Der Trampolin-Mann - Forum.lu

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6   forum 408   Politik

                          Der Trampolin-Mann
     Victor Weitzel       Während der ersten drei Monate der Coronakrise,         im Livestream abgehalten, dem die anderen Presse-
                          und zwar vom 11. März bis zum 15. Juni, hielt Pre-      organe ihre Fragen elektronisch zukommen lassen.
                          mierminister Xavier Bettel 13 Pressekonferenzen,        In anderen Worten: Die Szenerie ist a priori denkbar
                          trat sechs Mal vor das Plenum der Abgeordneten-         statisch und auf die vortragende und in die Kamera
                          kammer und sprach ein Mal vor seiner Partei. Es         blickende Person, in dem Fall den Premier, zentriert.
                          ging bei jedem dieser Auftritte darum, die Vorschläge   Da diese Pressekonferenzen direkt und integral über-
                          seiner Regierung zur Eindämmung der Pandemie            tragen werden, wendet sich der Premier indirekt an
                          und dann später den Exit aus diesen Maßnahmen           die Presse, aber direkt ans zuschauende Volk.
                          vorzustellen, um sich anschließend den Fragen der
                          Parlamentarier oder der Presse zu stellen. Von Sei-     Sehr schnell geraten diese Auftritte zum Ritual. Der
                          ten seiner Parteimitglieder gab es keine Fragen. Über   Premier betritt eilenden Schrittes den Raum, ist,
                          den Internetauftritt der Regierung, YouTube, RTL        nachdem er sich vorm Mikrophon platziert hat, bis
                          und Radio 100,7 wurden die Auftritte vor der Presse     zum 15. April in der Regel atemlos, öffnet groß die
                          breit angekündigt und dann integral im Internet,        Augen, die etwas mitteilen vom Ernst der Lage, dem
                          im Fernsehen und im Radio übertragen. Die Auf-          in der Luft liegenden Schrecken, der Sorge um die
                          tritte vor der Abgeordnetenkammer wurden eben-          Menschen, der Anstrengung, für sie da zu sein in
                          falls integral direkt von ChamberTV übertragen.         den Zeiten des Notstands, und in seine ersten Sätze,
                          Die hohe Anzahl dieser Verlautbarungen in einer         die sich nur langsam bilden, mischt sich noch das
                          Zeit des extremen und nie dagewesenen Drucks auf        Ringen nach Luft und Worten. Bis er schließlich in
                          den Premier, die Regierung, den Staatsapparat und       Gang kommt.
                          die ganze Gesellschaft, stellt einen breiten Korpus
                          dar, der sich in Wortlaut, Intonation und Gestik für    Der Aufbau seines Vortrags folgt dann einem einfa-
                          eine spezifische Analyse des politischen Habitus und    chen redundanten Schema. Zuerst kommt die Fest-
                          Weltbildes des Regierungschefs eignet, die daraus       stellung, dass die Lage ernst sei, die Gefahr groß und
                          genauer hervorscheinen.                                 die Eindämmung des Virus nicht ohne das Zusam-
                                                                                  menspiel der Maßnahmen und Verordnungen und
                          Das Ritual                                              Empfehlungen der Regierung einerseits, deren
                                                                                  Absegnung durch ein informiertes Abgeordneten-
                          Die Pressekonferenzen finden zu Beginn der Krise        haus und deren Befolgung durch die Bevölkerung
                          noch de visu vor den Journalisten statt. Ab dem 18.     andererseits erfolgen könne. Noch sei der Kampf
                          März und bis zum 4. Mai aber werden sie aus sanitä-     nicht gewonnen, man könne die Disziplin nicht auf-
                          ren Sicherheitsgründen nur noch vor einem Vertreter     lockern, es sei denn, man wolle alles vorher Erreichte
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   Pressebriefing von Premierminister Xavier Bettel zum Abschluss der Sitzung des Regierungsrates (18.03.2020)

   vernichten. Dann geht der Premier dazu über, die                      eines Auftritts, ist eines der bemerkenswertesten
   von der Regierung beschlossenen Maßnahmen vor-                        Momente der Verlautbarungen des Premiers. Ebenso
   zustellen. Kaum hat er einen Punkt erwähnt, macht                     die Detaillastigkeit, wie man sich in der Schlange
   er einen Exkurs, bedankt sich bei Pflegern, Beam-                     „im Cactus, Entschuldigung, in einem Supermarkt“
   ten, Freiwilligen und anderen Berufsgruppen oder                      – diese Zurücknahme der Gratiswerbung wird mit
   Spitälern, die er gerade besucht hat, kommt auf                       dem ihm eigenen Grinsen quittiert – verhält, wie
   die Verhaltensempfehlungen in Sachen Abstands-                        man das 4G-Netz durch den Rückgriff auf WLAN
   regeln, Mundschutz, Händewaschen, Treffen unter                       entlasten kann, und später, als Ende Mai neue Öff-
   Menschen, Ausgang usw. zu sprechen. Geht es um                        nungen angekündigt werden, wie man sich im Res-
   diese alltäglichen Verhaltensregeln, beschleunigt sich                taurant, im Café und sogar bei der Messe benehmen
   sein Wortfluss, überschlägt sich die Stimme, und er                   soll.
