Demokratie auf EU-Ebene Verringert die Neuverpackte Verfassung das Defizit?

 
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Demokratie auf EU-Ebene
            Verringert die Neuverpackte
              Verfassung das Defizit?
                         Hartmut PILCH
                http://eupat.ffii.org/07/demgov
                                 21. Februar 2009

        Der “Lissabonner Reformvertrag” wird als Maßnahme zur Demokratisie-
     rung der EU präsentiert, ähnlich wie die Softwarepatentrichtlinie als Maß-
     nahme zur Eindämmung des Patent-Wildwuchses verkauft wurde. Es lässt
     sich jedoch kaum ernsthaft behaupten, dass der mit EU-Verfassung erreich-
     ten Stärkung zentralistischer Amtsgewalt eine vergleichbare Stärkung de-
     mokratischer Gegengewichte gegenüber stehe. Dem “Geistigen Eigentum”
     räumt die Verfassung mit Art 229a eine Sonderstellung verstärkter EU-
     Zentralstaatlichkeit ein. Hier liegt ein Testgebiet für ein künftiges demokra-
     tisches Europa.

Inhaltsverzeichnis
1 Neues                                                                                 3

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1 Derzeitige Situation
Die durch Volksabstimmungen abgelehnte EU-Verfassung wurde am 2007-12-13 in Lis-
sabon leicht umarrangierter Form von den Staats und Regierungschefs verabschiedet.
Das Werk nennt sich verschämt “Reformvertrag” oder “Vertrag von Lissabon”. Ferner
gibt es die treffendere Bezeichnung “EU-Grundlagenvertrag” und den Titel (für das
Herzstück des Vertrages) “Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union”. Von
Inhalt und Umfang her gleicht dieser Vertrag dem früher “EU-Verfassung” genannten
Werk, welches durch Volksabstimmungen zu Fall gebracht worden war, aber die Inhalte

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1 Derzeitige Situation

sind jetzt so umarrangiert worden, dass nach Meinung der federführenden Politiker keine
Volksabstimmungen mehr erforderlich sind.
   Laut Bundesregierung bringt die neuverpackte EU-Verfassung den Parlamenten “erst-
mals direkten Einfluss auf die Gesetzgebung” und auch die Möglichkeit, überbordende
EU-Kompetenzen wieder zurückzuschneiden.
   Allerdings verspricht Merkel nur, dass die nationalen Parlamente vorzeitig informiert
würden und damit dann informelle Einflussmöglichkeiten hätten. Das erscheint kaum
neu, und eine Lektüre der einschlägigen Paragrafen zeigt, dass in der Tat selbst bei
den Fragen des “Subsidiaritätsprinzips”, bei denen einzig und allein neue Rechte an die
nationalen Parlamente gewährt werden sollen, die alleinige Entscheidungsgewalt bei den
EU-Institutionen verbleibt. Neu ist aber vielleicht, dass die Bundesregierung die Kritik
am “Demokratiedefizit der EU”, wie sie etwa vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman
Herzog geäußert wurde, nicht völlig ignorieren kann. Vielleicht hat sich inzwischen im
Bundestag doch herumgesprochen, dass sich inzwischen die Bundesrepublik “nicht mehr
ohne weiteres als parlamentarische Demokratie bezeichnen” lässt und der Bundestag
sich mit seinem blind “pro-europäischen” Abstimmverhalten langsam aber sicher zum
Statisten macht.
   Die neuverpackte EU-Verfassung muss innerhalb eines Jahres ratifiziert werden. Es
liegt nahe, hier eine Volksabstimmung zu fordern, und in in Irland und Großbritannien
sind solche wohl in Sicht.
   In der journalistischen Berichterstattung findet man sehr wenig Informationen über
die neuverpackte EU-Verfassung und kritische Punkte davon. Die meisten schreiben
Agenturmeldungen ab, wonach der Vertrag dem Europäischen Parlament mehr Mitspra-
cherechte bringt. Auch dies ist nur insoweit richtig, als der Vertrag der EU als ganzer
mehr Einfluss bringt. Die Stellung des Parlamentes gegenüber dem Ministerrat und der
Kommission wird durch den Vertrag nicht gestärkt.
   Agenturmeldungen über ein angeblich von dem Vertrag bezweckten Demokratiegewinn
lenken präventiv von dem strukturellen Demokratiedefizit der EU ab, welches dieser
Vertrag festschreibt.
   Fast nirgends findet man Kritik an der von der alt-neuen EU-Verfassung ermöglichten
Einrichtung immer neuer EU-Gerichte. Hingegen findet man bei Befürwortern der EU-
Verfassung Äußerungen wie die folgende (s. Buchrezension zu Sylvia Yvonne Kaufmann
unten):
     Vielleicht ist es dann weniger die Frage der Kompetenz-Kompetenz als die
     Tatsache, dass es anders als im Bundesstaat keinen »Bundeszwang«(Art. 37
     GG) gibt, dass Bundesrecht nicht Landesrecht »bricht«, es keine europäische
     Armee, keine europäische Polizei gibt, keine Aufhebung nationaler Gerichts-
     urteile durch ein übergeordnetes europäisches Gericht, was den Charme und
     die Attraktivität der EU für alte und neue Mitgliedstaaten ausmacht, son-
     dern das Recht, die Freiheit und die Solidarität in der EU.
   Dass Bestrebungen zur Einrichtung eben dieser europäischen Gerichtsbarkeit in vollem
Gange sind und von der neuverpackten EU-Verfassung entscheidende Unterstützung
erfahren (Art 229a), scheint dieser Autor zu übersehen.

