Der russisch-ukrainische Gaskonflikt im Januar 2009 - eine modell-gestützte Analyse

 
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Der russisch-ukrainische Gaskonflikt im Januar 2009 - eine modell-gestützte Analyse
ENERGIEVERSORGUNG

Der russisch-ukrainische Gaskonflikt im Januar 2009 –
eine modell-gestützte Analyse
Marc Oliver Bettzüge, Stefan
            Bettzüge und     Lochnerprich
                          Stefan Lochner und Knut Schrader

Im Januar 2009 kamen die Gasimporte von Russland über die Ukraine nach Europa für fast zwei Wochen vollständig zum Erliegen.
Während es in der Folge in einigen osteuropäischen Staaten zu schwerwiegenden Lieferunterbrechungen kam, hatte der Zwischenfall
kaum spürbare Konsequenzen für die Konsumenten in West- und Zentraleuropa. Der vorliegende Beitrag analysiert die Gasflüsse
und die kurzfristigen Grenzkosten der Gasbereitstellung während der Krise anhand von Modellrechnungen. Sie bestätigen,
quantifizieren und verfeinern die bekannten Aussagen und Fakten zur Reaktion der europäischen Gaswirtschaft auf die Krise,
insbesondere im Hinblick auf die beobachteten Preisbewegungen und Lieferausfälle.

Mit einem Marktanteil von ca. 25 % ist Russ-
land der größte Anbieter von Erdgas in der
Europäischen Union. In vielen Ländern,
besonders in Zentral- und Osteuropa liegt
dieser Anteil noch deutlich höher. In Deutsch-
land decken die russischen Importe ungefähr
38 % der Gasnachfrage ab [1]. Da es zurzeit
noch keine direkte Verbindung von Russ-
land in die zentral- und osteuropäischen Mit-
gliedsstaaten gibt [2], passieren 85 % der
russischen Erdgasexporte die Transitländer
Weißrussland oder die Ukraine, bevor sie
die EU erreichen. Mit mehr als 100 Mrd. m3
Erdgastransit pro Jahr entfällt der größte
Teil dabei auf die Ukraine.

