Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag. Administrative Steuerung und ihre Ergebnisse - Brill

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TACCJANA KASATAJA, SсJAPAN STUREJKA

     Der Tag des Sieges als belarussischer
   Staatsfeiertag. Administrative Steuerung
              und ihre Ergebnisse

Der Tag des Sieges ist in Belarus einer der wichtigsten gesetzlichen
Feiertage. 70 Jahre nach dem Sieg wird diesem Ereignis eine kaum
zu ermessende Bedeutung zugeschrieben. In der belarussischen
Debatte über diesen Gedenktag gibt es zwei diametral entgegen-
gesetzte Strömungen. Die Ideologen des Regimes und die diesem
nahestehenden Historiker sind voll des Lobs für die offiziellen
Feierlichkeiten. Diese seien didaktisch angemessen und von tiefer
Aufrichtigkeit geprägt. Die Belaruskaja dumka, eine von der Prä-
sidialadministration herausgegebene Zeitschrift zu Politik und
Gesellschaft, widmete im Jahr 2015 ihre Mai-Ausgabe dem
70. Jahrestag „des großen Sieges, den Millionen Menschen auf
unserem Planeten in Dankbarkeit an die Befreier begehen.“1
   Exemplarisch sind Aufsätze wie jene des Historikers Aleksandr
Kovalenja („Die Wahrheit des Krieges hüten“)2, des Philosophen
Lev Krištapovič („Das ewige Feuer des Sieges“) oder der Journa-
listin Snežana Michajlovskaja („In feierlichem Marsch“). Letzterer
endet mit den Worten: „Der 9. Mai ist der Tag des Großen Sieges.
Für unser Volk sind in diesem Feiertag die heiligen und ewigen
Begriffe der Befreiung, des Sieges und der Unabhängigkeit untrenn-
bar miteinander verschmolzen. Wir sind stolz auf die Gegenwart,
glauben an die Zukunft und vergessen die heroische Vergangenheit
nicht. In den Jahren der Unabhängigkeit von Belarus sind die Pa-
raden zum Tag des Sieges zu einer ruhmreichen Tradition gewor-
den, dank derer in der Seele eines jeden ein Leben lang das Gefühl
der Zugehörigkeit zur Geschichte der Heimat erhalten bleiben
wird.“3
   Während einer Videokonferenz mit Teilnehmern aus Moskau
und Minsk zum Thema „70 Jahre Frieden: Lehren aus dem Krieg
und die Geschichte des gemeinsamen Sieges“ erklärte der General-
direktor der staatlichen Nachrichtenagentur BELTA Dmitrij Žuk:

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„Sinn der Bewahrung des historischen Gedächtnisses ist es, dass
der 9. Mai von unseren Enkeln gefeiert wird, die keine Kriegshel-
den mehr treffen können. Dank der Lehrer, der jungen Lehrer, wird
das wahrscheinlich möglich sein. Doch wenn es nicht auch in
unseren Familien stattfindet, dann wird dieser Tag in 50 Jahren
wohl kaum noch begangen werden.“4
   Ganz anders sehen unabhängige Historiker5 und Publizisten6 die
offiziellen Feierlichkeiten zum 9. Mai. Sie werfen den staatlichen
Behörden vor, Traditionen zu erfinden. Diese Autoren leugnen
nicht die Bedeutung des Tags des Sieges, kritisieren aber, dass das
herrschende Regime den Feiertag instrumentalisiere.
   Im Mai 2015 beobachteten wir und unsere Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den belarussischen Städten Minsk, Hrodna und
Vicebsk die Feierlichkeiten. Geklärt werden sollte unter anderem,
in welchem Ausmaß die staatlichen Behörden an ihnen beteiligt
waren und welche Auswirkungen deren Entscheidungen auf den
Ablauf hatten. Außerdem sollte analysiert werden, welche Rolle
die belarussischen Kriegsdenkmäler bei der Strukturierung der
Gedenkfeier spielten.
   In diesem Aufsatz vertreten wir die These, dass der Tag des
Sieges in Belarus unter staatlicher Regie abläuft und kaum in Form
eines kollektiven Gedenkens an die Ereignisse des Krieges und
einer Auseinandersetzung mit deren Bedeutung stattfindet. Viel-
mehr wird die Erinnerung an den Krieg mit den Mitteln der Popu-
lärkultur als Schauspiel mit einfachen Botschaften für die breiten
Massen aufgeführt. Gleichwohl besteht der Tag des Sieges aus zwei
Teilen: den offiziellen Gedenkfeiern und der nicht von den Behör-
den gelenkten Erinnerung „von unten“. Obgleich es natürlich eine
Verbindung zwischen beiden gibt, berühren sie einander am Tag
des Sieges selbst kaum.
   Da dem vorliegenden Aufsatz in erster Linie Berichte unabhän-
giger Beobachter über den Verlauf des 9. Mai sowie halbstruktu-
rierte Interviews mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den
Feiern7 zugrunde liegen, ist dieser in der Form eines ethnographi-
schen Essays gehalten. Die Ethnographie eines staatlichen Feier-
tags erfordert einen besonderen Ansatz, da ein solcher Feiertag in
viel größerem Maße auf bewusster Lenkung beruht als auf der
Befolgung von Bräuchen.

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   Unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Steuerung ist,
dass die Beziehungen zwischen den Steuernden und den Gesteuer-
ten klar geregelt ist. Neben eindeutigen Zielen und Methoden muss
es Verhaltensregeln für unvorhergesehene Situationen geben, der
Kontrollverlust also ebenfalls einkalkuliert sein.
   Entsprechend analysieren wir:
1) die Zusammensetzung der Teilnehmer an den Feiern
2) die Botschaft des Feiertags
3) die Mittel, mit denen die gesetzten Aufgaben gelöst werden
4) die Empfänglichkeit der Gesteuerten für die Methoden der Steu-
   erung.
Vorausgeschickt sei, dass sich der Aufsatz nur mit jenen Aspekten
des Gedenktags beschäftigt, die inhaltlich mit dem Sieg im Krieg
verbunden sind. Nicht berücksichtigt werden die zahlreichen
Volksfeste, die ebenfalls am Tag des Sieges gefeiert werden, da
bereits die Zahl und das Ausmaß der Veranstaltungen zum 70. Jah-
restag des Sieges in Belarus schier unendlich war. So gab es alleine
in der Hauptstadt Minsk mehr als 20 Veranstaltungsorte. In Hrod-
na, einer Stadt mit 350.000 Einwohnern, kamen zu der Feier am
Kurgan Slavy, einem auf einer Anhöhe errichteten Ehrenmal, am
9. Mai nach offiziellen Angaben ca. 20.000 Menschen.8
   Der vorliegende Artikel geht zudem bewusst weder auf die bela-
russische Erinnerungspolitik noch auf die öffentlichen Debatten
rund um den Gedenktag ein. Erstere ist andernorts bereits über-
zeugend analysiert worden,9 eine Auseinandersetzung mit letzteren
würde von dem eigentlichen Thema ablenken, dem in der Literatur
bislang wenig beachteten Ablauf der Veranstaltungen zum Tag des
Sieges.

                  Aktive und passive Teilnehmer

Teilnehmer an den Gedenkfeiern im Sinne dieses Aufsatzes waren
all jene, die sich am 9. Mai am Ort einer Feier befunden haben,
weil sie entweder an deren Organisation beteiligt waren oder be-
wusst zur Teilnahme an der Veranstaltung an diesen Ort gekom-
men waren. Dabei kann man zwischen den Organisatoren und den
Organisierten unterscheiden.