   wippt dann, als wolle er die Wichtigkeit von deren
   Befolgung gestisch unterstreichen, mit dem Ober-                      Deutungsansätze
   körper, hält die Hände parallel und sticht mit ihrer
   Kante in die Luft oder ballt sie zur Faust – und beide                Durchkämmt man alle seine Auftritte vor Parlament
   Fäuste schlagen immer wieder gegen die Brust, den                     und Presse, so merkt man, dass dem Premier die
   Zuschauern andeutend, dass all diese Empfehlungen                     Ankündigungen von Einschränkungen schwerfal-
   auch von Herzen kommen, für sie, deren Schützer er                    len. Die Sprache schreibt vor, ja verschreibt den Weg
   von Anfang an sein will. Denn schon am 11. März                       zur Nichtansteckung. Der Körper aber entschuldigt
   ist das eigene Selbstverständnis geklärt: „Ech wäert                  sich für die Zwänge, die dem Gegenüber zugemu-           „Ech wäert et als
   et als Regierungschef net akzeptéieren, datt een                      tet werden. Der Politiker, zudem ein Liberaler, was      Regierungschef net
   d’Bevölkerung net schützt wéinst de Suen.“                            er immer wieder unterstreicht, der seine Populari-
                                                                                                                                  akzeptéieren, datt
                                                                         tät seiner auch physischen, fast fusionellen Nähe zu
   Diese Eindringlichkeit, Aufregung und steigende                       gewissen Teilen der Bevölkerung verdankt, der vor        een d’Bevölkerung
   Lautstärke der mantrahaften Wiederholung der                          der Krise kein Fest scheute und seine leutselige Vita-   net schützt wéinst
   Verhaltensregeln bei quasi jedem Auftritt vor Par-                    lität in tausenden Selfies mit Fans verewigt hat, ist    de Suen.“
   lament oder Presse, und dies mehrmals während                         in eine Rolle geraten, die ihm ferner kaum liegen
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                                                                                                       Hochpolitisch Unpolitisches
© SIP / Anthony Dehez

                                                                                                       Eine Balance in der Ausübung seiner institutionellen
                                                                                                       Rolle als Premier hat Bettel in den ersten drei Mona-
                                                                                                       ten der Krise nie gefunden, wie sein stark emotiona-
                                                                                                       lisiertes, polymorphes und politisch archaisches, weil
                                                                                                       Grenzen zwischen Rollen verwischendes Auftreten
                                                                                                       zeigt. Das wird vom gefühlten Zusammenrücken
                                                                                                       aller gegenüber der Gefahr noch bestärkt. Am 17.
