Der Spitzberg Hotspot der Biodiversität - Hochschule Rottenburg
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Der Spitzberg Hotspot der Biodiversität Thomas Gottschalk Der Spitzberg ist durch die Wurmlinger Kapelle und seinen Reichtum an Tieren und Pflanzen weit über die Kreisgrenzen bekannt. Ihn prägen ein warmes Klima und eine alte Kulturlandschaft mit Weinanbau, Streuobstwiesen, Trockenmauern, schafbeweideten Wiesen und Wald. Diese Kulturlandschaft ist eines der arten- reichsten Gebiete Baden-Württembergs. Verantwortlich dafür sind langjährige Naturschutzmaßnahmen unterschiedlicher Akteure, die in beeindruckender Weise zeigen, welchen Beitrag Naturschutz zum Erhalt einer Kulturlandschaft leisten kann. Die Stadt Tübingen hat eine besondere Verantwortung für den Erhalt und Schutz der Tier- und Pflanzenwelt des Spitzbergs. Dringend notwendig sind Erhaltungs- und Pflegemaßnahmen und die Ausweitung der bestehenden Schutzgebiete.
Natur und Umwelt Der Spitzberg erstreckt sich über etwa sechs Kilometer vom Schloss Hohentübingen bis nach Wurmlingen. Foto: Julia Gläßner
Natur und Umwelt D er Spitzberg erstreckt sich über eine Länge von sechs Kilometern westlich von Tübingen zwischen Ammer- und Neckartal. Als natürliche Einheit umfasst er auch den Vorberg, den Wurm- linger Kapellenberg. Eingeschlossen in zwei fast parallel verlaufende Flussnie- derungen, spitzt er sich nach Westen und Osten hin zu und wird an jedem Ende von zwei, beinahe selbstständigen Bergkegeln begrenzt. Der Berg ist Teil der Süddeut- schen Schichtstufenlandschaft, die der Formation des Mittleren Keupers zuge- hörig ist. An verschiedenen Stellen sind Gipskeuper, Schilfsandstein, Bunter Mer- Foto: Thomas Gottschalk gel und Stubensandstein aufgeschlossen. Der Spitzberg ist der im Raum Tübingen und darüber hinaus wohl bestuntersuchte Berg, dem schon seit den Zeiten des Bota- nikers Leonhard Fuchs (1501–1561) wis- senschaftliches Interesse gilt. Als einzig- artiges Forschungsgebiet im Bereich der Das Weißbindige Wiesenvögelchen „Coenonympha arcania“ gehört zu den Naturkunde, Urgeschichte, Heimatkunde Augenfaltern und ist mit über 1000 Tieren häufig am Spitzberg anzutreffen. und den Sozialwissenschaften kommt dem Spitzberg auch aufgrund seiner Nähe zu zwei Hochschulstandorten eine Buchfink. Landesweit bedeutsame Vor- den Amphibien sind Feuersalaman- große Bedeutung zu. kommen gibt es bei Grauspecht, Wende- der, Berg- und Fadenmolch, Grasfrosch hals, Halsbandschnäpper und Bluthänf- und Erdkröte weit verbreitet. Mit dem Hohe Artenvielfalt ling. Alle vier Arten stehen auf der Roten Alpen-Kammmolch findet sich auf dem Bisher konnten am Spitzberg 5900 Tier- Liste der bestandsgefährdeten Arten Spitzberg auch eine Amphibienart, die und Pflanzenarten festgestellt werden. Baden-Württembergs und Deutschlands. vom Menschen künstlich angesiedelt Damit wurden 26 Prozent der gesamten Mit Hilfe von Wildtierkameras wurde wurde. Artenvielfalt Baden-Württembergs auf in den Jahren 2018 und 2019 auch der Gut untersucht sind am Spitzberg die einer Fläche, die nur 0,017 Prozent der Säugetierbestand am Spitzberg intensiv Tagfalter. Von den in den Vorjahren ins- Landesfläche ausmacht, nachgewiesen. untersucht und hierbei 15 Arten festge- gesamt 103 festgestellten Arten können Große Beachtung wird den Orchideen stellt. Nahezu flächendeckend und häufig aktuell noch 63 Tagfalter- und Widder- am Spitzberg geschenkt, die mit derzeit kommen Rotfuchs, Reh, Dachs, Wild- chenarten hier angetroffen werden. Die 19 verschiedenen