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   Zunächst zu den Organisatoren. Bei ihnen handelt es sich um
eine monolithisch auftretende, äußerst hierarchisch aufgebaute
Gruppe. Es waren Vertreter staatlicher Behörden oder staatsnaher
gesellschaftlicher Organisationen, etwa der Bewegung „Belaja
Rus’“, des Belarussischen Gewerkschaftsbunds, des Jugendbunds
der Republik Belarus (BRSM) oder verschiedener Veteranenver-
bände (u. a. der Afghanistan-Veteranen). Sie hatten nur ein Ziel:
Der Feiertag sollte ohne Störung verlaufen, die Botschaft klar und
eingängig sein.
   Die Vorbereitung der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag begann
mit dem Erlass des Präsidenten Nr. 230 vom 20. Mai 2013 „Vor-
bereitung und Durchführung der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag
der Befreiung der Republik Belarus von den deutschen faschisti-
schen Eroberern und des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen
Vaterländischen Krieg“. Innerhalb der staatlichen Behörden der
Gebiete und Städte wurden Organisationskomitees geschaffen,
deren Aufgabe die Planung und Durchführung der Gedenkfeier
war (u. a. die „Zusammenführung und Koordinierung der Tätig-
keiten der staatlichen Behörden vor Ort mit jener der Gewerk-
schaften sowie anderer gesellschaftlicher und religiöser Organisa-
tionen und einzelner Bürger“10). Geleitet wurden diese Komitees
durchweg von den Chefs der Gebietsverwaltungen.11 Zudem wur-
den Organisationskomitees in verschiedenen weiteren öffentlichen
Einrichtungen, etwa in Schulen12, sowie in gesellschaftlichen Or-
ganisationen und in Betrieben gegründet.
   Der Hauptteil der organisatorischen Arbeit entfiel in jeder der
örtlichen staatlichen Behörden auf die Abteilung Politische Bil-
dung, Kultur und Jugendangelegenheiten. Der Kulturbeauftragte
dieser Abteilung der Vicebsker Gebietsverwaltung beschrieb die
Vorbereitungen so:
      Ich bin unmittelbar an der Organisation des Gedenktages betei-
      ligt. Meine Aufgabe ist die gleiche wie die aller Organisatoren.
      Wir tragen die Verantwortung für einen konkreten Abschnitt.
      Die Parade ist in Abschnitte unterteilt, und in jedem dieser
      Abschnitte gibt es Verantwortliche. Wir verteilen die Rollen
      genau. Ein solches System ermöglicht es uns, die Präsentation,
      die Parade als Gesamtkonzept zu organisieren, eine spektaku-
      läre Aufführung, an der sich die verschiedensten Gruppen be-
      teiligen – Wehrdienstleistende, die Jugend, Schulkinder. Das
      ganze System funktioniert ziemlich effektiv.13

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 145

Tabelle 1 zeigt diejenigen Organisatoren der Veranstaltungen zum
9. Mai, die am Gedenktag selbst anwesend waren:

Tabelle 1: Die Organisatoren

Kategorie Verantwortungs- Grundlage der                    Anwesenheit
          bereich         Tätigkeit
politische politische Bot-      aktuelle innere und        stehen teilweise auf
Leitung    schaft aller Ver-    äußere, politisch,         den Tribünen für
           anstaltungen,        soziale und ökono-         Ehrengäste oder
           Akzentsetzung,       mische Lage sowie          platzieren sich an
           Verfassen der        etablierte Gedenkt-        die Spitze von Dele-
           Reden für die of-    raditionen                 gationen
           fiziellen Teilneh-
           mer, Auswahl
           der wichtigsten
           Teilnehmer
künstleri-   künstlerische      Anordnungen der            treten selbst nicht
sche Lei-    Umsetzung der      politischen Leitung,       in Erscheinung, le-
tung         politischen Bot-   Konzepte früherer          diglich die Ergeb-
             schaft, Planung    Gedenkveranstal-           nisse ihrer Arbeit
             des Ablaufs der    tungen
             Veranstaltung,     Eine wichtige Rolle
             Auswahl der De-    spielen darüber hin-
             koration und       aus die bei der Vor-
             der Musik          bereitung zur Verfü-
                                gung stehenden
                                zeitlichen, materiel-
                                len und personellen
                                Ressourcen
Ord-         Verantwortung      Geltendes Recht            sind das „Gesicht“
nungs-       für die Lenkung    und seine gängige          des Gedenktages,
kräfte       der Menschen-      Auslegung, Anwei-          steuern alle Abläufe
             massen, Organi-    sungen der Organi-         auf den offiziellen
             sation des         satoren                    Feiern, sind an der
             Raums, Gewähr-                                Uniform oder an
             leistung und De-                              anderer einheitli-
             monstration von                               cher Kleidung zu
             Sicherheit                                    erkennen, führen
                                                           Kontrollen durch,
                                                           um demonstrativ
                                                           Präsenz zu zeigen

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   Für die „Politischen“ war der 9. Mai ein Tag äußerster Anspan-
nung. Besonders galt dies für Menschen, die Delegationen anführ-
ten, die von Unternehmen oder Bildungseinrichtungen entsandt
wurden. Eine Dozentin der Staatlichen Janka-Kupala-Universität
Hrodna, die die Studierenden „vorbereitet“ und angeführt hatte,
sprach davon, es hätte „Schwierigkeiten bei der Organisation, bei
der zeitlichen Koordinierung“ gegeben. „Um zur rechten Zeit dort
zu sein, Präsenz zu zeigen, muss man sich frühzeitig vorbereiten“.14
   Die Organisierten sind ebenfalls eine sehr heterogene Gruppe.
Ihr gehören sowohl aktive Teilnehmer und Veteranen an als auch
bloße Zuschauer. Von wenigen Ausnahmen abgesehen passen sie
sich problemlos in den organisatorischen Rahmen ein.

Tabelle 2: Die Organisierten

Kategorie    Ziel der             Grundlage der         Visualisierung
             Teilnahme            Teilnahme
Mitglieder   die Teilnahme ist    von der               verfügen über
einer von    verpflichtend,       Betriebsleitung       Einladungen, die sie
einer        gleichzeitig         zugeteilt             bei Bedarf vorzeigen;
Arbeits-     jedoch eine                                gehen in Gruppen,
stätte       Freizeitveranstal-                         tragen oft Erkennungs-
entsand-     tung                                       zeichen (das Emblem
ten                                                     des Gedenktages oder
Betriebs-                                               das Firmenlogo).
delegation                                              Gehen nach Ende des
                                                        offiziellen Teils der
                                                        Veranstaltung rasch
Künstler     Erwerbsarbeit,       Auftrag der           treten auf Bühnen oder
             Umsetzung der        Organisatoren         speziell abgegrenzten
             eigenen                                    Flächen auf, keine
             künstlerischen                             Eigeninitiative
             Ideen
Zuschauer    Neugier,             Bewerbung             kommen nicht in
             Zeitvertreib u. a.   der Veranstal-        größeren Gruppen;
             für die Kinder       tungen in den         tragen teils Orden,
                                  Medien und            Anstecker, usw., teils
                                  im öffentlichen       nicht; häufig mit
                                  Raum                  Kindern

