Der Kosmos eines dritten Ortes - Andreas Degkwitz* - De Gruyter
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BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2020; 44(2): 272–276 Meinung Andreas Degkwitz* Der Kosmos eines dritten Ortes Gedanken zur Bibliothek von heute https://doi.org/10.1515/bfp-2020-0018 “openness” plays a major role for libraries, which began with ‘Open Access’ but has since gone much further. Zusammenfassung: Im Zuge des digitalen Wandels sind With book holdings often dating far back into the past, Bibliotheken in der Situation, tiefgreifende Innovations- the “third place” of the library also has something to be herausforderungen aufzugreifen und in ihren Serviceport- understood and welcomed as contrary to our progress- folios zu realisieren. Dabei reichen die Konzepte weit über oriented times.1 die wechselseitigen Einflüsse analoger und digitaler Me- Keywords: Digitisation; third place; innovation; learning dien hinaus. Vielmehr geht es um neue Bibliotheksmodel- space; open access; openness le, wie die des „dritten Ortes“ oder der „Lernräume“. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich Bibliotheken mit solchen Weiterentwicklungen tatsächlich neu erfin- Mit der Digitalisierung der Medien wurde die Traditions- den oder ob sie Modelle aufgreifen, die in der Vergangen- einrichtung „Bibliothek“ an die Spitze der Innovation ka- heit bereits praktiziert wurden. Aktuell spielt das Thema tapultiert. Wer hätte geglaubt, dass dieser Hort mensch- „Openness“ eine große Rolle für Bibliotheken, das mit licher Wissensgüter mit seinen vielen Formaten und „Open Access“ seinen Anfang nahm, inzwischen aber unterschiedlichen Formen an Handschriften und Druck- deutlich darüber hinausgeht. Mit Buchbeständen, die oft werken im digitalen Zeitalter einen Platz in der ersten weit in die Vergangenheit zurückreichen, hat der „dritte Reihe findet? Es gibt immer noch viel zu viele, die das nicht Ort“ der Bibliothek aber auch etwas, das als gegenläufig für möglich halten und in Bibliotheken entweder ihre Kin- zu unserer fortschrittsorientierten Zeit zu begreifen wie der- und Jugendzeit wieder erleben oder mit Bibliotheken auch zu begrüßen ist. anachronistische, weltfremde Bildungsromantik verbin- den. Denn hatten Bibliotheken bisher über Jahrhunderte Schlüsselwörter: Digitalisierung; dritter Ort; Innovation; papiergebundene Bücher und Zeitschriften dauerhaft für Lernraum; Open Access; Openness Nutzungen zur Verfügung gestellt, tauchten um die Jahr- tausendwende die ersten E-Journals und E-Books auf. Da The Cosmos of the Third Place hatten WEB-Server schon Eingang in die Bibliotheken ge- Thoughts about the library of today funden und sind schnell zur Standardinnovation gewor- Abstract: In the course of digital change libraries are in a den. Mit dem WEB-Server war der neue Zugang, das Gate- position to take up profound innovation challenges and way, die Plattform, das Portal der digitalen Bibliothek to implement them in their service portfolios. The con- geschaffen, die zunächst Katalog, Öffnungszeiten und cepts extend far beyond the mutual influences of analo- „Über uns“ präsentierte. gue and digital media. The focus is rather on new library Allerdings waren die Bibliotheken mit diesem Modus models such as the “third place” or “learning spaces”. des Zugangs nicht mehr allein und die einzigen, die Litera- This raises the question of the extent to which libraries tur und Informationen verbreiteten, so dass sie den „Zu- actually reinvent themselves with such further develop- gang zum Wissen“ nicht mehr als „Monopol“ für sich be- ments or whether they take up models that have already anspruchen konnten – da waren sie mit ihren gedruckten been practised in the past. At the moment, the topic of Beständen besser dran. Denn wer wollte schon diese Mas- sen an Büchern erwerben, erschließen, zur Verfügung stellen und auf Dauer magazinieren, um sie „nur“ wieder 1 The online version of this article offers an English version of the text und wieder ausleihen zu können und um sich insgesamt as supplementary material (https://doi.org/10.1515/bfp-2020-0018). seitenweise verstaubten Papiers anzunehmen? Im Guten- *Kontaktperson: Andreas Degkwitz, berg-Zeitalter war genau dieses heroische Back-Office das andreas.degkwitz@ub.hu-berlin.de Privileg dieser magazinreichen Burgen des Menschheits-