Arten eine enorme Viel- schwein und Eichhörnchen vor. Wäh- Population einzelner Tagfalterarten ist falt aufweisen. Besonders auffällig sind rend Rotfuchs und Reh auch tagsüber zwar jährlichen Schwankungen ausge- im Mai die Bestände von Helm-Knaben- am Spitzberg beobachtet werden können, setzt, aber insgesamt bleibt deren Größe kraut Orchis militaris und der Bocks-Rie- sind Wildschwein und Dachs und auch am Spitzberg zumindest in den letzten menzunge Himantoglossum hircium, der deutlich seltenere Waldiltis fast nur fünf Jahren recht konstant. Die höchste die in den letzten Jahren aufgrund des nachts aktiv. Überraschend waren bei der Anzahl an Tagfalterarten wurden auf der Klimawandels stark zugenommen hat. Untersuchung die Nachweise von Wasch- Spitzberg Südseite und im Naturschutz- Weit unauffälliger dagegen sind die Rag- bär und Marderhund. gebiet „Spitzberg Ödenburg“ festgestellt. wurz-Arten, von denen alle fünf einhei- Unter den Reptilien finden sich mit der Die geringste Artenvielfalt weisen die mischen Vertreter am Spitzberg zu finden Mauereidechse und der Westlichen Sma- dunklen Wälder der Hochfläche auf. Lan- sind. Bundesweit bekannt ist das Gebiet ragdeidechse zwei Arten, die durch den desweit bedeutsam sind die Vorkommen durch die Vorkommen der Ungarischen Menschen künstlich angesiedelt wur- des Mattscheckigen Braun-Dickkopffal- Blatterbse Lathyrus pannonicus und des den. Die Mauereidechse ist am Schloss ters, des Kleinen Schlehen-Zipfelfalters, Zottigen Spitzkiels Oxytropis pilos. Es in Tübingen und am Ostrand des Spitz- des Himmelblauen Bläulings, des Großen handelt sich hierbei um Steppenpflanzen, bergs anzutreffen. Die Smaragdeidechse Fuchses, des Weißen Waldportiers und die am Spitzberg isolierte Reliktvorkom- ist die inzwischen häufigste Eidechsenart des Hufeisenklee-Widderchens. men bilden. im Naturschutzgebiet „Hirschauer Berg“. Der Spitzberg bietet aufgrund seiner viel- Die Qualität des Lebensraums am Spitz- Neben diesen beiden Reptilienarten sind gestaltigen Trockenstandorte beste Bedin- berg spiegelt sich gut in der Vielfalt der die sonnenexponierten Halbtrockenra- gungen für Heuschrecken. Bisher konn- Vogelarten wieder. Im Jahr 2018 konnten sen, Trockenmauern und Saumbereiche ten 36 Arten nachgewiesen werden, von 79 Brutvogelarten mit insgesamt 4100 bis der Lebensraum von Zauneidechse und denen aktuell noch mindestens 26 Arten 4700 Revieren festgestellt werden. Die Schlingnatter. Blindschleiche und Rin- vorkommen. Weit verbreitet sind solche, häufigsten Arten am Spitzberg sind Kohl- gelnatter können dagegen am gesamten die saumreiche und langgrasige Halbtro- meise, Amsel, Mönchsgrasmücke und Spitzberg angetroffen werden. Unter ckenrasen bevorzugen, wie zum Beispiel 96 Tübinger Blätter 2021
Natur und Umwelt Sichelschrecke, Westliche Beißschrecke haben zugenommen, allerdings ist dies Luftbilder von 1945 und 2014 ausgewer- und Kleine Goldschrecke. Neueinwan- untere anderem auf das Aussetzen der tet wurden. Insgesamt hat sich vor allem derer am Spitzberg sind die Südliche Westlichen Smaragdeidechse und des der Anteil der Offenflächen deutlich redu- Eichenschrecke und das Weinhähnchen. Alpen-Kammmolches zurückzuführen. ziert. So ist der Waldanteil von 47 % im Besonders bedeutsam sind die Vorkom- Hauptursachen für die Veränderungen Jahr 1898 auf 57 % in 2014 gestiegen und men von Westlicher und Kurzflügeliger der Tier- und Pflanzenwelt sind die fol- der Anteil der Gehölzflächen außerhalb Beißschrecke, Zweipunkt-Dornschrecke, genden fünf