Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag. Administrative Steuerung und ihre Ergebnisse - Brill
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TACCJANA KASATAJA, SсJAPAN STUREJKA Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag. Administrative Steuerung und ihre Ergebnisse Der Tag des Sieges ist in Belarus einer der wichtigsten gesetzlichen Feiertage. 70 Jahre nach dem Sieg wird diesem Ereignis eine kaum zu ermessende Bedeutung zugeschrieben. In der belarussischen Debatte über diesen Gedenktag gibt es zwei diametral entgegen- gesetzte Strömungen. Die Ideologen des Regimes und die diesem nahestehenden Historiker sind voll des Lobs für die offiziellen Feierlichkeiten. Diese seien didaktisch angemessen und von tiefer Aufrichtigkeit geprägt. Die Belaruskaja dumka, eine von der Prä- sidialadministration herausgegebene Zeitschrift zu Politik und Gesellschaft, widmete im Jahr 2015 ihre Mai-Ausgabe dem 70. Jahrestag „des großen Sieges, den Millionen Menschen auf unserem Planeten in Dankbarkeit an die Befreier begehen.“1 Exemplarisch sind Aufsätze wie jene des Historikers Aleksandr Kovalenja („Die Wahrheit des Krieges hüten“)2, des Philosophen Lev Krištapovič („Das ewige Feuer des Sieges“) oder der Journa- listin Snežana Michajlovskaja („In feierlichem Marsch“). Letzterer endet mit den Worten: „Der 9. Mai ist der Tag des Großen Sieges. Für unser Volk sind in diesem Feiertag die heiligen und ewigen Begriffe der Befreiung, des Sieges und der Unabhängigkeit untrenn- bar miteinander verschmolzen. Wir sind stolz auf die Gegenwart, glauben an die Zukunft und vergessen die heroische Vergangenheit nicht. In den Jahren der Unabhängigkeit von Belarus sind die Pa- raden zum Tag des Sieges zu einer ruhmreichen Tradition gewor- den, dank derer in der Seele eines jeden ein Leben lang das Gefühl der Zugehörigkeit zur Geschichte der Heimat erhalten bleiben wird.“3 Während einer Videokonferenz mit Teilnehmern aus Moskau und Minsk zum Thema „70 Jahre Frieden: Lehren aus dem Krieg und die Geschichte des gemeinsamen Sieges“ erklärte der General- direktor der staatlichen Nachrichtenagentur BELTA Dmitrij Žuk: Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
142 T. Kasataja, S. Sturejka „Sinn der Bewahrung des historischen Gedächtnisses ist es, dass der 9. Mai von unseren Enkeln gefeiert wird, die keine Kriegshel- den mehr treffen können. Dank der Lehrer, der jungen Lehrer, wird das wahrscheinlich möglich sein. Doch wenn es nicht auch in unseren Familien stattfindet, dann wird dieser Tag in 50 Jahren wohl kaum noch begangen werden.“4 Ganz anders sehen unabhängige Historiker5 und Publizisten6 die offiziellen Feierlichkeiten zum 9. Mai. Sie werfen den staatlichen Behörden vor, Traditionen zu erfinden. Diese Autoren leugnen nicht die Bedeutung des Tags des Sieges, kritisieren aber, dass das herrschende Regime den Feiertag instrumentalisiere. Im Mai 2015 beobachteten wir und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den belarussischen Städten Minsk, Hrodna und Vicebsk die Feierlichkeiten. Geklärt werden sollte unter anderem, in welchem Ausmaß die staatlichen Behörden an ihnen beteiligt waren und welche Auswirkungen deren Entscheidungen auf den Ablauf hatten. Außerdem sollte analysiert werden, welche Rolle die belarussischen Kriegsdenkmäler bei der Strukturierung der Gedenkfeier spielten. In diesem Aufsatz vertreten wir die These, dass der Tag des Sieges in Belarus unter staatlicher Regie abläuft und kaum in Form eines kollektiven Gedenkens an die Ereignisse des Krieges und einer Auseinandersetzung mit deren Bedeutung stattfindet. Viel- mehr wird die Erinnerung an den Krieg mit den Mitteln der Popu- lärkultur als Schauspiel mit einfachen Botschaften für die breiten Massen aufgeführt. Gleichwohl besteht der Tag des Sieges aus zwei Teilen: den offiziellen Gedenkfeiern und der nicht von den Behör- den gelenkten Erinnerung „von unten“. Obgleich es natürlich eine Verbindung zwischen beiden gibt, berühren sie einander am Tag des Sieges selbst kaum. Da dem vorliegenden Aufsatz in erster Linie Berichte unabhän- giger Beobachter über den Verlauf des 9. Mai sowie halbstruktu- rierte Interviews mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den Feiern7 zugrunde liegen, ist dieser in der Form eines ethnographi- schen Essays gehalten. Die Ethnographie eines staatlichen Feier- tags erfordert einen besonderen Ansatz, da ein solcher Feiertag in viel größerem Maße auf bewusster Lenkung beruht als auf der Befolgung von Bräuchen. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 143 Unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Steuerung ist, dass die Beziehungen zwischen den Steuernden und den Gesteuer- ten klar geregelt ist. Neben eindeutigen Zielen und Methoden muss es Verhaltensregeln für unvorhergesehene Situationen geben, der Kontrollverlust also ebenfalls einkalkuliert sein. Entsprechend analysieren wir: 1) die Zusammensetzung der Teilnehmer an den Feiern 2) die Botschaft des Feiertags 3) die Mittel, mit denen die gesetzten Aufgaben gelöst werden 4) die Empfänglichkeit der Gesteuerten für die Methoden der Steu- erung. Vorausgeschickt sei, dass sich der Aufsatz nur mit jenen Aspekten des Gedenktags beschäftigt, die inhaltlich mit dem Sieg im Krieg verbunden sind. Nicht berücksichtigt werden die zahlreichen Volksfeste, die ebenfalls am Tag des Sieges gefeiert werden, da bereits die Zahl und das Ausmaß der Veranstaltungen zum 70. Jah- restag des Sieges in Belarus schier unendlich war. So gab es alleine in der Hauptstadt Minsk mehr als 20 Veranstaltungsorte. In Hrod- na, einer Stadt mit 350.000 Einwohnern, kamen zu der Feier am Kurgan Slavy, einem auf einer Anhöhe errichteten Ehrenmal, am 9. Mai nach offiziellen Angaben ca. 20.000 Menschen.8 Der vorliegende Artikel geht zudem bewusst weder auf die bela- russische Erinnerungspolitik noch auf die öffentlichen Debatten rund um den Gedenktag ein. Erstere ist andernorts bereits über- zeugend analysiert worden,9 eine Auseinandersetzung mit letzteren würde von dem eigentlichen Thema ablenken, dem in der Literatur bislang wenig beachteten Ablauf der Veranstaltungen zum Tag des Sieges. Aktive und passive Teilnehmer Teilnehmer an den Gedenkfeiern im Sinne dieses Aufsatzes waren all jene, die sich am 9. Mai am Ort einer Feier befunden haben, weil sie entweder an deren Organisation beteiligt waren oder be- wusst zur Teilnahme an der Veranstaltung an diesen Ort gekom- men waren. Dabei kann man zwischen den Organisatoren und den Organisierten unterscheiden. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