                                                                                                       März, als er vor der Chamber seinen Aufruf zum
                                                                                                       Zuhausebleiben vorträgt, bedankt er sich bei den
                                                                                                       Abgeordneten für „die konstruktiven, die unpoli-
                                                                                                       tischen, die Suggestionen, die gekommen sind, für
                                                                                                       den Ton, der gefunden worden ist, das beweist, dass
                                                                                                       wir die Stärke haben, in Luxemburg zusammenzu-
                                                                                                       halten.“ Am 21. März, bei der Abstimmung über das
                                                                                                       Notstandgesetz, erklärt er, dass es in der gegenwärti-
                                                                                                       gen Lage keinen Platz für Parteipolitik gebe, sondern
Xavier Bettel auf dem Pressebriefing zur aktuellen COVID-19-Situation (20.03.2020)
                                                                                                       dass ein verantwortliches Zusammenhalten angesagt
                                                                                                       sei. „Es gibt keine Mehrheit, es gibt keine Oppo-
                                                                                                       sition, es gibt eine Union nationale.“ Unbewusst
                                                                                                       ganz in der Linie, die ihm seine Berater, wenn er sie
                                                                                                       um ihren Rat gebeten hätte, hätten ausreden müs-
                                              kann, aus der er aber nicht herauskommt: Er muss         sen, des legendären Spruchs von Kaiser Wilhelm II.
                                              normativ tief ins Leben der Menschen eingreifen          bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August
                                              in einer Sache, wo es um Leben und Tod von sehr          1914: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne
                                              vielen geht. Transparenz aber ist weder seine Stärke,    nur Deutsche!“
                                              noch die seiner Regierung. Von der Vorsitzenden
                                              des Presserates, Ines Kurschat, muss er sich in einem    Am 17. April, als das Parlament über die Strategie
                                              Beitrag zur Juninummer dieser Zeitschrift den Vor-       der Lockerungsmaßnahmen debattiert, will Bettel
                                              wurf gefallen lassen, er und seine Leute hätten „ein     immer noch die Politik außen vor lassen und von
                                              zutiefst paternalistisches Politikverständnis, das die   allen getragen werden. Es lohnt sich, hier den Ori-
                                              Mündigkeit der BürgerInnen untergräbt“.                  ginaltext zu zitieren, weil er, wie schon oben, auch
                                                                                                       hier illustriert, dass dann, wenn er sich auf glattes Eis
                                              Nachdem die Maßnahmen und Empfehlungen der               begibt, dem Premier, wenn schon nicht der Sinn sei-
                                              Regierung gegriffen haben, und die Zahl der Toten        ner Aussage, dann doch deren Grammatik, gerne aus
                                              und der Infizierungen sich in Grenzen gehalten hat,      dem Ruder gerät. „Anticipéiere kënne mer nëmme,
                                              wird Bettel Mitte April wieder selbstsicherer. Den-      wa mer zesummenhalen. Mir hunn et fäerdeg
                                              noch, als er am 17. April vor der Chamber die ers-       bruecht bis haut, datt hei an der Chamber een dës
                                              ten Lockerungsmaßnahmen ankündigt, tut er das            Kris net als Opportunité politique gesinn huet, mee
                                              in einem Ton, als ob er sich für alles entschuldigen     als Chance, all zesummen ze beweisen, datt wann et
