Und Kreativität MITTEILUNGEN - Alzheimer Gesellschaft Berlin

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Nr.32. 18. JAHRGANG .DEZEMBER 2007 . ISSN 0949-6378

        MITTEILUNGEN

     Demenz
Lewy-Körper-Demenz
        und
und Berichte vom
Welt-Alzheimertag 2007
   Kreativität
Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

wie angekündigt beschäftigt sich die vor-       wir an dieser Stelle wieder einmal tun. Wir
liegende Ausgabe unserer Mitteilungen im        danken allen, die Zeit finden, für uns ei-
Hauptthema mit der Lewy-Körper-Demenz.          nen Artikel zu schreiben; sei es unter den
Wer – wie ich – überhaupt noch nichts über      schwierigen Bedingungen der aufwendigen
diese Krankheit wusste, wird dankbar sein       Pflege eines Angehörigen oder unter be-
für Frau Richerts Informationen über das        rufsbedingten Stress. DANKE!
Krankheitsbild. Die Angehörigenberichte            Natürlich bitten auch wir wieder um Ihre
beschreiben nicht nur eindrucksvoll die         finanzielle Unterstützung und fügen dieser
Symptome der Krankheit, sondern machen          Ausgabe erneut einen Überweisungsträger
auch erschreckend deutlich, wie schwierig       bei, in dem Wissen, dass wir gerade in die-
offensichtlich die richtige Diagnose ist und    ser Zeit des Jahres nicht die Einzigen sind,
wie furchtbar die Zeit auf sie zu warten.       die dieses Anliegen haben. Auch hier allen
     Berichte vom Welt-Alzheimertag 2007        Spendern ein herzliches DANKE!
b­ ilden einen weiteren Themenschwerpunkt          Unsere erste Ausgabe im nächsten Jahr
 dieser Ausgabe; zum Nachlesen des Ge-          wird sich mit Ehrenamtlichen in der Be-
 hörten oder als Erstbegegnung für diejeni-     treuung Demenzkranker befassen. Zuver-
 gen, die nicht an der Veranstaltung teilneh-   lässig bitten wir an dieser Stelle wieder um
 men konnten.                                   Ihre Unterstützung in Form von Beiträgen
   Buchbesprechungen und Berichte von           zu diesem Thema.
Angehörigen zu allen möglichen Themen              Im Namen des Redaktionsteams grüße
sind inzwischen beständige Rubriken der         ich Sie wie immer herzlich. Wir wünschen
Mitteilungen. Das Redaktionsteam ist im-        Ihnen und Ihren Familien ein gesegnetes
mer dankbar für Anregungen und auch of-         Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr.
fen für Kritik. Wenn Sie also Vorschläge ha-
ben, wie unsere Mitteilungen zu verbessern
sind, dann lassen Sie uns das bitte wissen.
   Das Ende des Jahres wird immer gern
dafür genutzt, Rückblick zu halten und
Dank auszusprechen. Das möchten auch

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Inhalt
Schwerpunktthema
Anna Richert
Lewy-Körper-Demenz                                                               3
Angehörige
Meine Beobachtungen bis zum Ausbruch der Lewy-Körper-Demenz bei meinem Mann      8
Thomas Birk
Bericht eines Angehörigen                                                       10
Andrea Meyer
Meine Mutter ist nicht mehr da                                                  14

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Schwerpunktthema

Lewy-Körper-Demenz
und Berichte vom
Welt-Alzheimertag 2007

                                                  Lewy-Körper-Demenz
                                                                         Anna Richert

Im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen, nicht nur der Lewy-Körper-Demenz,
werden immer wieder bestimmte Fragen gestellt:
1. Ist jede Demenz Alzheimer oder jeder Alzheimer Demenz?
   Oder ist Alzheimer etwas anderes als Demenz? Und was ist schlimmer?
2. Warum kennt mein Doktor den Begriff Lewy-Körper-Demenz nicht?
3. Was ist eine Lewy-Körper-Demenz?

Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag möglichst beantwortet werden.

Was ist „Demenz“?                             chen oder Krankheitsentstehung eine Aus-
Demenz ist im medizinischen Sprachge-         sage gemacht wird.
brauch ein Syndrom, d.h. ein Zustand, der        Zum Demenzsyndrom gehören nach der
durch das regelmäßig gleichzeitige Vor-       Klassifikation ICD10 der Weltgesundheits-
kommen von Symptomen gekennzeichnet           organisation:
ist. Ein Syndrom ist also eine Beschreibung
                                                1.    eine Störung des Gedächt-
eines Krankheitsbildes, ohne dass zu Ursa-
                                                nisses mit Beeinträchtigung von Auf-

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nahme und Wiedergabe neuer In-             hat wie eine Alzheimer-Demenz bei Kran-
    formationen und dem Verlust früher         ken unter 65 Jahren, „Alzheimer-Demenz“
    gelernter und gespeicherter Inhalte,       genannt werden dürfe, mit den Diagnose-
    also eine Störung von Kurz- und            kriterien der NINCDS-ADRDA, die die al-
    Langzeitgedächtnis.                        tersunabhängige Diagnosestellung ermög-
    2.    eine Störung des Denkvermö-          lichten, einen Abschluss gefunden. Diagno-
    gens, dazu gehören auch die Stö-           sekriterien für andere primär degenerative
    rung der Fähigkeit zu vernünftigen         Demenzformen sind erst danach aufgestellt
    Urteilen, eine Verminderung des Ide-       worden, und kommen in der ICD10 nicht
    enflusses und eine Beeinträchtigung        vor.
    der Informationsverarbeitung.                 „Alzheimer“ ist entsprechend immer ei-
    3.   eine Störung der emotionalen          ne Demenz, und zwar die im Alter häu-
    Kontrolle, die zu einer Veränderung        figste Form mit etwa 30 bis 45%, je nach
    oder Störung des Sozialverhaltens          Untersuchung. Aber nicht jede Demenz ist
    und der Motivation führt.                  eine Alzheimer-Demenz. Es gibt sekundäre
                                               Demenzen, die durch Erkrankungen ausge-
Die Störungen von Gedächtnis und / oder        löst werden, die sich nicht primär am Ge-
Denkvermögen müssen schwer genug sein,         hirn abspielen. Als Beispiel sei die Schild-
um eine deutliche Beeinträchtigung der Ak-     drüsenunterfunktion genannt, die indirekt
tivitäten des täglichen Lebens nach sich zu    die Gehirnfunktion beeinflusst, und durch
ziehen.                                        Hormongabe heilbar ist. Und es gibt an-
Diese Syndromdefinition ist eng an die         dere Demenzerkrankungen, die, wie die
Symptomatik der Alzheimer-Demenz an-           Alzheimer-Demenz, primäre Gehirnerkran-
gelehnt. Kognitive Symptome (Gedächtnis/       kungen sind, aber eine andere Symptoma-
Denkvermögen) werden betont und detail-        tik und einen anderen Verlauf haben. Dazu
liert beschrieben, nichtkognitive Symptome     gehört die Lewy-Körper-Demenz.
(Verhalten/Emotionen) treten dagegen in
den Hintergrund. Damit sind viele ande-
re Demenzen oft schlecht in der Definition     Häufigkeit und Erscheinungsbild
unterzubringen. Das hat ebenso praktische      der Lewy-Körper-Demenz
wie historische Gründe. Praktisch ist es so,   In verschiedenen Studien wird die Häufig-
dass die Alzheimer-Demenz vor allem im         keit der Lewy-Körper-Demenz mit 0 bis ca.
höheren Lebensalter die häufigste Demenz-      25% angegeben. Wahrscheinlich liegt sie bei
form ist. Dies bedeutet, dass die allgemeine   etwa 10% und ist damit die dritthäufigste
Vorstellung von einer Demenz von den Er-       Demenzerkrankung nach der Alzheimer-
fahrungen mit Alzheimer-Demenzkranken          Demenz und den vaskulären Demenzen.
geprägt ist. Historisch ist die ICD10 Mitte    Friedrich Heinrich Lewy, nach dem diese
der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ent-       Demenzform benannt ist, wurde 1885 in
standen. Zu dieser Zeit hatte gerade die       Berlin geboren, studierte Medizin in Ber-
Diskussion darüber, ob auch die senile De-     lin und Zürich, arbeitete in München und
menz, wenn sie die gleiche Symptomatik         Breslau bei Alois Alzheimer, war im Ersten