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2 Vergangenheit

  Mehr-Demokratie e.V. nutzt die Verfassungsdiskussion für Forderungen nach echter
Demokratisierung auf EU-Ebene. Die Ermächtigung der EU, immer neue nichtgewählte
Nebengesetzgeber auf EU-Ebene zu etablieren, listet nicht einmal Mehr-Demokratie.de
unter den Kritikpunkten auf.
  Eine ausführlicher Abwägung über den Einfluss der neuverpackten EU-Verfassung auf
das Demokratiedefizit findet sich in der englischen Fassung dieser Seite.

2 Vergangenheit
   • 2009-02-19 Rede von Vaclav Klaus vor dem EP
        – Klaus-Rede provoziert Tumult im Europa-Parlament – In seiner Rede vor
          dem Europa-Parlament hat der tschechische Präsident Vaclav Klaus die Eu-
          ropäische Union als demokratiefeindlich bezeichnet. Jene Bürger, die einen
          großen Teil des 20. Jahrhunderts in Unfreiheit leben mussten, reagierten
          verständlicherweise empfindlichauf alles, das sich gegen Wohlstand und
          Freiheit richte, so Klaus.
   • 2009-02-11 Jungholt @ Welt: Wie viel Macht darf die EU haben? – Zu Beginn des
     Verfahrens vor dem BVerfG liefert der EUGH mit Abschmetterung der irischen
     Vorratsdatenspeicherungsklage den Klägern weitere Argumente
   • 2009-02-10 Bundesverfassungsgericht äußert Zweifel am EU-Vertrag
   • 2009-02-10 Neue Broschüre von Mehr Demokratie e.V.
   • 2008-07-22 Mühlbauer mit Schachtschneider: Diese Ermächtigungsklauseln lassen
     schon an schlimme Zeiten denken – Schachtschneider erklärt, warum der Lissabon-
     ner Vertrag “die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten entdemokratisiert”
   • 2008-01-27 Heise: Grüne verlangen stärkere Kontrolle von Europol – demzufolge
     meint MdEP Alexander Alvaro (FDP), die von den Grünen aufgezeigten Problem
     einer fehlenden Kontrolle der EU-Polizeibehörde Europol sei durch Ratifizierung
     der neuverpackten EU-Verfassung zu lösen.
   • 2007-12-26 Mein Parteibuch: EU-Reformvertrag? Diktaturverfassung!
   • 2007-03-28 Mühlbauer @ TP: Verfassungsfeinde feierten in Berlin – Warum unter-
     scheidet sich der Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag so sehr vom
     Grundgesetz?