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Kategorie    Ziel der             Grundlage der       Visualisierung
             Teilnahme            Teilnahme
Men-         die Auftritte kön-   persönliche         nicht sehr zahlreich,
schen,       nen der Erinne-      Initiative oder     kaum von den
die mit      rung dienen (Er-     auf Initiative      Mitgliedern der
anderen      zählung eigener      einer organi-       Betriebsdelegationen
Zielen       Kriegserlebnisse     sierten Gruppe      oder gewöhnlichen
gekom-       oder jener von                           Zuschauern zu
men sind,    Verwandten)                              unterscheiden, können
darunter     oder politischer                         manchmal an auffälli-
Aktivisten   Natur sein (Dar-                         gen abweichenden
             legung der eige-                         Symbole erkannt
             nen Position zu                          werden oder wenn sie
             dem Geschehen                            eine Aktion durchfüh-
             am Gedenktag)                            ren

Die Mitglieder von Delegationen und die Künstler waren leicht an
ihrem Äußeren zu erkennen. Sie waren auf besondere Weise ge-
kleidet, trugen Abzeichen ihrer Organisation, ihrer Einrichtung
oder ihres Unternehmens und die sogenannten „Blüten des Großen
Sieges“ (eine Ansteckblume an einem rot-grünen Bändchen). Sie
hoben sich von den übrigen Besuchern ab, indem sie kollektiv
handelten: Sie gingen in Reih und Glied (etwa Schüler), winkten
gemeinsam mit Fähnchen, riefen zu bestimmten, im Voraus fest-
gelegten Momenten im Chor „Hurra!“ oder „Danke für den Sieg“,
legten gemeinsam Blumen nieder. Studentinnen der Landwirt-
schaftshochschule Hrodna gaben auf die Frage „Wie habt Ihr Euch
auf den 9. Mai vorbereitet?“ die Antwort: „Wir haben Uniformen
erhalten und sind gekommen […] und die Fähnchen hat man uns
auch ausgeteilt.“15
   Zu den Organisierten gehörten auch die Veteranen. Sie wurden
vorab eingeladen und mit Sonderbussen gebracht. Sie erhielten gut
sichtbare, speziell für sie vorbereitete Sitzplätze, ihre Rolle war
jedoch insgesamt eher gering. Nur in Hrodna sprach mit Grigorij
Obelevskij ein Veteran auf der Bühne. Die wenigen noch lebenden
Veteranen dienten als eine Art der Bestätigung für die Idee des
Gedenktages. Gewöhnliche Teilnehmer sprachen sie an, führten
ihre Kinder an sie heran, schenkten ihnen Blumen, ließen sich mit
ihnen fotografieren.

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  Nachdem die organisierten Gruppen ihre Rolle erfüllt hatten,
lösten sie sich auf. Ihr Zusammenhalt dauerte genau so lange, wie
die offiziellen Feierlichkeiten anhielten (Kranzniederlegungen,
Empfänge, Konzerte, Paraden).
  Die Aktivisten, die ihre Aktionen selbst organisierten, stellten
eine kleine Minderheit der Anwesenden. In Hrodna kamen etwa
Vertreter der oppositionellen „Vereinten Bürgerpartei“ auf den
Kurgan Slavy, um den Veteranen zu gratulieren.
      Wir sind zu dieser Veranstaltung gekommen, um den Veteranen
      zu gratulieren, denn wie ich im Ablaufplan gesehen habe, ist
      dies vermutlich der einzige Ort, wo man am 9. Mai Veteranen
      treffen kann... Der ganze Rest ist über die Stadt verstreut und
      nicht sehr auf die Veteranen ausgerichtet, daher sind wir vor
      allem hier, um diesen Leuten zu gratulieren... [Wir] haben Blu-
      men und Schokolade verschenkt und ganz persönlich gratuliert,
      denn einige von ihnen wollen erzählen. Damit sie wissen, dass
      die Menschen sie nicht vergessen haben, und nicht nur der Ju-
      gendbund sich auf Anordnung an sie erinnert.16

Nicht alle Aktionen der hier als selbstorganisierte „Aktivisten“
Bezeichneten hatten unmittelbar mit den üblichen Ritualen des
Tags des Sieges zu tun. So führten etwa in Vicebsk junge Damen
im Auftrag der Kosmetikfirma Oriflame nach der Parade auf dem
Platz des Sieges eine Umfrage unter den Passanten durch. Vertreter
der „Allrussischen Gesellschaftlichen Bewegung zur Förderung der
geistigen Entwicklung der Bevölkerung ‚Für Staatlichkeit und die
Geistige Wiedergeburt in der Heiligen Rus’’“ verteilten die Zeitung
„Offenbarung für die Menschen des Neuen Zeitalters“. Doch sol-
che Aktionen fanden nur vereinzelt statt und wurden von den
Ordnungshütern rasch unterbunden.

      Der Zweck des Feiertags: Rekonstruktion der Botschaft
                       der Organisatoren

Einige Autoren sind der Ansicht, in Belarus würde die Geschichte
weiterhin instrumentalisiert. Die Führung des Landes verwende
die Erinnerung an den Krieg – der offizielle Terminus lautet: Gro-
ßer Vaterländischer Krieg – zum Zwecke der politischen Mobili-

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 149

sierung sowie zur Festigung der Loyalität der den sowjetischen
Traditionen anhängenden Belarussen gegenüber dem Regime.17
Ausgehend von dieser These analysieren wir in diesem Abschnitt
die zentrale Botschaft des Gedenktages, die sinngebende Idee, die
den unmittelbaren Teilnehmern und den Zuschauern an den Fern-
sehgeräten übermittelt werden sollte. Die Rekonstruktion will
nicht umfassend sein, sondern Grundzüge aufzeigen. Regionale
Besonderheiten etwa bleiben außen vor.
   Um die Botschaft, die von dem Gedenktag ausgehen sollte, in
ihrer allgemeinsten, landesweit gültigen Form zu analysieren, ha-
ben wir zwei Quellen ausgewählt: die Live-Übertragungen der
wichtigsten Zeremonien im Fernsehen (Kranzniederlegung am
Siegesdenkmal, Militärparade in Minsk), sowie die Abendnach-
richten der beiden wichtigsten Fernsehkanäle BNT und ONT.
   Die Interpretation der Ereignisse bei der Kranzniederlegung
übernahm der Fernsehsprecher. Die Anwesenden vor Ort erhielten
keine Erläuterungen. Der Sprecher unterstrich vor allem, dass der
Kern der Zeremonie die Kranzniederlegung durch den Präsidenten
sei. Alle anderen hätten Gelegenheit, seinem Beispiel zu folgen:
„Heute und morgen werden am Siegesdenkmal viele Blumen nie-
dergelegt, aber der Kranz des Präsidenten ist ein Symbol für die
Treue der Belarussen zum eingeschlagenen Weg und für ihre uner-
schütterliche Erinnerung an die Geschichte, eine Erinnerung, die
in der heutigen Welt, wie sich erwiesen hat, verteidigt werden
muss.“18
   Mehr als einmal hob der Sprecher hervor, dass der Präsident als
erster den Kranz in Minsk niederlegte, seinen allerersten Kranz
aber am Vortag in Moskau am Grab des Unbekannten Soldaten
niedergelegt habe. Unerwähnt ließ der Sprecher, dass verschiedene
Delegationen wie auch einzelne Personen auf Eigeninitiative be-
reits am 8. Mai und teilweise noch früher Blumen zu dem Denkmal
gebracht hatten.
   Die Botschaft, die der Staat durch die Feierlichkeiten vermitteln
wollte, spiegelte sich in der Reihenfolge der Kranzniederlegungen:
zuerst der Präsident, dann der Ministerrat, dann die Abgeordneten
beider Kammern der Nationalversammlung, „daneben werden die
Kränze der belarussischen Veteranenorganisationen, der obersten
Regierungsvertreter sowie der Mitglieder des Obersten Gerichts
und des Verfassungsgerichts liegen“, und schließlich „legen selbst-

