS as Revolu- Herausforderungen bewältigen. Zunächst gibt es ein tionary State«, in: Foreign Affairs, 17.11.2015, (eingesehen am 23.2.2018). destin operierende und gewaltbereite Gruppen. Daher 4 Guido Steinberg, »Islamistischer Terrorismus: Sechs Thesen auf dem Prüfstand«, in: Internationale Politik, 3 (2017), S. 62–67. 9 Die ultrakonservativen Islam-Interpretationen von Grup- 5 Christoph Günther, »Ein Staat der Emigration und des pen wie al-Qaida und IS werden vom Großteil der Muslime Jihad: Das Staatsmodell des ›Islamischen Staates‹«, in: Peter weltweit abgelehnt. Vgl. Mark Juergensmeyer, Terror in the Lintl/Christian Thuselt/Christian Wolff (Hg.), Religiöse Bewe- Mind of God: The Global Rise of Religious Violence, Berkeley: Uni- gungen als politische Akteure im Nahen Osten, Baden-Baden 2016, versity of California Press, 2003. S. 132. 10 Vgl. z.B. Wolfram Lacher, »Libyen: Wachstumsmarkt 6 Ebd., S. 149. für Jihadisten«, in: Guido Steinberg/Annette Weber (Hg.), 7 Ebd., S. 150. Jihadismus in Afrika. Lokale Ursachen, regionale Ausbreitung, inter- 8 Simon Cottee, »›What ISIS Really Wants‹ Revisited: nationale Verbindungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Religion Matters in Jihadist Violence, but How?«, in: Studies Politik, März 2015 (SWP-Studie 7/2015), S. 42. in Conflict & Terrorism, 40 (2016) 6, (eingesehen am 23.2.2018). Forschung«, in: Handelsblatt, 6.9.2006. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 9
Felix Heiduk ist es nahezu unmöglich, Informationen durch etab- lierte sozialwissenschaftliche Methoden zu gewinnen – wie Interviews, Erhebungen mit Fragebögen oder teilnehmende Beobachtung. Der Großteil an Infor- mationen, die über solche Gruppen verfügbar sind, wurde entweder von ihnen selbst veröffentlicht oder aber von Dritten wie Militär, Nachrichtendiensten, Polizei und Medien. Die von den Gruppen publizier- ten Inhalte dienen vor allem der Propaganda nach außen sowie der Selbstvergewisserung nach innen. Fast nie ist es möglich, die Informationen in unab- hängiger Weise zu überprüfen und als glaubwürdig oder unglaubwürdig einzustufen. Ähnliche methodische Probleme werfen die von Dritten veröffentlichten Angaben auf, vor allem wenn sie von Sicherheitsbehörden kommen. 12 Auch Dritt- parteien können Informationen manipulieren, gezielt zurückhalten oder bewusst nur partiell publizieren. Hier mangelt es ebenfalls an Transparenz, was eine unabhängige sozialwissenschaftliche Überprüfung verhindert. Mehr noch, der Informationsstand von Sicherheitsbehörden beruht in Teilen auf Verhör- protokollen, die möglicherweise unter Anwendung von Druckmitteln oder gar Folter zustande gekom- men sind. Vielfach sind die Gespräche, die im Rah- men dieser Studie mit Mitarbeitern staatlicher Sicher- heitsbehörden geführt wurden, nicht zitierfähig. Werden Sekundärquellen wie etwa Zeitungsartikel oder NGO-Berichte genutzt, ergeben sich ähnliche methodische Probleme. Auch für die so vermittelten Informationen gilt, dass sie oft unvollständig, kaum überprüfbar oder mit Bewertungen und Meinungen vermengt sind. 12 Natasha Hamilton-Hart, »Terrorism in Southeast Asia: Expert Analysis, Myopia and Fantasy«, in: The Pacific Review, 18 (2006) 3, S. 303–325. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 10
Karte 1 Zentralasien
Der »Islamische Staat« in Zentralasien Uwe Halbach Der »Islamische Staat« in Zentralasien Einleitung in Zusammenhang mit globalem Terrorismus brachte. 2 Zentralasien ist die größte Region mit muslimischer Ein anderer Befund zeigt sich jedoch, wenn es um Mehrheitsbevölkerung im Raum der ehemaligen islamistisch begründete Gewaltaktivitäten in den Sowjetunion. Hier kam es seit Ende der 1980er Jahre zentralasiatischen Staaten selbst geht. In der globalen zu einem Prozess, der als »islamische Wiedergeburt« Terrorismus-Statistik liegt die Region weit hinter bezeichnet wurde. Mit dieser Parole setzten sich Nachbarn in Südasien wie Afghanistan und Pakistan, religiös aktive Gruppen wie die Partei Islamischer ebenso – im postsowjetischen Rahmen – hinter Wiedergeburt Tadschikistans in Kontrast zur dem Nordkaukasus und Russland oder auch EU- religionsfeindlichen Politik der sowjetischen Zeit. Staaten wie Frankreich und Belgien. Das Gebiet im Zugleich traten sie in politische Auseinandersetzung Raum der zerfallenen Sowjetunion, in dem sich ein mit »post«-sowjetischen Machteliten. Missstände wie jihadistischer Untergrund am stärksten entfaltet hat, systemische Korruption boten ihnen Angriffsflächen liegt nicht in Zentralasien, sondern im kaukasischen