Und Kreativität MITTEILUNGEN - Alzheimer Gesellschaft Berlin
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Nr.32. 18. JAHRGANG .DEZEMBER 2007 . ISSN 0949-6378 MITTEILUNGEN Demenz Lewy-Körper-Demenz und und Berichte vom Welt-Alzheimertag 2007 Kreativität
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, wie angekündigt beschäftigt sich die vor- wir an dieser Stelle wieder einmal tun. Wir liegende Ausgabe unserer Mitteilungen im danken allen, die Zeit finden, für uns ei- Hauptthema mit der Lewy-Körper-Demenz. nen Artikel zu schreiben; sei es unter den Wer – wie ich – überhaupt noch nichts über schwierigen Bedingungen der aufwendigen diese Krankheit wusste, wird dankbar sein Pflege eines Angehörigen oder unter be- für Frau Richerts Informationen über das rufsbedingten Stress. DANKE! Krankheitsbild. Die Angehörigenberichte Natürlich bitten auch wir wieder um Ihre beschreiben nicht nur eindrucksvoll die finanzielle Unterstützung und fügen dieser Symptome der Krankheit, sondern machen Ausgabe erneut einen Überweisungsträger auch erschreckend deutlich, wie schwierig bei, in dem Wissen, dass wir gerade in die- offensichtlich die richtige Diagnose ist und ser Zeit des Jahres nicht die Einzigen sind, wie furchtbar die Zeit auf sie zu warten. die dieses Anliegen haben. Auch hier allen Berichte vom Welt-Alzheimertag 2007 Spendern ein herzliches DANKE! b ilden einen weiteren Themenschwerpunkt Unsere erste Ausgabe im nächsten Jahr dieser Ausgabe; zum Nachlesen des Ge- wird sich mit Ehrenamtlichen in der Be- hörten oder als Erstbegegnung für diejeni- treuung Demenzkranker befassen. Zuver- gen, die nicht an der Veranstaltung teilneh- lässig bitten wir an dieser Stelle wieder um men konnten. Ihre Unterstützung in Form von Beiträgen Buchbesprechungen und Berichte von zu diesem Thema. Angehörigen zu allen möglichen Themen Im Namen des Redaktionsteams grüße sind inzwischen beständige Rubriken der ich Sie wie immer herzlich. Wir wünschen Mitteilungen. Das Redaktionsteam ist im- Ihnen und Ihren Familien ein gesegnetes mer dankbar für Anregungen und auch of- Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr. fen für Kritik. Wenn Sie also Vorschläge ha- ben, wie unsere Mitteilungen zu verbessern sind, dann lassen Sie uns das bitte wissen. Das Ende des Jahres wird immer gern dafür genutzt, Rückblick zu halten und Dank auszusprechen. Das möchten auch ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 1
Inhalt Schwerpunktthema Anna Richert Lewy-Körper-Demenz 3 Angehörige Meine Beobachtungen bis zum Ausbruch der Lewy-Körper-Demenz bei meinem Mann 8 Thomas Birk Bericht eines Angehörigen 10 Andrea Meyer Meine Mutter ist nicht mehr da 14 2 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2 0 07
Schwerpunktthema Lewy-Körper-Demenz und Berichte vom Welt-Alzheimertag 2007 Lewy-Körper-Demenz Anna Richert Im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen, nicht nur der Lewy-Körper-Demenz, werden immer wieder bestimmte Fragen gestellt: 1. Ist jede Demenz Alzheimer oder jeder Alzheimer Demenz? Oder ist Alzheimer etwas anderes als Demenz? Und was ist schlimmer? 2. Warum kennt mein Doktor den Begriff Lewy-Körper-Demenz nicht? 3. Was ist eine Lewy-Körper-Demenz? Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag möglichst beantwortet werden. Was ist „Demenz“? chen oder Krankheitsentstehung eine Aus- Demenz ist im medizinischen Sprachge- sage gemacht wird. brauch ein Syndrom, d.h. ein Zustand, der Zum Demenzsyndrom gehören nach der durch das regelmäßig gleichzeitige Vor- Klassifikation ICD10 der Weltgesundheits- kommen von Symptomen gekennzeichnet organisation: ist. Ein Syndrom ist also eine Beschreibung 1. eine Störung des Gedächt- eines Krankheitsbildes, ohne dass zu Ursa- nisses mit Beeinträchtigung von Auf- ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2 0 07 3
nahme und Wiedergabe neuer In- hat wie eine Alzheimer-Demenz bei Kran- formationen und dem Verlust früher ken unter 65 Jahren, „Alzheimer-Demenz“ gelernter und gespeicherter Inhalte, genannt werden dürfe, mit den Diagnose- also eine Störung von Kurz- und kriterien der NINCDS-ADRDA, die die al- Langzeitgedächtnis. tersunabhängige Diagnosestellung ermög- 2. eine Störung des Denkvermö- lichten, einen Abschluss gefunden. Diagno- gens, dazu gehören auch die Stö- sekriterien für andere primär degenerative rung der Fähigkeit zu vernünftigen Demenzformen sind erst danach aufgestellt Urteilen, eine Verminderung des Ide- worden, und kommen in der ICD10 nicht enflusses und eine Beeinträchtigung vor. der Informationsverarbeitung. „Alzheimer“ ist entsprechend immer ei- 3. eine Störung der emotionalen ne Demenz, und zwar die im Alter häu- Kontrolle, die zu einer Veränderung figste Form mit etwa 30 bis 45%, je nach oder Störung des Sozialverhaltens Untersuchung. Aber nicht jede Demenz ist und der Motivation führt. eine Alzheimer-Demenz. Es gibt sekundäre Demenzen, die durch Erkrankungen ausge- Die Störungen von Gedächtnis und / oder löst werden, die sich nicht primär am Ge- Denkvermögen müssen schwer genug sein, hirn abspielen. Als Beispiel sei die Schild- um eine deutliche Beeinträchtigung der Ak- drüsenunterfunktion