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Abb. 6.1. Blumen und Kränze auf dem Platz des Sieges, Minsk am 8. Mai
2015. Foto: Sсjapan Sturejka.

verständlich die Soldaten des Siegs ihre Kränze nieder.“ Damit die
Botschaft auch ganz sicher ankommt, wiederholte der Sprecher die
Reihenfolge bei der Kranzniederlegung zweimal. Anschließend
zählte er die an der Zeremonie beteiligten Sicherheitsorgane, die
gesellschaftlichen Organisationen und andere Teilnehmer auf.
   Der Sprecher lieferte auch eine Erklärung der Bedeutung des
Gedenktags, die, wie sich später zeigte, voll und ganz mit der
Deutung des Präsidenten in seiner Ansprache während der Parade
in Einklang stand. Die Rede des Präsidenten ist sehr wichtig, da
sie auf besondere Weise die Aufmerksamkeit sowohl der unmittel-
bar bei der Parade Anwesenden (nach Schätzungen der Staatsme-
dien um die 300.000 Menschen) als auch der Fernsehzuschauer
bündelte.
   Der Präsident präsentierte zunächst eine stark vereinfachte, mit
Mythen ausgeschmückte Variante des Kriegsverlaufs:
      Den härtesten Schlag der Faschisten nahm die belarussische
      Erde auf sich... Hier scheiterte Hitlers Plan eines Blitzkriegs, hier
      wurde das Fundament für den künftigen Großen Sieg gelegt. Die

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 151

    heroische Verteidigung der Brester Festung, die Schlachten bei
    Grodno und Volkovysk, der Kampf um Mogilev - sie zeigten
    bereits in den ersten Wochen des Krieges, dass unsere Erde sich
    niemals dem Feind ergeben wird...19

Auf den Abriss des Vergangenen folgte eine Gegenwartsdiagnose:
„Heute sehen wir: Die tragischen Lehren des Kriegs sind vergessen.
Erneut triumphiert nicht die Macht des Rechts, sondern das Recht
der Macht.“ Anschließend erklärte der Präsident die Lage und
zeigte Lösungen auf, indem er augenfällig Parallelen zog: „Allen
heutigen politischen Führern wird es zweifellos anstehen, so weise
wie die Staatsmänner der in der Koalition gegen Hitler vereinten
Länder vorzugehen. Es gelang ihnen, unversöhnliche ideologische
Differenzen überwinden und gemeinsam den Faschismus zu besie-
gen.“ Abschließend legte der Präsident nochmals die Bedeutung
des Sieges dar, indem er ihn in wahrhaft biblischen Maßstäben
schilderte: „ Es war ein Sieg des Friedens über den Krieg. Ein Sieg
des Lichts über die Dunkelheit. Ein Sieg des Lebens über den Tod“.
   Im Abendprogramm des Fernsehsenders ONT, der zu den wich-
tigsten in Belarus gehört, wurden in einer siebzehnminütigen Re-
portage buchstäblich alle wichtigen Wort- und Begriffskonstruk-
tionen, die der Präsident und die Fernsehkommentatoren vom
Morgen an vorgegeben hatten, wiederholt: „Ein Sieg der Zivilisa-
tion, ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Menschlichkeit“;
„Unser Dank gilt den Veteranen, die uns diesen Festtag geschenkt
haben“; „Das mechanisierte Korps der 30er und 40er Jahre hat
den ersten Ansturm der Eroberer aufgehalten und in der ersten
Phase des Kriegs einen erheblichen Beitrag zum Erringen des Siegs
geleistet“, „Bis Berlin kam ich, bis heute erinnere ich mich daran
und träume davon, daher ist alles in Ordnung, alles gut“, „Ich bin
nicht das erste Mal auf der Parade, jedes Mal, wenn man kommt.
löst es neue Gefühle aus, man hat neue Eindrücke, alle sind fröh-
lich“, „Dieses Panzerfahrzeug ist ein slawisches Projekt, Belarus-
sen, Russen und Ukrainer haben es gemeinsam gebaut“.20
   Die Botschaft lautet somit: Belarus hat in der Vergangenheit den
globalen Faschismus besiegt und kann ihm auch heute Einhalt
gebieten. Der Garant dafür ist der Präsident, schließlich erinnert
er an den Sieg im Krieg und seine Lehren. Solange die Belarussen
sich wie der Präsident an den Krieg erinnern, ist bei ihnen alles in
Ordnung.21

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 Ein interviewter Museumsmitarbeiter lieferte folgende rationale
Deutung der Botschaft des Präsidenten:
      Dieses Jahr spricht alles – die russischen Flaggen, die amerika-
      nischen Musiker, die Verlegung der Zeremonie an den neuen
      Obelisken, der Neubau des Kriegsmuseums, die Umbenennung
      von Straßen – von einer Suche, aber nicht so sehr nach der
      Identität, sondern ein Versuch, zur Seite zu treten, damit ande-
      re dich nicht festlegen. Warum war das notwendig? Am Anfang
      seiner Herrschaft setzte der Präsident auf die Karte „Wiederge-
      burt der Sowjetunion“, damit hatte er keinen Erfolg, daher
      musste eine neue, postsowjetische Identität für die Belarussen
      geschaffen werden. Dabei wird allerdings die Illusion erzeugt,
      dass es sich nicht um etwas Neues handele, sondern um alte
      sowjetische Traditionen. Ohne erkennbare Tradition ist kein
      neues Belarus aufzubauen.22

       Verwaltete Initiative: Der Raum und die Instrumente
                           des Gedenkens

Der Raum des Gedenktages kann in folgenden Kategorien be-
schrieben werden: Funktion, Symbolik, erinnerte Inhalte. Die zu
sowjetischer Zeit entstandenen Vorlagen für die Durchführung der
Zeremonie am 9. Mai sind in Belarus fast unverändert geblieben.
Neuerungen fügen sich harmonisch in die allgemeine Choreogra-
phie (etwa der Festzug, bei dem junge Menschen Bilder von Kriegs-
teilnehmern hochhalten, ähnlich wie bei der in Russland initiierten
Aktion Unsterbliches Regiment. Eine einheitliche Struktur der
Zeremonie zum Tag des Sieges wird auch durch Synchronisierung
hergestellt: Sowohl die Schweigeminute am Tag als auch die abend-
lichen Salutschüsse finden in ganz Belarus zur gleichen Zeit statt.
Da es im Vergleich zu Vorjahren nur minimale Änderungen gab,
liefen die Feierlichkeiten zum 9. Mai in allen belarussischen Städ-
ten gleich ab. Vorbild für den offiziellen Teil war stets Minsk.
   Für die Beobachtung im Rahmen des Forschungsprojekts wur-
den in Minsk die zwei zentralen Veranstaltungsorte ausgewählt:
der Platz des Sieges mit dem Siegesdenkmal und der Abschnitt des
Prospekts der Sieger vor dem Obelisken „Heldenstadt Minsk“, wo
die Parade stattfand. Diese beiden Orte sind eigentlich nicht für

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 153

Abb. 6.2. Übersichtskarte Minsk.

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Abb. 6.3. Minsk, Platz des Sieges am 9. Mai 2015.

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 155

Abb. 6.4. Karte von Minsk, Museum des Großen Vaterländischen Kriegs
am 9. Mai 2015.