144 T. Kasataja, S. Sturejka Zunächst zu den Organisatoren. Bei ihnen handelt es sich um eine monolithisch auftretende, äußerst hierarchisch aufgebaute Gruppe. Es waren Vertreter staatlicher Behörden oder staatsnaher gesellschaftlicher Organisationen, etwa der Bewegung „Belaja Rus’“, des Belarussischen Gewerkschaftsbunds, des Jugendbunds der Republik Belarus (BRSM) oder verschiedener Veteranenver- bände (u. a. der Afghanistan-Veteranen). Sie hatten nur ein Ziel: Der Feiertag sollte ohne Störung verlaufen, die Botschaft klar und eingängig sein. Die Vorbereitung der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag begann mit dem Erlass des Präsidenten Nr. 230 vom 20. Mai 2013 „Vor- bereitung und Durchführung der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung der Republik Belarus von den deutschen faschisti- schen Eroberern und des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg“. Innerhalb der staatlichen Behörden der Gebiete und Städte wurden Organisationskomitees geschaffen, deren Aufgabe die Planung und Durchführung der Gedenkfeier war (u. a. die „Zusammenführung und Koordinierung der Tätig- keiten der staatlichen Behörden vor Ort mit jener der Gewerk- schaften sowie anderer gesellschaftlicher und religiöser Organisa- tionen und einzelner Bürger“10). Geleitet wurden diese Komitees durchweg von den Chefs der Gebietsverwaltungen.11 Zudem wur- den Organisationskomitees in verschiedenen weiteren öffentlichen Einrichtungen, etwa in Schulen12, sowie in gesellschaftlichen Or- ganisationen und in Betrieben gegründet. Der Hauptteil der organisatorischen Arbeit entfiel in jeder der örtlichen staatlichen Behörden auf die Abteilung Politische Bil- dung, Kultur und Jugendangelegenheiten. Der Kulturbeauftragte dieser Abteilung der Vicebsker Gebietsverwaltung beschrieb die Vorbereitungen so: Ich bin unmittelbar an der Organisation des Gedenktages betei- ligt. Meine Aufgabe ist die gleiche wie die aller Organisatoren. Wir tragen die Verantwortung für einen konkreten Abschnitt. Die Parade ist in Abschnitte unterteilt, und in jedem dieser Abschnitte gibt es Verantwortliche. Wir verteilen die Rollen genau. Ein solches System ermöglicht es uns, die Präsentation, die Parade als Gesamtkonzept zu organisieren, eine spektaku- läre Aufführung, an der sich die verschiedensten Gruppen be- teiligen – Wehrdienstleistende, die Jugend, Schulkinder. Das ganze System funktioniert ziemlich effektiv.13 Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 145 Tabelle 1 zeigt diejenigen Organisatoren der Veranstaltungen zum 9. Mai, die am Gedenktag selbst anwesend waren: Tabelle 1: Die Organisatoren Kategorie Verantwortungs- Grundlage der Anwesenheit bereich Tätigkeit politische politische Bot- aktuelle innere und stehen teilweise auf Leitung schaft aller Ver- äußere, politisch, den Tribünen für anstaltungen, soziale und ökono- Ehrengäste oder Akzentsetzung, mische Lage sowie platzieren sich an Verfassen der etablierte Gedenkt- die Spitze von Dele- Reden für die of- raditionen gationen fiziellen Teilneh- mer, Auswahl der wichtigsten Teilnehmer künstleri- künstlerische Anordnungen der treten selbst nicht sche Lei- Umsetzung der politischen Leitung, in Erscheinung, le- tung politischen Bot- Konzepte früherer diglich die Ergeb- schaft, Planung Gedenkveranstal- nisse ihrer Arbeit des Ablaufs der tungen Veranstaltung, Eine wichtige Rolle Auswahl der De- spielen darüber hin- koration und aus die bei der Vor- der Musik bereitung zur Verfü- gung stehenden zeitlichen, materiel- len und personellen Ressourcen Ord- Verantwortung Geltendes Recht sind das „Gesicht“ nungs- für die Lenkung und seine gängige des Gedenktages, kräfte der Menschen- Auslegung, Anwei- steuern alle Abläufe massen, Organi- sungen der Organi- auf den offiziellen sation des satoren Feiern, sind an der Raums, Gewähr- Uniform oder an leistung und De- anderer einheitli- monstration von cher Kleidung zu Sicherheit erkennen, führen Kontrollen durch, um demonstrativ Präsenz zu zeigen Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
146 T. Kasataja, S. Sturejka Für die „Politischen“ war der 9. Mai ein Tag äußerster Anspan- nung. Besonders galt dies für Menschen, die Delegationen anführ- ten, die von Unternehmen oder Bildungseinrichtungen entsandt wurden. Eine Dozentin der Staatlichen Janka-Kupala-Universität Hrodna, die die Studierenden „vorbereitet“ und angeführt hatte, sprach davon, es hätte „Schwierigkeiten bei der Organisation, bei der zeitlichen Koordinierung“ gegeben. „Um zur rechten Zeit dort zu sein, Präsenz zu zeigen, muss man sich frühzeitig vorbereiten“.14 Die Organisierten sind ebenfalls eine sehr heterogene Gruppe. Ihr gehören sowohl aktive Teilnehmer und Veteranen an als auch bloße Zuschauer. Von wenigen Ausnahmen abgesehen passen sie sich problemlos in den organisatorischen Rahmen ein. Tabelle 2: Die Organisierten Kategorie Ziel der Grundlage der Visualisierung Teilnahme Teilnahme Mitglieder die Teilnahme ist von der verfügen über einer von verpflichtend, Betriebsleitung Einladungen, die sie einer gleichzeitig zugeteilt bei Bedarf vorzeigen; Arbeits- jedoch eine gehen in Gruppen, stätte Freizeitveranstal- tragen oft Erkennungs- entsand- tung zeichen (das Emblem ten des Gedenktages oder Betriebs- das Firmenlogo). delegation Gehen nach Ende des offiziellen Teils der Veranstaltung rasch Künstler Erwerbsarbeit, Auftrag der treten auf Bühnen oder Umsetzung der Organisatoren speziell abgegrenzten eigenen Flächen auf, keine künstlerischen Eigeninitiative Ideen Zuschauer Neugier, Bewerbung kommen nicht in Zeitvertreib u. a. der Veranstal- größeren Gruppen; für die Kinder tungen in den tragen teils Orden, Medien und Anstecker, usw., teils im öffentlichen nicht; häufig mit Raum Kindern Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 147 Kategorie Ziel der Grundlage der Visualisierung Teilnahme Teilnahme Men- die Auftritte kön- persönliche nicht sehr zahlreich, schen, nen der Erinne- Initiative oder kaum von den die mit rung dienen (Er- auf Initiative Mitgliedern der anderen zählung eigener einer organi- Betriebsdelegationen Zielen Kriegserlebnisse sierten Gruppe oder gewöhnlichen gekom- oder jener von Zuschauern zu men sind, Verwandten) unterscheiden, können darunter oder politischer manchmal an auffälli- Aktivisten Natur sein (Dar- gen abweichenden legung der eige- Symbole erkannt nen Position zu werden oder wenn sie dem Geschehen eine Aktion durchfüh- am Gedenktag) ren Die Mitglieder von Delegationen und die Künstler waren leicht an ihrem Äußeren zu erkennen. Sie waren auf besondere Weise ge- kleidet, trugen Abzeichen ihrer Organisation, ihrer Einrichtung oder ihres Unternehmens und die sogenannten „Blüten des Großen Sieges“ (eine Ansteckblume an einem rot-grünen Bändchen). Sie hoben sich von den übrigen Besuchern ab, indem sie kollektiv handelten: Sie gingen in Reih und Glied (etwa Schüler), winkten gemeinsam mit Fähnchen, riefen zu bestimmten, im Voraus fest- gelegten Momenten im Chor „Hurra!