genannt, die indirekt tivitäten des täglichen Lebens nach sich zu die Gehirnfunktion beeinflusst, und durch ziehen. Hormongabe heilbar ist. Und es gibt an- Diese Syndromdefinition ist eng an die dere Demenzerkrankungen, die, wie die Symptomatik der Alzheimer-Demenz an- Alzheimer-Demenz, primäre Gehirnerkran- gelehnt. Kognitive Symptome (Gedächtnis/ kungen sind, aber eine andere Symptoma- Denkvermögen) werden betont und detail- tik und einen anderen Verlauf haben. Dazu liert beschrieben, nichtkognitive Symptome gehört die Lewy-Körper-Demenz. (Verhalten/Emotionen) treten dagegen in den Hintergrund. Damit sind viele ande- re Demenzen oft schlecht in der Definition Häufigkeit und Erscheinungsbild unterzubringen. Das hat ebenso praktische der Lewy-Körper-Demenz wie historische Gründe. Praktisch ist es so, In verschiedenen Studien wird die Häufig- dass die Alzheimer-Demenz vor allem im keit der Lewy-Körper-Demenz mit 0 bis ca. höheren Lebensalter die häufigste Demenz- 25% angegeben. Wahrscheinlich liegt sie bei form ist. Dies bedeutet, dass die allgemeine etwa 10% und ist damit die dritthäufigste Vorstellung von einer Demenz von den Er- Demenzerkrankung nach der Alzheimer- fahrungen mit Alzheimer-Demenzkranken Demenz und den vaskulären Demenzen. geprägt ist. Historisch ist die ICD10 Mitte Friedrich Heinrich Lewy, nach dem diese der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ent- Demenzform benannt ist, wurde 1885 in standen. Zu dieser Zeit hatte gerade die Berlin geboren, studierte Medizin in Ber- Diskussion darüber, ob auch die senile De- lin und Zürich, arbeitete in München und menz, wenn sie die gleiche Symptomatik Breslau bei Alois Alzheimer, war im Ersten 4 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
Weltkrieg Soldat, habilitierte sich 1921 an eine Behandlung mit dem ersten Acetyl- der Charité Berlin und erhielt eine außer- cholinesterasehemmer Tacrin (Cognex) an- ordentliche Professur für Neurologie. 1934 sprachen, gab es auffällig viele mit Lewy- emigrierte er in die USA, hatte ab 1947 Körperchen. 1996 schließlich wurden von eine Professur für Neurologie in Philadel- einer internationalen Arbeitsgruppe die phia/PA, und starb 1950 als Frederic Henry Kriterien für die Diagnose „Lewy-Körper- Lewey Demenz“ aufgestellt und 2005 überarbeitet Lewy beschrieb nicht die Lewy-Körper- und aktualisiert. Demenz, sondern 1910/12/13 eosinophile Einschlusskörperchen, die in Gehirnzellen Klinische Kriterien für eine von Patienten mit Parkinson-Krankheit vor- Lewy-Körper-Demenz kamen, aber nicht in den Gehirnen von Patienten mit seniler oder arteriosklero- Nach den klinischen Kriterien von 2005 tischer Demenz. Die Hälfte der von ihm kann eine Lewy-Körper-Demenz diagnosti- untersuchten Parkinsonkranken litt an ei- ziert werden, wenn ein fortschreitendes de- ner Demenz im Zusammenhang mit ihrer menzielles Syndrom vorliegt, für das keine Parkinson-Krankheit. 1923 wurden diese andere Ursache gefunden werden konnte, Einschlusskörperchen nach ihrem Entde- und zu dem als weitere für die Diagno- cker „Lewy-Körperchen“ genannt. se notwendige Symptome Fluktuationen in den kognitiven Leistungen, optisch-sze- 1958/61 wurden von drei amerika- nische Halluzinationen und Parkinson- nischen Autoren, Okazaki, Lipkin und Symptome kommen. Wenn zwei oder drei Aronson, erstmals Demenzkranke mit ei- von diesen Symptomen vorliegen, spricht ner besonders schnellen Verlaufsform der man von einer „wahrscheinlichen“, bei Demenz und mit Lewy-Körperchen in der einem von einer „möglichen“ Lewy-Körper- Hirnrinde beschrieben. In der Folge gab es Demenz. „Unterstützende Symptome“ stüt- immer wieder vereinzelt Beschreibungen zen die Diagnose. von Patienten mit „Altersschizophrenie“ oder einer Demenz mit auffälligen Wahn- Der Beginn einer Lewy-Körper-Demenz und Parkinsonsymptomen, bei denen nach kann allmählich oder plötzlich erfolgen. ihrem Tod Lewy-Körperchen gefunden wur- Rückblickend kann zuerst auch ein Delir den. diagnostiziert worden sein. Der weitere Verlauf ist fluktuierend, Phasen mit ausge- 1989 wurde mit der Ubiquitinhistoche- prägten Krankheitserscheinungen wechseln mie eine Methode entwickelt, mit der Le- sich mit Phasen von relativer Gesundheit wy-Körperchen einfach und gut dargestellt ab. Nach der Literatur beträgt die Überle- werden können. Danach stiegen die Zahlen benszeit nur 4 bis 5 Jahre nach Krankheits- von Demenzkranken mit Lewy-Körperchen beginn, mit der richtigen Behandlung kann sprunghaft an. Forschung in internatio- sie aber wesentlich länger betragen. nalen Hirnbanken nach 1989 zeigte, dass 4 bis 25% der Gehirne Lewy-Körperchen Optisch-szenische Halluzinationen sind enthalten. Unter den Patienten, die gut auf Trugwahrnehmungen, in denen die Betrof- fenen Bilder oder ganze Szenen sehen, die ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 5