                                              müsste, was war und sein wird, und mahnt wieder in       ëm d’Sécherheet vun eise Bierger geet, ëm d’Zukunft
                                              beschleunigtem Redefluss zu jeder denkbaren Vor-         vun onsem Land geet, wann et drëm geet, Muer ze
                                              sicht, damit die vorgeschlagenen Maßnahmen auch          schreiwen, net op politescher Art a Weis, mais op
                                              nicht fehlschlagen. Sein ganzes Auftreten an diesem      mënschlecher Art a Weis, wéi mer kënnen zesumme
                                              Tag ist ein einziges Drama ohne Höhen und Tiefen,        schaffen hei zu Lëtzebuerg, an dat ass eng Chance,
                                              ein gestisch verstärktes eindringliches Reden, das       déi mer hunn, an eis Stäerkt.“
                                              sich zeitweise nicht an die Abgeordneten, sondern
                                              wieder direkt an die Bürger richtet, auch hier mit       Als Bettel dann im Mai merkt, dass nicht mehr alles
                                              langen Erklärungen, wie der Mundschutz zu tragen         so unpolitisch abläuft und die Opposition nicht
        „Es gibt keine                        ist, wie schwer dies sei, als säße die ganze Bevölke-    mehr alles so hinnimmt, wie es serviert wird, erklärt
                                              rung an des Hirten Tisch. Schon am 23. März hatte        er in seiner Pressekonferenz vom 20. Mai, wo er
    Mehrheit, es gibt
                                              Christoph Bumb in einer Analyse bei reporter.lu          mit Bart und einem kragenlosen Hemd ohne Kra-
   keine Opposition,                          geschrieben: „Luxemburgs Premier tritt in diesen         watte ziemlich geschafft auftritt: „Es ist wichtig, den
   es gibt eine Union                         Tagen (...) wie ein Regierungschef, Pressesprecher,      Zusammenhalt, den wir hatten, wenn auch nicht
           nationale.“                        Oberlehrer, Chefarzt und Seelsorger in einer Person      mehr diesen Konsens, aufrecht zu erhalten. Es ist
                                              auf.“ Er hat bis jetzt Recht behalten.                   hier nicht so, dass die Regierung sagt, hier ist ein
Politik    Juli/August 2020   9

Text, und wir haben 31 Stimmen, und es ist egal,         verfassungstechnisch heiklen Sache doch recht des-
was die Opposition sagt. Das ist nicht unsere Hal-       interessierte Öffentlichkeit, dass das Staatsministe-      Xavier Bettel ist
tung. Ich werde darauf achten, dass wir einen Text       rium für die katholische Kirche, die gerade virtu-         die ganze Krise
haben qui aura le plus grand support possible (auf       ell die Oktave „feiert“, in Sachen Lockerungs- und         lang derselbe
Frz. wie im Original) in der Chamber.“ Das wird          Sicherheitsmaßnahmen nicht erreichbar sei, um              geblieben, und
ihm einen Monat später nicht gelingen.                   über ihre vor allem an den deutschen Bistümern sich
                                                                                                                    seine Agenda auch.
                                                         anlehnenden Vorschläge zu diskutieren. Man warte
Demütigung des katholischen Gegners                      eben auch auf die Vorschläge der anderen Gemein-
                                                         schaften, heißt es, die, kleiner und organisatorisch
Xavier Bettel ist nämlich die ganze Krise lang der-      ziemlich überfordert, nicht so schnell liefern könn-
selbe geblieben, und seine Agenda auch. In vielen        ten. Aber dieses Antichambrieren-lassen hat auch
Fragen ist er trotz Flehen, Gefühlsduselei, Tremolos     etwas Demütigendes, das Bettel, nicht nur im Über-
und dem Beschwören des Unpolitischen noch härter         rumpeln der Katholiken schon sehr geübt, voll aus-
in der Sache geworden und ebenso noch härter mit         nutzt, um dem früheren historischen Erzfeind seines
seinen bockigen, aber meist peilungslosen Gegnern        politischen Lagers, der längst am Boden liegt, noch
umgegangen, als dies vor der Krise der Fall war.         einmal seinen Status der offenbar gewordenen gesell-
                                                         schaftlichen Irrelevanz spüren zu lassen. Die Klage
Die Plenarsitzung der Kammer am 7. Mai dürfte            des Kardinals, die Kirche sei der Regierung „egal“,
der Moment sein, an dem der politische Waffen-           und seine Brandpredigt zum Abschluss der Oktave
stillstand ausläuft. In dieser Sitzung werden die ers-   verhallen, einige Medien ausgenommen, in einem
ten Auflockerungen in den Bereichen Gesellschaft,        Meer von Gleichgültigkeit.