für einen Appell an »islamische Gerechtigkeit«. Dabei Landesteil Russlands, also in der Nachbarschaft Euro- profitierten regimefeindliche islamistische Organisa- pas. Zentralasien bildet kein Epizentrum des islamis- tionen von globalen Dynamiken des Islamismus; dies tischen Terrorismus, auch wenn dort in den letzten gilt etwa für die Islamische Bewegung Usbekistans Jahren einzelne Anschläge von islamistischen Grup- (IBU), die 1999 mit militärischen Aktionen im Drei- pen begangen wurden. Von 85 000 »incidents of ländereck zwischen Kirgistan, Tadschikistan und terrorism«, die zwischen 2001 und 2015 weltweit Usbekistan die Sicherheitskräfte herausforderte. In erfasst wurden, entfielen 62 auf die fünf zentral- jüngster Zeit lenkten Terroranschläge auf internatio- asiatischen Staaten. Im Global Terrorism Index (GTI), naler Bühne die Aufmerksamkeit auf Täter zentral- der Terror-Aktivitäten auf Länderebene jährlich im asiatischer Herkunft. Dazu zählen zwei Gewaltakte Zehnjahresrückblick bemisst, rangierten 2016 diese in Istanbul – der Bombenanschlag auf dem Atatürk- Staaten auf den mittleren bis unteren Rängen (Kirgi- Flughafen im Juni 2016 und das Massaker im Nacht- stan 84., Kasachstan 94., Usbekistan 117. Rang) – club Reina am Neujahrstag 2017. In Sankt Petersburg weit hinter Russland (Rang 30). Am schlechtesten war verübte ein junger Usbeke aus Kirgistan im April hier noch Tadschikistan auf Rang 56 platziert. 3 Selbst 2017 ein Attentat auf die Metro. Kurz darauf tötete in Berichte zu Zentralasien, die unter Überschriften wie Stockholm ein Asylsuchender aus Usbekistan fünf »Facing Radical Islam« stehen, räumen ein, dass die Fußgänger. Zuletzt kam es Ende Oktober 2017 in New Region gegenwärtig keine besondere Priorität auf der York zu einem Terroranschlag, den ein seit mehreren transnationalen Agenda größerer Terror-Organisatio- Jahren dort lebender Usbeke mit einem Pick-up be- nen wie IS oder al-Qaida darstellt. 4 ging. Im Dezember 2017 gab der russische Inlands- geheimdienst FSB bekannt, man habe Männer aus 2 Uwe Halbach, Zentralasien im Umfeld des globalen Jihadismus, Zentralasien mit Verbindungen zum IS verhaftet, die Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2017 (SWP- Anschläge in Moskau zu Neujahr und vor der Präsi- Aktuell 48/2017). dentenwahl im März 2018 geplant hätten. 1 Diese 3 Global Terrorism Index 2016, Sydney: Institute for Econo- Ereignisse ließen ein Bild entstehen, das Zentralasien mics and Peace, 2016. 4 Erlan Karin, Central Asia: Facing Radical Islam, ifri/Russia/ NIS Center, Februar 2017, (eingesehen am 2.2.2018), S. 1. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 13
Uwe Halbach Blickt man auf die Rolle Zentralasiens im Umfeld der Kämpfer kam eben nicht unmittelbar aus den des globalen Jihadismus, so haben zwei Arten von Heimatländern, sondern aus Migrantengemeinden Auswanderung große Bedeutung. Zum einen geht es im Ausland. um Arbeitsmigration aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan ins Ausland, vor allem nach Russland, aber auch in die Türkei und andere Länder. Der Einzug des IS nach Zentralasien? Migrationskorridor von Zentralasien nach Russland gilt als einer der größten im Weltmaßstab. Allein Von einem Einzug des IS nach Zentralasien in Gestalt 2016 begaben sich mehr als vier Millionen Migranten, lokaler Milizen kann weit weniger die Rede sein als vorwiegend aus dem GUS-Raum, auf den russischen von der umgekehrten Konstellation: Jihad-Migranten Arbeitsmarkt – trotz der Wirtschaftsflaute im Land. aus der Region und der russischen Arbeitsdiaspora Davon kamen rund 70 Prozent aus Usbekistan, Kirgi- beteiligten sich zwischen 2013 und 2016 an Kampf- stan und Tadschikistan. 5 Mittlerweile leben Millionen formationen des IS und anderer Terrormilizen in zentralasiatischer Gastarbeiter unter teils prekären Syrien und dem Irak. Dagegen wurde in einem Land Rechts- und Arbeitsverhältnissen in Russland. wie Kirgistan erstmals im Oktober 2017 ein Terror- anschlag vermeldet, für den der IS die Verantwortung Bis zu 4000 »foreign fighters« aus übernahm (eine Messerattacke auf einen Polizei- Zentralasien sollen sich nach Syrien beamten). 