ersten Acetylcholinesterasehemmer Tacrin (Cognex®) viele mit Lewy-Körperchen. 1996 schließlich wurden von einer die Kriterien für die Diagnose „Lewy-Körper-Demenz“ von anderen nicht wahrgenommen werden zwischen Parkinson-Demenz und Lewy- eitet und können. aktualisiert. Die Szenen sind meistens ohne Körper-Demenz ist wahrscheinlich künst- Ton, wie ein bunter Stummfilm, und die lich. Die Symptome und auch die neuropa- Lewy-Körperchen-DemenzNach gesehenen Personen oder Tiere den klinischen können Kriterien thologischen vonBefunde sind gleich, nur der auch in der Regel nicht angefasst werden. -Demenz diagnostiziert werden, wenn ein fortschreitendes zeitliche Ablauf ist unterschiedlich. Die Be- Die Halluzinationen sind oft verbunden handlung der Parkinson-Demenz ist diesel- gt, für das mitkeine einemandere Wahn, Ursache das heißt gefunden einer nichtwerdender bekonnte, wie die undder Lewy-Körper-Demenz. Realität entsprechenden agnose notwendige Symptome Erklärung Fluktuationen für das in den kognitiven Die Symptome, die die Diagnosestellung Gesehene. Halluzinationen und Wahn tre- unterstützen, sind Stürze früh im Krank- e Halluzinationen ten oft mitund Parkinson-Symptome starker, aber nicht immer pas- kommen. Wenn heitsverlauf, Synkopen, d.h. Bewusstseins- mptomensender Gefühlsreaktion vorliegen, spricht man auf.von Füreiner die Hallu- „wahrscheinlichen“, verlust aufgrund von Kreislaufproblemen, zinationen darf es keine andere Ursache, vorübergehende Bewusstseinsstörungen, en“ Lewy-Körper-Demenz. „Unterstützende Symptome“ stützen wie Hyperthyreose, hoher Blutdruck, Über- Medikamentenüberempfindlichkeit ins- dosierung von Medikamenten, Unterzucke- besondere gegenüber Neuroleptika, die rung, Infekte oder andere körperliche Er- schon erwähnte wahnhafte Ausgestaltung er- krankungen geben. der Halluzinationen, andere, nichtvisuelle r Halluzinationen, z.B. Typischer Verlauf von Demenzerkrankungen hören von Stimmen Kognitive Funktion Alzheimer-Krankheit oder Geräuschen, eine ch REM-Schlaf-Verhaltens- Multiinfarkt-Demenz n Demenz mit Lewy-Bodies (Lewy-Body-Demenz) störung, d.h. Um-Sich- Schlagen oder Treten im Schlaf oder Schlaf- wandeln, und Depres- sionen im Krankheits- beginn. Wenn mehrere dieser unterstützenden n Symptome auftreten, ist die Diagnose Lewy-Kör- h per-Demenz ziemlich sicher, wenn auch nur Zeitlich eines der notwendigen Symptome vorliegt. , Parkinson-Symptome treten bei der Le- Andere Erkrankungen, die die Symp- wy-Körper-Demenz nach der Demenz oder tome erklären, müssen ausgeschlossen wer- gleichzeitig mit ihr auf. Wenn erst für min- den, bevor die Diagnose einer Lewy-Körper- destens ein Jahr eine Parkinson-Krankheit Demenz gestellt werden kann. Dies sind besteht, und erst später im Krankheitsver- vor allem eine vaskuläre, insbesondere eine lauf eine Demenz eintritt, wird diese Par- Multiinfarktdemenz, eine Demenz bei Hy- onen sind Trugwahrnehmungen, in denen die Betroffenen kinson-Demenz genannt. Die Trennung perkalzämie z.B. bei Hyperparathyreoidis- hen, die von anderen nicht wahrgenommen werden können. ne Ton, wie ein bunter Stummfilm, und die gesehenen 6 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
mus, und Paraneoplastische Erkrankungen kung gleichfalls schwere Nebenwirkungen (Demenz bei Krebserkrankungen). auslösen. Geeignet sind z.B. Serotonin- wiederaufnahmehemmer. Antiparkinson- medikamente müssen möglichst sparsam Behandlung der Lewy-Körper-Demenz eingesetzt werden, da sie Halluzinationen Es gibt keine für die Behandlung der Le- und Wahn auslösen können. Statt der klas- wy-Körper-Demenz zugelassenen Medika- sischen Antiparkinsonmedikamente sollten mente. Acetylcholinesterasehemmer ist die die nebenwirkungsärmeren Dopa-Agonis- am besten untersuchte Medikamentengrup- ten Ropinirol oder Pramipexol eingesetzt pe, und es gibt mittlerweile einen Konsens werden. in der Fachwelt, dass sie in der Behandlung Wegen des hohen Nebenwirkungsrisikos der Lewy-Körper-Demenz eingesetzt wer- der Medikamente sollte zuerst ein Acetyl- den sollten. Der Behandlungserfolg ist we- cholinesterasehemmer verordnet und, wenn sentlich deutlicher als bei der Alzheimer- keine Nebenwirkungen auftreten, zügiger Demenz, für deren Behandlung die Medi- als vorgesehen aufdosiert werden. Falls in kamente zugelassen sind. Die Verordnung der Aufdosierungszeit eine Beruhigung des wird dadurch erleichtert, dass die Lewy-Kör- Kranken notwendig ist, sollten vorüberge- per-Demenz in der ICD10 nicht vorkommt, hend Benzodiazepine eingesetzt werden. so dass es berechtigt ist, sie als atypische Erst, wenn nach 14 Tagen unter dem Ace- Alzheimer-Demenz zu verschlüsseln. Unter tylcholinesterasehemmer in höherer Dosis der Behandlung mit einem Acetylcholines- noch unerträglich schwere Symptome der terasehemmer ist zu erwarten, dass sich die Lewy-Körper-Demenz weiter bestehen, soll- schweren Krankheitsphasen mit Halluzina- ten zusätzlich andere Medikamente einge- tionen und Bewusstseinsstörungen, Wahn setzt werden. und Erregungszuständen deutlich glätten und diese Symptome manchmal sogar Bleibt als letzte noch die Frage, warum vollständig verschwinden. Zurück bleiben Sie jetzt wahrscheinlich mehr wissen als Ihr kognitive Beeinträchtigungen wie Gedächt- Doktor. Dafür gibt es eine ganze Reihe von nisstörungen und Wortfindungsstörungen. Erklärungen. In der Regel dauert es 10 bis Alle anderen Medikamente sind mit einem 15 Jahre, bis die Erkenntnisse der Experten hohen Komplikationsrisiko behaftet. Neuro- an der Basis