Sport und Kultur angekündigt. In der darauffol-
genden Diskussion reagiert Bettel zuerst gereizt auf     Am 20. Mai sind die Kultusgemeinschaften dann
die Vorwürfe der Opposition, es gäbe nicht genug         wieder der „letzte Punkt“, den Bettel bei einer Pres-
Dialog über das Pandemiegesetz, das nach dem Aus-        sekonferenz behandelt. Er wehrt sich gegen den Vor-
laufen des Notstands in Kraft treten soll. Er versucht   wurf, der Regierung seien die Cultes egal. „Wenn sie
auszuweichen und spricht mit viel Pathos von dem         (die Cultes, d. Verf.) ihr egal gewesen wären, dann
Engagement und der Empathie der Belegschaft des          hätte sie (die Regierung, d. Verf.) nichts gesagt, und
gemeindeeigenen Escher Klinikums CHEM, die er            macht alles ruhig weiter“, erklärt er fahrig, ein wenig
gerade erst gesehen hat. Als die Fraktionschefin der     kindisch, als ob eine Regierung überhaupt solch
CSV, Martine Hansen, u. a. von ihm erfahren will,        rechtsfreie Räume nach eigenem Gutdünken dulden
wann die Kirchen aufgehen, weil davon in seinem          könnte. Inzwischen sind alle Vorschläge der Kultus-
Vortrag nicht die Rede gewesen sei, ruft er von sei-     gemeinschaften in Sachen Lockerungsmaßnahmen
nem Platz: „Wie konnte ich das nur vergessen?!“ Der      eingetroffen, informiert er, und räumt ein, die Regie-
schnippische Unterton ist nicht zu verkennen. Er         rung wisse, „wéi schwéier et ass, wann een am Fong
antwortet dann, dass er sich schon „mit einer Kul-       d’liberté religieuse an d’liberté d’exercer sa religion
tusgemeinschaft“ getroffen habe und auf die Vor-         limitéiert.“ Diese Aussage wird aber sofort vom Pre-
schläge der anderen warte. Zum Schluss lässt er es       mier relativiert: „Awer ech wëll drun erënneren, datt
sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass es eine      mer d’liberté de manifestation och limitéiert hunn.
Kultusgemeinschaft in Mulhouse gewesen sei, die          Am Fong ee vun deene Rechter, di et am schwéiers-
zu einem Infektionsbeschleuniger für ganz Frank-         ten ass ze akzeptéieren, am Fong limitéieren, näm-
reich geworden sei. Marc Spautz von der CSV ruft         lech deen ween een dierf gesinn.“ Und schon hat
sarkastisch dazwischen, dass er nicht gewusst habe,      er sich mit dieser empathisch klingenden Tartüfferie
dass Ischgl eine Religionsgemeinschaft sei. Bettel       aufs Glatteis begeben, und wieder entgleitet ihm die
ruft postwendend dem Ex-Minister zurück, er habe         Grammatik, und er erfindet – er ist immerhin der
mehr Respekt für die Kultusgemeinschaften als die-       Regierungschef und müsste sich hier umsichtig und
ser. „Sie haben Sie abgeschafft!“, hallt es polemisch    juristisch verbindlich ausdrücken – flugs ein neues
zurück. Und dann fällt Bettels Definition der Kul-       Menschenrecht, nämlich die Menschen zu sehen,
tusgemeinschaften: „Dat sinn Etablissementer, déi        die man sehen will.
Public empfänken!“. Atmosphère, atmosphère !
                                                         Erst anlässlich der Pressekonferenz vom 25. Mai
Das ist, was an nicht nur monatelang unterdrück-         steigt der „weiße Rauch“ auf, den Bettel am 20. Mai,
tem Groll bei einer aus den Entscheidungen aus-          ironisch und klar auf die Katholiken bezogen, in
geschlossenen, zudem kraft- und konzeptlosen,            Aussicht gestellt hatte. Er gibt nun die kultusbezo-
schlecht aufgestellten und daher in belanglose Schar-    genen Lockerungen bekannt, aber wickelt sie so ein,
mützel verwickelten CSV-Opposition bis an die            dass das Ganze „unter ferner liefen“ erwähnt wird,
Oberfläche gestiegen ist. Bald erfährt die an dieser     wenn auch unter der an sich durchaus vernünftigen
10 forum 408   Politik

                         Regel, dass Ereignisse in Binnenräumen mit mehr          steuerlicher Rückführungen im Raum, optimal im
Klein(lich), gierig,     als 20 Teilnehmern nur dann stattfinden werden,          Rahmen einer grenzübergreifenden regionalen Ent-
    unersättlich, so     wenn dies mit zwei Metern Abstand gewährleistet          wicklungspolitik. Neue Akteure wie der Präsident
gestaltet sich unter     werden könnte. Und dann spricht er einen Satz aus,       des Département Meurthe-et-Moselle, seit dem
      Bettels Regie      der das Konzentrat seines Weltbildes ist: „Dat kënne     28. Juni frisch gewählter Bürgermeister von Nancy,
                         Manifestatioune sinn am Kader vun der Kultur, dat        Mathieu Klein, der Ende Mai im Le Quotidien
     das Image des
                         kënne Kongresser sinn, dat kënnen och d’Culte sinn,      von der Notwendigkeit einer „relation adulte“ mit
   Landes in einer       de Sport sinn, dat kann de Kino sinn.“                   Luxemburg im Rahmen eines „territoire commun“
   Großregion, auf                                                                sprach, versuchen die Problematik auf ein angemes-
 die es angewiesen       Alles ist gleich gültig                                  senes Niveau zu hissen und ihr eine wahre Dauerhaf-
                 ist.                                                             tigkeit zu verleihen.