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Weltkrieg Soldat, habilitierte sich 1921 an   eine Behandlung mit dem ersten Acetyl-
der Charité Berlin und erhielt eine außer-    cholinesterasehemmer Tacrin (Cognex) an-
ordentliche Professur für Neurologie. 1934    sprachen, gab es auffällig viele mit Lewy-
emigrierte er in die USA, hatte ab 1947       Körperchen. 1996 schließlich wurden von
eine Professur für Neurologie in Philadel-    einer internationalen Arbeitsgruppe die
phia/PA, und starb 1950 als Frederic Henry    Kriterien für die Diagnose „Lewy-Körper-
Lewey                                         Demenz“ aufgestellt und 2005 überarbeitet
    Lewy beschrieb nicht die Lewy-Körper-     und aktualisiert.
Demenz, sondern 1910/12/13 eosinophile
Einschlusskörperchen, die in Gehirnzellen     Klinische Kriterien für eine
von Patienten mit Parkinson-Krankheit vor-    Lewy-Körper-Demenz
kamen, aber nicht in den Gehirnen von
Patienten mit seniler oder arteriosklero-     Nach den klinischen Kriterien von 2005
tischer Demenz. Die Hälfte der von ihm        kann eine Lewy-Körper-Demenz diagnosti-
untersuchten Parkinsonkranken litt an ei-     ziert werden, wenn ein fortschreitendes de-
ner Demenz im Zusammenhang mit ihrer          menzielles Syndrom vorliegt, für das keine
Parkinson-Krankheit. 1923 wurden diese        andere Ursache gefunden werden konnte,
Einschlusskörperchen nach ihrem Entde-        und zu dem als weitere für die Diagno-
cker „Lewy-Körperchen“ genannt.               se notwendige Symptome Fluktuationen
                                              in den kognitiven Leistungen, optisch-sze-
   1958/61 wurden von drei amerika-           nische Halluzinationen und Parkinson-
nischen Autoren, Okazaki, Lipkin und          Symptome kommen. Wenn zwei oder drei
Aronson, erstmals Demenzkranke mit ei-        von diesen Symptomen vorliegen, spricht
ner besonders schnellen Verlaufsform der      man von einer „wahrscheinlichen“, bei
Demenz und mit Lewy-Körperchen in der         einem von einer „möglichen“ Lewy-Körper-
Hirnrinde beschrieben. In der Folge gab es    Demenz. „Unterstützende Symptome“ stüt-
immer wieder vereinzelt Beschreibungen        zen die Diagnose.
von Patienten mit „Altersschizophrenie“
oder einer Demenz mit auffälligen Wahn-          Der Beginn einer Lewy-Körper-Demenz
und Parkinsonsymptomen, bei denen nach        kann allmählich oder plötzlich erfolgen.
ihrem Tod Lewy-Körperchen gefunden wur-       Rückblickend kann zuerst auch ein Delir
den.                                          diagnostiziert worden sein. Der weitere
                                              Verlauf ist fluktuierend, Phasen mit ausge-
   1989 wurde mit der Ubiquitinhistoche-      prägten Krankheitserscheinungen wechseln
mie eine Methode entwickelt, mit der Le-      sich mit Phasen von relativer Gesundheit
wy-Körperchen einfach und gut dargestellt     ab. Nach der Literatur beträgt die Überle-
werden können. Danach stiegen die Zahlen      benszeit nur 4 bis 5 Jahre nach Krankheits-
von Demenzkranken mit Lewy-Körperchen         beginn, mit der richtigen Behandlung kann
sprunghaft an. Forschung in internatio-       sie aber wesentlich länger betragen.
nalen Hirnbanken nach 1989 zeigte, dass
4 bis 25% der Gehirne Lewy-Körperchen            Optisch-szenische Halluzinationen sind
enthalten. Unter den Patienten, die gut auf   Trugwahrnehmungen, in denen die Betrof-
                                              fenen Bilder oder ganze Szenen sehen, die