ankommen. Das ist auch in leptika sollten bis auf Quetiapin, Olanzapin anderen Fachgebieten als der Medizin so. oder Clozapin überhaupt nicht eingesetzt Auch medizinische Diagnosen und ihre De- werden. Klassische Neuroleptika und Rispe- finition hängen von technischen Möglich- ridon können schwerste Nebenwirkungen keiten ab. Und Sie haben möglicherweise bis zum Tod auslösen. Aber auch der Ein- ein größeres persönliches Interesse, etwas satz der bei der Lewy-Körper-Demenz bes- über Demenzerkrankungen zu erfahren, ser verträglichen Neuroleptika muss genau als Ihr Arzt. Nutzen Sie Ihr Wissen, und ge- überwacht werden. Auch die klassischen ben Sie es weiter. Antidepressiva müssen vermieden wer- den, da sie durch ihre anticholinerge Wir- ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 7
Meine Beobachtungen über fünf Jahre bis zum Ausbruch der Lewy-Körper-Demenz bei meinem Mann S eit Jahrzehnten litt mein Mann un- ter Depressionen. Manchmal so stark, dass er nichts mehr mit der Welt zu tun haben wollte. Die Medikamente wurden immer stärker und zahlreicher. Tag aus. Fast gleichzeitig ging die Motorik stark zurück. Er stürzte einige Male auf der Treppe (nach oben). Die Schrittfolge nahm stark ab und es kamen Trippelschritte. Der Zustand der Verwirrtheit nahm zu, und die Im Jahr 2002 musste er sich einer Herzo- Teilnahme am Leben schränkte sich immer peration unterziehen. Es wurden eine Bio- mehr ein. Er wurde apathisch, und er nahm Aortenklappe und drei Bypässe angesetzt. mich nur noch als Gegenstand wahr. Mein erster Eindruck nach der Operation Später hatte ich große Probleme, ihn auf der Intensivstation war, er hätte ne- allein zu lassen (ich ging zu dieser Zeit benher einen leichten Schlaganfall erlitten. noch arbeiten). Er ordnete den zeitlichen Auf meine Frage hin bekam ich ein klares Ablauf des Tages nicht mehr richtig ein. Nein, obwohl sein Mundwinkel schief war Frühe und Abend waren ihm kein Begriff und er starke Artikulationsstörungen hatte. mehr. Dazu kamen Wortfindungsschwierig- Nach drei Wochen Krankenhaus, wo ich ihn keiten. Gleichzeitig gesellte sich eine Ag- oft verwirrt vorfand, wurde er mit einem gressivität dazu, die ich bis dato überhaupt Durchgangssyndrom entlassen. Die Medi- nicht kannte. Er wollte mitten in der Nacht kamente wurden nicht umgestellt und im weg, hatte sich angezogen, wohin wusste er alten Rhythmus gegeben. Der Zustand wur- allerdings auch nicht. Er wurde sehr aggres- de nicht besser, sowie im laufe der Zeit siv, als ich ihn daran hinderte. In den fol- schlechter. Mir fiel auf, dass mein Mann genden Tagen nahmen die Halluzinationen in der Nacht starke Halluzinationen hatte. zu (Tag und Nacht) und gleichzeitig kamen Ich habe Licht gemacht, um ihm zu zeigen, Wahnvorstellungen dazu. Er wusste nicht, dass da nichts sei. Diese Halluzinationen wie lange und warum wir hier wohnten, nahmen zu und weiteten sich auch auf den wo ich arbeite, wer die Miete zahlt usw. 8 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
Neu dazu kamen Drohungen gegen nungen sind nach einem Jahr sehr zurück- mich, und er wollte Hand gegen sich selbst gegangen, so dass wir, ich damit leben kön- anlegen. Unsere Hausärztin wies ihn in die nen. Mein Mann ist medikamentös sehr gut Gerontopsychiatrische Station Hedwigshö- eingestellt, wofür wir dem Team der Ge- he ein. Dort kam die Lewy-Körper-Demenz rontopsychiatrischen Klinik Hedwigshöhe voll zum Tragen. Er ordnete seinen Aufent- sehr dankbar sind. halt falsch ein, ebenso seinen Zustand. Nach Name der Verfasserin ist der Redaktion be- Umstellung der Tabletten und einem mas- kannt. siven Ausbruchsversuch dort, kam er lang- sam zur Ruhe. Von all diesen Dingen weiß mein Mann nur noch sehr vage etwas. Anmerkung der Redaktion: Heute kann ich sagen, er lebt ohne De- - Medikament mit dem es nicht besser, son- pressionen und Wahnvorstellungen wieder dern schlechter wurde: Haloperidol zu Hause. Seine Teilnahme am Leben ist - Medikamente, mit denen es besser bzw. neu erwacht. Der begleitende Parkinson ist stabiler wurde: Acetylcholinesterasehem- weg. Nach der Entlassung hatte mein Mann mer (Donepezyl) und Quetiapin noch sehr starke Albträume, diese gingen mit lauten Schreien und Attacken einher. Er bekämpfte sein Feindbild. Diese Erschei- ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 9
Bericht eines Angehörigen Thomas Birk E s war an Heiligabend 2000, als meine Schwester einen netten Scherz über meine Mutter machte, meine Mutter zunächst überhaupt nicht reagierte und erst fünf Sekunden später meinte: „Was?