6 Aus den zentralasiatischen Staaten wird und in den Irak begeben haben. von IS-Anhängern berichtet, die durch Internet-Propa- ganda rekrutiert werden – von Schläfer-Zellen, die Die andere Form der Auswanderung steht in direk- aber keine größeren organisierten Milizen bilden. tem Zusammenhang mit globalem Jihadismus. Hier Mit dem Einzug des IS in Afghanistan verstärkte geht es darum, dass Personen sich terroristischen sich indes das Bedrohungsnarrativ, wonach dieser Organisationen im Ausland anschließen – zwischen weltweit schlimmste Terrorismus-Generator auch auf 2013 und 2016 vor allem in Syrien und dem Irak. Zentralasien ausstrahle. Russische Sicherheitsexper- Auch wenn Zahlenangaben dazu nicht verlässlich ten warnten vor einer IS-Invasion, die Moskau zur sind und oft weit auseinandergehen, stammte doch militärischen Intervention in Zentralasien veranlas- ein beträchtlicher Teil der dortigen »foreign fighters« sen würde, um Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirt- aus dem GUS-Raum. Für Zentralasien liegen die am schaftsunion zu schützen. 7 Ähnliche Töne kamen häufigsten genannten Zahlen zwischen 2000 und 2015 von Präsident Wladimir Putin auf einem Gipfel 4000 Personen, die sich – zum Teil mit ihren Fami- der Organisation des Vertrags für kollektive Sicher- lien – nach Syrien und in den Irak begeben haben. heit, in der Russland mit zentralasiatischen und Zwischen den beiden Migrationsphänomenen besteht anderen nachsowjetischen Staaten kooperiert. Bei insofern eine Verbindung, als ein erheblicher Teil der dem Treffen, das in der tadschikischen Hauptstadt Bürger zentralasiatischer Staaten, die sich an auswär- Duschanbe stattfand, schlug Putin einen Bogen von tige Jihad-Fronten begeben und Terror-Aktionen im Syrien nach Afghanistan. Er verwies auf die Präsenz Ausland begangen haben, in ihren Gastländern (wie von IS-Milizen am Hindukusch und machte geltend, Russland) rekrutiert wurde. dass der IS seine Terror-Aktivitäten nach Zentral- und Hat Zentralasien sein Problem mit islamistischer Südasien ausweite. Im Gastland des Gipfels war dieses Gewalt exportiert? Im Falle Usbekistans sind militante Szenario gerade zum Thema geworden, nachdem ein Gruppen wie die IBU nach 1999 vom allmächtigen hoher Sicherheitsbeamter Tadschikistans den Über- Sicherheitsapparat aus dem Land geworfen worden. Usbekische Jihadisten haben sich dabei vor allem nach Afghanistan und Pakistan abgesetzt. Fraglich ist jedoch, ob die Auswanderung militanter Kräfte aus 6 »Islamic State Claims First Attack in Kyrgyzstan«, in: Zentralasien nach Syrien und in den Irak von staat- BBC Monitoring Central Asia, 29.10.2017. lichen Stellen begünstigt wurde. Denn ein großer Teil 7 Noah Tucker, »Public and State Responses to ISIS Messag- ing: Uzbekistan«, in: Marlene Laruelle (Hg.), Uzbekistan. Political Order, Societal Changes, and Cultural Transformations, 5 »Migranty trudjatsja v poluteni« [Die Migranten schuften Washington D.C.: The George Washington University, im Halbschatten], in: Kommersant, 26.6.2017. Central Asia Program 2017, S. 108–115 (110). SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 14
Der »Islamische Staat« in Zentralasien tritt zu der Terrormiliz vollzogen hatte. 8 Vor 2014 andere zentralasiatische Regierungen stellte das Re- galt Afghanistan als wichtigster Bezugspunkt, wenn gime von Islam Karimow den IS nun in einer Weise zentralasiatische Macht- und Sicherheitseliten externe dar, als bedrohe er unmittelbar die territoriale Souve- Bedrohungen durch islamistische Gewalt und die ränität und Integrität des Landes. Nationale Medien Präsenz eigener Staatsbürger an auswärtigen Jihad- ließen verlauten, der IS habe das Land ins Fadenkreuz Fronten ansprachen. In Afghanistan hatte sich vor genommen und bereite sich auf eine Invasion im allem die IBU verschanzt. Nun aber traten die Kämpfe Zentrum Mittelasiens vor. Die Medien in Russland in Syrien und dem Irak ins Zentrum der Bedrohungs- unterstützten dieses Bedrohungsnarrativ zu einer perzeptionen. Zeit, als Moskau seine sicherheitspolitische Präsenz in Dass zentralasiatische Staatsbürger sich zum Jihad Zentralasien zu festigen suchte und seinen militäri- in Syrien und dem Irak aufmachten, bezog man dabei schen Einsatz in Syrien mit der Bekämpfung des IS einseitig auf den Machtbereich des IS. An diesen Fron- begründete. Eine islamistische Gruppierung wie die ten kämpften aber auch andere Milizen, denen sich seit Mitte der 1990er Jahre in Zentralasien aktive Hizb Auswanderer aus dem GUS-Raum angeschlossen hat- ut Tahrir al Islami wurde in die Nähe des IS gerückt, ten. Solche Akteure lieferten sich in Syrien und dem obwohl sie sich in ihrer Propaganda von Terroraktio- Irak auch untereinander Konflikte um Ressourcen; nen distanzierte. Dagegen kam es ab 2015 zuneh- zum Teil bildeten sie eigene Brigaden, die nicht mit mend vor, dass IBU-Führer zum IS übertraten. Theo- dem IS verbunden waren. Einige