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ersten Acetylcholinesterasehemmer Tacrin (Cognex®)
viele mit Lewy-Körperchen. 1996 schließlich wurden von einer
   die Kriterien für die Diagnose „Lewy-Körper-Demenz“
            von anderen nicht wahrgenommen werden zwischen Parkinson-Demenz und Lewy-
eitet und können.
             aktualisiert.
                       Die Szenen sind meistens ohne Körper-Demenz ist wahrscheinlich künst-
            Ton, wie ein bunter Stummfilm, und die lich. Die Symptome und auch die neuropa-
 Lewy-Körperchen-DemenzNach
            gesehenen Personen oder Tiere      den klinischen
                                                       können Kriterien
                                                                      thologischen  vonBefunde sind gleich, nur der
            auch   in der  Regel   nicht  angefasst   werden.
-Demenz diagnostiziert werden, wenn ein fortschreitendes              zeitliche    Ablauf   ist unterschiedlich. Die Be-
            Die Halluzinationen sind oft verbunden handlung der Parkinson-Demenz ist diesel-
gt, für das mitkeine
                 einemandere
                        Wahn, Ursache
                                das heißt gefunden
                                              einer nichtwerdender bekonnte,
                                                                           wie die undder Lewy-Körper-Demenz.
            Realität entsprechenden
agnose notwendige         Symptome Erklärung
                                          Fluktuationen für das  in den kognitiven
                                                                           Die Symptome, die die Diagnosestellung
            Gesehene. Halluzinationen und Wahn tre- unterstützen, sind Stürze früh im Krank-
e Halluzinationen
            ten oft mitund    Parkinson-Symptome
                          starker,  aber nicht immer pas-       kommen. Wenn
                                                                      heitsverlauf, Synkopen, d.h. Bewusstseins-
mptomensender        Gefühlsreaktion
              vorliegen,   spricht man   auf.von
                                              Füreiner
                                                   die Hallu-
                                                            „wahrscheinlichen“,
                                                                      verlust aufgrund von Kreislaufproblemen,
            zinationen darf es keine andere Ursache, vorübergehende Bewusstseinsstörungen,
en“ Lewy-Körper-Demenz. „Unterstützende Symptome“                               stützen
            wie Hyperthyreose, hoher Blutdruck, Über- Medikamentenüberempfindlichkeit ins-
            dosierung von Medikamenten, Unterzucke- besondere gegenüber Neuroleptika, die
            rung, Infekte oder andere körperliche Er- schon erwähnte wahnhafte Ausgestaltung
er-         krankungen geben.                                         der Halluzinationen, andere, nichtvisuelle
r                                                                                               Halluzinationen, z.B.
              Typischer Verlauf von Demenzerkrankungen                                          hören von Stimmen
           Kognitive Funktion                     Alzheimer-Krankheit
                                                                                                oder Geräuschen, eine
ch                                                                                              REM-Schlaf-Verhaltens-
                                                  Multiinfarkt-Demenz

n                                                 Demenz mit Lewy-Bodies (Lewy-Body-Demenz)     störung, d.h. Um-Sich-
                                                                                                Schlagen oder Treten
                                                                                                im Schlaf oder Schlaf-
                                                                                                wandeln, und Depres-
                                                                                                sionen im Krankheits-
                                                                                                beginn. Wenn mehrere
                                                                                                dieser unterstützenden
 n                                                                                              Symptome auftreten, ist
                                                                                                die Diagnose Lewy-Kör-
h                                                                                               per-Demenz ziemlich
                                                                                                sicher, wenn auch nur
           Zeitlich                                                                             eines der notwendigen
                                                                                                Symptome vorliegt.
 ,              Parkinson-Symptome treten bei der Le-                      Andere Erkrankungen, die die Symp-
            wy-Körper-Demenz nach der Demenz oder tome erklären, müssen ausgeschlossen wer-
            gleichzeitig mit ihr auf. Wenn erst für min- den, bevor die Diagnose einer Lewy-Körper-
            destens ein Jahr eine Parkinson-Krankheit Demenz gestellt werden kann. Dies sind
            besteht, und erst später im Krankheitsver- vor allem eine vaskuläre, insbesondere eine
            lauf eine Demenz eintritt, wird diese Par- Multiinfarktdemenz, eine Demenz bei Hy-
 onen sind Trugwahrnehmungen, in denen die Betroffenen
            kinson-Demenz genannt. Die Trennung perkalzämie z.B. bei Hyperparathyreoidis-
hen, die von anderen nicht wahrgenommen werden können.
 ne Ton, wie ein bunter Stummfilm, und die gesehenen
            6                                                       ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
mus, und Paraneoplastische Erkrankungen        kung gleichfalls schwere Nebenwirkungen
(Demenz bei Krebserkrankungen).                auslösen. Geeignet sind z.B. Serotonin-
                                               wiederaufnahmehemmer. Antiparkinson-
                                               medikamente müssen möglichst sparsam
Behandlung der Lewy-Körper-Demenz              eingesetzt werden, da sie Halluzinationen
Es gibt keine für die Behandlung der Le-       und Wahn auslösen können. Statt der klas-
wy-Körper-Demenz zugelassenen Medika-          sischen Antiparkinsonmedikamente sollten
mente. Acetylcholinesterasehemmer ist die      die nebenwirkungsärmeren Dopa-Agonis-
am besten untersuchte Medikamentengrup-        ten Ropinirol oder Pramipexol eingesetzt
pe, und es gibt mittlerweile einen Konsens     werden.
in der Fachwelt, dass sie in der Behandlung       Wegen des hohen Nebenwirkungsrisikos
der Lewy-Körper-Demenz eingesetzt wer-         der Medikamente sollte zuerst ein Acetyl-
den sollten. Der Behandlungserfolg ist we-     cholinesterasehemmer verordnet und, wenn
sentlich deutlicher als bei der Alzheimer-     keine Nebenwirkungen auftreten, zügiger
Demenz, für deren Behandlung die Medi-         als vorgesehen aufdosiert werden. Falls in
kamente zugelassen sind. Die Verordnung        der Aufdosierungszeit eine Beruhigung des
wird dadurch erleichtert, dass die Lewy-Kör-   Kranken notwendig ist, sollten vorüberge-
per-Demenz in der ICD10 nicht vorkommt,        hend Benzodiazepine eingesetzt werden.
so dass es berechtigt ist, sie als atypische   Erst, wenn nach 14 Tagen unter dem Ace-
Alzheimer-Demenz zu verschlüsseln. Unter       tylcholinesterasehemmer in höherer Dosis
der Behandlung mit einem Acetylcholines-       noch unerträglich schwere Symptome der
terasehemmer ist zu erwarten, dass sich die    Lewy-Körper-Demenz weiter bestehen, soll-
schweren Krankheitsphasen mit Halluzina-       ten zusätzlich andere Medikamente einge-
tionen und Bewusstseinsstörungen, Wahn         setzt werden.
und Erregungszuständen deutlich glätten
und diese Symptome manchmal sogar                 Bleibt als letzte noch die Frage, warum
vollständig verschwinden. Zurück bleiben       Sie jetzt wahrscheinlich mehr wissen als Ihr
kognitive Beeinträchtigungen wie Gedächt-      Doktor. Dafür gibt es eine ganze Reihe von
nisstörungen und Wortfindungsstörungen.        Erklärungen. In der Regel dauert es 10 bis
Alle anderen Medikamente sind mit einem        15 Jahre, bis die Erkenntnisse der Experten
hohen Komplikationsrisiko behaftet. Neuro-     an der Basis ankommen. Das ist auch in
leptika sollten bis auf Quetiapin, Olanzapin   anderen Fachgebieten als der Medizin so.
oder Clozapin überhaupt nicht eingesetzt       Auch medizinische Diagnosen und ihre De-
werden. Klassische Neuroleptika und Rispe-     finition hängen von technischen Möglich-
ridon können schwerste Nebenwirkungen          keiten ab. Und Sie haben möglicherweise
bis zum Tod auslösen. Aber auch der Ein-       ein größeres persönliches Interesse, etwas
satz der bei der Lewy-Körper-Demenz bes-       über Demenzerkrankungen zu erfahren,
ser verträglichen Neuroleptika muss genau      als Ihr Arzt. Nutzen Sie Ihr Wissen, und ge-
überwacht werden. Auch die klassischen         ben Sie es weiter.
Antidepressiva müssen vermieden wer-
den, da sie durch ihre anticholinerge Wir-

ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007                                               7
Meine Beobachtungen über fünf Jahre
                                  bis zum Ausbruch der
                  Lewy-Körper-Demenz bei meinem Mann

S     eit Jahrzehnten litt mein Mann un-
      ter Depressionen. Manchmal so stark,
      dass er nichts mehr mit der Welt zu
tun haben wollte. Die Medikamente wurden
immer stärker und zahlreicher.
                                               Tag aus. Fast gleichzeitig ging die Motorik
                                               stark zurück. Er stürzte einige Male auf der
                                               Treppe (nach oben). Die Schrittfolge nahm
                                               stark ab und es kamen Trippelschritte. Der
                                               Zustand der Verwirrtheit nahm zu, und die
   Im Jahr 2002 musste er sich einer Herzo-    Teilnahme am Leben schränkte sich immer
peration unterziehen. Es wurden eine Bio-      mehr ein. Er wurde apathisch, und er nahm
Aortenklappe und drei Bypässe angesetzt.       mich nur noch als Gegenstand wahr.
Mein erster Eindruck nach der Operation             Später hatte ich große Probleme, ihn
auf der Intensivstation war, er hätte ne-      a­llein zu lassen (ich ging zu dieser Zeit
benher einen leichten Schlaganfall erlitten.    noch arbeiten). Er ordnete den zeitlichen
Auf meine Frage hin bekam ich ein klares        Ablauf des Tages nicht mehr richtig ein.
Nein, obwohl sein Mundwinkel schief war         Frühe und Abend waren ihm kein Begriff
und er starke Artikulationsstörungen hatte.     mehr. Dazu kamen Wortfindungsschwierig-
Nach drei Wochen Krankenhaus, wo ich ihn        keiten. Gleichzeitig gesellte sich eine Ag-
oft verwirrt vorfand, wurde er mit einem        gressivität dazu, die ich bis dato überhaupt
Durchgangssyndrom entlassen. Die Medi-          nicht kannte. Er wollte mitten in der Nacht
kamente wurden nicht umgestellt und im          weg, hatte sich angezogen, wohin wusste er
alten Rhythmus gegeben. Der Zustand wur-        allerdings auch nicht. Er wurde sehr aggres-
de nicht besser, sowie im laufe der Zeit        siv, als ich ihn daran hinderte. In den fol-
schlechter. Mir fiel auf, dass mein Mann        genden Tagen nahmen die Halluzinationen
in der Nacht starke Halluzinationen hatte.      zu (Tag und Nacht) und gleichzeitig kamen
Ich habe Licht gemacht, um ihm zu zeigen,       Wahnvorstellungen dazu. Er wusste nicht,
dass da nichts sei. Diese Halluzinationen       wie lange und warum wir hier wohnten,
nahmen zu und weiteten sich auch auf den        wo ich arbeite, wer die Miete zahlt usw.

8                                              ALZ H EI M ER . BERLI N . DEZ EM BER 2007
Neu dazu kamen Drohungen gegen              nungen sind nach einem Jahr sehr zurück-
mich, und er wollte Hand gegen sich selbst     gegangen, so dass wir, ich damit leben kön-
anlegen. Unsere Hausärztin wies ihn in die     nen. Mein Mann ist medikamentös sehr gut
Gerontopsychiatrische Station Hedwigshö-       eingestellt, wofür wir dem Team der Ge-
he ein. Dort kam die Lewy-Körper-Demenz        rontopsychiatrischen Klinik Hedwigshöhe
voll zum Tragen. Er ordnete seinen Aufent-     sehr dankbar sind.
halt falsch ein, ebenso seinen Zustand. Nach   Name der Verfasserin ist der Redaktion be-
Umstellung der Tabletten und einem mas-        kannt.
siven Ausbruchsversuch dort, kam er lang-
sam zur Ruhe. Von all diesen Dingen weiß
mein Mann nur noch sehr vage ­etwas.           Anmerkung der Redaktion:
   Heute kann ich sagen, er lebt ohne De-      - Medikament mit dem es nicht besser, son-
pressionen und Wahnvorstellungen wieder        dern schlechter wurde: Haloperidol
zu Hause. Seine Teilnahme am Leben ist         - Medikamente, mit denen es besser bzw.
neu erwacht. Der begleitende Parkinson ist     stabiler wurde: Acetylcholinesterasehem-
weg. Nach der Entlassung hatte mein Mann       mer (Donepezyl) und Quetiapin
noch sehr starke Albträume, diese gingen
mit lauten Schreien und Attacken einher.
Er bekämpfte sein Feindbild. Diese Erschei-

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Bericht eines Angehörigen
                                                                                Thomas Birk