“ oder „Danke für den Sieg“, legten gemeinsam Blumen nieder. Studentinnen der Landwirt- schaftshochschule Hrodna gaben auf die Frage „Wie habt Ihr Euch auf den 9. Mai vorbereitet?“ die Antwort: „Wir haben Uniformen erhalten und sind gekommen […] und die Fähnchen hat man uns auch ausgeteilt.“15 Zu den Organisierten gehörten auch die Veteranen. Sie wurden vorab eingeladen und mit Sonderbussen gebracht. Sie erhielten gut sichtbare, speziell für sie vorbereitete Sitzplätze, ihre Rolle war jedoch insgesamt eher gering. Nur in Hrodna sprach mit Grigorij Obelevskij ein Veteran auf der Bühne. Die wenigen noch lebenden Veteranen dienten als eine Art der Bestätigung für die Idee des Gedenktages. Gewöhnliche Teilnehmer sprachen sie an, führten ihre Kinder an sie heran, schenkten ihnen Blumen, ließen sich mit ihnen fotografieren. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
148 T. Kasataja, S. Sturejka Nachdem die organisierten Gruppen ihre Rolle erfüllt hatten, lösten sie sich auf. Ihr Zusammenhalt dauerte genau so lange, wie die offiziellen Feierlichkeiten anhielten (Kranzniederlegungen, Empfänge, Konzerte, Paraden). Die Aktivisten, die ihre Aktionen selbst organisierten, stellten eine kleine Minderheit der Anwesenden. In Hrodna kamen etwa Vertreter der oppositionellen „Vereinten Bürgerpartei“ auf den Kurgan Slavy, um den Veteranen zu gratulieren. Wir sind zu dieser Veranstaltung gekommen, um den Veteranen zu gratulieren, denn wie ich im Ablaufplan gesehen habe, ist dies vermutlich der einzige Ort, wo man am 9. Mai Veteranen treffen kann... Der ganze Rest ist über die Stadt verstreut und nicht sehr auf die Veteranen ausgerichtet, daher sind wir vor allem hier, um diesen Leuten zu gratulieren... [Wir] haben Blu- men und Schokolade verschenkt und ganz persönlich gratuliert, denn einige von ihnen wollen erzählen. Damit sie wissen, dass die Menschen sie nicht vergessen haben, und nicht nur der Ju- gendbund sich auf Anordnung an sie erinnert.16 Nicht alle Aktionen der hier als selbstorganisierte „Aktivisten“ Bezeichneten hatten unmittelbar mit den üblichen Ritualen des Tags des Sieges zu tun. So führten etwa in Vicebsk junge Damen im Auftrag der Kosmetikfirma Oriflame nach der Parade auf dem Platz des Sieges eine Umfrage unter den Passanten durch. Vertreter der „Allrussischen Gesellschaftlichen Bewegung zur Förderung der geistigen Entwicklung der Bevölkerung ‚Für Staatlichkeit und die Geistige Wiedergeburt in der Heiligen Rus’’“ verteilten die Zeitung „Offenbarung für die Menschen des Neuen Zeitalters“. Doch sol- che Aktionen fanden nur vereinzelt statt und wurden von den Ordnungshütern rasch unterbunden. Der Zweck des Feiertags: Rekonstruktion der Botschaft der Organisatoren Einige Autoren sind der Ansicht, in Belarus würde die Geschichte weiterhin instrumentalisiert. Die Führung des Landes verwende die Erinnerung an den Krieg – der offizielle Terminus lautet: Gro- ßer Vaterländischer Krieg – zum Zwecke der politischen Mobili- Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 149 sierung sowie zur Festigung der Loyalität der den sowjetischen Traditionen anhängenden Belarussen gegenüber dem Regime.17 Ausgehend von dieser These analysieren wir in diesem Abschnitt die zentrale Botschaft des Gedenktages, die sinngebende Idee, die den unmittelbaren Teilnehmern und den Zuschauern an den Fern- sehgeräten übermittelt werden sollte. Die Rekonstruktion will nicht umfassend sein, sondern Grundzüge aufzeigen. Regionale Besonderheiten etwa bleiben außen vor. Um die Botschaft, die von dem Gedenktag ausgehen sollte, in ihrer allgemeinsten, landesweit gültigen Form zu analysieren, ha- ben wir zwei Quellen ausgewählt: die Live-Übertragungen der wichtigsten Zeremonien im Fernsehen (Kranzniederlegung am Siegesdenkmal, Militärparade in Minsk), sowie die Abendnach- richten der beiden wichtigsten Fernsehkanäle BNT und ONT. Die Interpretation der Ereignisse bei der Kranzniederlegung übernahm der Fernsehsprecher. Die Anwesenden vor Ort erhielten keine Erläuterungen. Der Sprecher unterstrich vor allem, dass der Kern der Zeremonie die Kranzniederlegung durch den Präsidenten sei. Alle anderen hätten Gelegenheit, seinem Beispiel zu folgen: „Heute und morgen werden am Siegesdenkmal viele Blumen nie- dergelegt, aber der Kranz des Präsidenten ist ein Symbol für die Treue der Belarussen zum eingeschlagenen Weg und für ihre uner- schütterliche Erinnerung an die Geschichte, eine Erinnerung, die in der heutigen Welt, wie sich erwiesen hat, verteidigt werden muss.“18 Mehr als einmal hob der Sprecher hervor, dass der Präsident als erster den Kranz in Minsk niederlegte, seinen allerersten Kranz aber am Vortag in Moskau am Grab des Unbekannten Soldaten niedergelegt habe. Unerwähnt ließ der Sprecher, dass verschiedene Delegationen wie auch einzelne Personen auf Eigeninitiative be- reits am 8. Mai und teilweise noch früher Blumen zu dem Denkmal gebracht hatten. Die Botschaft, die der Staat durch die Feierlichkeiten vermitteln wollte, spiegelte sich in der Reihenfolge der Kranzniederlegungen: zuerst der Präsident, dann der Ministerrat, dann die Abgeordneten beider Kammern der Nationalversammlung, „daneben werden die Kränze der belarussischen Veteranenorganisationen, der obersten Regierungsvertreter sowie der Mitglieder des Obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts liegen“, und schließlich „legen selbst- Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