davon verwiesen auf logisch gebildete Muslime Usbekistans wiederum Zentralasien – wie das Bataillon Imam Buchari, in verurteilten in sozialen Medien den Terror und die dem etwa 400 Bürger Usbekistans kämpften, oder religiöse Anmaßung des IS. 11 die 2014 von einem Uighuren und einem Kirgisen ge- Von einem Einzug des IS nach Zentralasien kann gründete Miliz Katibat al Tawhid wal Jihad. Diese ord- bislang allenfalls mit deutlichen Einschränkungen nete sich zunächst al-Qaida zu, schwor im September gesprochen werden. Die sicherheitspolitischen Eliten 2015 der Nusra-Front Gefolgschaft und beteiligte sich in der Region rechnen sich dies als Verdienst an und an Angriffen auf russische Truppen in Syrien. 9 verweisen auf ihre strikte Kontrolle der religiösen Usbekistan wurde wie andere zentralasiatische Szene. Doch die – erwartete oder bereits erfolgte – Staaten um 2013/2014 darauf aufmerksam, dass eige- Rückkehr zentralasiatischer Jihad-Auswanderer in ne Staatsbürger in die Kampfgebiete Syriens und des ihre Heimatländer bleibt eine Herausforderung. Bis- Irak ausreisten. Unter den zentralasiatischen Jihad- lang liegen dazu kaum verifizierte Angaben vor. Wie Migranten überwogen zunächst ethnische Usbeken bei der Auswanderung ist man hier mit divergieren- aus der Republik selbst, aus der usbekischen Minder- den, widersprüchlichen Informationen konfrontiert. heit in der Nachbarrepublik Kirgistan und aus der Ein Beispiel aus Kasachstan: Der IS postete im Jahr Arbeitsdiaspora in Russland sowie anderen Ländern 2015 Video-Clips mit kasachischen Kämpfern und (etwa der Türkei). Usbeken, die zum IS übergetreten behauptete, Kasachen kämen in Scharen nach Syrien. waren, entwickelten eigene Online-Foren in ihrer Kasachische Behörden bezifferten die Zahl der aus Nationalsprache – wie den Mediendienst Khilafat – dem eigenen Land dorthin ausgereisten Jihadisten im und posteten Propagandatexte auf Facebook, Twitter März 2016 allerdings nur auf 200. 12 Im Dezember und dem russischsprachigen Internetportal Odno- 2017 wiederum teilte der stellvertretende Direktor des klassniki. 10 Das Muftiat in Usbekistan setzte die Zahl Nationalen Sicherheitskomitees mit, dass sich in den usbekischer Staatsbürger, die sich mit dem IS ver- Kriegszonen Syriens und des Irak allein 390 Jugend- bündet hatten, mit »einigen Hundert« an. Wie auch liche aus Kasachstan, darunter 176 Mädchen, auf- hielten, deren Rückführung in ihre Heimat nun ge- fordert sei. 13 8 Zu dem Gipfel siehe Uwe Halbach, Reaktionen auf den Eine Herausforderung für Zentralasien wie für »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, Berlin: viele andere Regionen und Länder bleibt zudem die Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2015 (SWP- Aktuell 85/2015). 9 »Katibat al Tawhid wal Jihad«, in: trackingterrorism.org, 11 Ebd. (eingesehen am 7.2.2018). 13 »Nearly 400 Kazakh Kids in Middle Eastern Conflict 10 Tucker, »Public and State Responses« [wie Fn. 7]. Zones«, in: BBC Monitoring Central Asia, 13.12.2017. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 15
Uwe Halbach islamistische Online- und Offline-Rekrutierung – Das Regime unter Karimow begegnete dieser Her- auch, aber nicht ausschließlich durch den IS. Dies gilt ausforderung mit einem religionspolitischen »crack- ungeachtet der Zerschlagung des Islamischen Staates down«, der aus Usbekistan das Land mit der höchsten und seines »Kalifats« in Syrien und dem Irak. Wie Zahl an Häftlingen im postsowjetischen Raum mach- sieht darauf die Antwort auf der jeweiligen Länder- te, die wegen »religiösen Extremismus« einsitzen. Die ebene aus? Derzeit zeigen sich Unterschiede bei der bereits erwähnte Islamische Bewegung Usbekistans staatlichen Sicherheits- und Religionspolitik in Zen- galt als der prominenteste islamistische Gewaltakteur, tralasien – auch zwischen den beiden größten wurde allerdings gegen Ende der 1990er Jahre aus Staaten der Region, Usbekistan und Kasachstan. 14 dem Land verdrängt. In ihrem Exil in Afghanistan und Pakistan hat sie sich internationalisiert. 