E     s war an Heiligabend 2000, als meine
      Schwester einen netten Scherz über
      meine Mutter machte, meine Mutter
zunächst überhaupt nicht reagierte und erst
fünf Sekunden später meinte: „Was?“ Wir
                                                  gewohnte Rolle. Eine zweite Hüftoperation
                                                  1999 brachte einen Parkinson-Schub. In der
                                                  Reha-Kur stürzte sie, weil sie einen Hund
                                                  hinter einem Zaun auf sich zustürzen sah.
                                                  Sie war sich aber später sicher, dass da gar
haben darüber herzlich gelacht. Wir ahnten        kein Hund gewesen war. Von da an ging es
damals noch nicht, dass es das erste deut-        steil bergab.
liche Anzeichen einer bevorstehenden lan-             Es fiel meiner Mutter zunehmend
gen Leidensgeschichte war.                        schwerer, sich zu konzentrieren. Sie ging
   Meine Mutter bekam 1996 eine künstli-          zum Gedächtnistraining und löste verzwei-
che Hüfte. Nach der Operation wurde Par-          felt und mit wenig Erfolg Kreuzworträtsel.
kinson diagnostiziert. Sie war zu diesem          Beim Kochen unterliefen ihr Fehler. Sie
Zeitpunkt 66 Jahre alt. Zwar verlangsamte         konnte ihre Tabletten ab 2002 nicht mehr
die Krankheit ihren Lebensrhythmus, aber          alleine für den nächsten Tag sortieren. Sie
zunächst blieb sie geistig völlig fit. Sie war    bekam plötzliche Heulanfälle, ohne einen
als frühere Sozialarbeiterin und Chorsän-         Grund für die Depression nennen zu kön-
gerin noch vielfältig ehrenamtlich aktiv.         nen. Die Halluzinationen ergriffen mehr
Dennoch alterte sie ungewöhnlich schnell.         und mehr Besitz von ihr. Schließlich sah
Sie bekam zunehmend Halluzinationen,              sie im Wohnzimmer ständig Horrorgestal-
die zunächst den Parkinson-Medikamen-             ten, die uns bei allem belauschten. Wollte
ten zugeordnet wurden. Anfangs waren die          sie nachts in ihr Bett, saß dort schon eine
Halluzinationen harmlos, oft belustigend.         stumme Frau mit Kind. Mein Vater, damals
Doch es schlichen sich auch unangenehme           79, stieß zunehmend an seine Grenzen.
Vorstellungen dazwischen. Chronische              Meine beiden Schwestern und ich lebten
Schmerzen und zunehmende Depressionen             (in Deutschland verstreut,) weit weg von
machten ihr das Leben schwer. Sie traute          Heilbronn, wo meine Eltern wohnten. Eine
sich nicht mehr, Auto zu fahren. Mehr und         meiner beiden Schwestern und ich reisten
mehr musste mein Vater die Gestaltung ih-         nun abwechselnd fast monatlich zu ihnen,
res Alltags übernehmen, eine für ihn un-          um sie zu unterstützen.

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Ab Juli 2003 stellten wir unsere Haus-       rin, die sie seit 15 Jahren kannte, wolle sie
hälterin halbtags ein. Aber auch das reichte    beim Spaziergang mit dem Rollstuhl in den
bald nicht mehr aus. Meine Mutter wollte        Fluss kippen. Sie wusste sehr wohl in kla-
bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett, schlief   ren Momenten, dass sie dabei war, verrückt
aber, von Ängsten und Inkontinenz geplagt,      zu werden und war deswegen auch suizid-
so unruhig, dass mein Vater ebenfalls kaum      gefährdet. In einer gerontopsychiatrischen
noch Schlaf bekam. Wegen des Parkinsons         Klinik wurde sie für weitere drei Wochen
konnte sie sich nachts ohne Hilfe nicht zum     medikamentös neu eingestellt. Die Ärztin
Bad bewegen, sie stürzte häufig. Gleichzei-     dort bestätigte den Verdacht auf Lewy-Kör-
tig nahmen ihre geistigen Fähigkeiten ra-       perchen-Demenz, ersetzte Seroquel durch
pide ab. Sie servierte den Tee in der Gieß-     Zyprexa und begann eine Reminyltherapie
kanne, sprach beim Telefonieren in den          gegen die Demenz. Meine Mutter war zu
Geldbeutel statt in den Hörer und kannte        diesem Zeitpunkt komplett wahnsinnig,
sich in der mehrstöckigen Reihenhauswoh-        wechselte in die verschiedenen Zeitepochen
nung nicht mehr aus. Man konnte sie nicht       zurück und erlitt Höllenqualen. Und mit
allein im Hause lassen. Sie verfiel wechsel-    ihr die ganze Familie. Es war ein wahrer
weise in Panik und Depressionen. Dabei          Albtraum! Wir wurden von Schuldgefühlen
steigerten sich Rigor (Verkrampfungen) und      und Ratlosigkeit gebeutelt. Wohin mit ihr?
Tremor (Schütteln der Gliedmaßen) oft ins       Es schien im gesamten Heilbronn-Stuttgar-
Unerträgliche. Im Herbst 2003 wurde zum         ter Raum keine geeignete Bleibe für sie zu
ersten Mal der Verdacht auf Lewy-Körper-        geben.
chen-Demenz geäußert. Außerdem erhielt              Ich hatte bereits im Herbst 2003 von
meine Mutter eine Pflegestufe, gleich die 2.    den Wohngemeinschaften für Menschen
    Anfang 2004 setzte meine Mutter in kur-     mit Demenz in Berlin erfahren. Dies schien
zer Reihenfolge erst die halbe Wohnung          mir die letzte Hoffnung. Über die damals
unter Wasser und dann die Küche halb in         bei der Koordinierungsstelle Rund-ums-Al-
Brand. Da war für uns und den behandeln-        ter Neukölln befindliche Zimmerbörse (in-
den Neurologen klar: Zuhause geht es nicht      zwischen ist sie in alle bezirklichen Koor-
mehr. In großer Eile und schweren Herzens       dinierungsstellen dezentralisiert) fand ich
(ich hatte meiner Mutter vor 25 Jahren ge-      mit der WG „Vergiss-mein-nicht“ schnell ei-
schworen, niemals zuzulassen, dass sie in       ne sehr geeignete Adresse in Berlin-Mitte.
ein Heim müsste) suchten wir Heilbronn          Nach einer abenteuerlichen Überführung
und Umgebung bis Stuttgart nach einem ge-       mit dem Zug zog meine Mutter im März
eigneten Pflegeheim ab. Schließlich zog sie     2004 ein. Sie empfand schon nach einer
in ein Einzelzimmer eines Heimes, aus dem       Woche, dass es eine gute Lösung für sie
sie aber nach drei Wochen als mehr oder         war. Dort lebt sie nun seit über drei Jahren.
minder „heimunfähig“ entlassen wurde.           Die WG wurde auch mein zweites Zuhause.
Ein Platz in der Dementengruppe dort war        Anfangs besuchte ich sie fast täglich, inzwi-
nicht frei. Für den normalen Pflegebetrieb      schen im Schnitt alle drei Tage. Die fami-
war sie aber viel zu anstrengend. Sie war so    liäre Wohnsituation, die liebevolle Zuwen-
panisch, dass sie glaubte, unsere Haushälte-    dung eines fantastischen Pflegeteams in der