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große Massenveranstaltungen geeignet. Es hätte im Stadtzentrum
von Minsk andere Orte gegeben, etwa den Oktoberplatz oder den
Platz der Unabhängigkeit, die den Veranstaltern weniger Beschrän-
kungen auferlegt hätten. Für die Feier auf dem Platz des Sieges und
dem Prospekt der Sieger mussten diese hingegen für den Verkehr
gesperrt werden, was zu erheblichen Behinderungen in der gesam-
ten Innenstadt führte. Bei der Auswahl dieser beiden Orte stand
daher eindeutig deren symbolische Bedeutung im Vordergrund.23
   In früheren Jahren hatte das Siegesdenkmal am 9. Mai eindeutig
im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Dort legten nach ei-
nem feierlichen Marsch (die Veteranen wurden in offenen Wagen
gefahren) der Präsident, seine Söhne, die Veteranen und am Ende
der Kolonne die Delegierten wichtiger Minsker Unternehmen und
Organisationen ihre Kränze nieder. Der Marsch und die Kranznie-
derlegung standen somit im Zentrum der offiziellen Veranstaltung.
Im Jahr 2015 verlor das Siegesdenkmal etwas an Bedeutung, da
mit der Parade am Obelisken „Heldenstadt Minsk“ eine konkur-
rierende Veranstaltung hinzugekommen war.
   Parade und Kranzniederlegung fanden 2015 an einem Tag statt.
Da die Parade für 11 Uhr vorgesehen war, wurde die Kranznieder-
legung auf 9 Uhr gelegt. Für die Zeit der Veranstaltung wurde jener
Teil des Prospekts der Unabhängigkeit, der am Platz des Sieges
vorbeiführt, für den Verkehr gesperrt und war praktisch men-
schenleer.
   Der Raum des Platzes unterlag einer straffen Organisation. Der
innere Bereich war den offiziellen Gästen vorbehalten (Staatsfüh-
rung, Klerus, Veteranen, Militärführung, Orchester, Presse und
Fernsehen). An den Rändern des Platzes standen in dichten Reihen
die Delegierten der Betriebe und staatlicher Einrichtungen – Schu-
len (Lehrer und Kinder), Universitäten (Studenten und Mitarbeiter
der Verwaltung) und Unternehmen (auffällig waren die Abgesand-
ten dreier Banken).
   Zuständig für die Organisation des Raums, die Platzierung der
Teilnehmer und die Aufrechterhaltung der Ordnung waren die
Sicherheitsorgane, junge Männer in Zivil (kurze Haare, im Anzug,
das obligatorische rot-grüne Band, meist ein Funkgerät in der
Hand). Der Platz war vollkommen abgesperrt; wer ihn betreten
wollte, musste durch eine Einlasskontrolle, an der nach unerlaub-
ten Gegenständen gesucht wurde. Es bildeten sich jedoch keine

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 157

Schlangen (maximal 2-3 Wartende). Nahezu alle Besucher der
Veranstaltung waren Mitglieder organisierter Delegationen (Grup-
pen von 10-15 Menschen, die oftmals anhand ihrer jeweils einheit-
lichen, teils auffälligen, teils unauffälligen Abzeichen zu unter-
scheiden waren). Sie kamen lange vor Beginn der Veranstaltung
auf den Platz und wurden vom langen Stehen sichtlich müde. Die
verantwortlichen Organisatoren erlaubten den einer bestimmten
Stelle auf dem Platz zugewiesenen Delegationen jedoch nicht, die-
se zu verlassen. Die wenigen Zuschauer, die nicht in einer Delega-
tion gekommen waren, konnten sich frei bewegen, der von den
dichten Reihen der Delegationen gebildete Halbkreis versperrte
ihnen jedoch den Weg an die Ränder des Platzes, und die Polizei
unterband jeden Versuch, in den inneren Bereich des Platzes zu
gelangen. Unter diesen Zuschauern waren leicht Touristen aus
Russland zu erkennen (mit Fotoapparaten, Georgsbändchen und
manchmal mit einem Fähnchen in den Nationalfarben), zudem
ausländische Studenten (Chinesen, Turkmenen), die sehen wollten,
was sich abspielte.
   Der Präsident wurde in einer Limousine direkt auf den Platz
gefahren. Alle anderen offiziellen Personen waren bereits anwe-
send und erwarteten ihn. Um 9 Uhr begann die Kranzniederlegung.
Die Menschen in dem Halbkreis konnten nicht sehen, was bei dem
Denkmal geschah. Ein Orchester spielte. Die einzige Durchsage
über Lautsprecher war die Ankündigung der Schweigeminute. Es
gab keinerlei Ansprachen oder Reden. An den Silhouetten war zu
erkennen, in welcher Reihenfolge die verschiedenen hochrangigen
Persönlichkeiten die Kränze niederlegten. Die Menschen im Halb-
kreis beobachteten entweder schweigend oder unterhielten sich
weiter über private Dinge.
   Nach weniger als 30 Minuten ging der Präsident wieder zu der
Limousine. Auf ein Signal hin begannen die Menschen aus dem
Halbkreis der Delegationen, für die endlich der Zeitpunkt gekom-
men war, an dem sie nicht mehr nur stumme Dekoration waren,
sondern auf die dargebotene Aufführung reagieren durften, begeis-
tert zu rufen und zu klatschen, dem davonfahrenden Präsidenten
mit Fähnchen zuzuwinken. Dies dauerte etwa 10 Sekunden. So-
bald die Limousine verschwunden war, zerfiel der Halbkreis au-
genblicklich. Die Menschen gingen auseinander und liefen zielsi-
cher zur U-Bahn. Zur gleichen Zeit begannen auch die übrigen

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offiziellen Teilnehmer den Platz zu verlassen. Es entstand der Ein-
druck, dass die Veranstaltung im Unterschied zu der anschließen-
den Parade nicht für die Anwesenden, sondern für die Fernsehzu-
schauer gemacht war, umso mehr, als die Bilder in sämtlichen
Nachrichtensendungen aller Kanäle gezeigt wurden.
   Nach einigen Minuten wurde der Zugang zum Platz freigegeben.
Aus einer Unterführung kamen zwei Delegationen mit Kindern im
Schulalter (Pioniere) auf den Platz sowie einige wenige Zuschauer.
Die Menschen legten Blumen nieder, betrachteten den Ort genau
und berührten die kurze Zeit zuvor niedergelegten Kränze.
   Die Teilnehmer strömten zu dieser Zeit bereits zum Obelisken
„Heldenstadt Minsk“. Der Obelisk war das wichtigste Objekt der
Parade. Direkt hinter ihm befindet sich auf einem durchgeplanten
Gelände das neue Museum des Großen Vaterländischen Kriegs,
das seinen ersten Tag des Sieges erlebte.
   Riesige Menschenmassen kamen zu Fuß oder mit den öffentli-
chen Verkehrsmitteln zu dem Ort der Parade. Es war deutlich zu
erkennen, dass die Menschen anders als zu der Kranzniederlegung
eigenständig kamen. Überwiegend handelte es sich um junge Leu-
te und Menschen mittleren Alters. Ältere Menschen waren nur
wenige zu sehen, dafür jedoch viele Familien mit Kindern, die
Luftballons trugen, ganze Großfamilien waren auszumachen.
Menschen mit Medaillen oder in Militäruniform gab es nur sehr
wenige.
   Der Menschenstrom zog auf beiden Seiten des Prospekts der
Sieger (bis 2005: Mašeraŭ-Boulevard) zur Kreuzung mit dem
Mašeraŭ-Prospekt (bis 2005 Jerusalemer Straße, N. P. Drozd-Stra-
ße, Varšaveni-Straße), dem zentralen Punkt der Parade. Es war zu
erkennen, wie die Sicherheitsorgane versuchten, die Menschen-
massen auf dem Weg zu ordnen. Es zeigte sich, dass einige Men-
schen über Einladungskarten verfügten, die ihnen den Zutritt zu
der inneren Zone ermöglichten (sie waren von Betrieben und staat-
lichen Einrichtungen ausgegeben worden).
   Der engere Bereich um die Parade war abgesperrt, der Zugang
allerdings nicht begrenzt. Da sich wegen der sorgfältigen Durch-
suchungen an den Einlasskontrollen jedoch Schlangen bildeten,
fanden sich viele Menschen damit ab, dass sie nicht näher heran-
kamen, und betrachteten die Parade, bzw. das, was von ihr zu
sehen war, von einem Platz außerhalb der Absperrung. Dies wur-