Im Januar 2009 waren diese Tran-
sitlieferungen für 13 Tage vollständig unter-
brochen. Dies entspricht der längsten und
größten Unterbrechung von Erdgasimporten
in die Europäischen Union in der Geschichte
des Erdgasimports aus Russland – selbst
während des Kalten Krieges war es nie zu
signifikanten Störungen von Lieferungen
aus der ehemaligen Sowjetunion in den                   Die Hand am Gashahn – der russisch-ukrainische Gasstreit sorgte nicht nur bei den
Westen gekommen. Die Auswirkungen der                   Kontrahenten für Beunruhigung                                    Foto: Wintershall
Krise auf die Konsumenten in Zentral- und
Osteuropa waren dabei sehr unterschiedlich.
Während einige Beobachter von humanitären        lieferungen und Transit, welche jeweils eine    in Zentraleuropa vor Lieferunterbrechungen
Notfällen im Balkan sprachen, wo die Be-         graduelle Angleichung der Gaspreise bzw.        zu bewahren.
völkerung in den kalten Januarwochen teil-       Transitgebühren an das europäische Niveau
weise nicht mehr in der Lage war, ihre           vorsehen. Ob diese Verträge dauerhaft für       Zur Abbildung und Bewertung der Reaktion
Wohnungen zu beheizen, gab es beispiels-         unterbrechungsfreie Gaslieferungen über         der europäischen Gaswirtschaft werden
weise in Deutschland keine spürbaren Aus-        das Transitland sorgen, bleibt angesichts       Modellsimulationen des Energiewirtschaft-
wirkungen auf die Konsumenten. Selbst die        der wirtschaftlichen und politischen Situa-     lichen Institutes an der Universität zu Köln
Gaspreise an den liquiden Gashandels-            tion in der Ukraine jedoch abzuwarten.          (EWI) herangezogen. Mit diesen Modell-
punkten in Westeuropa zeigten sich – von                                                         rechnungen können die physischen Gas-
kurzen Preisspitzen am ersten Tag der Krise      Die Ursachen der Krise sowie ihre politischen   flüsse während der Krise betrachtet und mit
abgesehen – im Laufe der 13 Tage robust.         Folgen sollen in diesem Beitrag nicht einge-    einem „normalen“ Wintertag ohne Liefer-
                                                 hend untersucht werden – eine umfassende        unterbrechungen verglichen werden. In dem
Grund für die Unterbrechung war, dass sich       Darstellung dazu liefern bspw. [3]. Vielmehr    darauffolgenden Abschnitt wird aufbauend
die beiden Länder nicht auf Konditionen für      analysiert und bewertet dieser Artikel die      auf den Modellrechnungen analysiert, wie
Gaslieferungen von Russland in die Ukraine       Reaktionen der europäischen Gaswirtschaft       sich der Ausfall des Transitlandes auf die
einerseits, und Transitgebühren für die          auf diesen Zwischenfall. Der folgende Ab-       kurzfristigen Grenzkosten der Gasbereit-
russischen Exporte nach Europa über ukrai-       schnitt zeigt dabei, wie es der europäischen    stellung in den verschiedenen betroffenen
nisches Territorium andererseits einigen         Gaswirtschaft durch einen effizienten Ein-      Ländern ausgewirkt hat. Diese Veränderung
konnten. Der vorherige Vertrag der beiden        satz der vorhandenen Infrastruktur und der      der kurzfristigen Grenzkosten kann als ein
Länder war Ende 2008 abgelaufen. Gelöst          kontrahierten Bezugsportfolios gelang, einen    valider Indikator für die tatsächlich beo-
wurde der Konflikt nach fast zwei Wochen         Großteil der ausgefallenen Liefermengen zu      bachteten Veränderungen der Großhandels-
durch neue zehn Jahres-Kontrakte für Gas-        kompensieren, und so viele Konsumenten          preise interpretiert werden.

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Der russisch-ukrainische Gaskonflikt im Januar 2009 - eine modell-gestützte Analyse
ENERGIEVERSORGUNG

Gasflüsse während der Krise

Um die Gasversorgung für einen Großteil
der Konsumenten in Europa während des
russisch-ukrainischen Gaskonfliktes auf-
rechtzuerhalten, mussten die Gasver-
sorgungsunternehmen nicht nur auf in Gas-
speichern gelagertes Erdgas zurückgreifen,
sondern auch die Flüsse von Erdgas in
Europa umleiten. Wie sahen diese Maß-
nahmen im Einzelnen aus, und wie haben
diese zusammengewirkt?

Die aus verschiedenen Veröffentlichungen
der beteiligten Unternehmen und der
Europäischen Kommission [4] bekannten
Reaktionen zeichnen nur ein unvollständiges,
vor allem quantitativ kaum hinterlegtes Bild
der Maßnahmen zur Minimierung der Aus-
wirkungen der Krise. Um diese Maßnahmen
genauer zu beleuchten und zu quantifizieren,
wurde der 13-tägige Ausfall von Lieferungen
über das Transitland Ukraine mit dem
Erdgasinfrastrukturmodell TIGER nach-
skizziert [5]. Das Modell wurde dazu mit
den entsprechenden Verfügbarkeiten von
Infrastruktur und Produktionsmengen im
Januar 2009 sowie auf Basis historischer
Werte geschätzter, temperatur- und länder-
spezifischer Nachfragedaten parametrisiert.
TIGER optimiert dann die physischen Gas-
flüsse im europäischen Gasmarkt unter der
Annahme, dass alle effizienten Erdgas-
Tauschgeschäfte (Swaps) von den Markt-
teilnehmern durchgeführt werden – dass
diese also den optimalen Dispatch realisieren
können [6].