150 T. Kasataja, S. Sturejka Abb. 6.1. Blumen und Kränze auf dem Platz des Sieges, Minsk am 8. Mai 2015. Foto: Sсjapan Sturejka. verständlich die Soldaten des Siegs ihre Kränze nieder.“ Damit die Botschaft auch ganz sicher ankommt, wiederholte der Sprecher die Reihenfolge bei der Kranzniederlegung zweimal. Anschließend zählte er die an der Zeremonie beteiligten Sicherheitsorgane, die gesellschaftlichen Organisationen und andere Teilnehmer auf. Der Sprecher lieferte auch eine Erklärung der Bedeutung des Gedenktags, die, wie sich später zeigte, voll und ganz mit der Deutung des Präsidenten in seiner Ansprache während der Parade in Einklang stand. Die Rede des Präsidenten ist sehr wichtig, da sie auf besondere Weise die Aufmerksamkeit sowohl der unmittel- bar bei der Parade Anwesenden (nach Schätzungen der Staatsme- dien um die 300.000 Menschen) als auch der Fernsehzuschauer bündelte. Der Präsident präsentierte zunächst eine stark vereinfachte, mit Mythen ausgeschmückte Variante des Kriegsverlaufs: Den härtesten Schlag der Faschisten nahm die belarussische Erde auf sich... Hier scheiterte Hitlers Plan eines Blitzkriegs, hier wurde das Fundament für den künftigen Großen Sieg gelegt. Die Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 151 heroische Verteidigung der Brester Festung, die Schlachten bei Grodno und Volkovysk, der Kampf um Mogilev - sie zeigten bereits in den ersten Wochen des Krieges, dass unsere Erde sich niemals dem Feind ergeben wird...19 Auf den Abriss des Vergangenen folgte eine Gegenwartsdiagnose: „Heute sehen wir: Die tragischen Lehren des Kriegs sind vergessen. Erneut triumphiert nicht die Macht des Rechts, sondern das Recht der Macht.“ Anschließend erklärte der Präsident die Lage und zeigte Lösungen auf, indem er augenfällig Parallelen zog: „Allen heutigen politischen Führern wird es zweifellos anstehen, so weise wie die Staatsmänner der in der Koalition gegen Hitler vereinten Länder vorzugehen. Es gelang ihnen, unversöhnliche ideologische Differenzen überwinden und gemeinsam den Faschismus zu besie- gen.“ Abschließend legte der Präsident nochmals die Bedeutung des Sieges dar, indem er ihn in wahrhaft biblischen Maßstäben schilderte: „ Es war ein Sieg des Friedens über den Krieg. Ein Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Ein Sieg des Lebens über den Tod“. Im Abendprogramm des Fernsehsenders ONT, der zu den wich- tigsten in Belarus gehört, wurden in einer siebzehnminütigen Re- portage buchstäblich alle wichtigen Wort- und Begriffskonstruk- tionen, die der Präsident und die Fernsehkommentatoren vom Morgen an vorgegeben hatten, wiederholt: „Ein Sieg der Zivilisa- tion, ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Menschlichkeit“; „Unser Dank gilt den Veteranen, die uns diesen Festtag geschenkt haben“; „Das mechanisierte Korps der 30er und 40er Jahre hat den ersten Ansturm der Eroberer aufgehalten und in der ersten Phase des Kriegs einen erheblichen Beitrag zum Erringen des Siegs geleistet“, „Bis Berlin kam ich, bis heute erinnere ich mich daran und träume davon, daher ist alles in Ordnung, alles gut“, „Ich bin nicht das erste Mal auf der Parade, jedes Mal, wenn man kommt. löst es neue Gefühle aus, man hat neue Eindrücke, alle sind fröh- lich“, „Dieses Panzerfahrzeug ist ein slawisches Projekt, Belarus- sen, Russen und Ukrainer haben es gemeinsam gebaut“.20 Die Botschaft lautet somit: Belarus hat in der Vergangenheit den globalen Faschismus besiegt und kann ihm auch heute Einhalt gebieten. Der Garant dafür ist der Präsident, schließlich erinnert er an den Sieg im Krieg und seine Lehren. Solange die Belarussen sich wie der Präsident an den Krieg erinnern, ist bei ihnen alles in Ordnung.21 Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
152 T. Kasataja, S. Sturejka Ein interviewter Museumsmitarbeiter lieferte folgende rationale Deutung der Botschaft des Präsidenten: Dieses Jahr spricht alles – die russischen Flaggen, die amerika- nischen Musiker, die Verlegung der Zeremonie an den neuen Obelisken, der Neubau des Kriegsmuseums, die Umbenennung von Straßen – von einer Suche, aber nicht so sehr nach der Identität, sondern ein Versuch, zur Seite zu treten, damit ande- re dich nicht festlegen. Warum war das notwendig? Am Anfang seiner Herrschaft setzte der Präsident auf die Karte „Wiederge- burt der Sowjetunion“, damit hatte er keinen Erfolg, daher musste eine neue, postsowjetische Identität für die Belarussen geschaffen werden. Dabei wird allerdings die Illusion erzeugt, dass es sich nicht um etwas Neues handele, sondern um alte sowjetische Traditionen. Ohne erkennbare Tradition ist kein neues Belarus aufzubauen.22 Verwaltete Initiative: Der Raum und die Instrumente des Gedenkens Der Raum des Gedenktages kann in folgenden Kategorien be- schrieben werden: Funktion, Symbolik, erinnerte Inhalte. Die zu sowjetischer Zeit entstandenen Vorlagen für die Durchführung der Zeremonie am 9. Mai sind in Belarus fast unverändert geblieben. Neuerungen fügen sich harmonisch in die allgemeine Choreogra- phie (etwa der Festzug, bei dem junge Menschen Bilder von Kriegs- teilnehmern hochhalten, ähnlich wie bei der in Russland initiierten Aktion Unsterbliches Regiment. Eine einheitliche Struktur der Zeremonie zum Tag des Sieges wird auch durch Synchronisierung hergestellt: Sowohl die Schweigeminute am Tag als auch die abend- lichen Salutschüsse finden in ganz Belarus zur gleichen Zeit statt. Da es im Vergleich zu Vorjahren nur minimale Änderungen gab, liefen die Feierlichkeiten zum 9. Mai in allen belarussischen Städ- ten gleich ab. Vorbild für den offiziellen Teil war stets Minsk. Für die Beobachtung im Rahmen des Forschungsprojekts wur- den in Minsk die zwei zentralen Veranstaltungsorte ausgewählt: der Platz des Sieges mit dem Siegesdenkmal und der Abschnitt des Prospekts der Sieger vor dem Obelisken „Heldenstadt Minsk“, wo die Parade stattfand. Diese beiden Orte sind eigentlich nicht für Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 153 Abb. 6.2. Übersichtskarte Minsk. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
154 T. Kasataja, S. Sturejka Abb. 6.3. Minsk, Platz des Sieges am 9. Mai 2015. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 155 Abb. 6.4. Karte von Minsk, Museum des Großen Vaterländischen Kriegs am 9. Mai 2015. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