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 159

Abb. 6.5. Nach dem offiziellen Teil: Bürgerinnen und Bürger legen Blu-
men am Siegesdenkmal nieder. Minsk am 9. Mai 2015. Foto: Sсjapan
Sturejka.

de als unvermeidlich betrachtet und löste keine Beschwerden aus.
So befanden sich große Menschenmengen außerhalb der Absper-
rung. Auf eine der Zuschauertribünen zu gelangen war unmöglich.
Wahrscheinlich bedurfte es dazu einer Einladungskarte.
   Die Parade begann mit einer Schweigeminute und einer Rede
des Präsidenten. An die Schweigeminute hielten sich nahezu alle
Anwesenden, auch jene hinter der Absperrung. Die Militärparade
stieß auf großes Interesse bei den Zuschauern. Höhepunkt war die
Flugschau. Während die Menschen zuvor ruhig zugeschaut oder
sich unterhalten hatten, riefen nun nahezu alle „Hurra“ (vor allem
die Kinder). Obwohl der Zug anschließend weiterging (es folgten
Arbeiterkolonnen und zivile Fahrzeuge wie die Baumaschinen der
Firma BelAz), begannen die Menschen, den Ort zu verlassen. Etwa
30 Minuten nach Ende der Parade hatte sich die Menge fast voll-
ständig verlaufen. Viele Menschen gingen weiter zu dem Areal vor
dem Sportpalast, wo ein Festbereich eingerichtet war.

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Abb. 6.6. Karte von Vicebsk, Platz des Sieges am 9. Mai 2015.

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 161

Sehr eindrücklich war die Zahl der staatlichen Sicherheitsleute in
Zivil. Nachdem die Menschen davongegangen waren, blieben sie
noch einige Zeit auf ihrem Posten, fanden sich dann in ihren Ein-
heiten zusammen und verließen gemeinsam den Ort. Jetzt war zu
erkennen, dass es sich um Tausende handelte.
   Der offizielle Teil der Gedenkfeier in Vicebsk war im Großen
und Ganzen eine Kopie der streng durchgeplanten Veranstaltung
in Minsk. Als alle Teilnehmer ihren Platz eingenommen hatten
und die Dekoration somit fertig war, begann die Zeremonie am
Denkmal, den „Drei Bajonetten“ auf dem Siegesplatz. An der Blu-
menniederlegung beteiligten sich die Mitglieder der politischen
Führung des Gebiets und der Stadt Vicebsk, die regionale Militär-
führung, Vertreter städtischer Behörden, die Spitzen der orthodo-
xen wie der katholischen Kirche. Wie in Minsk entstammte jede
Bewegung einem Reglement, die Amtsträger traten in hierarchi-
scher Reihenfolge und mit großer Gravität auf. Auch hier wurden
so vor allem Fernsehbilder geschaffen. Der Raum neben dem Denk-
mal war vollständig von Außenstehenden „geräumt“. Selbst die
Veteranen saßen mit dem Rücken zum Denkmal. Das Geschehen
am Denkmal wurde auf einer Leinwand gezeigt. Nur so konnten
die Anwesenden den Raum neben den „Drei Bajonetten“ sehen.
   Vor Beginn der Parade sprach lediglich der Vorsitzende des Exe-
kutivkomitees des Gebiets Vicebsk Nikolaj Šerstnev von der Büh-
ne, der am 9. Mai 2015 seit fünf Monaten im Amt war. Seine
Ansprache ähnelte der von Aleksandr Lukašenka sehr. Wie der
Staatspräsident trug auch Šerstnev ein hybrides Band an der Brust:
eine Apfelblüte mit zwei Bändern, einem in den rot-grünen Farben
des offiziellen Belarus und einem schwarz-orangen Georgsbänd-
chen.
   Der offizielle Teil der Veranstaltung in Hrodna fand erstmals auf
dem Kurgan Slavy statt. Die frühere Zeremonie, an der mehr als
zwei Jahrzehnte lang gefeilt worden war, beinhaltete Kranznieder-
legungen, offizielle Grußworte, Bühnenauftritte und Aufzüge. Sie
hatte stets am 9. Mai am Ehrengrab im Jean-Emmanuel-Gilibert-
Park stattgefunden – einem ursprünglich 1949 über bestehenden
Sammelgräbern errichteten Denkmal, das mehrmals umgebaut
und erweitert worden war. In diesem Jahr wurde das Szenario
geändert. Die politischen Spitzen der Stadt und des Gebiets Hrod-
na sowie Vertreter der Armee, der wichtigsten Betriebe und gesell-

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schaftlichen Organisationen legten bereits am 8. Mai Blumen am
Ehrengrab nieder. Am 9. Mai bestand ihre Rolle daher neben der
bloßen Anwesenheit lediglich darin, die Parade am Kurgan Slavy
abzunehmen. Die Rede des Vorsitzenden des Gebietsexekutivko-
mitees Vladimir Kravcov war viel kürzer als die seines Amtskolle-
gen in Vicebsk. Auch gab es neben seiner Rede weitere Anspra-
chen. Während des Treffens sprachen ein Veteran, eine Vertreterin
des Jugendbunds der Republik Belarus und eine Studentin der
Staatlichen Medizinischen Universität Hrodna. An den offiziellen
Veranstaltungen nahm nur eine Kirchenvertreterin teil: die Äbtis-
sin des orthodoxen Frauenklosters Roždestvo Bogorodicy (Geburt
der Gottesmutter), Schwester Havrilla, die sich regelmäßig am
politischen und gesellschaftlichen Geschehen in Hrodna beteiligt.
   In Hrodna war die Atmosphäre selbst bei der offiziellen Zere-
monie wegen der engeren räumlichen Verhältnisse weniger staats-
tragend und volksnaher als in Vicebsk und Minsk. Ungeachtet
dessen, dass an der Veranstaltung am Kurgan Slavy vor allem or-
ganisierte Gruppen teilnahmen, waren diese in die gemeinsamen
Aktionen einbezogen. Sie befanden sich recht nahe bei der Bühne
und den Veteranen. Anders als in Vicebsk, wo die Tribüne, auf der
der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees und neben ihm die
Veteranen saßen, von den meisten anderen Teilnehmern durch eine
abgesperrte, nur über Drehkreuze zugängliche vierspurige Straße
getrennt wurde, gab es in Hrodna keine physische Distanz. Auch
waren in Hrodna, anders als in Minsk, die Plätze, von denen die
Parade am besten betrachtet werden konnte, nicht für Eingeladene
reserviert.
   Die entscheidende Rolle bei der Organisation des Raums kam
an allen untersuchten Orten den Denkmälern zu, vor allem den
Ehrenmalen und Heldendenkmälern. Sie alle besitzen rein symbo-
lischen Charakter. Kein einziges dieser Denkmäler steht am histo-
rischen Ort des Geschehens, an das es erinnern soll. Sie wurden in
den 1950er, 1960er und 1970er Jahren errichtet. Zum Zwecke der
Sakralisierung dieser Denkmäler wurden neben ihnen seit den
1960er Jahren Ewige Flammen entzündet. Bei den Feiern am
9. Mai fungierten sie als eine Art spezieller Altar. Am deutlichsten
war dies in Minsk und Vicebsk (dort war der Raum neben dem
Denkmal abgesperrt, Zutritt hatten nur ausgewählte Personen).
Rituale wie die Niederlegung von Kränzen oder Blumen und die