Die Ergebnisse in Bezug auf die physischen
Gasflüsse, sind in Abb. 1 für eine Simulation
mit Ausfall (unten) und ohne Ausfall (oben)
des Transitlandes Ukraine dargestellt. (Die
Stärke der Linien in den Abbildungen ist
dabei ein Indikator für den absoluten Volu-
menfluss, die Flussrichtungen sind grob
durch Pfeile abgebildet.) Wie angedeutet ent-
                                                 Abb. 1    Gasflüsse normal (oben) und in Krise (unten)
sprechen diese Modellergebnisse im We-
sentlichen den tatsächlichen Maßnahmen
der Gaswirtschaft, soweit diese bekannt
sind.
                                                 Russland liefert zusätzliche Mengen über                 sätzliches Gas von Westen nach Osten in
In der oberen Abbildung der normalen Gas-        die Yamal-Route.                                         die Slowakei, nach Ungarn, Slowenien,
flüsse ist deutlich erkennbar, dass große                                                                 Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina
Mengen von Erdgas über die Ukraine nach          Die anderen Gaslieferanten für Westeuropa                zu liefern.
Europa gelangen. An einem normalen               steigern kurzfristig ihre Lieferungen, vor
Wintertag sind dies über 300 Mio m3. Über        allem die Niederlande, Norwegen und Groß-                Diese zusätzlichen West-Ost-Liefermengen
die Slowakei und Tschechien fließen diese        britannien. Aber auch die Regasifizierung                werden durch die umfangreiche Entnahme
dann nach Italien, Österreich, Deutschland       von verflüssigtem Erdgas (LNG) wird erhöht,              von zusätzlichem Erdgas aus Untertages-
und teilweise weiter nach Frankreich.            bspw. im Terminal in Zeebrugge. Die größte               peichern ermöglicht. Diese gespeicherten
Außerdem gelangt Erdgas aus Norwegen und         Wirkung wird jedoch durch die Umkehr                     Erdgasmengen werden dabei auch genutzt,
den Niederlanden von Nordwesten nach             von Gasflüssen entgegen der üblichen Ost-                um Konsumenten außerhalb der jeweiligen
Deutschland. Der untere Teil der Abb. 1 illus-   West-Richtung erzielt (rote Pfeile in Abb. 1).           Landesgrenzen während der Krise zu ver-
triert, wie das Modell auf eine Unterbrechung    So ist es vor allem möglich, aus Deutsch-                sorgen. Neben Deutschland (nach Osteuropa)
der Gasflüsse durch die Ukraine reagiert:        land über Tschechien und Österreich zu-                  liefert so bspw. auch Ungarn Erdgas aus

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 59. Jg. (2009) Heft 7                                                                                      57
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Der russisch-ukrainische Gaskonflikt im Januar 2009 - eine modell-gestützte Analyse
ENERGIEVERSORGUNG