15 Die staatliche Sicherheitspolitik machte in der Karimow- Politische Reaktionen in den Ära keinen Unterschied zwischen terroristischen zentralasiatischen Staaten Organisationen und Gruppen wie Hizb ut Tahrir, die zwar ein islamistisches Weltbild vertraten, sich aber Usbekistan ist mit rund 33 Millionen Menschen das von Terror-Aktivitäten distanzierten. einwohnerreichste Land Zentralasiens; es stellt Mit der Auswanderung von Usbeken an die Jihad- 45 Prozent der Gesamtbevölkerung. Mit Grenzen zu Fronten in Syrien und dem Irak verschärfte sich, wie allen übrigen zentralasiatischen Staaten und zu bereits erwähnt, die Konfrontation zwischen dem Afghanistan bildet Usbekistan das Kernland dieser Staat und (angeblichen wie tatsächlichen) islamis- Region. Sicherheitspolitische Herausforderungen tischen Akteuren. Allerdings hat sich in den letzten haben hier grenzüberschreitende Bedeutung – so zwei Jahren die Haltung der offiziellen staatlichen im Fergana-Tal, dem östlichen Landesteil im Grenz- und religiösen Stellen verändert. Regierung und gebiet zu Kirgistan und Tadschikistan, wo die Staats- Muftiat riefen zu pädagogischen Maßnahmen auf, grenzen durch Siedlungsgebiete einzelner Volksgrup- um islamistischer Radikalisierung zu begegnen. 16 Die- pen laufen. Auch mit Blick auf die Geschichte des se Tendenz verstärkt sich mit den bemerkenswerten Islam in Zentralasien kommt Usbekistan eine beson- Reformsignalen, die der neue usbekische Präsident dere Rolle zu. Es liegt im Zentrum des sesshaften Schawkat Mirsijojew – Nachfolger des 2016 verstor- Kulturkreises dieser Region, in dem der Islam tiefer benen Karimow – in seiner Innen- und Außenpolitik verwurzelt ist als in nomadischen Gebieten etwa aussendet. Darin deutet sich eine Öffnung Usbeki- Kasachstans. Die usbekischen Städte Buchara und stans an, das bislang einer der repressivsten und Samarkand bilden historische Zentren islamischer nach außen hin besonders verschlossenen Nachfolge- Kultur in diesem Teil Eurasiens. Von hier strahlten staaten der Sowjetunion war. Sufi-Orden wie Naqschbandiyya auf weite Teile der Impulse einer Liberalisierung zeigen sich dabei islamischen Welt aus. Im Fergana-Tal liegen mit Städ- auch auf religionspolitischem Feld. Im September ten wie Namangan und Andishan Hochburgen einer 2017 teilte Präsident Mirsijojew mit, dass von 17 000 »religiösen Wiedergeburt«, wie sie beim Übergang Personen, die als »Extremisten« registriert waren, ein von der sowjetischen in die nachsowjetische Periode Großteil rehabilitiert worden sei und wieder in die erfolgte. Hier kam es am frühesten zur Konfrontation Gesellschaft integriert werden solle. 17 Auch ist vor- zwischen der säkularen Machtelite um Republik- gesehen, in Buchara, Samarkand und Taschkent neue führer Karimow und autonom auftretenden religiö- islamische Bildungszentren zu schaffen. Die offizielle sen Gruppen. Letztere entzogen sich der Kontrolle der Geistlichkeit soll so in ihrer – bislang eher dürftigen noch aus sowjetischer Zeit stammenden offiziellen Geistlichkeit. Sie entfalteten politische Aktivitäten und präsentierten sich auf lokaler Ebene als nicht- 15 Zur Internationalisierung der IBU und der mit ihr ver- staatliche »Organisatoren von Ordnung und Recht«. bundenen Islamischen Dschihad-Union, die auch Anhänger in Deutschland hatte, siehe: Guido Steinberg, Al-Qaidas deut- sche Kämpfer. Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus, 14 Zur gegenwärtigen religionspolitischen Situation in den Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2014, S. 253–297. zentralasiatischen Ländern siehe: Elmira Nogoybayeva u.a., 16 Tucker, »Public and State Responses« [wie Fn. 7]. Central Asia: A Space for »Silk Democracy«. Islam and State, 17 »Leader Says Most of Uzbeks Listed as Extremists Almaty: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017. Rehabilitated«, BBC Monitoring Central Asia, 2.9.2017. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 16
Der »Islamische Staat« in Zentralasien – theologischen Kompetenz und Autorität gestärkt Kasachen nach Syrien und in den Irak. Als der kasa- werden, um religiöser Radikalisierung besser ent- chische Sicherheitsdienst im Juli 2017 seinen 20. Jah- gegentreten zu können. Zu diesem Zweck wurde in restag feierte, bescheinigte ihm Präsident Nursultan Taschkent bereits ein Zentrum islamischer Zivilisation Nasarbajew heroische Verdienste: Der Versuch, eine gegründet, das den intellektuellen Nachwuchs für das terroristische Infrastruktur im Land aufzubauen, sei Republik-Muftiat heranziehen soll. Präsident Mirsijo- dank des Einsatzes der Sicherheitskräfte gescheitert. 21 jew forderte mit Nachdruck eine Verbesserung der Um unter Terrorismusverdacht zu geraten, reicht es religiösen Bildung. Er schlug vor, ein Zentrum für dabei schon, dass man religiöse Lieder in arabischer Hadith-Forschung zu gründen und Wettbewerbe in Sprache postet. Im August 2017 wurde deswegen ein Koran-Kunde abzuhalten. 18 Den zuvor allmächtigen junger Mann in Almaty vor Gericht gestellt. 