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 163

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Art, wie diesen „heiligen Orten“ verbal Ehre erwiesen wird, tragen
zur Sakralisierung der Denkmäler bei.
   In Hrodna verlor der Kurgan Slavy nach dem Zerfall der Sow-
jetunion Schritt für Schritt seine Bedeutung als Gedenkort. Im Jahr
2015 wurde er jedoch als Ort für die wichtigsten Veranstaltungen
ausgewählt (die Fläche des Hügels ist um ein Vielfaches größer als
das Ehrenmal im Jean-Emmanuel-Gilibert-Park, an dem die Feiern
zum Tag des Sieges traditionell abgehalten wurden. Zum runden
Jahrestag des Sieges wurde die Anlage restauriert, die Ewige Flam-
me neu entzündet und eine Fläche für Großveranstaltungen ange-
legt.
   Nur einer der 40 befragten Teilnehmer sprach die Tatsache an,
dass es sich um einen rein symbolischen Ort handelt.
      Der Kurgan Slavy? Wissen Sie, ehrlich gesagt, als Denkmal, als
      Kriegerdenkmal [...] empfinde ich den nicht. Warum? Weil er
      für die jungen Leute gemacht ist. Für mich ist es, als hätte ich
      ihn mit meinen eigenen Händen aufgeschüttet. Aber im Gilibert
      [...] dort liegen ja die, die hier umgekommen sind. [...] Das ist
      ein heiliger Ort. Mit dem Kurgan soll ein Zeichen gesetzt wer-
      den, es soll derer gedacht werden, die es möglich gemacht haben,
      dass wir leben. Aber das Denkmal im Park, das ist heilig. 24

Dies zeigt, wie die Denkmäler ihre Bedeutung und ihre Sakralität
erst durch die Feiern erhalten, die am 9. Mai dort stattfinden.

 Das Verhalten der Organisierten: Die Eloquenz des Schweigens

Das Verhältnis der Besucher der Feierlichkeiten am 9. Mai 2015
zu diesem Feiertag lässt sich an äußeren Merkmalen festmachen:
an dem Ausmaß ihrer Beteiligung sowie an der Art und Weise, wie
sie ihre Haltung zu dem Tag zeigten.
   Betrachten wir zunächst das äußere Erscheinungsbild der Men-
schen, die zu den Feiern kamen. Während des offiziellen Teils
(Niederlegung von Blumen in Minsk und Vicebsk, Zusammen-
kunft am Kurgan Slavy in Hrodna) trugen fast alle die „offiziellen“
Symbole des Siegestages im Jahr 2015: ein rot-grünes Bändchen
mit Apfelblüte, die sogenannten Blüten des Großen Sieges, die
speziell erfunden worden waren, um sich von dem Georgs- bzw.

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 165

Abb. 6.8. Die Menschenmenge am Kurgan Slavy in Hrodna, 9. Mai 2015.
Foto: Dzmitrij Herasjuk.

Abb. 6.9. Die Menschenmenge an der Ewigen Flamme in Vicebsk, 9. Mai
2015. Foto: Anatol’ Dulaŭ.

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Gardebändchen zu distanzieren, das 2015 bereits als Symbol der
Aggression Russlands in der Ukraine gewertet wurde.25 Viele tru-
gen kleine Fähnchen, meist mit der Flagge von Belarus, dem Sym-
bol der wichtigsten regimetreuen gesellschaftlichen Organisation
Belaja Rus’ oder mit dem Wappen ihrer Stadt. Einige trugen auch
große Fahnen gleichen Typs. Auch Logos von Organisationen wa-
ren oft zu sehen (Flaggen von Banken und Unternehmen, Jacken
und Fahnen mit den Logos von Bildungseinrichtungen).
   Einige Teilnehmer trugen statt des grün-roten Bändchens das
Georgsbändchen. Die Bändchen, die Logos, Abzeichen und Fah-
nen und vor allem die „Blüten des Großen Sieges“, die Mitglieder
von Organisationen und Teilnehmer von organisierten Gruppen
trugen (Schüler, Studenten, Mitarbeiter verschiedener Einrichtun-
gen) waren Teil eines vorab verabredeten Dress-Codes.26
   Die staatlichen Behörden hatten mit Erfolg für die Apfelblüte
geworben. Die meisten Menschen äußerten sich am Tag des Sieges
positiv zu diesem neuen Symbol (dass die Boutonnière in China
hergestellt worden war, störte sie nicht).27 Eine Mitarbeiterin der
städtischen Betriebe aus Hrodna erklärte etwa: „Sehr nobel! [...].
So zeigen sie’s überall im Fernsehen, die ganzen wichtigen Personen
haben dieses Bändchen an – und wie gut sie dieses Jahr damit
aussehen, nicht einfach ein schwarzer und ein orangefarbener
Streifen, so was Finsteres, und diese Blümchen, Frühlingsblumen
sind so feierlich.“28
   Am Abend des Gedenktages erfuhr das Beobachtungsteam in
Minsk auf Anfrage in einem Zeitungskiosk des staatlichen Presse-
vertriebs „Belsojuzpečat’“ in der Fußgängerunterführung zum Sie-
gesdenkmal, dass dort die gesamte Lieferung von 250 rot-grünen
Bändchen verkauft worden war (an vielen dieser Kioske entlang
der Route des Festzugs befand sich ein Aushang, dass es keine
solchen Bändchen gebe). Eine gewisse Anzahl von Bändchen war
für die kostenlose Abgabe an Veteranen (oder ältere Menschen,
die dem Bild von einem Veteran entsprachen) reserviert worden.
Die Abgabe erfolgte auf Anfrage, eine entsprechende Information
war offensichtlich über die Medien verbreitet worden. Dieses Kon-
tingent war jedoch nicht vollständig verteilt worden, so dass es
eine Stunde vor Schließung ebenfalls in den freien Verkauf gegeben
wurde. Tatsächlich war selbst um 18 Uhr noch eine Nachfrage
nach den Bändchen zu beobachten.