 Tab.: Veränderungen Gasbilanzen durch Krise (in Mio. m3 pro Tag)
 Deutschland                                    Abflüsse in der Krise                                             Zuflüsse in der Krise
                                Ausbleibende Ukraine                                                     Zusätzliche Importe
                               Importe via Tschechien        -15,3         23 %                                    Dänemark       0,2           0%
                                Ausbleibende Ukraine                                                     Zusätzliche Importe
                                Importe via Österreich      -22,6          33 %                        aus den Niederlanden       3,2           5%
                             Entgegengesetzte Flüsse                                                    Reduzierte Gasflüsse
                             nach Tschechien (Export)        -15,3         23 %                             nach Frankreich      11,5           17 %
                              Entgegengesetzte Flüsse                                                       Zusätzliche Aus-
                              nach Österreich (Export)       -8,7          12 %                     speicherung Deutschland      53,2           78 %
                                 Zusätzliche Flüsse in
                                 die Schweiz (Export)        -6,2           9%
 Summe                                                       -68,1                                                 Summe                 68,1
                                                                                                      Saldo (= Abschaltung
                                                                                                        von Konsumenten)          0,0           0%
 Osteuropa                                      Abflüsse in der Krise                                             Zuflüsse in der Krise
                                Ausbleibende Ukraine                                                     Zusätzliche Importe
                                             Importe        -303,5         100 %                            via Weißrussland      6,1           2%
                                                                                                       Reduzierte Gasflüsse
                                                                                                               in die Türkei      1,0           1%
                                                                                                       Reduzierte Gasflüsse
                                                                                                          nach Deutschland       37,9           12 %
                                                                                                         Zusätzliche Importe
                                                                                                         aus/via Deutschland     24,0           8%
                                                                                                       Reduzierte Gasflüsse
                                                                                                                nach Italien      85,1          28 %
                                                                                                         Zusätzliche Importe
                                                                                                                   aus Italien    9,0           3%
                                                                                                            Zusätzliche Aus-
                                                                                                             speicherung in
                                                                                                                  Osteuropa      117,9          39 %
 Summe                                                      -303,5                                                 Summe         281,0          93%
                                                                                                      Saldo (= Abschaltung
                                                                                                        von Konsumenten)          22,5          7%

seinen Speichern an den viel stärker                simulationen des EWI – und die Beobach-         sorgung weiter östlich gelegener Länder aus
betroffenen Nachbarn Serbien.                       tungen in der Realität – zeigen, dass es zu     dem Westen durch die geringe physische
                                                    signifikanten Lieferunterbrechungen für         Marktintegration sowie ein für die Um-
Diese Maßnahmen bewahren die model-                 Konsumenten kommt. Dies betrifft vor allem      kehrung von Flussrichtungen nicht aus-
lierten Konsumenten in West- und Zentral-           die Länder Bulgarien und Rumänien, aber         reichend flexibles Pipelinenetz verhindert
europa vor Lieferausfällen. Ermöglicht wird         auch Ungarn und die Staaten auf dem             wird. Somit zeigt die Simulation, dass neben
dies vor allem durch die Diversifikation der        Balkan. Das Modell zeichnet genau die           Diversifikation und Gasbevorratung auch
Bezugsquellen und Transportwege in Kom-             Begründung für diese Situation nach: Vor-       die physische Integration der Märkte erheb-
bination mit der hinreichenden Erdgas-              dergründig sind diese Länder aufgrund ihrer     lich zur Versorgungssicherheit Europas
bevorratung in den Speichern. Nicht nur in          geographischen Lage einseitig von rus-          beiträgt.
den Simulationen, sondern auch in der               sischen Erdgasmengen über das Transitland
Realität, waren diese in Deutschland zum            Ukraine abhängig, und sie halten kaum Vor-      Zusätzlich zu diesen qualitativen Aus-
Jahreswechsel noch zu 75 % gefüllt [7], u. a.       räte, die über die zum saisonalen Lastaus-      wertungen erlaubt das Modell auch eine
auch, weil aufgrund der schlechten wirt-            gleich benötigten Erdgasmengen hinaus-          Quantifizierung der umgeleiteten und
schaftlichen Entwicklung und den milden             gehen. Diese Erklärung ist allerdings noch      fehlenden Gasmengen. Insgesamt fehlen
Temperaturen im 4. Quartal 2008, die Nach-          nicht differenziert genug. Bspw. treffen die    durch den Ausfall der Lieferungen durch
frage hinter den Erwartungen zurück-                Argumente der einseitigen Abhängigkeit und      die Ukraine 303,5 Mio. m3 Erdgas pro Tag.
geblieben war [3].                                  der geringen Speichermengen auch auf die        Laut Modell werden für Gesamteuropa diese
                                                    Slowakei zu, die jedoch aufgrund der Ver-       Fehlmengen zum größten Teil (zu mehr als
Die Versorgung weiter östlich gelegener             sorgung aus dem Westen ihre Lieferausfälle      75 %) durch zusätzliche Ausspeicherungen
Länder mittels Gasmengen aus West- und              minimieren konnte.                              in Osteuropa, Italien und Deutschland kom-
Zentraleuropa, von der „Erdgas-Koordinie-                                                           pensiert. Der restliche Beitrag wird durch
rungsgruppe“ unter Leitung der Euro-                In der Simulation wird nun deutlich, dass       Ausspeicherungen in anderen europäischen
päischen Kommission als „Solidarität“               substanzielle West-Ost-Transporte im wesent-    Ländern, durch Zusatzmengen auf der Yamal-
zwischen den Ländern besonders hervor-              lichen nur bis nach Ungarn oder in die          Route durch Weißrussland, sowie durch
gehoben [4], ist jedoch begrenzt. Die Modell-       Slowakei möglich sind, und dass die Ver-        zusätzliche Produktion in der Nordsee und