“ Wir gewohnte Rolle. Eine zweite Hüftoperation 1999 brachte einen Parkinson-Schub. In der Reha-Kur stürzte sie, weil sie einen Hund hinter einem Zaun auf sich zustürzen sah. Sie war sich aber später sicher, dass da gar haben darüber herzlich gelacht. Wir ahnten kein Hund gewesen war. Von da an ging es damals noch nicht, dass es das erste deut- steil bergab. liche Anzeichen einer bevorstehenden lan- Es fiel meiner Mutter zunehmend gen Leidensgeschichte war. schwerer, sich zu konzentrieren. Sie ging Meine Mutter bekam 1996 eine künstli- zum Gedächtnistraining und löste verzwei- che Hüfte. Nach der Operation wurde Par- felt und mit wenig Erfolg Kreuzworträtsel. kinson diagnostiziert. Sie war zu diesem Beim Kochen unterliefen ihr Fehler. Sie Zeitpunkt 66 Jahre alt. Zwar verlangsamte konnte ihre Tabletten ab 2002 nicht mehr die Krankheit ihren Lebensrhythmus, aber alleine für den nächsten Tag sortieren. Sie zunächst blieb sie geistig völlig fit. Sie war bekam plötzliche Heulanfälle, ohne einen als frühere Sozialarbeiterin und Chorsän- Grund für die Depression nennen zu kön- gerin noch vielfältig ehrenamtlich aktiv. nen. Die Halluzinationen ergriffen mehr Dennoch alterte sie ungewöhnlich schnell. und mehr Besitz von ihr. Schließlich sah Sie bekam zunehmend Halluzinationen, sie im Wohnzimmer ständig Horrorgestal- die zunächst den Parkinson-Medikamen- ten, die uns bei allem belauschten. Wollte ten zugeordnet wurden. Anfangs waren die sie nachts in ihr Bett, saß dort schon eine Halluzinationen harmlos, oft belustigend. stumme Frau mit Kind. Mein Vater, damals Doch es schlichen sich auch unangenehme 79, stieß zunehmend an seine Grenzen. Vorstellungen dazwischen. Chronische Meine beiden Schwestern und ich lebten Schmerzen und zunehmende Depressionen (in Deutschland verstreut,) weit weg von machten ihr das Leben schwer. Sie traute Heilbronn, wo meine Eltern wohnten. Eine sich nicht mehr, Auto zu fahren. Mehr und meiner beiden Schwestern und ich reisten mehr musste mein Vater die Gestaltung ih- nun abwechselnd fast monatlich zu ihnen, res Alltags übernehmen, eine für ihn un- um sie zu unterstützen. 10 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
Ab Juli 2003 stellten wir unsere Haus- rin, die sie seit 15 Jahren kannte, wolle sie hälterin halbtags ein. Aber auch das reichte beim Spaziergang mit dem Rollstuhl in den bald nicht mehr aus. Meine Mutter wollte Fluss kippen. Sie wusste sehr wohl in kla- bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett, schlief ren Momenten, dass sie dabei war, verrückt aber, von Ängsten und Inkontinenz geplagt, zu werden und war deswegen auch suizid- so unruhig, dass mein Vater ebenfalls kaum gefährdet. In einer gerontopsychiatrischen noch Schlaf bekam. Wegen des Parkinsons Klinik wurde sie für weitere drei Wochen konnte sie sich nachts ohne Hilfe nicht zum medikamentös neu eingestellt. Die Ärztin Bad bewegen, sie stürzte häufig. Gleichzei- dort bestätigte den Verdacht auf Lewy-Kör- tig nahmen ihre geistigen Fähigkeiten ra- perchen-Demenz, ersetzte Seroquel durch pide ab. Sie servierte den Tee in der Gieß- Zyprexa und begann eine Reminyltherapie kanne, sprach beim Telefonieren in den gegen die Demenz. Meine Mutter war zu Geldbeutel statt in den Hörer und kannte diesem Zeitpunkt komplett wahnsinnig, sich in der mehrstöckigen Reihenhauswoh- wechselte in die verschiedenen Zeitepochen nung nicht mehr aus. Man konnte sie nicht zurück und erlitt Höllenqualen. Und mit allein im Hause lassen. Sie verfiel wechsel- ihr die ganze Familie. Es war ein wahrer weise in Panik und Depressionen. Dabei Albtraum! Wir wurden von Schuldgefühlen steigerten sich Rigor (Verkrampfungen) und und Ratlosigkeit gebeutelt. Wohin mit ihr? Tremor (Schütteln der Gliedmaßen) oft ins Es schien im gesamten Heilbronn-Stuttgar- Unerträgliche. Im Herbst 2003 wurde zum ter Raum keine geeignete Bleibe für sie zu ersten Mal der Verdacht auf Lewy-Körper- geben. chen-Demenz geäußert. Außerdem erhielt Ich hatte bereits im Herbst 2003 von meine Mutter eine Pflegestufe, gleich die 2. den Wohngemeinschaften für Menschen Anfang 2004 setzte meine Mutter in kur- mit Demenz in Berlin erfahren. Dies schien zer Reihenfolge erst die halbe Wohnung mir die letzte Hoffnung. Über die damals unter Wasser und dann die Küche halb in bei der Koordinierungsstelle Rund-ums-Al- Brand. Da war für uns und den behandeln- ter Neukölln befindliche Zimmerbörse (in- den Neurologen klar: Zuhause geht es nicht zwischen ist sie in alle bezirklichen Koor- mehr. In großer Eile und schweren Herzens dinierungsstellen dezentralisiert) fand ich (ich hatte meiner Mutter vor 25 Jahren ge- mit der WG „Vergiss-mein-nicht“ schnell ei- schworen, niemals zuzulassen, dass sie in ne sehr geeignete Adresse in Berlin-Mitte. ein Heim müsste) suchten wir Heilbronn Nach einer abenteuerlichen Überführung und Umgebung bis Stuttgart nach einem ge- mit dem Zug zog meine Mutter im März eigneten Pflegeheim ab. Schließlich zog sie 2004 ein. Sie empfand schon nach einer in ein Einzelzimmer eines Heimes, aus dem Woche, dass es eine gute Lösung für sie sie aber nach drei Wochen als mehr oder war. Dort lebt sie nun seit über drei Jahren. minder „heimunfähig“ entlassen wurde. Die WG wurde auch mein zweites Zuhause. Ein Platz in der Dementengruppe dort war Anfangs besuchte ich sie fast täglich, inzwi- nicht frei. Für den normalen Pflegebetrieb schen im Schnitt alle drei Tage. Die fami- war sie aber viel zu anstrengend. Sie war so liäre Wohnsituation, die liebevolle Zuwen- panisch, dass sie glaubte, unsere Haushälte- dung eines fantastischen Pflegeteams in der ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 11