                         „Tout se vaut“ in Bettels ultraliberalem Bild einer
                         Gesellschaft, in der zivilstandneutrale und eigen-       Aber als am 20. März schon die Wochenzeitung woxx
                         schaftslose Individuen sich, wenn sie nur wieder         wissen will, ob die Luxemburger Regierung Frank-
                         dürfen, auf Handlungen einlassen sollen, die dem         reich oder Deutschland angeboten hätte, ihnen in
                         Staat in ihrer Wertigkeit vollkommen gleich gültig       Sachen grenzübergreifender Fiskalität entgegenzu-
                         sind, und Verbindungen eingehen sollen, die nur          kommen, um zu garantieren, dass das medizinische
                         noch in der Aussicht auf ihre Lösbarkeit konzipiert      Personal weiter nach Luxemburg kommen könne,
                         sind. Bettels ideale Welt vor und nach Corona ist        war die Antwort Bettels unmissverständlich negativ,
                         eine, in der auf sich gestellte Individuen, also nicht   wenn auch nicht ganz klar in der Ausführung: „Es ist
                         Bürger, in der Scheinfreiheit des Unverbindlichen        jetzt nicht der Moment zu sagen, dass wenn wir euch
                         auf den schwachen Wellen immer neu sich bietender        mit einer gewissen Flexibilität entgegenkommen,
                         Gelegenheiten putzmunter und lächelnd durch ihre         wir erwarten, dass alles in puncto Fiskalität über den
                         Lebenszeit surfen. Diese Welt unterliegt nur einer       Haufen geschmissen werden sollte. Wir sind noch
                         Art von Verbindlichkeiten: den gesetzlich abgesi-        immer bereit, mit ihnen verschiedene Projekte in
                         cherten wirtschaftlichen, deren Zwänge soweit wie        der Großregion durchzuziehen. Das wissen sie auch,
                         möglich kein explizites Thema sein sollen.               und das ist, was wichtig ist, dass wir das weiter als
                                                                                  Linie haben, und das haben wir mit den verant-
                         Die vom Premier immer wieder hochgepriesene              wortlichen Politikern, unseren Gesprächspartnern,
                         Solidarität war aus dieser zeitlichen Perspektive her    festgehalten.“ Es bleibt also bei den Almosen, die
                         gesehen ein Zwischenspiel. Eine Überlegung, von          2018 beim Staatsbesuch in Frankreich festgehalten
                         wo sie historisch kommt, wie sich dieses zivile Kapi-    wurden, wenn es 2020 darum geht, die Loyalität der
                         tal in Einrichtungen und Verbänden über einen            Grenzgänger und das Verständnis der Nachbarlän-
                         sehr langen Zeitraum aufbauen konnte, wurde nie          der in bare gemeinsame Regionalentwicklung umzu-
                         angestellt, und wenn, dann so, als ob sie der Luxem-     setzen. Klein(lich), gierig, unersättlich, so gestaltet
                         burger Gesellschaft und ihren kleinen Verhältnissen      sich unter Bettels Regie das Image des Landes in
                         quasi wesenhaft sei. Bettels ultraliberales Weltbild     einer Großregion, auf die es angewiesen ist.