 58
 28                                                                                     ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 59. Jg. (2009) Heft 7
ENERGIEVERSORGUNG

LNG-Transporte erbracht. Von besonderem
Interesse ist die Detailbetrachtung der Kom-
pensationsmechanismen in Deutschland
einerseits und in Osteuropa andererseits.
Diese sind in der Tabelle gegenübergestellt
[8].

Laut den Simulationsergebnissen beziffern
sich die in Deutschland für die Nach-
barländer bereitgestellten Erdgasmengen
auf über 30 Mio. m3 pro Tag. Ein Fünftel
davon wird in die Schweiz geliefert: Dies
wird notwendig, weil die Schweiz im Winter
auch aus Speichern in Norditalien versorgt
wird, was aber aufgrund der Auswirkungen
der Lieferunterbrechungen nicht mehr voll-
ständig möglich war.

Durch die Umkehr der Gasflüsse in Richtung
Tschechien und Österreich konnten von
Deutschland aus im Durchschnitt beinahe
25 Mio. m3 Erdgas pro Tag in diese Länder
(und darüber hinaus weiter nach Osten)
geliefert werden. Zur Einordnung dieser
Größe: mehr als die gesamte tägliche Nach-
frage der Slowakei wurde so von Deutsch-
land nach Osten transportiert [9].