WG, aber sicher auch das Reminyl, machen wir Reminyl wieder an, aber meine Mutter ihr das Leben halbwegs erträglich. Zyprexa brauchte ein halbes Jahr, um sich von dem konnten wir auf ein Minimum reduzieren, Schaden zu erholen. Seither wissen wir leider nicht ganz. erst, welche wichtige Bedeutung Reminyl Das erste halbe Jahr hatten wir eine gu- für Lewy-Körperchen-Demenz hat. Später te Zeit. Meine Mutter konnte zeitweilig bes- stellten wir ohne ärztliche Hilfe fest, dass ser gehen, war zu längeren Unterhaltungen eine geringere Dosierung des Madopar ih- in der Lage und fand manchmal zu ihrem rer Psyche merklich gut tat. Vor allem bei trockenen Humor zurück. Sogar das Lesen Hochdruckwetter im Sommer wirkt sich und Schreiben weniger Zeilen war ihr wie- dies positiv aus. der möglich. Die Wahnanfälle und Hallu- Meine Mutter verlor seit 2004 kontinu- zinationen wurden seltener und verloren ierlich an Gewicht (angeblich unausweich- an Bedrohung. Allerdings waren (und sind lich, wie die Ärztin der gerontopsychia- teilweise immer noch) ihre Zustände sehr trischen Klinik mir prophezeit hatte), was wechselhaft, von Tag zu Tag, aber manch- zur Dekubitusgefahr führte. Durch Astro- mal auch von einer Minute zur anderen. nautennahrung konnten wir dies 2006 gut Wie ich erst jetzt erfahren habe, typisch für kompensieren. Inzwischen isst sie auch oh- die Lewy-Körperchen-Demenz. So konnte ne diese Zusatznahrung mit soviel Appetit, sie im ersten WG-Jahr manchmal auch ag- dass sie ihr Gewicht hält und an den wich- gressiv werden, bedrohte Pflegerinnen mit tigen Stellen Polster entwickelt hat. dem Stock, oder glaubte, ich wollte sie ver- Heute schläft meine Mutter tagsüber giften. Wenn sie richtig wütend war, konnte (vor allem im Winter) sehr viel, nachts bis sie sogar ohne Gehhilfe laufen. auf eine kurze Toilettenpause meist sogar Sie bekommt seit drei Jahren Physiothe- durch. Sie ist zu klaren Gedanken nicht rapie und 2004 kam einmal die Woche ei- mehr fähig. Die Augen sind auch im wa- ne Logopädin. Wir sangen vertraute Lieder, chen Zustand meist geschlossen. Sie wirkt oder ich las ihr alte Briefe von ihr vor, was häufig wie unter einer Glocke, es fällt ihr half, sich an Vergangenes zu erinnern. schwer, zu ihr durchzudringen. Ab und zu Aber schon im ersten Winter ging es weiter blitzt für wenige Minuten ein bisschen Geist bergab. Die guten Tage wurden seltener, bei ihr auf, und sie kann eine kurze, wenn der geistige Verfall nahm zu. Sie bekam auch meist sinnentleerte Unterhaltung füh- einige epileptische Anfälle. Zudem plagten ren. An guten Tagen zerreißt sie lange Zei- sie die Parkinsonsymptome so sehr, dass tungen oder bewegt sich langsam mit dem wir glaubten, die Medikation ändern zu Rollstuhl durch die Wohnung. Ihr Körper ist müssen. In Absprache mit einem Prof. der spastisch verbogen, vor allem Rücken und Charité erhöhten wir Mitte 2005 die Dosis Füße, und von Dauer-Rigor verspannt. Sie von Madopar und setzten Reminyl ab. Die ist erst 78 Jahre alt, sieht aber 20 Jahre älter Folgen waren verheerend! Meine Mutter aus. Trotz der schweren Krankheit ist sie verlor zwischenzeitlich alle Maßstäbe und aber körperlich stabil. Sie war in den drei fiel völlig ab. Nach sechs Wochen setzten Jahren in Berlin nicht einmal erkältet oder 12 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
sonst wie ernsthaft zusätzlich erkrankt, von Manchmal, nur im Schlaf, verwandelt chronischer Verstopfung und Sturzverlet- sie sich auf geheimnisvolle Weise. Dann ist zungen mal abgesehen. Das schlimmste an sie jung und schön, gestikuliert und redet ihrem Zustand waren und sind zeitweilig (leider unverständlich) angeregt und lacht immer noch lang anhaltende Depressionen. laut und fröhlich. Leider hat sie es noch nie Sie hat verlernt, sich über etwas zu freuen. geschafft, diesen Zustand ins wache Leben Sie schafft es auch nur noch sehr selten, rüberzuretten. sich zu bedanken. Sie lacht so gut wie nie. Als Sohn empfinde ich es als unsagbares Ein Lächeln ist schon ein riesiges Geschenk. Glück, dass wir die WG „Vergiss-mein-nicht“ Ihre Mitbewohnerinnen mit einer üblichen gefunden haben, die mitsamt dem zugehö- Alzheimer-Demenz hingegen sind öfter ge- rigen Pflegedienst von Michaela Janke für radezu gut gelaunt und können das auch ihren eigenen, inzwischen verstorbenen, zeigen. Eine positive Abwechslung für sie Vater gegründet wurde. So kann ich mich ist der inzwischen einjährige Sohn der Pfle- immer auf die optimale Betreuung meiner gedienstchefin, der häufig da ist. Da kommt Mutter verlassen. Dadurch ist unsere ganze schon mal ein Lächeln auf oder auch eine Familie zur Ruhe gekommen. Um die Qua- strenge Ermahnung, wenn er ihr zu laut lität dieser Wohnform zu fördern und zu wird. Kontakt zu ihren Mitbewohnerinnen sichern, bin ich im Vorstand des Vereins für hat sie leider nicht mehr aufbauen kön- Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA) nen. Im Frühjahr erwacht sie regelmäßig Berlin aktiv. aus einer Art „Winterschlaf“, ist zeitweilig wacher und nimmt ihre Umgebung wieder aufmerksamer war. Die Helligkeit gibt ihr Kraft. ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 13