Der Kosmos eines dritten Ortes 273 gedächtnisses wie der Schatzkammern abendländischen sung, dass der gedruckte Bestand, der meistens als analog Wissens. Doch mit dem Internet standen Bibliotheken oder physisch bezeichnet wurde, nicht mehr im Zentrum ganz plötzlich und von Anfang an im Wettbewerb mit des bibliothekarischen Fokus stehen, vielmehr seinen Informationsanbietern, die ebenfalls über das WWW Infor- Platz an die digitalen Ressourcen abgeben sollte, die die- mationen verfügbar machten und, waren dies Firmen oder sen budgetmäßig schon besetzten. Diese Verlagerung be- privat-wirtschaftlich agierende Unternehmen, wurden auf förderte die Vision wie die Befürchtung, dass Druckwerke diesem Wege sogar Informationen verkauft. Zum Leidwe- gänzlich von digitalen Medien ersetzt werden würden und sen der Bibliothekare verstanden es die kommerziellen in naher Zukunft wohl gar keine Rolle mehr spielten. In Wettbewerber meistens besser als sie, ihre Inhalte wir- dieser Weise passte man sich entweder ablehnend oder kungsvoll zu vermarkten und ihren Kunden nahe zu brin- befürwortend fortschreitender Infragestellung von Biblio- gen. Heiter bis wolkige Orakel damaliger Influencer oder theken an. Technologieexperten ließen verlauten, dass Bibliotheken Die Entwicklung des Buchmarktes hat die Infragestel- kurz vor dem Ende ihres Fortlebens stünden, komplett lung von Bibliotheken nicht bestätigt noch gaben die vom Internet abgelöst und von diesem ersetzt werden wür- Lese- und Rezeptionspräferenzen der Nutzer zu erkennen, den. Vieles werde man brauchen, doch Bibliotheken ge- dass Bücher für sie bedeutungslos würden. Vielmehr ver- hörten definitiv zu einem obsolet werdenden Zweig tradi- mittelte sich der Eindruck, dass sich die digitalen Ver- tioneller Bildungsinstitutionen, die den technologischen sionen von Büchern und Zeitschriften stärker an ihren Wandel hin zur Beglückung der Menschheit ebenso wenig gedruckten Ahnen als an den Kindern der digitalen Revo- überleben würden wie das „Buch“ als ihr corpus delicti: lution orientierten. Dauerthema war vor diesem Hinter- Beides sei ans Ende seiner Laufzeit gekommen, habe sein grund der permanent überstrapazierte, angeblich unüber- Verfallsdatum erreicht und werde nun in der Informations- brückbare Gegensatz zwischen „Analog“ und „Digital“. flut verschwinden, auf der nur das WWW als Arche Noah Dieser Gegensatz wurde behauptet, aber im Regelfall schwimmen könne. nicht erklärt und hat im Ergebnis meistens zu dem Be- Im Kontext solcher Prognosen wurde gern ignoriert, fund schlichter Medienvielfalt geführt. Denn anstelle sich dass sich Bibliotheken zum einen weiterhin vieler Besuche unversöhnlich gegenüberzustehen, ergänzen sich „Ana- erfreuten. Zum anderen wurden seit der Jahrtausendwen- log“ und „Digital“ – diese Einsicht fuhr einen Konflikt de viele neue Bibliotheken gebaut oder renoviert. Ange- zurück, der oftmals aufgebauscht wurde, ohne dies be- sichts der eifernden Untergangsprognosen hätte vor allem gründen zu können. Von daher ist viel interessanter, was letzteres in Staunen versetzen können: Bibliotheken – der oft adressierte „dritte Ort“, den Bibliotheken abgeben doch noch nicht obsolet? Aktuell sogar mehr geliebt als möchten, wirklich an Innovation bescherte und bot. Nein, zuvor? Ein Fall von „Willkommen und Abschied“? Was da „dritte Orte“ sind keine Avatare oder Locations