156 T. Kasataja, S. Sturejka große Massenveranstaltungen geeignet. Es hätte im Stadtzentrum von Minsk andere Orte gegeben, etwa den Oktoberplatz oder den Platz der Unabhängigkeit, die den Veranstaltern weniger Beschrän- kungen auferlegt hätten. Für die Feier auf dem Platz des Sieges und dem Prospekt der Sieger mussten diese hingegen für den Verkehr gesperrt werden, was zu erheblichen Behinderungen in der gesam- ten Innenstadt führte. Bei der Auswahl dieser beiden Orte stand daher eindeutig deren symbolische Bedeutung im Vordergrund.23 In früheren Jahren hatte das Siegesdenkmal am 9. Mai eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Dort legten nach ei- nem feierlichen Marsch (die Veteranen wurden in offenen Wagen gefahren) der Präsident, seine Söhne, die Veteranen und am Ende der Kolonne die Delegierten wichtiger Minsker Unternehmen und Organisationen ihre Kränze nieder. Der Marsch und die Kranznie- derlegung standen somit im Zentrum der offiziellen Veranstaltung. Im Jahr 2015 verlor das Siegesdenkmal etwas an Bedeutung, da mit der Parade am Obelisken „Heldenstadt Minsk“ eine konkur- rierende Veranstaltung hinzugekommen war. Parade und Kranzniederlegung fanden 2015 an einem Tag statt. Da die Parade für 11 Uhr vorgesehen war, wurde die Kranznieder- legung auf 9 Uhr gelegt. Für die Zeit der Veranstaltung wurde jener Teil des Prospekts der Unabhängigkeit, der am Platz des Sieges vorbeiführt, für den Verkehr gesperrt und war praktisch men- schenleer. Der Raum des Platzes unterlag einer straffen Organisation. Der innere Bereich war den offiziellen Gästen vorbehalten (Staatsfüh- rung, Klerus, Veteranen, Militärführung, Orchester, Presse und Fernsehen). An den Rändern des Platzes standen in dichten Reihen die Delegierten der Betriebe und staatlicher Einrichtungen – Schu- len (Lehrer und Kinder), Universitäten (Studenten und Mitarbeiter der Verwaltung) und Unternehmen (auffällig waren die Abgesand- ten dreier Banken). Zuständig für die Organisation des Raums, die Platzierung der Teilnehmer und die Aufrechterhaltung der Ordnung waren die Sicherheitsorgane, junge Männer in Zivil (kurze Haare, im Anzug, das obligatorische rot-grüne Band, meist ein Funkgerät in der Hand). Der Platz war vollkommen abgesperrt; wer ihn betreten wollte, musste durch eine Einlasskontrolle, an der nach unerlaub- ten Gegenständen gesucht wurde. Es bildeten sich jedoch keine Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 157 Schlangen (maximal 2-3 Wartende). Nahezu alle Besucher der Veranstaltung waren Mitglieder organisierter Delegationen (Grup- pen von 10-15 Menschen, die oftmals anhand ihrer jeweils einheit- lichen, teils auffälligen, teils unauffälligen Abzeichen zu unter- scheiden waren). Sie kamen lange vor Beginn der Veranstaltung auf den Platz und wurden vom langen Stehen sichtlich müde. Die verantwortlichen Organisatoren erlaubten den einer bestimmten Stelle auf dem Platz zugewiesenen Delegationen jedoch nicht, die- se zu verlassen. Die wenigen Zuschauer, die nicht in einer Delega- tion gekommen waren, konnten sich frei bewegen, der von den dichten Reihen der Delegationen gebildete Halbkreis versperrte ihnen jedoch den Weg an die Ränder des Platzes, und die Polizei unterband jeden Versuch, in den inneren Bereich des Platzes zu gelangen. Unter diesen Zuschauern waren leicht Touristen aus Russland zu erkennen (mit Fotoapparaten, Georgsbändchen und manchmal mit einem Fähnchen in den Nationalfarben), zudem ausländische Studenten (Chinesen, Turkmenen), die sehen wollten, was sich abspielte. Der Präsident wurde in einer Limousine direkt auf den Platz gefahren. Alle anderen offiziellen Personen waren bereits anwe- send und erwarteten ihn. Um 9 Uhr begann die Kranzniederlegung. Die Menschen in dem Halbkreis konnten nicht sehen, was bei dem Denkmal geschah. Ein Orchester spielte. Die einzige Durchsage über Lautsprecher war die Ankündigung der Schweigeminute. Es gab keinerlei Ansprachen oder Reden. An den Silhouetten war zu erkennen, in welcher Reihenfolge die verschiedenen hochrangigen Persönlichkeiten die Kränze niederlegten. Die Menschen im Halb- kreis beobachteten entweder schweigend oder unterhielten sich weiter über private Dinge. Nach weniger als 30 Minuten ging der Präsident wieder zu der Limousine. Auf ein Signal hin begannen die Menschen aus dem Halbkreis der Delegationen, für die endlich der Zeitpunkt gekom- men war, an dem sie nicht mehr nur stumme Dekoration waren, sondern auf die dargebotene Aufführung reagieren durften, begeis- tert zu rufen und zu klatschen, dem davonfahrenden Präsidenten mit Fähnchen zuzuwinken. Dies dauerte etwa 10 Sekunden. So- bald die Limousine verschwunden war, zerfiel der Halbkreis au- genblicklich. Die Menschen gingen auseinander und liefen zielsi- cher zur U-Bahn. Zur gleichen Zeit begannen auch die übrigen Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
158 T. Kasataja, S. Sturejka offiziellen Teilnehmer den Platz zu verlassen. Es entstand der Ein- druck, dass die Veranstaltung im Unterschied zu der anschließen- den Parade nicht für die Anwesenden, sondern für die Fernsehzu- schauer gemacht war, umso mehr, als die Bilder in sämtlichen Nachrichtensendungen aller Kanäle gezeigt wurden. Nach einigen Minuten wurde der Zugang zum Platz freigegeben. Aus einer Unterführung kamen zwei Delegationen mit Kindern im Schulalter (Pioniere) auf den Platz sowie einige wenige Zuschauer. Die Menschen legten Blumen nieder, betrachteten den Ort genau und berührten die kurze Zeit zuvor niedergelegten Kränze. Die Teilnehmer strömten zu dieser Zeit bereits zum Obelisken „Heldenstadt Minsk“. Der Obelisk war das wichtigste Objekt der Parade. Direkt hinter ihm befindet sich auf einem durchgeplanten Gelände das neue Museum des Großen Vaterländischen Kriegs, das seinen ersten Tag des Sieges erlebte. Riesige Menschenmassen kamen zu Fuß oder mit den öffentli- chen Verkehrsmitteln zu dem Ort der Parade. Es war deutlich zu erkennen, dass die Menschen anders als zu der Kranzniederlegung eigenständig kamen. Überwiegend handelte es sich um junge Leu- te und Menschen mittleren Alters. Ältere Menschen waren nur wenige zu sehen, dafür jedoch viele Familien mit Kindern, die Luftballons trugen, ganze Großfamilien waren auszumachen. Menschen mit Medaillen oder in Militäruniform gab es nur sehr wenige. Der Menschenstrom zog auf beiden Seiten des Prospekts der Sieger (bis 2005: Mašeraŭ-Boulevard) zur Kreuzung mit dem Mašeraŭ-Prospekt (bis 2005 Jerusalemer Straße, N. P. Drozd-Stra- ße, Varšaveni-Straße), dem zentralen Punkt der Parade. Es war zu erkennen, wie die Sicherheitsorgane versuchten, die Menschen- massen auf dem Weg zu ordnen. Es zeigte