Meine Mutter ist nicht mehr da Andrea Meyer Ohnmacht Rückblick Um den gesamten Krankheitsverlauf mei- A m 18. Dezember 2006 lernte ich ein ner Mutter zu schildern, reicht hier der neues Wort: Lewy-Body-Demenz. Platz nicht. Deshalb nur soviel: Alles, was Endlich zu wissen, woran meine 68- die Literatur beschreibt, stellten wir nach jährige Mutter erkrankt war, war hilfreich und nach auch bei meiner Mutter fest – und grausam zugleich. Ab diesem Tag wur- nur, dass wir nicht wussten, womit wir es de mir immer deutlicher, wie ohnmächtig zu tun hatten. Anfangs war ich deswegen wir waren bei dem Versuch, unserer Mutter auf die behandelnden Ärzte sauer. Heute zu helfen. bin ich eigentlich nur noch erschrocken, wie wenig bekannt die Lewy-Körperchen- Vorausgegangen waren zweieinhalb Demenz unter Hausärzten, aber auch unter Jahre, in denen sich die geistigen, später Neurologen ist. auch die körperlichen Fähigkeiten unserer Mutter schubweise rapide verschlechterten. Meine Mutter verlernte nach und nach Von Trauer über den Tod meines Vaters im das Schreiben, hatte Sprachstörungen, Ori- Sommer 2004 über Depression bis hin zu entierungsprobleme. Zeit und Namen ver- Demenz und schließlich Alzheimer reichten loren an Bedeutung, Angstzustände ver- dabei die ärztlichen Diagnosen. Die spezi- mehrten sich. Im Sommer 2006 ging sie auf fische Medikation erstreckte sich von stark der Rückreise von Berlin im Hamburger beruhigenden Psychopharmaka bis hin zu Hauptbahnhof „verloren“ – fürchterlich für Risperdal, sie wurde ergänzt durch den al- sie, grauenhaft für uns. Bald darauf kannte terstypischen Cocktail an Blutdruck- und sie sich im Umkreis von 500, später 100 ähnlichen Medikamenten. Mama sagte zu Metern vor ihrer Haustür nicht mehr aus. alldem nichts, zum Arzt wollte sie schon Irgendwann wusste sie, vor der Haustür ste- mal gar nicht. Ihre Diagnose war klar: „Ich hend, nicht mehr, wo sie wohnt, um zu- bin so alleine“. letzt in der Ecke des Esszimmers nach der Treppe ins Obergeschoß zu suchen. Dazu 14 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
kamen die „Besucher“, zum Teil ihr Spie- mierte, verstand ich erstmal gar nichts. Ich gelbild, zum Teil andere halluzinierte Ge- hatte gesehen, dass Mama über Nacken- stalten, mit denen sie sich zunächst intensiv schmerzen klagte, kein Wunder, da ihr Kopf und lautstark stritt. Außerdem erzählte sie nach einer Erhöhung der Risperdal-Dosis den Nachbarn, die sie zum Teil seit 30 Jah- scheinbar unumkehrbar nach vorne links ren kannten, dass meine Schwester („die gekippt war. Dazu kamen ihre fast andau- Tante“) sie schlage und gemein zu ihr sei. ernden Angstzustände. Und schließlich hat- Schnell hörten wir direkt oder indirekt ent- te sie, als sie noch zuhause war, Phantasie- sprechende Kommentare einiger Nachbarn. wesen erschaffen, mit denen sie auch regel- Die harmlosesten dabei waren Aufforde- mäßig sprach. rungen, uns besser um unsere Mutter zu Dass sie dement war, war klar. Aber Le- kümmern. Das ist vielleicht das Härteste wy? Und Body? Da ich zur Internet-Genera- daran, die eigenen, dementen Eltern zu be- tion gehöre, versuchte ich es bei Google. Ich treuen: Sie werden nicht nur wie die Kin- tippte „Levi“ und „Body“ und „Demenz“ ein der, sondern sie haben auch eine eigene Re- und erhielt: Nichts. Auch ein weiterer Ver- alität. Während das noch auszuhalten ist, ist such verlief ergebnislos. Mir war, als wenn es unerträglich, von Nachbarn, Bekannten ich in ein tiefes, schwarzes Loch falle. Mei- usw. dafür gerügt zu werden, die eigene ne Mutter hatte eine Demenzerkrankung Mutter zu misshandeln oder auch nur nicht – soviel wusste ich. Aber was für eine? Of- gut genug auf sie aufzupassen. fensichtlich nicht Alzheimer, anders, als alle Im November 2006 brachten wir unsere bisherigen Diagnosen vermutet hatten. Ich Mutter in ein auf Demenz spezialisiertes rief die Deutsche Alzheimer Hilfe an, fragte Pflegeheim. Der Abschied von ihrem Zu- nach der Lewy-Body-Demenz. Die dortige hause war für uns alle schwer. In gewisser Mitarbeiterin war freundlich, hilfsbereit, Weise hatte ich das Gefühl, meine Mutter, und – ahnungslos. Immerhin konnte sie vielleicht auch unsere Familie, verraten mir sagen, dass die Krankheit sich nach zu haben. Der dort behandelnde Neuro- Herrn Lewy mit „wy“ und nicht „vi“ schrieb. loge „entdeckte“ schließlich im Dezember Wieder googelte ich, und dieses Mal erhielt die richtige Diagnose. Meine Frage nach ich einige Treffer. Mamas Lebenserwartung beantwortete er Was dort stand, verpasste mir den nächs- mit: „Bei Ihrer Mutter geht es sehr schnell.“ ten Schock, beschrieb es doch exakt, was Nach und nach verlernte Mama das Laufen, wir in den letzten Monaten mit unserer das Stehen, das Sitzen, das Sprechen … Mutter erlebt hatten: „Typisch für die Lewy- Der Neurologe behielt recht: am 15. März Body-Demenz sind ausgeprägte kognitive 2007 ist unsere Mutter gestorben. Fluktuationen. ‚Das sind Patienten, die an einem Tag praktisch normal sind und am Levi was? nächsten so dement, dass sie nicht bis drei zählen können oder ihren Namen nicht Nachdem die Pflegedienstleiterin mich mehr wissen’“ und „visuelle Halluzinati- über die Diagnose des Neurologen infor- onen [werden] […] bei 62% der Patienten ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 15