22 Sicherheitsapparat wies Mirsijojew in die Schranken; aus den geistlichen Verwaltungsstäben ließ er Ge- In Tadschikistan hat sich der Umgang heimdienstkräfte abziehen. des Staates mit religiösen Akteuren Im Gegensatz zum Usbekistan Karimows galt besonders stark verhärtet. Kasachstan lange Zeit als religionspolitisch liberal. Wurde seine religiöse Landschaft beschrieben, ver- Allerdings beschränkt sich auch in Kasachstan die wies man auf konfessionelle Vielfalt, auf Erscheinun- Abwehr von religiösem Extremismus und entspre- gen von islamisch-vorislamischem Synkretismus, chenden Einflüssen aus dem Ausland nicht auf sicher- Toleranz und nomadische Tradition. Während der heitspolitische und strafrechtliche Maßnahmen. So letzten Jahre erfuhr der Terminus »Extremismus« mahnte der für religiöse Angelegenheiten zuständige dann aber einen fast inflationären Gebrauch in dem Minister, dass die Ausbildung religiöser Kader im Land; dabei wird er besonders auf religiöse Radikali- eigenen Land verbessert werden müsse, damit sich sierung bezogen. Die Zahl diesbezüglicher Gerichts- einer Abwanderung zu Bildungseinrichtungen im urteile ist gestiegen. Menschenrechtsaktivisten weisen islamischen Ausland entgegenwirken lasse. 23 Sein darauf hin, dass die Artikel des Strafgesetzbuchs hier- Ministerium hat eine Gefährderliste aufgestellt, bei weit auslegbar sind. 19 Einen Wendepunkt brach- erwägt zugleich aber neue, »weiche« Methoden zur ten Anschläge auf Sicherheitskräfte in Westkasach- Deradikalisierung dieses Personenkreises. 24 stan. 2011 wurde das Religionsgesetz verschärft; auf Das Land, in dem sich der staatliche Umgang mit der offiziellen Terroristenliste fanden sich islamisti- religiösen Akteuren am meisten verhärtet hat, ist sche Gruppen wie Hizb ut Tahrir und die Islamische Tadschikistan, der ärmste und strukturschwächste Partei Ostturkestans, aus Südasien stammende Staat Zentralasiens und des gesamten GUS-Raumes. Missionsbewegungen wie Tabligh e Jamaat und Die Regierung in Duschanbe begründet ihren Kurs militante Netzwerke wie Lashkar e Taiba. Auch ein zum einen mit der Migration tadschikischer Muslime populärer Sufi-Orden namens Senim-Bilim-Omir an auswärtige Jihad-Fronten, zum anderen mit sicher- (Glaube-Wissen-Leben) wurde 2012 als extremistisch heitspolitischen Herausforderungen, die von Afgha- aus Kasachstan verbannt, sein Führer, ein aus Afgha- nistan herrühren – jenem Land, mit dem Tadschiki- nistan stammender Kasache, zu 14 Jahren Haft ver- stan über 1400 Kilometer die längste und poröseste urteilt. 20 Dabei assoziiert man in den muslimischen Grenze in Zentralasien teilt. Bereits ab 2009 wurde Teilen des GUS-Raumes den Sufismus meist eher per Gesetz die Religionsfreiheit massiv eingeschränkt. positiv mit einem unpolitischen traditionellen Islam. Seitdem wurden Dutzende Islamschulen geschlossen Die Kampfansage der staatlichen Stellen an religiöse und Vorschriften für Predigten erlassen. Solche Me- Akteure, die des Extremismus verdächtigt wurden, thoden lieferten »all jenen Argumente, die die staat- verschärfte sich ab 2014 mit der Auswanderung von 21 Kazachstanskaja Pravda, 13.7.2017. 18 »President Says Uzbekistan Lags Behind in Religious 22 »Kazakh on Trial for Listening Religious Songs in Education«, BBC Monitoring Central Asia, 17.12.2017. Arabic«, BBC Monitoring Central Asia, 30.8.2017. 19 »Extremism Convictions on Rise in Kazakhstan«, 23 »Kazakh Minister Warns against Foreign Religious in: BBC Monitoring Central Asia, 18.8.2017. Education«, BBC Monitoring Central Asia, 5.8.2017. 20 Central Asia: A Space for »Silk Democracy«. Islam and State 24 »Kazakh Police to Take Extra Measures to Prevent [wie Fn. 14], S. 26. Radicalism«, BBC Monitoring Central Asia, 15.12.2017. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 17
Uwe Halbach lichen Eingriffe in die Freiheit der Religionsausübung Verbindung zu Terrorgruppen. 28 Im Sommer 2017 als Beweis für Religionsfeindlichkeit der politischen gingen Sicherheitskräfte in Duschanbe von Haus zu Elite werten und als Missachtung des in der Verfas- Haus, um »unliebsame Personen« aufzugreifen. Dabei sung festgeschriebenen Prinzips der Trennung von standen mutmaßliche religiöse Extremisten im Zen- Staat und Religion«. 25 trum der Zielgruppe. Die Aktion, die unter der Parole Generell sagten Tadschikistans Behörden dem Sala- »Operation Ordnung« stand, war gerichtlich nicht fismus oder »Wahhabismus« den Kampf an. Diese autorisiert. 2017 häuften sich Anti-Terror-Operatio- fundamentalistischen Strömungen wurden 2009 und nen und militärische Manöver in Tadschikistan auf abermals 2014 gesetzlich verboten. 