DAS KUNSTWERK DES MONATS JULI 2021 - JOHANN HEINRICH WILHELM TISCHBEIN, "GÖTTIN DES TANZES", 1819/20
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JOHANN HEINRICH WILHELM TISCHBEIN GÖTTIN DES TANZES 1819/20 Öl auf Eichenholz Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Inv. 15.430/24 Stefanie Rehm Wenn der Name Tischbein fällt, dann folgt meist nahezu unerschwinglich war, entstanden bereits im nächsten Atemzug jener von Goethe und der früh Reproduktionen der Darstellungen. Tischbein vielen bekannte Spitzname „Goethe-Tischbein“. selbst sammelte diese in Form von eigenhändi- Eigentlich heißt der deutsche Maler Johann gen Nachzeichnungen und fremden Reproduk- Heinrich Wilhelm Tischbein. Die ruhmreiche tionen, die nachträglich koloriert wurden – ein Bezeichnung verdankt er seinem berühmtesten besonderes künstlerisches Phänomen. Derart Gemälde, das Johann Wolfgang von Goethe nahm er sie in seinen an der Antike orientierten auf Ruinen in der römischen Campagna lagernd Motivvorrat auf. Die Stichwerke und Reproduktio- zeigt und sich heute im Städel Museum in Frank- nen bilden gewissermaßen die Schnittstelle furt befindet. Mit den Ruinen und Antiken ist eine zwischen den originalen antiken Vorbildern und der wichtigsten Inspirationsquellen Tischbeins Tischbeins eigenen daraus abgeleiteten Bildfin- benannt, der sich über die Maße mit künstleri- dungen. Denn davon ausgehend entstanden ei- schem wie wissenschaftlichem Interesse für die gene Entwürfe, die sich unterschiedlich weit von Antike begeisterte. den pompejanischen Vorlagen entfernen und Der spätere Oldenburger Hofmaler lebte und arbeitete lange Jahre in Italien. Alles begann mit einer ersten Studienreise als junger Maler in den Jahren 1779–1781, gefolgt von einem 17-jährigen Aufenthalt in Rom und Neapel, der im renom- mierten Direktorenposten der Kunstakademie von Neapel seinen Höhepunkt fand. Somit hatte Tischbein Gelegenheit die Altertümer ausgiebig vor Ort zu studieren, dem antiken Schönheits- ideal nachzueifern und in eigenen Kunstwerken zu verarbeiten – ganz im Sinne des Klassizismus. Tischbeins Begeisterung für Motive und Themen aus der Antike spiegelt sich unter anderem in verschiedenen Motivwanderungen sowie in der Variation dieser Motive. In Neapel interessierte sich Tischbein besonders für die nach Ausgrabungen wiederentdeckten antiken Wandmalereien und dort vor allem für J.H.W. Tischbein Umkreis, Tänzerin nach pompejanscher die Darstellung der Nymphen und Tänzerinnen. Vorlage, 2. Hälfte 18. Jahrhundert Diese sind beispielsweise in einem mehrteili- gen Prachtband aus der zweiten Hälfte des deren Motive sich später in Tischbeins Gemälden 18. Jahrhunderts mit dem Titel „Le Antichità di wiederfinden. So können wir die schwebenden Ercolano Esposte“, der Stiche der wichtigsten an- Nymphen, die Tänzerinnen oder die drei Grazien tiken Kunstwerke aus Herculaneum und Pompeji von den Fresken in Pompeji über deren Repro- versammelt, dokumentiert. Da diese Publikation duktion in den „Antichità“ sowie in verschiedenen
J.H.W. Tischbein, Pompejanische Tänzerin, um 1787 J.H.W. Tischbein, Göttin des Tanzes, vor 1820 Nachstichen bis hin zu Tischbeins „Idyllen-Zyk- Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen. lus“ im Oldenburger Schloss nachverfolgen. Im Er nannte es: „Mnemosyne, Bilderreihe zur Unter- Vergleich wird deutlich, wie sich der Künstler die suchung der Funktion vorgeprägter antiker Aus- Vorlagen aneignet und diese verwandelt. Schritt druckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens für Schritt hat er den Körper der Tänzerin leicht in der Kunst der europäischen Renaissance“. Die zur Seite gedreht, die Armhaltung angepasst Verknüpfungspunkte der einzelnen Darstellungen, und die Inszenierung des flatternden Stoffes ge- die auf visuellen Gemeinsamkeiten beruhen, kenn- steigert. Tischbeins „Göttin des Tanzes“ geht also zeichnen die Bildtafeln Warburgs und lassen sich auf eine pompejanische Tänzerin zurück. auf Tischbeins Schaffen im Falle der Motivwande- Solche Wanderungen, Wiederholungen und Ad- rung übertragen. aptionen von Motiven sind typisch für Tischbeins Ein Motiv, das Warburg und Tischbein gleicherma- Schaffen und zeigen sich nicht nur in Zusammen- ßen und ganz besonders interessierte, waren die hang mit seiner Antikenrezeption. Diese Varia- bewegten antiken Figuren – die Nymphen, Tän- tionen haben zudem eine zeitliche sowie eine zerinnen und Mänaden mit ihrer ausdrucksvollen räumliche Dimension. Sie erstrecken sich von den Körpersprache und ihren flatternden Gewändern. späten 1780er-Jahren bis in die Zeit um 1820, von Während sich Warburg über die Bildtafeln den (Süd-)Italien bis nach (Nord-)Deutschland, kon- Wanderungen wissenschaftlich näherte, erfolgte kret von Neapel nach Oldenburg und Eutin, und dies bei Tischbein in künstlerischer Anverwand- sind keineswegs auf diese Eckpunkte beschränkt. lung. In beiden Fällen war die Auseinandersetzung Auch durch die künstlerischen Techniken wan- äußerst kreativ. Und so wandern bei Tischbein die dern die Motive – von den Fresken und (Repro- Motive von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, bis duktions-)Stichen zu eigenhändigen Zeichnun- zum Klassizismus und darüber hinaus. gen, Radierungen, Aquarellen und Gemälden. Die Idee der Motiv- oder Bildwanderung erin- nert an Warburgs „Bilderfahrzeuge“. Aby War- burg (1866–1929) war ein bedeutender deutscher Literatur: Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, der das Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Goethes Maler Nachleben der Antike erforscht hat. Mithilfe der und Freund, hrsg. v. Hermann Mildenberger, Kat. Bildtafeln seines sogenannten „Mnemosyne-At- Landesmuseum Oldenburg, Oldenburg 1986. las“ konnte er die zeitliche und räumliche Wan- derung von Motiven nachverfolgen und derart Arnd Friedrich/Fritz Heinrich/Christiane Holm das Nachleben der Antike sichtbar machen. Eine (Hrsg.), Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751– solche Bildtafel, die an eine moderne Pinnwand 1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen denken lässt, enthält beispielsweise verschie- Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, Petersberg dene Darstellungen eines bestimmten Motivs in 2001. Form von Drucken, Zeichnungen oder Fotografi- en. Dieses wichtige, aber unvollendet gebliebene Aby Warburg – Bilderatlas Mnemosyne, Kat. Haus Projekt widmete Warburg der Mnemosyne – der Kulturen der Welt Berlin, Berlin 2020.
Abbildungen: © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Sven Adelaide Niedersächsische Landesmuseen Oldenburg Damm 1 · 26135 Oldenburg Telefon (0441) 40570 400 info@landesmuseum-ol.de www.landesmuseum-ol.de
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