im Laufe der Erkrankung beobachtet […].“ dass Mama schon länger weg sei, und wir Außerdem erfuhr ich, „dass 89% der DLB- uns um ein kleines Kind im Körper mei- Patienten auch motorische Probleme ha- ner Mutter kümmerten. Aber trotzdem war ben und Parkinsonismus als drittes Kern- dies etwas anderes. Dies war Gewissheit, symptom der Lewy-Body- Demenz definiert dass nichts mehr so sein würde wie früher. ist.“ 1 Dies war Verlust – und zwar endgültig. Ich litt. Ich litt vor allem darunter, nichts, Verwaist aber auch gar nichts, für meine Mutter tun zu können. Das, was ich tun konnte, bei ihr Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Na- sein, ihre Hand halten, tat ich, soweit ich da- türlich hatte ich die Entwicklung der letzten zu in der Lage war. Oft war das nicht. Schon Monate mit Sorge verfolgt. Natürlich hat- eine halbe Stunde mit ihr kam mir vor wie te ich gesehen, wie meine Mutter geistig, eine Woche. Ich hatte das Gefühl, zusehen aber auch körperlich immer mehr abbaute. zu müssen, wie ein kleines Kind, das in Und doch hatte ich die Hoffnung gehabt, sie einer ausweglosen Situation gefangen ist, würde sich noch einmal fangen, würde den verreckt. Nicht einfach stirbt, sondern lang- Umzug ins Pflegeheim im November als sam und leise vor sich hinvegetiert. Und da- Chance nützen können, würde dort besser bei mit großen Augen staunend sich selbst als zuvor allein zuhause in ihrer eigenen beim Sterben zusieht. Die Außenwelt war Realität leben können, so wie viele der an- für sie präsent und doch nicht da. Hätte ich deren Bewohner und Bewohnerinnen des die Macht gehabt, ich hätte meiner Mut- gut und liebevoll geführten Heims in der ter ein langes, gesundes Leben gewünscht. Nähe von Bremen. Aber ganz offensichtlich hatte weder ich In den nächsten Wochen verwaiste nicht die Macht noch war es meiner Mutter be- nur ich, sondern auch meine Mutter. Sie stimmt, gesund alt zu werden. weinte stundenlang um ihre Mutter, und Meine Mutter durfte am 15. März 2007 ich saß hilflos daneben, denn auch ich hät- sterben. Soweit wir wissen, ist sie einfach te um meine Mutter weinen können, die eingeschlafen. Und obwohl ich um sie trau- schon lange nicht mehr da war. Meine ere, und auch meine Verwaisung mich trau- Umwelt reagierte – mit Ausnahme meiner rig macht, bin ich dankbar, dass sie ge- Lebensgefährtin und zweier Freundinnen hen durfte. Wir haben ihre Asche in einem – weitestgehend verständnislos. Klar, meine Friedwald begraben. Dort ist sie den so ge- Mutter war dement, das war schlimm. Aber liebten Pflanzen nah und vielleicht auch das war sie doch schon länger, und daran meinem Vater, dessen Asche wir auf See stirbt man doch nicht. Und sind wir nicht bestattet haben. alle ein bisschen verrückt? Ich versuchte, wieder „normal“ zu sein, zu funktionieren, mich auch für andere Was bleibt? Dinge zu interessieren. Aber ich litt, ich Meine Eltern sind tot. Es war schlimm, als träumte schlecht, ich trauerte. Klar hatte ich mein Vater starb, vor allem, weil sein Tod schon Wochen vorher davon gesprochen, so überraschend kam. Es war schlimm, dass 16 ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
meine Mutter an der Lewy-Körperchen-De- Angehörige jenseits der Realität geführt menz erkrankte und es war noch schlim- wird. Die Zeit, die ich zwischen Sommer mer, ihrem Verfall zuzusehen. Ihr Tod war 2004 und Frühjahr 2007 dafür aufgewendet – für sie und mich – eine Erlösung. Was vor habe, meine Mutter, die 400 km entfernt allem schlimm ist am Tod meiner Eltern, ist lebte, zu betreuen, war sicherlich kein Ur- das merkwürdige Gefühl zu wissen, dass es laub, und mit zwei Wochen war es auch jetzt kein „Zuhause“ mehr gibt, wo ich hin nicht getan. Und dabei war ich noch nicht kann, wenn alle Stricke reißen. Nicht, dass einmal häufig vor Ort, ganz anders als mei- ich dort jemals hin gerannt wäre, aber es ne Schwester, die fast ein Jahr mit meiner war eben immer möglich. Krankheit, Ster- Mutter zusammenlebte. So ehrenwert es ist, ben und Tod aus nächster Nähe zu erle- sich dem drohenden – oder vielleicht sogar ben, hat mich kompromissloser gemacht. schon existenten? – Pflegenotstand zu wid- Unentschiedenheit, Unentschlossenheit, das men, so wenig praktikabel sind viele Vor- so verbreitete „Einen Schritt vor, zwei zu- schläge in der öffentlichen Debatte. rück“ kann ich noch weniger akzeptieren Kontakt: andreacmeyer@gmail.com, Tel. als früher. 030-39408870 Als Kinder haben wir Witze über Alz- Wer Fragen zu meinem Umgang mit der heimer gemacht, unter anderem scherzten Erkrankung meiner Mutter hat, ist herzlich wir, dass das Schöne an Alzheimer sei, dass eingeladen, sich bei mir zu melden. man jeden Tag neue Leute kennen lernt. Heute denke ich, dass das Schöne an De- menzerkrankungen ist, dass man manch- 1 © MMA, CliniCum psy 2/2006, Mag. mal verschüttete Seiten an Leuten kennen Dr. Rüdiger Höflechner; zitiert nach lernt, die man glaubte zu kennen. http://www.medizin-medien.info/dyna- site.cfm?dssid=4172&dsmid=73661&dsp aid=572527 Nachbemerkung Ich finde übrigens, dass die aktuelle Debat- te um bezahlte „Urlaubstage“ für pflegende ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007 17
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