Kompensiert wird der entstandene Gasbedarf
von fast 70 Mio. m3 pro Tag im Modell zu
mehr als 75 % durch zusätzliche Aus-
speicherungen aus deutschen Erdgas-              Abb. 2    Veränderung der Grenzkosten der Gasbereitstellung während der Lieferunterbrechung
speichern. Außerdem reduziert das Modell
die Flüsse nach Frankreich, und importiert
– in geringem Maße – zusätzliche Mengen
aus Dänemark und den Niederlanden,              der kompletten Fehlmengen – ein relativ                Bezug auf die Unterbrechungen am ersten
wodurch weitere Gasmengen verfügbar             geringer Anteil im Vergleich zu Deutsch-               Tag der Krise zu Preisspitzen bei den Day-
gemacht werden.                                 land (75%). Mehr als 22,5 Mio. m3 an täg-              Ahead-Preisen an den verschiedenen Han-
                                                licher Nachfrage in Bulgarien, Rumänien,               delspunkten zwischen 30 (Frankreich) und
Anders sah das Bild in Osteuropa aus (siehe     Ungarn und Serbien können daher im Modell              70 % (TTF). Noch im Laufe dieses Tages fielen
Tab.): Durch den Ausfall der Importe von        nicht gedeckt werden, so dass das Modell               diese Preise jedoch wieder deutlich und lagen
russischem Gas über die Ukraine fehlten         im entsprechenden Umfang Nachfrage                     bspw. am 14.1., in der „Mitte“ des Unter-
der Region mehr als 300 Mio. m3 pro Tag.        abschaltet [10].                                       brechungszeitraums nur zwischen 7 (NBP)
Ca. 160 Mio. davon können im Modell durch                                                              und 16 % (TTF) über dem Niveau von Ende
die Einstellungen der Transite Richtung Zen-    Preiseffekte                                           Dezember [11]. Für das NetConnect-Germany
tral- (Deutschland) und Südeuropa (Italien),                                                           (ehem. EGT)-Marktgebiet in Deutschland
bzw. durch entgegen der Flussrichtung           Wie haben sich diese umgekehrten Gasflüsse             lagen die Anstiege bei +35 % in der Spitze
importierte Gasmengen aus diesen Regionen       und die knappere Versorgungssituation nun              und + 9 % im Durchschnitt.
kompensiert werden. Auch Zusatzlieferun-        auf die Bereitstellungskosten und die Preise
gen über Weißrussland und „Einsparungen“        für Erdgas ausgewirkt? Die tatsächlichen               Die im Rahmen dieses Beitrags durch-
durch Verringerung der Transite Richtung        Preiseffekte der Lieferunterbrechung an den            geführten Modellrechnungen weisen für
Türkei sind infrastrukturbedingt nur sehr       europäischen Handelspunkten für Erdgas                 jeden Punkt innerhalb der europäischen
eingeschränkt möglich. So hätten im Modell      zu isolieren, ist kaum möglich – zudem es              Transportinfrastruktur die kurzfristigen Gas-
mehr als 140 Mio. m3 pro Tag zusätzlich aus     solche Handelsplätze in Osteuropa nicht ein-           bereitstellungskosten aus. Diese beschreiben
Gasspeichern in der Region zur Verfügung        mal gibt. In Westeuropa wurden die Gas-                die Zusatzkosten im Gesamtsystem, die
gestellt werden müssen, um die komplette        preise neben dem Ausfall der Ukraine-Route             durch die Lieferung eines weiteren m3 Erdgas
Nachfrage zu decken.                            außerdem durch die niedrigen Temperaturen              zu dem jeweiligen Ort entstehen würden.
                                                der ersten beiden Januarwochen, den Aus-               In einem theoretischen, wettbewerblichen
Die Simulationsergebnisse zeigen jedoch,        fall eines norwegischen Produktionsfeldes              Markt könnten diese Grenzkosten als ein
dass selbst bei optimalem Füllstand der         und den kurzfristig wieder über 50 US $                Preisschätzer interpretiert werden [12].
Speicher nur ca. 118 Mio. m3 pro Tag zu-        gestiegenen Ölpreis beeinflusst [3].
sätzlich aus den osteuropäischen Erdgas-                                                               Abb. 2 illustriert, wie sich im Modell die
speichern zu den Nachfragern geliefert          Sehr kurzfristig führten diese Effekte und             kurzfristigen Grenzkosten der Gasbereit-
werden können. Dies entspricht nur 39 %         – hauptsächlich – die Verunsicherung in                stellung durch den Ukraine-Ausfall (im Ver-

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 59. Jg. (2009) Heft 7                                                                                       59
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ENERGIEVERSORGUNG