2015 verschärfte nationaler wie multilateraler Ebene. 29 sich die staatliche Kontrolle der Religionsausübung Tadschikistan ist das einzige Land des postsowjeti- ein weiteres Mal, nachdem ein hochrangiger tadschi- schen Raumes, in dem bis vor kurzem noch eine kischer Sicherheitsbeamter, Gulmurod Khalimow, Partei der Islamischen Wiedergeburt registriert war. zum IS übergetreten war. Der Elitekämpfer hatte an In allen übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion fünf von den USA finanzierten Trainingskursen teil- wurden Parteien verboten, die sich auf ethnischer genommen und war mit dem Sohn von Präsident oder religiöser Grundlage definierten. Während der Emomali Rahmon befreundet. Nach dem Seiten- ersten Hälfte der 1990er Jahre war die Partei der wechsel wandte er sich in einer Video-Botschaft an Islamischen Wiedergeburt an den inneren Macht- seine Landsleute, vor allem an jene, die in Russland kämpfen in Tadschikistan beteiligt. Sie trat als ein als Gastarbeiter leben, und drohte, nach Tadschiki- Vertragspartner bei der Friedensregelung auf, die stan zurückzukehren und dort die Scharia durch- 1997 von Russland und anderen internationalen zusetzen. 26 Akteuren vermittelt wurde, um den tadschikischen Die Zahl tadschikischer Jihad-Auswanderer wuchs Bürgerkrieg zu beenden. Sie war nun Teil des politi- zwischen 2014 und 2015 um ein Vielfaches. Der schen Systems, wurde in der Folgezeit aber von der Generalstaatsanwalt des Landes gab im März 2016 säkularen Machtelite um Präsident Rahmon margi- die Zahl der Tadschiken, die an auswärtigen Jihad- nalisiert, 2015 schließlich kriminalisiert und auf die Fronten kämpfen, mit 1094 an. Der Großteil dieser Terroristenliste gesetzt. Die Regierung behauptete, die Auswanderer – bis zu 85 Prozent – soll dabei aller- Partei habe einen Staatsstreich vorbereitet. Begründet dings aus Gastarbeiter-Gemeinden in Russland kom- wurde dies mit Anschlägen auf Polizisten in Duschan- men. Andererseits wurde berichtet, dass allein aus be, welche die Partei finanziert habe – ein Vorwurf, einem kleinen Dorf namens Tschorkischlak im Nor- den auswärtige Beobachter für konstruiert halten. den Tadschikistans sich an die hundert junge Leute Die meisten führenden Parteimitglieder landeten im nach Syrien begeben hätten. Im ersten Halbjahr 2016 Gefängnis oder gingen ins Exil. Letzteres gilt etwa für wurden in Tadschikistan 368 Mitglieder von Terror- Parteichef Muhammed Kabiri. Er hat wiederholt er- Organisationen verhaftet; 133 davon sollen IS-Mitglie- klärt, dass Terrorismus die Religion pervertiere, aber der gewesen sein. 27 Das nationale Interpol-Büro im eben auch auf Missstände in der Regierungsführung tadschikischen Innenministerium teilte im November seines Landes hingewiesen. Regimekritik wird in 2017 mit, dass 2528 Bürger des Landes steckbrieflich Tadschikistan wie in anderen postsowjetischen Staa- gesucht würden, darunter 1873 wegen angeblicher ten sehr schnell mit »Extremismus« gleichgesetzt. 28 »Over 2500 Tajik Nationals on Interpol Wanted List«, 25 Andrea Schmitz, Islam in Tadschikistan. Akteure, Diskurse, BBC Monitoring Central Asia, 23.11.2017. Konflikte, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 29 »Russia Taking Part in CSTO Anti-terrorist Exercise in 2015 (SWP-Studie 6/2015), S. 6. Tajikistan«, BBC Monitoring Central Asia, 14.11.2017; »Russian 26 Paul Stronski, »Tajikistan’s Security Chief Has Troops Conduct Anti-terror Drill in Tajik Mountains«, ebd., Gone Over to ISIS. Now What?«, carnegieendowment.org, 6.10.2017; »Tajikistan Starts Large-scale Drill in Volume of (ein- ern Tajikistan«, ebd., 17.9.2017; »Tajik Police Holds Anti- gesehen am 25.4.2018). terror Drills in Capital«, ebd., 7.8.2017; »Tajikistan Holds 27 Zu diesen Angaben der staatlichen Stellen siehe Karin, Anti-terror Drills Near Afghan Border«, ebd., 18.7.2017; Central Asia [wie Fn. 4]. »Tajikistan Holds Anti-terror Drills in North«, ebd., 6.4.2017. SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 18