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WG, aber sicher auch das Reminyl, machen        wir Reminyl wieder an, aber meine Mutter
ihr das Leben halbwegs erträglich. Zyprexa      brauchte ein halbes Jahr, um sich von dem
konnten wir auf ein Minimum reduzieren,         Schaden zu erholen. Seither wissen wir
leider nicht ganz.                              erst, welche wichtige Bedeutung Reminyl
    Das erste halbe Jahr hatten wir eine gu-    für Lewy-Körperchen-Demenz hat. Später
te Zeit. Meine Mutter konnte zeitweilig bes-    stellten wir ohne ärztliche Hilfe fest, dass
ser gehen, war zu längeren Unterhaltungen       eine geringere Dosierung des Madopar ih-
in der Lage und fand manchmal zu ihrem          rer Psyche merklich gut tat. Vor allem bei
trockenen Humor zurück. Sogar das Lesen         Hochdruckwetter im Sommer wirkt sich
und Schreiben weniger Zeilen war ihr wie-       ­dies positiv aus.
der möglich. Die Wahnanfälle und Hallu-             Meine Mutter verlor seit 2004 kontinu-
zinationen wurden seltener und verloren         ierlich an Gewicht (angeblich unausweich-
an Bedrohung. Allerdings waren (und sind        lich, wie die Ärztin der gerontopsychia-
teilweise immer noch) ihre Zustände sehr        trischen Klinik mir prophezeit hatte), was
wechselhaft, von Tag zu Tag, aber manch-        zur Dekubitusgefahr führte. Durch Astro-
mal auch von einer Minute zur anderen.          nautennahrung konnten wir dies 2006 gut
Wie ich erst jetzt erfahren habe, typisch für   kompensieren. Inzwischen isst sie auch oh-
die Lewy-Körperchen-Demenz. So konnte           ne diese Zusatznahrung mit soviel Appetit,
sie im ersten WG-Jahr manchmal auch ag-         dass sie ihr Gewicht hält und an den wich-
gressiv werden, bedrohte Pflegerinnen mit       tigen Stellen Polster entwickelt hat.
dem Stock, oder glaubte, ich wollte sie ver-        Heute schläft meine Mutter tagsüber
giften. Wenn sie richtig wütend war, konnte     (vor allem im Winter) sehr viel, nachts bis
sie sogar ohne Gehhilfe laufen.                 auf eine kurze Toilettenpause meist sogar
    Sie bekommt seit drei Jahren Physiothe-     durch. Sie ist zu klaren Gedanken nicht
rapie und 2004 kam einmal die Woche ei-         mehr fähig. Die Augen sind auch im wa-
ne Logopädin. Wir sangen vertraute Lieder,      chen Zustand meist geschlossen. Sie wirkt
oder ich las ihr alte Briefe von ihr vor, was   häufig wie unter einer Glocke, es fällt
ihr half, sich an Vergangenes zu erinnern.      schwer, zu ihr durchzudringen. Ab und zu
Aber schon im ersten Winter ging es weiter      blitzt für wenige Minuten ein bisschen Geist
bergab. Die guten Tage wurden seltener,         bei ihr auf, und sie kann eine kurze, wenn
der geistige Verfall nahm zu. Sie bekam         auch meist sinnentleerte Unterhaltung füh-
einige epileptische Anfälle. Zudem plagten      ren. An guten Tagen zerreißt sie lange Zei-
sie die Parkinsonsymptome so sehr, dass         tungen oder bewegt sich langsam mit dem
wir glaubten, die Medikation ändern zu          Rollstuhl durch die Wohnung. Ihr Körper ist
müssen. In Absprache mit einem Prof. der        spastisch verbogen, vor allem Rücken und
Charité erhöhten wir Mitte 2005 die Dosis       Füße, und von Dauer-Rigor verspannt. Sie
von Madopar und setzten Reminyl ab. Die         ist erst 78 Jahre alt, sieht aber 20 Jahre älter
Folgen waren verheerend! Meine Mutter           aus. Trotz der schweren Krankheit ist sie
verlor zwischenzeitlich alle Maßstäbe und       aber körperlich stabil. Sie war in den drei
fiel völlig ab. Nach sechs Wochen setzten       Jahren in Berlin nicht einmal erkältet oder

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sonst wie ernsthaft zusätzlich erkrankt, von       Manchmal, nur im Schlaf, verwandelt
chronischer Verstopfung und Sturzverlet-       sie sich auf geheimnisvolle Weise. Dann ist
zungen mal abgesehen. Das schlimmste an        sie jung und schön, gestikuliert und redet
ihrem Zustand waren und sind zeitweilig        (leider unverständlich) angeregt und lacht
immer noch lang anhaltende Depressionen.       laut und fröhlich. Leider hat sie es noch nie
Sie hat verlernt, sich über etwas zu freuen.   geschafft, diesen Zustand ins wache Leben
Sie schafft es auch nur noch sehr selten,      rüberzuretten.
sich zu bedanken. Sie lacht so gut wie nie.        Als Sohn empfinde ich es als unsagbares
Ein Lächeln ist schon ein riesiges Geschenk.   Glück, dass wir die WG „Vergiss-mein-nicht“
Ihre Mitbewohnerinnen mit einer üblichen       gefunden haben, die mitsamt dem zugehö-
Alzheimer-Demenz hingegen sind öfter ge-       rigen Pflegedienst von Michaela Janke für
radezu gut gelaunt und können das auch         ihren eigenen, inzwischen verstorbenen,
zeigen. Eine positive Abwechslung für sie      Vater gegründet wurde. So kann ich mich
ist der inzwischen einjährige Sohn der Pfle-   immer auf die optimale Betreuung meiner
gedienstchefin, der häufig da ist. Da kommt    Mutter verlassen. Dadurch ist unsere ganze
schon mal ein Lächeln auf oder auch eine       Familie zur Ruhe gekommen. Um die Qua-
strenge Ermahnung, wenn er ihr zu laut         lität dieser Wohnform zu fördern und zu
wird. Kontakt zu ihren Mitbewohnerinnen        sichern, bin ich im Vorstand des Vereins für
hat sie leider nicht mehr aufbauen kön-        Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA)
nen. Im Frühjahr erwacht sie regelmäßig        Berlin aktiv.
aus einer Art „Winterschlaf“, ist zeitweilig
wacher und nimmt ihre Umgebung wieder
aufmerksamer war. Die Helligkeit gibt ihr
Kraft.