in „Se- geschah, war in der Tat überraschend. Denn dass auch cond life“, wo Bibliotheken gegen Zahlung von Linden- Bibliothekare in der Lage waren, ihre Bibliotheken im Dollars Grundstücke für virtuelle Präsenzen kauften – er- digitalen Wandel neu zu erfinden, hätte wohl kaum je- innert sich daran noch jemand? mand für möglich gehalten. Offenbar gab es noch Argu- Der „dritte Ort“ ist ein Terminus aus der Sozialwissen- mente für Bibliotheken jenseits von Desktop und Internet. schaft, der „public locations“ beschreibt, die neben dem Die Planungskonzepte für neue Bibliotheksgebäude gaben „ersten Ort“ der Wohnung und dem „zweiten Ort“ des dafür sichtbaren Anlass. Neue Visionen und Zielsetzungen Arbeitsplatzes an dritter Stelle der Lebensentfaltung ste- für Bibliotheken wurden aber auch unabhängig von Bau- hen und Menschen in bewegten oder gestalteten, öffentlich projekten entwickelt. zugänglichen Räumen das Lebensglück von Austausch, Eine beachtliche Vielfalt von Weiterentwicklungs- Begegnung und Kommunikation sowie von Information, optionen hatte sich bald herausgestellt und wurde intensiv Vergnügen und Zerstreuung bieten und oftmals „wohn- diskutiert: Bibliotheken der Zukunft waren digital, elektro- zimmerartig“ ermöglichen. „Dritte Orte“ sind öffentliche nisch, hybrid und hypertextuell, Wissenscontainer, Infor- Orte wie Bahnhöfe, Buchhandlungen, Department-Stores, mationshosts, Peer-to-Peer-Netzwerke, dritte Orte und Einkaufszentren, Hotel-Lobbys, Konzerthallen, Museen, Lernräume, virtuelle Forschungs- und Lernumgebungen – Opernhäuser, Restaurants, Theater, Shopping-Malls und was künftig alles „Bibliothek“ sein könnte und was „Bi- eben auch Bibliotheken. Dabei sind Bibliotheken nicht ein- bliothek“ überhaupt sei, war eine nicht versiegende Quelle fach die besseren Internet-Hotspots mit möbel- und raum- von Inspiration, Innovation und mal mehr, mal weniger seitig hoher Aufenthaltsqualität, sondern Orte der Bildung, wissensbasiertem Streit. Allen Bemühungen um die Neu- Gesellschaft, Information, Kreativität, Kritikfähigkeit und ausrichtung von Bibliotheken gemeinsam war die Auffas- Kompetenzentwicklung, wie es die Nutzer sich wünschen.
274 Andreas Degkwitz Die Bibliothek als „dritter Ort“ ist ein Lebensraum, der für sen vermehrt sich in unseren Zeiten exponentiell, wie auch Weiterentwicklung und Wohlbefinden seiner Nutzer viel die ebenso steigende Anzahl wissenschaftlicher Publika- tut, der aber Literatur- und Informationsversorgung, die tionen zeigt. Eher im Ausnahmefall hingegen wirft die eine Bibliothek auch als „dritter Ort“ durchaus leistet, eher Wissensgesellschaft die Frage auf, ob aufgrund ihrer enor- als ein Angebot unter vielen sieht. Die Nutzer stehen als men Wissensentwicklung die Individuen der Wissens- Nachfrager im Mittelpunkt des Geschehens, nicht mehr, gesellschaft mehr wissen als die Individuen aller Ge- wie oftmals in den Jahrhunderten zuvor nachgesagt, die sellschaften vor der Wissensgesellschaft. Anders gefragt: Objekte, die Bibliotheken schon von ihrer Bezeichnung her Werden wir alle dem Anspruch unserer Wissensgesell- charakterisieren, nämlich schlicht und ergreifend die Bü- schaft gerecht? cher. Die beste Antwort auf diese Frage ist: „Nein, ich ent- Diese betriebswirtschaftliche Logik begleitete Biblio- spreche dem Anspruch der Wissensgesellschaft nicht und theken als „dritte Orte“ auf dem Weg ihrer Neuerfindung, werde ihm nicht entsprechen können. Doch meine Biblio- wie sie sich auch auf Lernräume und Makerspaces bezog – thek ermöglicht mir den Zugang zu den Ressourcen, die davon später noch mehr. Dabei drängt sich die Frage auf, ich benötige, um in der Wissensgesellschaft wirklich be- ob „dritte Orte“ eine Erfindung des 21. Jahrhunderts waren stehen zu können.