sich, dass einige Men- schen über Einladungskarten verfügten, die ihnen den Zutritt zu der inneren Zone ermöglichten (sie waren von Betrieben und staat- lichen Einrichtungen ausgegeben worden). Der engere Bereich um die Parade war abgesperrt, der Zugang allerdings nicht begrenzt. Da sich wegen der sorgfältigen Durch- suchungen an den Einlasskontrollen jedoch Schlangen bildeten, fanden sich viele Menschen damit ab, dass sie nicht näher heran- kamen, und betrachteten die Parade, bzw. das, was von ihr zu sehen war, von einem Platz außerhalb der Absperrung. Dies wur- Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 159 Abb. 6.5. Nach dem offiziellen Teil: Bürgerinnen und Bürger legen Blu- men am Siegesdenkmal nieder. Minsk am 9. Mai 2015. Foto: Sсjapan Sturejka. de als unvermeidlich betrachtet und löste keine Beschwerden aus. So befanden sich große Menschenmengen außerhalb der Absper- rung. Auf eine der Zuschauertribünen zu gelangen war unmöglich. Wahrscheinlich bedurfte es dazu einer Einladungskarte. Die Parade begann mit einer Schweigeminute und einer Rede des Präsidenten. An die Schweigeminute hielten sich nahezu alle Anwesenden, auch jene hinter der Absperrung. Die Militärparade stieß auf großes Interesse bei den Zuschauern. Höhepunkt war die Flugschau. Während die Menschen zuvor ruhig zugeschaut oder sich unterhalten hatten, riefen nun nahezu alle „Hurra“ (vor allem die Kinder). Obwohl der Zug anschließend weiterging (es folgten Arbeiterkolonnen und zivile Fahrzeuge wie die Baumaschinen der Firma BelAz), begannen die Menschen, den Ort zu verlassen. Etwa 30 Minuten nach Ende der Parade hatte sich die Menge fast voll- ständig verlaufen. Viele Menschen gingen weiter zu dem Areal vor dem Sportpalast, wo ein Festbereich eingerichtet war. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
160 T. Kasataja, S. Sturejka Abb. 6.6. Karte von Vicebsk, Platz des Sieges am 9. Mai 2015. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 161 Sehr eindrücklich war die Zahl der staatlichen Sicherheitsleute in Zivil. Nachdem die Menschen davongegangen waren, blieben sie noch einige Zeit auf ihrem Posten, fanden sich dann in ihren Ein- heiten zusammen und verließen gemeinsam den Ort. Jetzt war zu erkennen, dass es sich um Tausende handelte. Der offizielle Teil der Gedenkfeier in Vicebsk war im Großen und Ganzen eine Kopie der streng durchgeplanten Veranstaltung in Minsk. Als alle Teilnehmer ihren Platz eingenommen hatten und die Dekoration somit fertig war, begann die Zeremonie am Denkmal, den „Drei Bajonetten“ auf dem Siegesplatz. An der Blu- menniederlegung beteiligten sich die Mitglieder der politischen Führung des Gebiets und der Stadt Vicebsk, die regionale Militär- führung, Vertreter städtischer Behörden, die Spitzen der orthodo- xen wie der katholischen Kirche. Wie in Minsk entstammte jede Bewegung einem Reglement, die Amtsträger traten in hierarchi- scher Reihenfolge und mit großer Gravität auf. Auch hier wurden so vor allem Fernsehbilder geschaffen. Der Raum neben dem Denk- mal war vollständig von Außenstehenden „geräumt“. Selbst die Veteranen saßen mit dem Rücken zum Denkmal. Das Geschehen am Denkmal wurde auf einer Leinwand gezeigt. Nur so konnten die Anwesenden den Raum neben den „Drei Bajonetten“ sehen. Vor Beginn der Parade sprach lediglich der Vorsitzende des Exe- kutivkomitees des Gebiets Vicebsk Nikolaj Šerstnev von der Büh- ne, der am 9. Mai 2015 seit fünf Monaten im Amt war. Seine Ansprache ähnelte der von Aleksandr Lukašenka sehr. Wie der Staatspräsident trug auch Šerstnev ein hybrides Band an der Brust: eine Apfelblüte mit zwei Bändern, einem in den rot-grünen Farben des offiziellen Belarus und einem schwarz-orangen Georgsbänd- chen. Der offizielle Teil der Veranstaltung in Hrodna fand erstmals auf dem Kurgan Slavy statt. Die frühere Zeremonie, an der mehr als zwei Jahrzehnte lang gefeilt worden war, beinhaltete Kranznieder- legungen, offizielle Grußworte, Bühnenauftritte und Aufzüge. Sie hatte stets am 9. Mai am Ehrengrab im Jean-Emmanuel-Gilibert- Park stattgefunden – einem ursprünglich 1949 über bestehenden Sammelgräbern errichteten Denkmal, das mehrmals umgebaut und erweitert worden war. In diesem Jahr wurde das Szenario geändert. Die politischen Spitzen der Stadt und des Gebiets Hrod- na sowie Vertreter der Armee, der wichtigsten Betriebe und gesell- Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
162 T. Kasataja, S. Sturejka schaftlichen Organisationen legten bereits am 8. Mai Blumen am Ehrengrab nieder. Am 9. Mai bestand ihre Rolle daher neben der bloßen Anwesenheit lediglich darin, die Parade am Kurgan Slavy abzunehmen. Die Rede des Vorsitzenden des Gebietsexekutivko- mitees Vladimir Kravcov war viel kürzer als die seines Amtskolle- gen in Vicebsk. Auch gab es neben seiner Rede weitere Anspra- chen. Während des Treffens sprachen ein Veteran, eine Vertreterin des Jugendbunds der Republik Belarus und eine Studentin der Staatlichen Medizinischen Universität Hrodna. An den offiziellen Veranstaltungen nahm nur eine Kirchenvertreterin teil: die Äbtis- sin des orthodoxen Frauenklosters Roždestvo Bogorodicy (Geburt der Gottesmutter), Schwester Havrilla, die sich regelmäßig am politischen und gesellschaftlichen Geschehen in Hrodna beteiligt. In Hrodna war die Atmosphäre selbst bei der offiziellen Zere- monie wegen der engeren räumlichen Verhältnisse weniger staats- tragend und volksnaher als in Vicebsk und Minsk. Ungeachtet dessen, dass an der Veranstaltung am Kurgan Slavy vor allem or- ganisierte Gruppen teilnahmen, waren diese in die gemeinsamen Aktionen einbezogen. Sie befanden sich recht nahe bei der Bühne und den Veteranen. Anders als in Vicebsk, wo die Tribüne, auf der der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees und neben ihm die Veteranen saßen, von den meisten anderen Teilnehmern durch eine abgesperrte, nur über Drehkreuze zugängliche vierspurige Straße getrennt wurde, gab es in Hrodna keine physische Distanz. Auch waren in Hrodna, anders als in Minsk, die Plätze, von denen die Parade am besten betrachtet werden konnte, nicht für Eingeladene reserviert. Die entscheidende Rolle bei der Organisation des Raums kam an allen untersuchten Orten den Denkmälern zu, vor allem den Ehrenmalen und Heldendenkmälern. Sie alle besitzen rein symbo- lischen Charakter. Kein einziges dieser Denkmäler steht am histo- rischen Ort des Geschehens, an das es erinnern soll. Sie wurden in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren errichtet. Zum Zwecke der Sakralisierung dieser Denkmäler wurden neben ihnen seit den 1960er Jahren Ewige Flammen entzündet. Bei den Feiern am 9. Mai fungierten sie als eine Art spezieller Altar. Am deutlichsten war dies in Minsk und Vicebsk (dort war der Raum neben dem Denkmal abgesperrt, Zutritt hatten nur ausgewählte Personen). Rituale wie die Niederlegung von Kränzen oder Blumen und die Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 163 Abb. 6.7. Karte von Hrodna, Kurgan Slavy am 9. Mai 2015. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