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Meine Mutter ist nicht mehr da
                                                                         Andrea Meyer

Ohnmacht                                      Rückblick
                                              Um den gesamten Krankheitsverlauf mei-

A      m 18. Dezember 2006 lernte ich ein     ner Mutter zu schildern, reicht hier der
       neues Wort: Lewy-Body-Demenz.          Platz nicht. Deshalb nur soviel: Alles, was
       Endlich zu wissen, woran meine 68-     die Literatur beschreibt, stellten wir nach
jährige Mutter erkrankt war, war hilfreich    und nach auch bei meiner Mutter fest –
und grausam zugleich. Ab diesem Tag wur-      nur, dass wir nicht wussten, womit wir es
de mir immer deutlicher, wie ohnmächtig       zu tun hatten. Anfangs war ich deswegen
wir waren bei dem Versuch, unserer Mutter     auf die behandelnden Ärzte sauer. Heute
zu helfen.                                    bin ich eigentlich nur noch erschrocken,
                                              wie wenig bekannt die Lewy-Körperchen-
    Vorausgegangen waren zweieinhalb          Demenz unter Hausärzten, aber auch unter
Jahre, in denen sich die geistigen, später    Neurologen ist.
auch die körperlichen Fähigkeiten unserer
Mutter schubweise rapide verschlechterten.        Meine Mutter verlernte nach und nach
Von Trauer über den Tod meines Vaters im      das Schreiben, hatte Sprachstörungen, Ori-
Sommer 2004 über Depression bis hin zu        entierungsprobleme. Zeit und Namen ver-
Demenz und schließlich Alzheimer reichten     loren an Bedeutung, Angstzustände ver-
dabei die ärztlichen Diagnosen. Die spezi-    mehrten sich. Im Sommer 2006 ging sie auf
fische Medikation erstreckte sich von stark   der Rückreise von Berlin im Hamburger
beruhigenden Psychopharmaka bis hin zu        Hauptbahnhof „verloren“ – fürchterlich für
Risperdal, sie wurde ergänzt durch den al-    sie, grauenhaft für uns. Bald darauf kannte
terstypischen Cocktail an Blutdruck- und      sie sich im Umkreis von 500, später 100
ähnlichen Medikamenten. Mama sagte zu         Metern vor ihrer Haustür nicht mehr aus.
alldem nichts, zum Arzt wollte sie schon      Irgendwann wusste sie, vor der Haustür ste-
mal gar nicht. Ihre Diagnose war klar: „Ich   hend, nicht mehr, wo sie wohnt, um zu-
bin so alleine“.                              letzt in der Ecke des Esszimmers nach der
                                              Treppe ins Obergeschoß zu suchen. Dazu

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kamen die „Besucher“, zum Teil ihr Spie-        mierte, verstand ich erstmal gar nichts. Ich
gelbild, zum Teil andere halluzinierte Ge-      hatte gesehen, dass Mama über Nacken-
stalten, mit denen sie sich zunächst intensiv   schmerzen klagte, kein Wunder, da ihr Kopf
und lautstark stritt. Außerdem erzählte sie     nach einer Erhöhung der Risperdal-Dosis
den Nachbarn, die sie zum Teil seit 30 Jah-     scheinbar unumkehrbar nach vorne links
ren kannten, dass meine Schwester („die         gekippt war. Dazu kamen ihre fast andau-
Tante“) sie schlage und gemein zu ihr sei.      ernden Angstzustände. Und schließlich hat-
Schnell hörten wir direkt oder indirekt ent-    te sie, als sie noch zuhause war, Phantasie-
sprechende Kommentare einiger Nachbarn.         wesen erschaffen, mit denen sie auch regel-
Die harmlosesten dabei waren Aufforde-          mäßig sprach.
rungen, uns besser um unsere Mutter zu             Dass sie dement war, war klar. Aber Le-
kümmern. Das ist vielleicht das Härteste        wy? Und Body? Da ich zur Internet-Genera-
daran, die eigenen, dementen Eltern zu be-      tion gehöre, versuchte ich es bei Google. Ich
treuen: Sie werden nicht nur wie die Kin-       tippte „Levi“ und „Body“ und „Demenz“ ein
der, sondern sie haben auch eine eigene Re-     und erhielt: Nichts. Auch ein weiterer Ver-
alität. Während das noch auszuhalten ist, ist   such verlief ergebnislos. Mir war, als wenn
es unerträglich, von Nachbarn, Bekannten        ich in ein tiefes, schwarzes Loch falle. Mei-
usw. dafür gerügt zu werden, die eigene         ne Mutter hatte eine Demenzerkrankung
Mutter zu misshandeln oder auch nur nicht       – soviel wusste ich. Aber was für eine? Of-
gut genug auf sie aufzupassen.                  fensichtlich nicht Alzheimer, anders, als alle
   Im November 2006 brachten wir unsere         bisherigen Diagnosen vermutet hatten. Ich
Mutter in ein auf Demenz spezialisiertes        rief die Deutsche Alzheimer Hilfe an, fragte
Pflegeheim. Der Abschied von ihrem Zu-          nach der Lewy-Body-Demenz. Die dortige
hause war für uns alle schwer. In gewisser      Mitarbeiterin war freundlich, hilfsbereit,
Weise hatte ich das Gefühl, meine Mutter,       und – ahnungslos. Immerhin konnte sie
vielleicht auch unsere Familie, verraten        mir sagen, dass die Krankheit sich nach
zu haben. Der dort behandelnde Neuro-           Herrn Lewy mit „wy“ und nicht „vi“ schrieb.
loge „entdeckte“ schließlich im Dezember        Wieder googelte ich, und dieses Mal erhielt
die richtige Diagnose. Meine Frage nach         ich einige Treffer.
Mamas Lebenserwartung beantwortete er              Was dort stand, verpasste mir den nächs-
mit: „Bei Ihrer Mutter geht es sehr schnell.“   ten Schock, beschrieb es doch exakt, was
Nach und nach verlernte Mama das Laufen,        wir in den letzten Monaten mit unserer
das Stehen, das Sitzen, das Sprechen …          Mutter erlebt hatten: „Typisch für die Lewy-
Der Neurologe behielt recht: am 15. März        Body-Demenz sind ausgeprägte kognitive
2007 ist unsere Mutter gestorben.               Fluktuationen. ‚Das sind Patienten, die an
                                                einem Tag praktisch normal sind und am
Levi was?                                       nächsten so dement, dass sie nicht bis drei
                                                zählen können oder ihren Namen nicht
Nachdem die Pflegedienstleiterin mich           mehr wissen’“ und „visuelle Halluzinati-
über die Diagnose des Neurologen infor-         onen [werden] […] bei 62% der Patienten