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 167

   Zwar waren die Träger der „Blüten des Sieges“ in der Mehrzahl,
doch recht viele Menschen trugen auch das Gardebändchen. Die
Gerüchte, dieses Abzeichen sei verboten, sorgten zusammen mit
der Tatsache, dass die höchsten Vertreter des Staats das hybride
Bändchen trugen, für ein gewisses Durcheinander. Der Mythos,
den die russländischen Medien um das Gardeband geschaffen ha-
ben, trug dazu bei, dass einige Teilnehmer, die auf eigene Initiative
gekommen waren, das schwarz-orange Bändchen trugen.
   Ein junger Mann aus Vicebsk erklärte: „Das Georgsbändchen
ist auch ein Symbol für den Sieg, das offiziell verwendet wird. Wir
wissen, dass es heute das Ordensband des Ehrenordens ist und
davor des Ordens des Heiligen Georg, und dass es ein Zeichen der
Einheit ist.“29
   Eine Mitarbeiterin der Kommunalbetriebe von Hrodna antwor-
tete auf die Frage, ob ihr das neue rot-grüne Symbol gefalle: „Ehr-
lich gesagt, nicht besonders. Dieses Band ist Belarus; das Georgs-
band, dass ich da an der Tasche trage, das ist was anderes, das ist
für diesen Feiertag, für den 9. Mai.“30
   In Minsk führte die komplette Reglementierung der wichtigs-
ten Zeremonien zum Tag des Sieges dazu, dass individuelle Akti-
onen mit Bezug auf den Krieg oder den Sieg ziemlich selten waren.
Nach der morgendlichen Kranzniederlegung war gegen 10 Uhr in
der Vorhalle der Metro-Station „Platz des Sieges“ eine junge Frau
zu sehen, die Belarussisch sprach31 und Bilder von Verwandten
hochhielt, die am Krieg teilgenommen hatten. Am Abend gab es
eine Einzelaktion am Siegesdenkmal. Eine ältere Frau hielt ein
großes, selbstgemachtes Plakat hoch, zu Ehren der Verteidiger von
Odessa während des Kriegs (ein Hinweis auf den Brand im Ge-
werkschaftshaus von Odesa im Jahr 2014 war nicht auszuma-
chen).
   In Vicebsk und Hrodna eigneten sich diejenigen, die auf eigene
Initiative zu den wichtigsten Veranstaltungsorten gekommen wa-
ren, den Feiertag häufiger an. In Hrodna kamen einige Leute (be-
obachtet wurden drei Aktionen) mit Bildern von Verwandten, die
am Krieg teilgenommen hatten, und deren Orden auf den Kurgan
Slavy. Eine Frau erzählte: „Mein Opa väterlicherseits ist direkt
vom Roten Platz, am 7. November, als die Parade auf dem Roten
Platz war, mit 18 Jahren in den Krieg gezogen. Und wurde 13 Mal
verwundet. Er hat den ganzen Krieg durchgemacht. Er hat viele

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Auszeichnungen erhalten. Aber leider ist von ihnen niemand mehr
am Leben.“32
   In Vicebsk brachte ein junger Mann eine Flagge mit dem And-
reaskreuz mit, wie sie die sowjetische Marine verwendete. „Also
ich habe die Andreasflagge nicht einfach so mitgebracht, sondern
weil mein Großvater Matrose bei der Marine war. Er konnte heu-
te leider nicht zu der Parade kommen, aber als ich klein war, da
ist er immer mit mir hingegangen, daher habe ich die Andreasflag-
ge mitgenommen, als Zeichen meiner Hochachtung für ihn, gene-
rell als Symbol für den Ruhm von Russlands Marine.“33
   Die Befragten begannen oft von alleine über ihre Verwandten zu
sprechen, die im Krieg gewesen waren, gleichsam um ihre Teilnah-
me am Tag des Sieges zu rechtfertigen. Früher wurden in Belarus
nur sehr selten auf öffentlichen Feiern Bilder von Verwandten aus
der Kriegsgeneration gezeigt (in Hrodna war es 2015 das erste
Mal).
   Zu den traditionellen 9.-Mai-Ritualen gehört es, den Veteranen
zu gratulieren und Blumen an den Denkmälern niederzulegen.
Dabei waren recht ungewöhnliche Dinge zu beobachten. So fuhren
in Vicebsk schwarze Jeeps mit Aufschriften vom Typ „Nach Ber-
lin“ vor dem Denkmal des Sieges vor, aus denen Leute in Unifor-
men stiegen, die jenen der Weltkriegszeit nachempfunden waren
(es handelte sich eindeutig nicht um ein professionelles Reenactment,
dazu waren die Uniformen zu faschingsmäßig). Ein Mann hatte
eine Ziehharmonika dabei. Neben dem Ewigen Feuer gaben sie
eine improvisierte Aufführung und ließen sich mit jedem, der woll-
te, fotografieren.
   Ihre Beteiligung an den Feierlichkeiten zeigten einige Teilnehmer
mit Details ihrer Kleidung. Viele trugen schiffchenförmige Feld-
mützen (pilotka), vor allem Kinder und junge Frauen. Ein junger
Mann in Vicebsk trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Für die Hei-
mat“ und dem Bild eines sowjetischen Soldaten beim Sturm sowie
Weltkriegs-Orden. An seinem Georgsbändchen hatte er einen An-
stecker mit einem Stalin-Bild befestigt. Ansonsten waren Porträts
historischer Personen jedoch selten. Nur in Hrodna hatte bei einer
Oldtimer-Ausstellung einer der Teilnehmer auf der Motorhaube
seines Wagens ein Bild seines Vaters sowie ein Stalin-Porträt. Er
erklärte dies so: „Ganz einfach: Mein Vater hat gut über ihn [Sta-
lin] gesprochen. [...] Mit dem Namen dieses Mannes wurde der

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Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag                 169

Krieg gewonnen, und er hat in den kurzen Nachkriegsjahren die
Sowjetunion auf ein ziemlich hohes Niveau gebracht, und das aus
Ruinen.“34
   Politische Äußerungen gab es selten. Jene, die sich zur Lage in
der Ukraine äußerten, gaben das wieder, was sie in russländischen
Medien gehört hatten. „Sollen unsere westlichen Partner und an-
dere nur sehen, dass Russland immer stark ist.“35
   Individuelle Aktionen, bei denen jemand seine persönliche Hal-
tung zur politischen Lage bzw. zur Ukraine geäußert hätte, waren
keine zu beobachten.
   Die inhaltliche Seite – die Geschichte des Feiertags oder die Er-
eignisse während des Kriegs – interessierte die Leute an diesem Tag
nicht allzu sehr. So fand in Minsk die Parade in unmittelbarer Nähe
des Museums des Großen Vaterländischen Kriegs statt, doch die
tausenden Menschen sorgten nicht für einen besonderen Auftrieb
vor dem Museum. Der Eintritt kostete so viel wie an gewöhnlichen
Tagen. Neben den Kassen bildete sich eine Schlange mit Menschen,
die gerade von der Parade gekommen waren. Die Wartezeit betrug
zehn Minuten. In Vicebsk gab es kein besonderes Interesse an der
Sonderausstellung „Auf dem Weg zum Sieg: was die Quellen zei-
gen“ des Minaj-Šmyrev-Museums, die in das Hauptprogramm
integriert war.
   Die Teilnehmer gingen sehr häufig zu den Denkmälern, legten
Blumen nieder, Kinderzeichnungen (Vicebsk), ein gerahmtes Ge-
dicht (Hrodna), Zettel mit Namen (Minsk). Am häufigsten ließen
sie sich jedoch vor dem Denkmal, an der Ewigen Flamme oder
auch mit Veteranen fotografieren. Es waren diese ungeplanten,
seltenen individuellen Aktionen, die am aufrichtigsten wirkten und
zeigten, wie die Leute, die auf eigene Initiative gekommen waren,
zu dem Feiertag stehen.
   Die organisierten „Volksfeste“ mit Bühnen, Künstlern, Wettbe-
werben, Bier- und Schaschlikzelten sowie Themenständen zogen
ebenfalls viele Menschen an. Während der Parade und auch nach
ihr war in allen drei Städten überwiegend eine freudige Stimmung
zu beobachten, die unter dem Einfluss der mit Flaggen, Luftballons
und Plakaten geschaffenen Feiertagsatmosphäre sowie dank des
guten Wetters entstand.
   Im Kern feierten die Menschen einen Tag des Friedens. Selbst
die Militärparaden wurden eher als Unterhaltungsshow wahrge-

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