164 T. Kasataja, S. Sturejka Art, wie diesen „heiligen Orten“ verbal Ehre erwiesen wird, tragen zur Sakralisierung der Denkmäler bei. In Hrodna verlor der Kurgan Slavy nach dem Zerfall der Sow- jetunion Schritt für Schritt seine Bedeutung als Gedenkort. Im Jahr 2015 wurde er jedoch als Ort für die wichtigsten Veranstaltungen ausgewählt (die Fläche des Hügels ist um ein Vielfaches größer als das Ehrenmal im Jean-Emmanuel-Gilibert-Park, an dem die Feiern zum Tag des Sieges traditionell abgehalten wurden. Zum runden Jahrestag des Sieges wurde die Anlage restauriert, die Ewige Flam- me neu entzündet und eine Fläche für Großveranstaltungen ange- legt. Nur einer der 40 befragten Teilnehmer sprach die Tatsache an, dass es sich um einen rein symbolischen Ort handelt. Der Kurgan Slavy? Wissen Sie, ehrlich gesagt, als Denkmal, als Kriegerdenkmal [...] empfinde ich den nicht. Warum? Weil er für die jungen Leute gemacht ist. Für mich ist es, als hätte ich ihn mit meinen eigenen Händen aufgeschüttet. Aber im Gilibert [...] dort liegen ja die, die hier umgekommen sind. [...] Das ist ein heiliger Ort. Mit dem Kurgan soll ein Zeichen gesetzt wer- den, es soll derer gedacht werden, die es möglich gemacht haben, dass wir leben. Aber das Denkmal im Park, das ist heilig. 24 Dies zeigt, wie die Denkmäler ihre Bedeutung und ihre Sakralität erst durch die Feiern erhalten, die am 9. Mai dort stattfinden. Das Verhalten der Organisierten: Die Eloquenz des Schweigens Das Verhältnis der Besucher der Feierlichkeiten am 9. Mai 2015 zu diesem Feiertag lässt sich an äußeren Merkmalen festmachen: an dem Ausmaß ihrer Beteiligung sowie an der Art und Weise, wie sie ihre Haltung zu dem Tag zeigten. Betrachten wir zunächst das äußere Erscheinungsbild der Men- schen, die zu den Feiern kamen. Während des offiziellen Teils (Niederlegung von Blumen in Minsk und Vicebsk, Zusammen- kunft am Kurgan Slavy in Hrodna) trugen fast alle die „offiziellen“ Symbole des Siegestages im Jahr 2015: ein rot-grünes Bändchen mit Apfelblüte, die sogenannten Blüten des Großen Sieges, die speziell erfunden worden waren, um sich von dem Georgs- bzw. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 165 Abb. 6.8. Die Menschenmenge am Kurgan Slavy in Hrodna, 9. Mai 2015. Foto: Dzmitrij Herasjuk. Abb. 6.9. Die Menschenmenge an der Ewigen Flamme in Vicebsk, 9. Mai 2015. Foto: Anatol’ Dulaŭ. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
166 T. Kasataja, S. Sturejka Gardebändchen zu distanzieren, das 2015 bereits als Symbol der Aggression Russlands in der Ukraine gewertet wurde.25 Viele tru- gen kleine Fähnchen, meist mit der Flagge von Belarus, dem Sym- bol der wichtigsten regimetreuen gesellschaftlichen Organisation Belaja Rus’ oder mit dem Wappen ihrer Stadt. Einige trugen auch große Fahnen gleichen Typs. Auch Logos von Organisationen wa- ren oft zu sehen (Flaggen von Banken und Unternehmen, Jacken und Fahnen mit den Logos von Bildungseinrichtungen). Einige Teilnehmer trugen statt des grün-roten Bändchens das Georgsbändchen. Die Bändchen, die Logos, Abzeichen und Fah- nen und vor allem die „Blüten des Großen Sieges“, die Mitglieder von Organisationen und Teilnehmer von organisierten Gruppen trugen (Schüler, Studenten, Mitarbeiter verschiedener Einrichtun- gen) waren Teil eines vorab verabredeten Dress-Codes.26 Die staatlichen Behörden hatten mit Erfolg für die Apfelblüte geworben. Die meisten Menschen äußerten sich am Tag des Sieges positiv zu diesem neuen Symbol (dass die Boutonnière in China hergestellt worden war, störte sie nicht).27 Eine Mitarbeiterin der städtischen Betriebe aus Hrodna erklärte etwa: „Sehr nobel! [...]. So zeigen sie’s überall im Fernsehen, die ganzen wichtigen Personen haben dieses Bändchen an – und wie gut sie dieses Jahr damit aussehen, nicht einfach ein schwarzer und ein orangefarbener Streifen, so was Finsteres, und diese Blümchen, Frühlingsblumen sind so feierlich.“28 Am Abend des Gedenktages erfuhr das Beobachtungsteam in Minsk auf Anfrage in einem Zeitungskiosk des staatlichen Presse- vertriebs „Belsojuzpečat’“ in der Fußgängerunterführung zum Sie- gesdenkmal, dass dort die gesamte Lieferung von 250 rot-grünen Bändchen verkauft worden war (an vielen dieser Kioske entlang der Route des Festzugs befand sich ein Aushang, dass es keine solchen Bändchen gebe). Eine gewisse Anzahl von Bändchen war für die kostenlose Abgabe an Veteranen (oder ältere Menschen, die dem Bild von einem Veteran entsprachen) reserviert worden. Die Abgabe erfolgte auf Anfrage, eine entsprechende Information war offensichtlich über die Medien verbreitet worden. Dieses Kon- tingent war jedoch nicht vollständig verteilt worden, so dass es eine Stunde vor Schließung ebenfalls in den freien Verkauf gegeben wurde. Tatsächlich war selbst um 18 Uhr noch eine Nachfrage nach den Bändchen zu beobachten. Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 167 Zwar waren die Träger der „Blüten des Sieges“ in der Mehrzahl, doch recht viele Menschen trugen auch das Gardebändchen. Die Gerüchte, dieses Abzeichen sei verboten, sorgten zusammen mit der Tatsache, dass die höchsten Vertreter des Staats das hybride Bändchen trugen, für ein gewisses Durcheinander. Der Mythos, den die russländischen Medien um das Gardeband geschaffen ha- ben, trug dazu bei, dass einige Teilnehmer, die auf eigene Initiative gekommen waren, das schwarz-orange Bändchen trugen. Ein junger Mann aus Vicebsk erklärte: „Das Georgsbändchen ist auch ein Symbol für den Sieg, das offiziell verwendet wird. Wir wissen, dass es heute das Ordensband des Ehrenordens ist und davor des Ordens des Heiligen Georg, und dass es ein Zeichen der Einheit ist.