gleich zu einem „normalen“ Wintertag mit        schränkungen für Konsumenten in dieser                         [8] Osteuropa in der Tabelle umfasst Griechenland, Öster-
gleicher Nachfrage) verändern. Anstiege von     Region verhindert. Eine vollständige Soli-                     reich, Kroatien, Serbien und alle (weiteren) EU-Mitglieds-
0 bis 20 % sind in den Farben weiß bis          darität, also die Belieferung aller betroffener                staaten in der Region.
(dunkel-) orange eingefärbt; eine rote Ein-     Verbraucher mit Lieferungen aus dem                            [9] Vgl. IEA: Natural Gas Information, Paris 2008.
färbung bedeutet, dass die im Modell            Westen, wurde durch die begrenzte physische                    [10] Es ist zu beachten, dass die Simulation unterstellt,
angenommene, feste Nachfrage nicht mehr         Integration der Märkte und durch die für                       dass die Versorger in Osteuropa die Krise antizipiert haben,
gedeckt werden konnte. Dies verdeutlicht        den Krisenfall unzureichende Speicher-                         so dass Ausfälle nur aufgrund von physischen Engpäs-
nochmals, dass auch im Modell die Engpässe      kapazitäten in Osteuropa verhindert.                           sen in der Pipeline- und Speicherinfrastruktur entstehen
dort entstehen, wo sie in der Realität auf-                                                                    können. In der Realität ist jedoch zu vermuten, dass nicht
getreten sind: neben der Ukraine vor allem      Marktintegration und Speicherreserven                          alle Speicher für den Krisenfall hinreichend befüllt waren,
in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und auf          zeigen sich dabei teilweise als Substitute:                    und dass die tatsächlichen Engpässe somit größer als
dem Balkan [13]. In den Ländern, in denen       Die vorgestellten Ergebnisse implizieren                       die im Modell errechneten 22,5 Mio. m3 pro Tag waren.
theoretisch noch die ganze Nachfrage abge-      nicht zwangsläufig, dass es insgesamt zu                       [11] European Gas Markets: EGM 16.01.1, ICIS Heren,
deckt werden könnte, errechnet das Modell       wenig Speicherkapazität gibt – es war ledig-                   15.1.2009. Die Preise an diesem Tag spiegeln auch unge-
für die Slowakei mit durchschnittlich +18 %     lich nicht möglich, alle Regionen aus den                      fähr den Durchschnitt aller Handelstage während der zwei
den größten Anstieg der Grenzversor-            vorhandenen Speichern zu versorgen.                            Wochen wieder.
gungskosten. Dieser Anstieg ist dabei haupt-    Gespeicherte Gasreserven und Nachfrager                        [12] Eine ausführlichere Diskussion der (kurzfristigen)
sächlich durch die Versorgung aus dem           sind im Krisenfall teilweise räumlich weit                     Grenzkosten der Gasbereitstellung im verwendeten Modell,
Westen mit – im Vergleich zu russischem         voneinander entfernt, und die begrenzte                        und was diese beinhalten, befindet sich in Lochner, S. &
Gas – teureren Liefermengen bedingt.            Pipelineinfrastruktur reicht für einen wei-                    Dieckhöner, C.: Analyse von Grenzkostenpreisen im Euro-
                                                tergehenden Transport nicht aus.                               päischen Gasmarkt. EWI Working Paper 08/5, Köln 2008.
Ähnlich starke Anstiege erfahren Österreich,                                                                   [13] Da nachfrageseitige Anpassungen (z. B. unterbrech-
Slowenien und Kroatien mit ungefähr +14 %.      Weiterführende Untersuchungen des EWI                          bare Verträge, Brennstoffsubstitution) nicht modelliert
In Deutschland selbst unterscheidet die         demonstrieren, dass bereits durch eine                         wurden, unterscheidet dass Modell nicht zwischen den
Modellrechnung stark zwischen Nord- und         zusätzliche Flexibilisierung der vorhandenen                   unterschiedlich stark betroffenen Ländern (Bulgarien vs.