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im Laufe der Erkrankung beobachtet […].“         dass Mama schon länger weg sei, und wir
Außerdem erfuhr ich, „dass 89% der DLB-          uns um ein kleines Kind im Körper mei-
Patienten auch motorische Probleme ha-           ner Mutter kümmerten. Aber trotzdem war
ben und Parkinsonismus als drittes Kern-         dies etwas anderes. Dies war Gewissheit,
symptom der Lewy-Body- Demenz definiert          dass nichts mehr so sein würde wie früher.
ist.“ 1                                          Dies war Verlust – und zwar endgültig.
                                                    Ich litt. Ich litt vor allem darunter, nichts,
Verwaist                                         aber auch gar nichts, für meine Mutter tun
                                                 zu können. Das, was ich tun konnte, bei ihr
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Na-         sein, ihre Hand halten, tat ich, soweit ich da-
türlich hatte ich die Entwicklung der letzten    zu in der Lage war. Oft war das nicht. Schon
Monate mit Sorge verfolgt. Natürlich hat-        eine halbe Stunde mit ihr kam mir vor wie
te ich gesehen, wie meine Mutter geistig,        eine Woche. Ich hatte das Gefühl, zusehen
aber auch körperlich immer mehr abbaute.         zu müssen, wie ein kleines Kind, das in
Und doch hatte ich die Hoffnung gehabt, sie      einer ausweglosen Situation gefangen ist,
würde sich noch einmal fangen, würde den         verreckt. Nicht einfach stirbt, sondern lang-
Umzug ins Pflegeheim im November als             sam und leise vor sich hinvegetiert. Und da-
Chance nützen können, würde dort besser          bei mit großen Augen staunend sich selbst
als zuvor allein zuhause in ihrer eigenen        beim Sterben zusieht. Die Außenwelt war
Realität leben können, so wie viele der an-      für sie präsent und doch nicht da. Hätte ich
deren Bewohner und Bewohnerinnen des             die Macht gehabt, ich hätte meiner Mut-
gut und liebevoll geführten Heims in der         ter ein langes, gesundes Leben gewünscht.
Nähe von Bremen.                                 Aber ganz offensichtlich hatte weder ich
    In den nächsten Wochen verwaiste nicht       die Macht noch war es meiner Mutter be-
nur ich, sondern auch meine Mutter. Sie          stimmt, gesund alt zu werden.
weinte stundenlang um ihre Mutter, und              Meine Mutter durfte am 15. März 2007
ich saß hilflos daneben, denn auch ich hät-      sterben. Soweit wir wissen, ist sie einfach
te um meine Mutter weinen können, die            eingeschlafen. Und obwohl ich um sie trau-
schon lange nicht mehr da war. Meine             ere, und auch meine Verwaisung mich trau-
Umwelt reagierte – mit Ausnahme meiner           rig macht, bin ich dankbar, dass sie ge-
Lebensgefährtin und zweier Freundinnen           hen durfte. Wir haben ihre Asche in einem
– weitestgehend verständnislos. Klar, meine      Friedwald begraben. Dort ist sie den so ge-
Mutter war dement, das war schlimm. Aber         liebten Pflanzen nah und vielleicht auch
das war sie doch schon länger, und daran         meinem Vater, dessen Asche wir auf See
stirbt man doch nicht. Und sind wir nicht        bestattet haben.
alle ein bisschen verrückt?
   Ich versuchte, wieder „normal“ zu sein,
zu funktionieren, mich auch für andere           Was bleibt?
Dinge zu interessieren. Aber ich litt, ich       Meine Eltern sind tot. Es war schlimm, als
träumte schlecht, ich trauerte. Klar hatte ich   mein Vater starb, vor allem, weil sein Tod
schon Wochen vorher davon gesprochen,            so überraschend kam. Es war schlimm, dass

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meine Mutter an der Lewy-Körperchen-De-        Angehörige jenseits der Realität geführt
menz erkrankte und es war noch schlim-         wird. Die Zeit, die ich zwischen Sommer
mer, ihrem Verfall zuzusehen. Ihr Tod war      2004 und Frühjahr 2007 dafür aufgewendet
– für sie und mich – eine Erlösung. Was vor    habe, meine Mutter, die 400 km entfernt
allem schlimm ist am Tod meiner Eltern, ist    lebte, zu betreuen, war sicherlich kein Ur-
das merkwürdige Gefühl zu wissen, dass es      laub, und mit zwei Wochen war es auch
jetzt kein „Zuhause“ mehr gibt, wo ich hin     nicht getan. Und dabei war ich noch nicht
kann, wenn alle Stricke reißen. Nicht, dass    einmal häufig vor Ort, ganz anders als mei-
ich dort jemals hin gerannt wäre, aber es      ne Schwester, die fast ein Jahr mit meiner
war eben immer möglich. Krankheit, Ster-       Mutter zusammenlebte. So ehrenwert es ist,
ben und Tod aus nächster Nähe zu erle-         sich dem drohenden – oder vielleicht sogar
ben, hat mich kompromissloser gemacht.         schon existenten? – Pflegenotstand zu wid-
Unentschiedenheit, Unentschlossenheit, das     men, so wenig praktikabel sind viele Vor-
so verbreitete „Einen Schritt vor, zwei zu-    schläge in der öffentlichen Debatte.
rück“ kann ich noch weniger akzeptieren          Kontakt: andreacmeyer@gmail.com, Tel.
als früher.                                    030-39408870
   Als Kinder haben wir Witze über Alz-           Wer Fragen zu meinem Umgang mit der
heimer gemacht, unter anderem scherzten        Erkrankung meiner Mutter hat, ist herzlich
wir, dass das Schöne an Alzheimer sei, dass    eingeladen, sich bei mir zu melden.
man jeden Tag neue Leute kennen lernt.
Heute denke ich, dass das Schöne an De-
menzerkrankungen ist, dass man manch-          1 © MMA, CliniCum psy 2/2006, Mag.
mal verschüttete Seiten an Leuten kennen       Dr. Rüdiger Höflechner; zitiert nach
lernt, die man glaubte zu kennen.              http://www.medizin-medien.info/dyna-
                                               site.cfm?dssid=4172&dsmid=73661&dsp
                                               aid=572527
Nachbemerkung
Ich finde übrigens, dass die aktuelle Debat-
te um bezahlte „Urlaubstage“ für pflegende

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