“ Jetzt sage noch jemand, dass Biblio- oder ob es solche Orte – auch als Bibliotheken – nicht theken über keine Systemrelevanz verfügen. „Googeln“ schon zu früheren Zeiten gab. Den „öffentlichen Ort“ hat solche noch, die dies leugnen, oder „Bibliotheken“ die es immer gegeben und seine Tradition reicht wie die von schon? Tja, Google – Google fordert schmerzhaft heraus, Bibliotheken weit zurück. „Öffentlich“ ist im Allgemeinen trifft Bibliotheken bisweilen ins Herz und auf jeden Fall an auch „jeder und jedem zugänglich“. Doch wem Bildung, der Achillesferse: Hier der Suchschlitz, der den Rohstoff Kapital oder Zeit fehlen, wird sich nicht an Orten aufhalten „Information“ zutage fördert – dort das Discovery-System wollen, für deren Besuch genau dies die Voraussetzung ist. oder der Katalog, der OPAC heißt, um den Nutzern Such- So waren auch Bibliotheken stets „dritte Orte“ derer, die in ergebnisse auf dem Silbertablett zu servieren: Noch Fra- der Lage waren, Bibliotheken tatsächlich zu nutzen und gen, wer das Sagen in „Lernräumen“ hat und welche In- sich auf den Umgang mit Bibliotheken verstanden, um stitution alle, die in unserer Wissensgesellschaft suchen sich dort auszutauschen, zu informieren, zu kommunizie- und finden, substanziell unterstützt? ren, kreativ zu sein und zu zerstreuen. Mit dem „dritten Doch wie beim „dritten Ort“ wirft bei den „Lernräu- Ort“ entdecken wir deshalb eher etwas wieder, was Biblio- men“ auch die List der Neuerfindung Bibliotheken auf sich theken immer charakterisierte, als dass wir Bibliotheken zurück. Denn findet „Lernen“ in Bibliotheken erst in der tatsächlich neu erfinden. Vielleicht ist das überhaupt die Wissensgesellschaft statt oder erfolgte dies auch schon List der Neuerfindung von Traditionen, dass „ein guter, zuvor? Haben Menschen schon immer in Bibliotheken ge- alter Wein auch in neuen Schläuchen“ an Bekömmlichkeit lernt oder machen sie das erst jetzt? Ist „Lernen“ die ein- nicht verliert. zige Destination von Bibliotheken und „Forschen“ bleibt Nicht weniger interessant als der „dritte Ort“ sind die außen vor? Die alten Griechen ließen sich auf den Schul- „Lernräume“, als welche sich Bibliotheken gerne ebenfalls tern von Wissensriesen tragen und waren so kühn, über neu profilieren. Denn lernen, ja sogar lebenslang lernen, die Meere in alle Welt zu tragen, was sie auf den Schultern müssen wir alle – dies selbstverständlich in der Informati- der Riesen erfuhren – so weiß es Herodot. Ich weiß es nicht onsgesellschaft, die wir zunächst erlebt hatten, und nun in anders und weiß mit den alten Griechen, dass damit auch der Wissensgesellschaft, in der wir uns heute deshalb so die Voraussetzungen für Forschung gegeben waren und wohl fühlen, weil wir uns darin als Wissensträger verste- sind. In der Tradition der Humboldt-Brüder ist die Einheit hen, ohne die die Wissensgesellschaft nicht existieren von Lehre und Forschung Konsens – das machen Biblio- kann. Dies gilt sowohl für die Bibliothekare als auch für theken möglich und haben sie immer möglich gemacht. die Nutzer von Bibliotheken. Wer über Wissen verfügen Sind „Lernräume“ wirklich Innovationen, die sich seit Kur- möchte, ist in der Situation, sich Wissen anzueignen, also zem für Bibliotheken regelrecht auftun? zu lernen – dafür bieten Bibliotheken als Horte und Ver- Dass die nun neu erfundenen Bibliotheken fortbeste- mittler von Wissensgütern beste Voraussetzungen. Der hen und hohe Wertschätzung haben, erfreut. Dass die neu „Lernraum Bibliothek“ könnte sich also als „Kaufhaus des erfundenen Bibliotheken gegenüber früheren Bibliotheken Wissens“ verstehen, als „KdW“ derjenigen, die zu lernen nicht über ein grundsätzlich neues Selbstverständnis ver- bereit und – mehr noch – dazu verpflichtet sind. Unaus- fügen, ist nicht untypisch für Innovation. Denn Innovation gesprochen ist sich die Wissensgesellschaft darin einig, erfolgt meistens organisatorisch oder technisch und ver- deutlich mehr zu wissen als jede Gesellschaft zuvor. Wis- ändert den Status quo, doch orientiert sie sich im Regelfall