Süddeutschland – was darauf hindeutet, dass     Erdgasleitungen (d. h. Installation von Kom-                   Ungarn), sondern kennzeichnet jede Lieferunterbrechung
zumindest unter solch besonderen Um-            pressoren zur Ermöglichung bi-direktionaler                    gleichartig.
ständen auch Engpässe innerhalb des             Flüsse) in Osteuropa, die Einschränkungen                      [14] Geplante Pipelineprojekte zwischen Ungarn und Rumä-
deutschen Ferntransportnetzes auftreten         in Bulgarien und Rumänien weitgehend                           nien und Ungarn und Kroatien bestätigen dieses Modell-
können. Während die Grenzkosten der Gas-        hätten reduziert werden können. Andere                         ergebnis.
bereitstellung in Niedersachsen nur um 2        Länder, bspw. Ungarn, werden laut der wei-
bis 3 % ansteigen, beträgt die Veränderung      terführenden Modellrechnungen verstärkt                        Prof. Dr. M. O. Bettzüge, Dipl.-Volksw. S.
in Bayern, dem am stärksten von der             in neue Pipelines investieren müssen, um                       Lochner, Energiewirtschaftliches Institut
Ukraine-Route abhängigen deutschen Bun-         die Marktintegration und letztlich damit die                   an der Universität zu Köln (EWI)
desland, bis zu +10 %. Im Durchschnitt ent-     Versorgungssicherheit von Mittel- und Ost-                     Stefan.Lochner@uni-koeln.de
spricht dies wiederum den beobachteten Ver-     europa zu erhöhen [14].
änderungen der NCG-Day-Ahead-Preise. Da
Gleiches für die westeuropäischen Länder        Anmerkungen
mit Börsenhandel gilt, wird die Realität auch
bezüglich der Preise durch die Modell-          [1] Vgl. BP: Statistical Review of World Energy. Juni 2008
simulation gut widergespiegelt.                 für die Anteile der verschiedenen Lieferantenländer in
                                                den Absatzmärkten.
Im Rahmen vorhandener                           [2] Lediglich die EU-Mitglieder Finnland, Estland und Lett-
Infrastruktur bestmöglich reagiert              land verfügen über eine gemeinsame Grenze mit Russ-
                                                land und somit über direkte Lieferrouten ohne den Tran-
Wie sind die durch die Simulationsrech-         sit über Nicht-EU-Staaten.
nungen mit dem TIGER-Modell erzeugten           [3] Pirani, S.; Stern, J.; Yafimava, K.: The Russo-Ukrainian
Modellergebnisse zu bewerten? Das Modell        gas dispute of January 2009: A comprehensive assess-
simuliert die kostenoptimale, effiziente Ver-   ment. Oxford Institute for Energy Studies, February 2009,
änderung der Gasflüsse als Reaktion auf die     NG 27.
Lieferunterbrechung. Mit dieser Simulation      [4] Koordinierungsgruppe „Erdgas“: Solidarität funktioniert
werden die bekannten, tatsächlich von der       – EU-Gasmarkt passt sich Herausforderungen der Gas-
europäischen Gaswirtschaft durchgeführten       krise an. Pressemitteilung IP/09/75, 19.1.2009, Brüssel.
Gasflüsse repliziert. Dieses Ergebnis kann      [5] Zum TIGER-Modell, vgl. Lochner, S.; Bothe, D.: Nord
dahingehend interpretiert werden, dass die      Stream-Gas, quo vadis? Analyse der Ostseepipeline mit
europäischen Gasversorgungsunternehmen          dem TIGER-Modell. In: „et“, 57. Jg, Heft 11, 2007,
in der Krise weitgehend die bestmögliche        S. 18-23.
Reaktion im Rahmen der durch die vor-           [6] Ökonomisch entspricht das Modell also einem wett-
handene Infrastruktur und die vorhandenen       bewerblichen Gasmarkt unter den Annahmen perfekten
Speichermengen vorgegebenen Randbedin-          Wettbewerbs, vollständiger Voraussicht und vollständi-
gungen realisiert haben. Das Umkehren von       gen Märkten.
Fließrichtungen von Pipelines und die Ver-      [7] Vgl. Gas Storage Europe: Aggregated Gas Storage
sorgung osteuropäischer Staaten, bspw. aus      Inventory Database. Abrufbar unter http://transpa-
deutschen Speichern, haben größere Ein-         rency.gie.eu.com

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