Punkte: des Waldes ist von 2,5 % im Jahr 1898 auf Heidegrashüpfer und Verkannter Gras- 9,5 % im Jahr 2014 gewachsen. Die Wein- fehlende Bewirtschaftung hüpfer. anbauflächen reduzierten sich inner- und Pflege der Offenlandschaft halb dieses Zeitraums beträchtlich. Von und der Obstwiesen Veränderungen in der Tierwelt ursprünglich 108,5 Hektar in 1898 ver- Aufgabe der Schafbeweidung und der Landnutzung ringerte sich deren Fläche auf 26,7 Hektar auf vielen Flächen insbesondere Einige der bereits früher festgestellten im Jahr 1937. Seit 1945 stagniert der Flä- der Hütehaltung Tierarten kommen derzeit am Spitzberg chenanteil des Weinanbaus am Spitzberg, veränderte Waldbewirtschaftung, nicht mehr vor. Besonders hohe Ände- wenn auch mit lokalen Unterschieden bei die zu sehr dunklen, lichtarmen rungen in den Artenzahlen sind bei den 1,3 %. Der Anteil an mit Obstbäumen Wäldern geführt hat Tagfaltern und Widderchen (Abnahme bestandenen Flächen verdreifachte sich intensive landwirtschaftliche von 32 % und 40 %), den Heuschrecken bis 1937. Danach reduzierte er sich von Nutzung und intensive Nutzung (Abnahme von 21 %) und den Vögeln 24,2 % in 1937, auf 11,7 % in 1945 und von Gartengrundstücken (Abnahme von 19 %) zu verzeichnen. 7,2 % in 2014. Die Siedlungsfläche hat hohe Nährstoffversorgung der Flächen. So kamen früher beispielsweise der Rot- sich gegenüber 1945 von 0,4 % auf einen kopfwürger, der Baumpieper und der Die Veränderungen der Landnutzung am Anteil von 2,7 % deutlich vergrößert. Dies Berglaubsänger am Spitzberg vor, die Spitzberg wurden quantifiziert, indem ist vor allem den Siedlungserweiterungen aber inzwischen dort nicht mehr brüten. zum einen topographische Karten aus den am Burgholzweg und am Hennentalweg Nur die Reptilienarten und Amphibien Jahren 1898 und 1937 und zum anderen in Tübingen geschuldet. Am Spitzberg kommen 18 verschiedene Orchideenarten vor. Foto: Thomas Gottschalk Tübinger Blätter 2021 97
2 3 Flora und Fauna am Spitzberg Foto: Thomas Schnittger, alle anderen Fotos: Thomas Gottschalk Helm-Knabenkraut Orchis militaris Kleiner Würfel-Dickkopffalter Pyrgus malvae Wendehals Jynx torquilla Wegerich-Scheckenfalter Melitaea cinxia Kleine Spinnen-Ragwurz Ophrys araneola 4 5
6 7 8 Ungarische Platterbse Lathyrus pannonicus Mönchsgrasmücke Sylvia atricapilla Ringelnatter Natrix natrix Großer Schillerfalter Apatura iris Libellen-Schmetterlingshaft Libelloides coccajus 9
Natur und Umwelt Die Bienen-Ragwurz Foto: Thomas Gottschalk „Ophrys apifera“ blüht am Spitzberg von Ende Mai bis Ende Juni. Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität Um die hohe Artenvielfalt am Spitzberg zu erhalten, sind dauerhafte Pflegemaß- nahmen notwendig. Derzeit sind viele Pflanzen und Tiere durch eine Zunahme an Gehölzflächen und die Verdunkelung der Wälder gefährdet. So ist beispiels- weise für den Erhalt der Diversität der Tagfalter eine extensive Grünlandnut- zung durch dreiteilige Streifenmahd not- wendig. Hierbei wird in differenzierter Abfolge zu unterschiedlichen Zeitpunk- ten einmal im Jahr die Fläche gemäht und das Mahdgut abgefahren. Früher wurde am Spitzberg die Hütehaltung bevorzugt. Hierbei werden die Schafe nicht in Kop- peln gehalten, sondern von einem Schäfer in offenem Gelände betreut. Die Hüte- haltung führt zu einer für viele Insek- tenarten positiv wirkenden, kleinräumig Trockenmauern sind heute wertvoller Lebensraum für seltene und bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Foto: Thomas Gottschalk 100 Tübinger Blätter 2021