Der Kosmos eines dritten Ortes 275 weiterhin an der Definition der Strukturen, die der Erneue- Open Access viel mit Verlagen kooperiert. Zusätzlich wur- rung unterliegen. Anders gesagt, verändern sich Biblio- de die Aufgabe „Open Access“ dadurch legitimiert, dass theken nicht im Kern, doch greifen sie – wie auch bisher – Publikationen auch informationstechnisch aufbereitet organisatorische und technische Innovationen zur Verbes- und verarbeitet werden mussten. Inzwischen haben sich serung ihrer Services auf. Bisher ist das immer gelungen. umfassende Portfolios an Infrastrukturen, Services und Ob dies im Zuge des digitalen Wandels gelingt, ist sehr Werkzeugen etabliert, die den damit von Bibliotheken wahrscheinlich, doch nicht immer ganz evident. Die Ver- beanspruchten Innovationsbereich unmittelbar zu erken- unsicherung, die daraus resultiert, führt zu Infragestellung nen geben und deutlich positionieren, dass es ihnen um und Zweifel, der sich aufs Grundsätzliche überträgt, ohne „Open“ geht. In der Tat macht Open-Access-Publizieren dass dafür wirklich Anlass besteht. Denn Markenzeichen, viel Sinn – auch über Bibliotheken hinaus. mit dem Bibliotheken den technischen Wandel aufgreifen „Open“ wurde zum Mantra der Weiterentwicklung von und realisieren, ist nicht technisch, sondern politisch und Bibliotheken. „Open Library“ weckte den Eindruck, als heißt „Open“. So einfach und selbstverständlich dieser werde Offenheit für Bibliotheken jetzt erst neu entdeckt Claim auch ist, impliziert er doch zahlreiche Fragen, gibt und sei zudem als Erfolg des digitalen Wandels zu sehen. sich aber auf jeden Fall innovativ. Was tatsächlich offen bleibt, ist das Verständnis von „Open“ (nicht „Offen“) gründet auf „Open Access“ – „Open“ selbst und was „Openness“ eigentlich anvisiert. nein, nicht „Offener Zugang“, sondern „Open Access“. Denn Offenheit und Zugänglichkeit haben Bibliotheken Warum ist das so wichtig? Mit „Open Access“ verändert die eigentlich immer geprägt. Wo läge sonst auch ihr Sinn? digitale Transformation das Publikationsmodell seit gut Nicht auszuschließen ist dabei, dass es eingeschränkt zu- zwanzig Jahren. Anstatt Publikationen als Monografien gängliche Bibliotheken teilweise gab und noch gibt. Doch oder Zeitschriften(artikel) zu kaufen oder in anderer Weise der Regelfall ist das nicht – jedenfalls nicht in Ländern und von Buchhandlungen oder Verlagen für den Bestandsauf- Regionen, in denen die Freiheit der Information und der bau oder die Sammlungen der Bibliotheken zu beziehen, Rede gilt. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso mehr konnten mit geeigneter Technik elektronische Publikatio- die Frage, was „Open“ eigentlich meint. nen von den Autoren selbst (und ohne Unterstützung von Der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage mag in den Verlagen) hergestellt und über das Internet weltweit ver- Möglichkeiten liegen, digitale Arbeitsformen denjenigen breitet werden. Das Lesen und Rezipieren von Open- zu bieten, die über Bilder, Daten und Texte interaktiv und Access-Veröffentlichungen kostet für Leser und Nutzer vernetzt zusammenarbeiten wollen. Voraussetzung dafür von Bibliotheken nichts. Was folgte daraus für Bibliothe- sind Standards, die kooperatives Arbeiten technisch er- ken? Mit dieser Möglichkeit des Selfpublishing wurden fordert. Standards sind aber auch notwendig, um For- Bestandsaufbau und Sammlungsauftrag perspektivisch schungsergebnisse nachzunutzen und nachzuvollziehen. durchaus infrage gestellt – zu einer unmittelbaren Infra- Von daher gelten sie für Publikationen wie auch für For- gestellung kam es deshalb allerdings nicht. Doch auf jeden schungsdaten, Methoden und Softwareapplikationen. Fall wurde aus dieser Einsicht die Konsequenz gezogen, Nicht zuletzt gelten Standards auch für den Nachweis, um dass