3 Ressourcen
   • Vaclav Klaus erklärt den Lissabonner Vertrag
   • MdB Peter Gauweiler: Vertrag von Lissabon

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3 Ressourcen

    – Gauweiler 2009-02-05 im Rheinischen Merkur: Verstoß gegen das Grundege-
      setz mit Gegenmeinung von MdEP Elmar Brok

• Analyse von CEP.eu: Vertrag von Nizza und Vertrag von Lissabon

• europa.eu: Lissaboner Vertrag

• Wikipedia: Reformvertrag

• Auswärtiges Amt: Reformvertrag

• Erklärung von Merkel zum “Reformvertrag”: “Die EU wird demokratischer”. Der
  Pressedienst der Bundesregierung meint ferner

       Die nationalen Parlamente erhalten in Zukunft mehr Mitspracherech-
       te. So werden in Deutschland sowohl Bundestag als auch Bundesrat
       frühzeitig über Gesetzesvorhaben der Europäischen Kommission infor-
       miert. Lehnt eine Mehrheit der nationalen Parlamente das Vorhaben ab,
       müssen sich die Organe der Europäischen Union erneut damit beschäfti-
       gen. Das vergrößere den Einfluss auf die europäische Gesetzgebung: “Die
       europäische Politik wird in Berlin greifbar”, sagte Merkel. Auch die Kom-
       petenzverteilung wird neu geregelt. Zuständigkeiten, die die Europäische
       Union hat, können künftig wieder an die Mitgliedsstaaten zurückgege-
       ben werden. “Die Kompetenzzuteilung ist keine Einbahnstraße mehr”,
       betonte die Kanzlerin, “auch der umgekehrte Weg ist möglich.”

• Focus 2007-10-19: EU-Reformvertrag: Deutschland drückt aufs Tempo

• 23 Kritikpunkte von “Mehr Demokratie” am EU-Reformvertrag, verweist auf ein
  Papier, welches MD im Juni veröffentlichte – von der schleichenden Kompetenzer-
  weiterung und Abschaffung der Gewaltenteilung ist nur indirekt und unklar die
  Rede

• CEP: Vergleich Reformvertrag - Nizza - Verfassung

• openeurope.org.uk – bietet detaillierte Analysen des Vertrages, u.a. eine tabel-
  larische Gegenüberstellung der resultierenden “Vertrags über die Funktionsweise
  der Europäischen Union” mit der “EU-Verfassung” – im Effekt haben beide den
  gleichen Inhalt, wie auch Giscard d’Estaing und andere Väter der verworfenen
  Verfassung feststellten, die hier zitiert werden

• ORF Steiermark: Diskussion zum Reformvertrag – nationale Parlamente müssen
  noch zustimmen, viele fordern Volksabstimmungen

• Manifest von Roman Herzog & Lüder Gerkens vom Januar

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• Focus: EU-Reformvertrag – fast alle Macht den Abgeordneten – bezieht sich wohl
  darauf, dass jetzt das Mitentscheidungsverfahren in mehr Politikgebieten verbind-
  lich wird. Der Artikel erwähnt einige eher nebensächliche Schwachpunkte der EU-
  Konstruktion, übersieht aber die Fragen der Gewaltenteilung und parlamentari-
  schen Kontrolle. Gerken wird in Sachen ungleiche Stimmengewichte der Bürger
  verschiedener Nationen im Parlament zitiert.

• Netzeitung 2007-12-13: Reformvertrag: die wichtigsten Neuerungen

• Neutralität im Lichte des EU-Reformvertrags, der eine militärische Beistandspflicht
  festschreibt

• Junge Welt

• Junge Welt

• Plädoyer für eine Direktwahl des Verfassungskonvents - von Christian Felber

• Videos zum EU-Reformvertrag

     – Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider in Salzburg, März 2007, Einstieg
     – Panorama befragt Politiker zum EU-Reformvertrag – und suggeriert damit,
       dass kaum ein Bundestagsabgeordneter weiß, wofür er da stimmt