Natur und Umwelt variierenden Weideintensität inklusive heißt, es wurden in großen Abständen ten Pflegemaßnahmen durch das Regie- Rohbodenbereichen, was bei der Kop- alte Eichen als Oberhölzer zur Gewin- rungspräsidium, hätte die Artenvielfalt pelhaltung kaum der Fall ist. Die Art der nung von Bauholz und zur Eichelmast in diesem Umfang, wie sie heute am Schafhaltung würde vor allem gefährde- belassen und die Unterhölzer wurden Spitzberg vorzufinden ist, nicht überlebt. ten Tagfaltern und Heuschrecken zugu- alle 20 bis 25 Jahre auf den Stock gesetzt, Ursprünglich war von Experten in den tekommen. Eine besondere Bedeutung um daraus Brennholz, Flecht- und Bin- 1960er-Jahren am Spitzberg eine Fläche kommt den Trockenmauern am Spitz- dematerial und Gerbsäure zu gewinnen. von über 200 Hektar als Naturschutz- berg zu, die ursprünglich dem Erhalt des Von einer Wiederaufnahme der früher gebiet geplant. Derzeit sind zusammen terrassierten Steillagenweinbaus dienten. üblichen Mittelwaldnutzung auf Teilflä- mit den beiden Waldschutzgebieten 85 Heute sind sie nicht nur kulturhistorische chen des Spitzbergs würden neben vielen Hektar davon umgesetzt. Es fehlt jedoch Zeugnisse, sondern vor allem wertvoller Tagfalterarten auch Vogelarten wie Zie- eine Verbindung der beiden bestehenden Lebensraum für viele seltene Tier- und genmelker, Baumpieper, Berglaubsänger, Naturschutzgebiete mit ihren wertvollen Pflanzenarten. Durch die unmittelbare Pirol und Grauspecht profitieren. Ebenso Magerrasen. Durch eine Erweiterung und Besonnung heizen sich deren Oberflä- wäre eine solche Nutzung aus kulturhis- die Entfernung der Gehölze an zugewach- chen gegenüber den umliegenden Berei- torischen und touristischen Gründen von senen, sonnigen, ehemaligen Magerrasen, chen stark auf. Solche Stellen bieten ther- großer Bedeutung. könnte die Schutzfläche am Spitzberg auf mophilen Arten, wie der Schlingnatter, Die Ausweisung der Schutzgebiete am 95 Hektar erhöht und damit ein wichtiger verschiedenen Wildbienenarten oder Spitzberg hat eine lange Geschichte und Schritt für den Biotopverbund der Tro- Tagfaltern wichtige Habitate. Untersu- ist gekennzeichnet durch Widerstände ckenlebensräume gewährleistet werden. chungen der Hochschule für Forstwirt- von Grundstückseigentümern und städ- All diese Maßnahmen sind notwendig, schaft Rottenburg haben ergeben, dass tischen Gremien. Letztendlich ist es dem um eines der artenreichsten Gebiete sich fast die Hälfte der Trockenmauern in Engagement weniger zu verdanken, dass Baden-Württembergs dauerhaft zu erhal- einem schlechten Zustand befinden und die beiden Gebiete „Hirschauer Berg“ ten. Die Pflegemaßnahmen kommen dringend saniert werden müssten. und „Spitzberg-Ödenburg“ nach zähen nicht nur der Tier- und Pflanzenwelt des Viele Arten würden von mehr Licht im Verhandlungen, die sich über mehrere Spitzbergs zugute, sondern erhalten auch Wald profitieren. Der Großteil des Spitz- Jahrzehnte hinzogen, als Naturschutzge- den typischen Charakter des Gebietes, bergwaldes wurde bis etwa Anfang des 19. biete ausgewiesen werden konnten. Ohne das für viele Besucher aus nah und fern Jahrhunderts als Mittelwald genutzt, das diese Gebiete und die dort durchgeführ- ein beliebtes Ausflugsziel darstellt. M Die Westliche Smaragdeidechse „Lacerta bilineata“ wurde im Jahre 1880 am Tübinger Schlossberg ausgesetzt und hat sich von dort aus auf die gesamte Spitzberg-Südseite ausgebreitet. Foto: Thomas Gottschalk Tübinger Blätter 2021 101
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