Der »Islamische Staat« in Zentralasien Kirgistan hat sich, ähnlich wie Kasachstan, unter Auswirkungen auf die nationale den zentralasiatischen Staaten lange mit einer libera- und regionale Stabilität len Religionspolitik hervorgehoben. Als Gründe dafür galten wiederum nomadische Traditionen, konfessio- Seit längerem diskutieren Regionalexperten darüber, nelle Vielfalt und Toleranz. Doch in letzter Zeit ver- wie ernst Warnungen zentralasiatischer Macht- und schärften sich auch hier die Konflikte zwischen dem Sicherheitseliten zu nehmen sind, es gebe von innen Staat und religiösen Akteuren. Auf die Kämpfe in wie außen eine islamistische Bedrohung. Man erör- Syrien und dem Irak sowie die Auswanderung eigener tert, ob dem eine realistische Risikoanalyse zugrunde Staatsbürger dorthin reagierten Medien und staatliche liegt oder ob die Gefahr bewusst übertrieben wird – Stellen Kirgistans, indem sie den Blick ganz auf den IS aus dem innen- und außenpolitischen Kalkül heraus, fixierten. Nach Schätzungen von 2016 kämpften rund sich als Hüter säkularer Staatlichkeit zu profilieren 500 Auswanderer aus Kirgistan in den Reihen des IS, und dabei Stabilitätsdefizite auszublenden, für die darunter 120 Jugendliche unter 16 Jahren. 30 Die Be- man selbst verantwortlich ist (wie etwa systemische hörden nahmen vor allem die usbekische Minderheit Korruption). Die externe Dimension bezog sich lange im Süden des Landes ins Visier und brachten sie mit auf ein befürchtetes Überschwappen islamistischer Islamismus in Verbindung. Bereits 2015 verhaftete Gewalt aus Afghanistan, bevor ab 2013 mit dem IS man den in dieser Provinz prominentesten Imam, der Schauplatz Syrien/Irak in den Vordergrund trat. Rashod Qori Kamalow, einen ethnischen Usbeken. 31 Mittlerweile hat der IS in seinem Kerngebiet erheblich Dabei hatte er sich vom IS distanziert. Nachdem Abu an Territorium und Staatlichkeit eingebüßt, und die Bakr al-Baghdadi im Juli 2014 den »Islamischen Staat« Auswanderung von »foreign fighters« dorthin geht ausgerufen und sich selbst zum Kalifen aller Muslime seit 2016 zurück. Damit wird in der islamistischen ernannt hatte, verdammte Kamalow diesen Schritt Außenwelt Zentralasiens wieder Afghanistan mit bei einer Freitagspredigt in seiner Moschee in Kara- seiner nach wie vor prekären Sicherheitslage zur Suu als unerhörte Anmaßung; dabei berief er sich auf ersten Adresse, zumal dort auch der IS militärisch theologische Quellen. Position bezogen hat. Es besteht weitgehend Konsens Um religiöse Radikalisierung zu bekämpfen, will darüber, dass der IS auch nach seiner Verdrängung der kirgisische Islamgelehrte Kadyr Malikow die aus Syrien und dem Irak ein ernstzunehmender zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Region Terrorismus-Generator bleibt. Zudem stellt sich die vertiefen – nicht nur auf sicherheitspolitischer, Frage, wie viele der »foreign fighters« in ihre Heimat- sondern vor allem auch auf bildungspolitischer und länder zurückkehren werden. theologischer Ebene. Er wirbt dafür, in Zentralasien Islamistische Rekrutierung durch Netzwerke wie größere islamische Unterrichtszentren zur Ausbil- den IS ist aber nur eine von mehreren Herausforde- dung von Imamen zu gründen. Dafür vorschlagen rungen für die Stabilität Zentralasiens. In Kirgistan hat er historische Metropolen wie Samarkand und hatte das größte Gewaltereignis des Jahrzehnts nicht Buchara im benachbarten Usbekistan. Man dürfe die mit religiöser Radikalisierung zu tun, sondern mit religiöse Erziehung zentralasiatischer Muslime nicht dem inter-ethnischen Antagonismus zwischen kirgisi- auswärtigen Akteuren überlassen. Malikow plädiert scher Mehrheitsbevölkerung und usbekischer Minder- für einen Islam, der mit säkularer Staatlichkeit ver- heit im Süden des Landes – 2010 forderte dieser einbar ist. Zugleich wendet er sich gegen religions- Konflikt Hunderte Todesopfer. Zwar beschworen die politische Repressionen wie im Nachbarland Tadschi- Sicherheitseliten Zentralasiens lange die Gefahr, kistan, die sich beim Kampf gegen Extremismus als dass aus Afghanistan islamischer Radikalismus über- kontraproduktiv erweisen könnten. 32 schwappe und die eigene Region »talibanisiert« wer- de. Doch der weitaus konkretere und nachweisbare Spill-over-Effekt ist der Drogentransfer aus Afghani- stan, der durch Korruption in den Grenzschutz- und Sicherheitsorganen der Transitstaaten begünstigt 30 Zitiert in Uran Botobekov, »Kyrgyzstan’s Self-Defeating wird. Andere Risiken für die regionale Stabilität erge- Conflict with Moderate Islam«, in: The Diplomat, 22.6.2016. ben sich aus Wasser- und Grenzkonflikten zwischen 31 Tucker, »Public and State Responses« [wie Fn. 7], S. 110. den Staaten, insbesondere zwischen Usbekistan und 32 Friedrich Schmidt, »Sieger brauchen tiefe Taschen«, in: seinen Nachbarn Tadschikistan und Kirgistan. Der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2017. neue usbekische Präsident Mirsijojew stellt deshalb SWP Berlin Das kommende Kalifat? »Islamischer Staat« in Asien Juni 2018 19
Sie können auch lesen