• Das Superkonto

• Politblog

     – EU-Reformvertrag: Aufrüstung, Überwachung und freie Fahrt fürs Kapital
     – Politblog: Mehr Demokratie oder das Ende der staatlichen Souveränität
     – Politblog: EU-Austritt: in Zukunft ist alles möglich
     – EU-Reformvertrag: Aufrüstung, Überwachung und freie Fahrt für’s Kapital
     – 200000-tausend-demonstrierten gegen eu-verfassung
     – Thinktanks – die heimlichen Regierungen
     – Das Superkonto – der große EU-Betrug
     – Österreich droht eine Verfassungsänderung
     – Europarat ein Fels in der Brandung
     – http://www.0x1337.de/politblog radio 151107 remaster.mp3

• reformvertrag.de: “Europa in schlechter Verfassung” – klagt vor allem über “Mili-
  tarisierung” und “neoliberale” Inhalte, die sich wohl von denen des “Verfassungs-
  vertrages” nicht unterscheiden

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• Sylvia Yvonne Kaufmann (PDS): Linke Irrtümer zur EU-Verfassung – das Buch
  “Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse”,
  welches die Europa-Abgeordnete zusammen mit Jens Wolfram verfasst hat, wider-
  legt einige der allzu platten Argumente gegen die EU-Verfassung. In der Rezension
  von Prof. Dr. Ingolf Pernice erfahren wir zum Demokratiedefizit:

       In Abschnitt fünf wird entgegen dem Vorwurf der Verfestigung des De-
       mokratiedefizits aufgezeigt, dass der Grundsatz der partizipativen De-
       mokratie erstmals für die EU in der Verfassung verankert wird. Erläutert
       werden auch die neuen Einflussrechte der nationalen Parlamente und die
       Regelungen zur Stärkung des Europäischen Parlaments bei der Gesetz-
       gebung sowie im Budgetrecht und beim Abschluss von internationalen
       Verträgen. [. . . ] Wer dieses Buch liest, kann viel lernen. Deutlich wird vor
       allem, dass mit der Verfassung kein europäischer »Superstaat«geschaffen
       wird. Es ist die Konsolidierung und Reform einer neuen Form überstaat-
       lichen politischen Handelns im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.
       Als Rechtsgemeinschaft beruht sie auf Freiwilligkeit und Achtung des ge-
       meinsamen Rechts, ohne Hierarchie, ohne physische Zwangsgewalt. Viel-
       leicht ist es dann weniger die Frage der Kompetenz-Kompetenz als die
       Tatsache, dass es anders als im Bundesstaat keinen »Bundeszwang«(Art.
       37 GG) gibt, dass Bundesrecht nicht Landesrecht »bricht«, es keine eu-
       ropäische Armee, keine europäische Polizei gibt, keine Aufhebung natio-
       naler Gerichtsurteile durch ein übergeordnetes europäisches Gericht, was
       den Charme und die Attraktivität der EU für alte und neue Mitgliedstaa-
       ten ausmacht, sondern das Recht, die Freiheit und die Solidarität in der
       EU. Die »Verfassung für Europa«nennt die Dinge beim Namen, macht
       die EU demokratischer, handlungsfähiger, verständlicher, bürgernäher.

  Die Worte hör ich wohl . . . nur warum arbeiten dann unsere Regierungen heftig
  an einem Projekt EU-EPLA, welches auf nichts anderes zielt als auf die Brechung
  nationaler Rechtsprechung durch ein EU-weites Patentgericht und welches den
  EU-Grundlagenvertrag als Voraussetzung benötigt?

• Stadtratsantrag von Mechthild von Walter (ÖDP) zur Neuverpackten EU-
  Verfassung

• Reader’s Edition 2007-12-17: EU-Reformvertrag – eine Missgeburt

• Vertragstext

• Unterschriftenkampagne für Referendum

• Studie v Uni Münster: Wem gehört die EU

• Deutschland-Debatte: Geschäftsgrundlage der EU-Politik – “Erkenntnis VI: es ist
  insgesamt ein überaus komplexes Arbeitsgebäude, welches hier erstellt wurde, in

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deren Zentrum der Europäische Rat, besetzt durch die Regierungsoberhäupter ist,
weil die grundsätzlichen politischen Vorgaben hier erstellt werden; auf dieser Ebene
nur ist ein wirklich wirkungsvoller nationaler Einfluss möglich.”

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