auch Bibliotheken in der Lage sein sollten, Publikati- digitale Publikationen oder Objekte dauerhaft wieder- onsleistungen zu erbringen. zufinden. Angesichts dieser Anforderungen hat „Open- Seither gründeten die meisten wissenschaftlichen Bi- ness“ einen hohen Stellenwert, aber auch den Preis der bliotheken Deutschlands Universitätsverlage und betrei- Standardisierung, die allein im Anspruch digitaler Ver- ben diese bis heute. Zugleich bemühte man sich bei Ver- arbeitbarkeit von Bildern, Daten und Texten begründet ist. lagen um die Freigabe der Zweitveröffentlichung (Green- Es wäre ganz falsch zu behaupten, dass uns der digita- Road-Open-Access) und um die Realisierung primären le Wandel zum ersten Mal Standards lehrt. Standards sind „Golden-Road-Open-Access“. Neben „gold“ und „grün“ uns selbstverständlich auch unabhängig von digitalen Ar- kam es noch zu weiteren Farben oder Edelmetallen, um beits- und Lebensformen vertraut. Doch dass Standards weitere Open-Access-Modelle zu charakterisieren, die ne- unsere Arbeits- und Lebensabläufe so sehr beeinflussen, ben „grün“ oder „gold“ florierten. So wurden im Zuge des wie es uns die Digitalisierung erleben lässt, und sie uns sich wandelnden Publikationsmodells in Bibliotheken deshalb gleichsam beherrschen, ist in der Tat ein Novum. neue Aufgaben geschaffen. Mit dem Eigenverlag war der Wir erfahren jetzt in der durch Corona entstandenen Krise, Preiswettbewerb für den subsidiären Publikationsbereich dass allein und einzig Informationstechnik Austausch, In- auf jeden Fall zu gewinnen. Dass davon auch der primäre teraktion und gemeinsame Arbeit ermöglicht. Doch die Publikationsbereich nicht unberührt blieb, sei hier nicht Aussicht, sich darauf beschränken zu müssen, wird rasch ausgeführt, aber natürlich erwähnt. Bis heute wird über als Verlust empfunden. Berechtigt ist deshalb die Frage,
276 Andreas Degkwitz ob wir im Kontext von Open-Access-Standards oder Inhal- geworden ist, mit Vergangenem, das wir in Bibliotheken te priorisieren. Auf was kommt es vorrangig an – auf die suchen, finden und rezipieren, um uns auf diese Weise inhaltliche Qualität von Veröffentlichungen oder auf Stan- Künftiges zu erklären. Anders gesagt, führt uns der biblio- dards zu deren Erstellung und Distribution? Denn mögen thekarische Kosmos einerseits weiter nach vorne wie er Daten und Publikationen „Open“ sein. Ist „Open“ Leitkri- uns andererseits wieder zurückführt – das ist etwas, das terium für die Bewertung von Publikationen, wird Qualität sich dem hektischen Aufwärtsstreben unserer fortschritts- von Inhalten schnell auf der Strecke bleiben und künftig verwöhnten Dezennien widersetzt, durchaus befreiend nachrangig sein. Das will wirklich niemand – auch „Open wirkt und außerordentlich inspiriert. Deshalb schätzen wir Libraries“ nicht. diese „dritten Orte“ und „Bibliotheken“ tatsächlich lieber Ein Beitrag, der Bibliotheken als erfolgreiches Beispiel statt nur zu „googlen“. für „Dauer im Wechsel“ beschreibt, könnte dazu verleiten, in Bibliotheken das Wahre, das Schöne und vor allem das Andreas Degkwitz Gute zu sehen als ein Relikt vergangener Zeiten, das sich Universitätsbibliothek der Humboldt- immer aufs Neue im Jetzt wie auch künftig regeneriert. Universität zu Berlin Ohne Zweifel bereichert die Bewegung, in der sich Biblio- Unter den Linden 6 theken dabei befinden, Bibliothekare und ist zugleich für D-10099 Berlin Nutzer von Bibliotheken von Vorteil. Allerdings geht diese andreas.degkwitz@ub.hu-berlin.de Bewegung verloren, wenn die Emphase für Bibliotheken zum Denkmal wird. Denn um ein Denkmal zu sein, stehen Bibliotheken zu sehr im Leben. Darüber hinaus haben Bibliotheken etwas, das dem Zeitgeist zuwider läuft, etwas von Widerspenstigkeit, die vielleicht überrascht. Denn sie konfrontieren die Gegenwart, die morgen zum Gestern
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