“29 Eine Mitarbeiterin der Kommunalbetriebe von Hrodna antwor- tete auf die Frage, ob ihr das neue rot-grüne Symbol gefalle: „Ehr- lich gesagt, nicht besonders. Dieses Band ist Belarus; das Georgs- band, dass ich da an der Tasche trage, das ist was anderes, das ist für diesen Feiertag, für den 9. Mai.“30 In Minsk führte die komplette Reglementierung der wichtigs- ten Zeremonien zum Tag des Sieges dazu, dass individuelle Akti- onen mit Bezug auf den Krieg oder den Sieg ziemlich selten waren. Nach der morgendlichen Kranzniederlegung war gegen 10 Uhr in der Vorhalle der Metro-Station „Platz des Sieges“ eine junge Frau zu sehen, die Belarussisch sprach31 und Bilder von Verwandten hochhielt, die am Krieg teilgenommen hatten. Am Abend gab es eine Einzelaktion am Siegesdenkmal. Eine ältere Frau hielt ein großes, selbstgemachtes Plakat hoch, zu Ehren der Verteidiger von Odessa während des Kriegs (ein Hinweis auf den Brand im Ge- werkschaftshaus von Odesa im Jahr 2014 war nicht auszuma- chen). In Vicebsk und Hrodna eigneten sich diejenigen, die auf eigene Initiative zu den wichtigsten Veranstaltungsorten gekommen wa- ren, den Feiertag häufiger an. In Hrodna kamen einige Leute (be- obachtet wurden drei Aktionen) mit Bildern von Verwandten, die am Krieg teilgenommen hatten, und deren Orden auf den Kurgan Slavy. Eine Frau erzählte: „Mein Opa väterlicherseits ist direkt vom Roten Platz, am 7. November, als die Parade auf dem Roten Platz war, mit 18 Jahren in den Krieg gezogen. Und wurde 13 Mal verwundet. Er hat den ganzen Krieg durchgemacht. Er hat viele Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
168 T. Kasataja, S. Sturejka Auszeichnungen erhalten. Aber leider ist von ihnen niemand mehr am Leben.“32 In Vicebsk brachte ein junger Mann eine Flagge mit dem And- reaskreuz mit, wie sie die sowjetische Marine verwendete. „Also ich habe die Andreasflagge nicht einfach so mitgebracht, sondern weil mein Großvater Matrose bei der Marine war. Er konnte heu- te leider nicht zu der Parade kommen, aber als ich klein war, da ist er immer mit mir hingegangen, daher habe ich die Andreasflag- ge mitgenommen, als Zeichen meiner Hochachtung für ihn, gene- rell als Symbol für den Ruhm von Russlands Marine.“33 Die Befragten begannen oft von alleine über ihre Verwandten zu sprechen, die im Krieg gewesen waren, gleichsam um ihre Teilnah- me am Tag des Sieges zu rechtfertigen. Früher wurden in Belarus nur sehr selten auf öffentlichen Feiern Bilder von Verwandten aus der Kriegsgeneration gezeigt (in Hrodna war es 2015 das erste Mal). Zu den traditionellen 9.-Mai-Ritualen gehört es, den Veteranen zu gratulieren und Blumen an den Denkmälern niederzulegen. Dabei waren recht ungewöhnliche Dinge zu beobachten. So fuhren in Vicebsk schwarze Jeeps mit Aufschriften vom Typ „Nach Ber- lin“ vor dem Denkmal des Sieges vor, aus denen Leute in Unifor- men stiegen, die jenen der Weltkriegszeit nachempfunden waren (es handelte sich eindeutig nicht um ein professionelles Reenactment, dazu waren die Uniformen zu faschingsmäßig). Ein Mann hatte eine Ziehharmonika dabei. Neben dem Ewigen Feuer gaben sie eine improvisierte Aufführung und ließen sich mit jedem, der woll- te, fotografieren. Ihre Beteiligung an den Feierlichkeiten zeigten einige Teilnehmer mit Details ihrer Kleidung. Viele trugen schiffchenförmige Feld- mützen (pilotka), vor allem Kinder und junge Frauen. Ein junger Mann in Vicebsk trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Für die Hei- mat“ und dem Bild eines sowjetischen Soldaten beim Sturm sowie Weltkriegs-Orden. An seinem Georgsbändchen hatte er einen An- stecker mit einem Stalin-Bild befestigt. Ansonsten waren Porträts historischer Personen jedoch selten. Nur in Hrodna hatte bei einer Oldtimer-Ausstellung einer der Teilnehmer auf der Motorhaube seines Wagens ein Bild seines Vaters sowie ein Stalin-Porträt. Er erklärte dies so: „Ganz einfach: Mein Vater hat gut über ihn [Sta- lin] gesprochen. [...] Mit dem Namen dieses Mannes wurde der Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
Der Tag des Sieges als belarussischer Staatsfeiertag 169 Krieg gewonnen, und er hat in den kurzen Nachkriegsjahren die Sowjetunion auf ein ziemlich hohes Niveau gebracht, und das aus Ruinen.“34 Politische Äußerungen gab es selten. Jene, die sich zur Lage in der Ukraine äußerten, gaben das wieder, was sie in russländischen Medien gehört hatten. „Sollen unsere westlichen Partner und an- dere nur sehen, dass Russland immer stark ist.“35 Individuelle Aktionen, bei denen jemand seine persönliche Hal- tung zur politischen Lage bzw. zur Ukraine geäußert hätte, waren keine zu beobachten. Die inhaltliche Seite – die Geschichte des Feiertags oder die Er- eignisse während des Kriegs – interessierte die Leute an diesem Tag nicht allzu sehr. So fand in Minsk die Parade in unmittelbarer Nähe des Museums des Großen Vaterländischen Kriegs statt, doch die tausenden Menschen sorgten nicht für einen besonderen Auftrieb vor dem Museum. Der Eintritt kostete so viel wie an gewöhnlichen Tagen. Neben den Kassen bildete sich eine Schlange mit Menschen, die gerade von der Parade gekommen waren. Die Wartezeit betrug zehn Minuten. In Vicebsk gab es kein besonderes Interesse an der Sonderausstellung „Auf dem Weg zum Sieg: was die Quellen zei- gen“ des Minaj-Šmyrev-Museums, die in das Hauptprogramm integriert war. Die Teilnehmer gingen sehr häufig zu den Denkmälern, legten Blumen nieder, Kinderzeichnungen (Vicebsk), ein gerahmtes Ge- dicht (Hrodna), Zettel mit Namen (Minsk). Am häufigsten ließen sie sich jedoch vor dem Denkmal, an der Ewigen Flamme oder auch mit Veteranen fotografieren. Es waren diese ungeplanten, seltenen individuellen Aktionen, die am aufrichtigsten wirkten und zeigten, wie die Leute, die auf eigene Initiative gekommen waren, zu dem Feiertag stehen. Die organisierten „Volksfeste“ mit Bühnen, Künstlern, Wettbe- werben, Bier- und Schaschlikzelten sowie Themenständen zogen ebenfalls viele Menschen an. Während der Parade und auch nach ihr war in allen drei Städten überwiegend eine freudige Stimmung zu beobachten, die unter dem Einfluss der mit Flaggen, Luftballons und Plakaten geschaffenen Feiertagsatmosphäre sowie dank des guten Wetters entstand. Im Kern feierten die Menschen einen Tag des Friedens. Selbst die Militärparaden wurden eher als Unterhaltungsshow wahrge- Taccjana Kasataja and Sсjapan Sturejka - 9783657784349 Downloaded from Brill.com03/05/2022 11:20:37AM via free access
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