                         erklärt zum Teil auch die viszerale Ablehnung einer
                         Corona-Warn-App durch den Premier, der, Stand            Am 20. Juni lässt Xavier Bettel bei RTL auch die
                         Anfang Juli bestenfalls bereit ist, einem möglichen      Katze aus dem Sack in Sachen Steuerreform, die
                         europäischen Druck nachzugeben, wenn das Fehlen          die jetzige Regierung unter dem Motto der Steue-
                         einer solchen App die Bewohner Luxemburgs am             rerleichterungen, der Individualisierung und des
                         Reisen jenseits der Grenzen behindern würde oder         Kampfes gegen Steuermissbrauch („Abus“ im Text)
                         das analoge Tracing materiell nicht mehr zu leisten      durchziehen will. Trotz der Krise sei diese Reform
                         wäre, weil die Neuinfizierungen zu rasch gestiegen       „nicht abgesagt“. Aber sie werde ein wenig anders
                         wären.                                                   verlaufen als vorgesehen. „Bei Erleichterungen wird’s
                                                                                  schwer werden“, meint der Premier, denn „nach
                         Nichts Neues unter Xaviers Sonne                         der Staatsanleihe geht diese Rechnung nicht auf“.
                                                                                  Sie würden „geringer ausfallen als ohne die Krise“.
                         Hart ist Bettel auch geblieben in Sachen Steuerpoli-     Es werde keine Steuererhöhungen geben, aber die
                         tik. Die Nichtbesteuerung der für einen Luxembur-        Individualisierung treibe man voran. Was im Klar-
                         ger Arbeitgeber geleisteten Telearbeit durch Grenz-      text heißt, dass die Alleinerziehenden und -lebenden
                         gänger vom Territorium ihres Wohnsitzlandes aus,         kaum was merken werden, wo doch ihre Situation
                         und dies inzwischen bis Ende August 2020, ist eine       zu verbessern der erste Vorwand und ein Zweck der
                         bedeutsame Konzession von Luxemburgs Nachbarn,           Übung sein sollte. Die Verheirateten aber und die
                         die darin unter den Umständen der Pandemie eine          eingetragenen Partnerschaften, also die Leute, die
                         Win-Win-Lösung sehen. Dennoch steht die Frage            einen höheren Grad an gegenseitigen rechtlichen
© SIP/ Jean-Christophe Verhaegen
Pressebriefing von Paulette Lenert und Xavier Bettel zur aktuellen COVID-19-Situation (20.05.20)

Verbindlichkeiten für sich und ihre Ab- und Nach-                       voluntaristischer, vor allem aber metaphorisch
kommenschaft eingegangen sind, und hier beson-                          durchaus elaborierter, grammatikalisch sauber auf-
ders die, deren Kinder schon aus dem Haus sind,                         gebauter Spruch beim Digitalkongress seiner Partei
müssen mit massiven Steuererhöhungen rechnen.                           am 15. Juni, den Radio 100,7 am nächsten Mor-
Irgendeiner muss ja die Rechnung bezahlen, solange                      gen übertrug: „Ech wëll net de Premierminister si
es nicht der Finanzplatz ist, der schon das Monopol                     vun engem Land, wou mer de Leit eng Matt ginn
der Staatsanleihe bekommen hat und sich auch auf                        a hinne soen: hei leet iech drop a pennt. Ech wëll
dem Privatwohnungsmarkt des Landes wegen der                            de Premierminister si vun engem Land, wou mer
konkurrenzlosen Steuervorteile auf Kosten der woh-                      de Leit soen: hei ass en Trampolin, an elo spréngs
nungssuchenden Bürger mehr denn je bedient, oder                        de nees, an elo spréngs de méi héich!“ In die redun-
die durch die Krise zweifellos schwer angeschlagenen                    dante Welt vom Trampolin-Mann passen am besten
anderen Betriebe, die niemand schwächen will.                           jene, die nach seiner Pfeife springen und dabei gut
                                                                        gelaunt sind.
Nur wird es so nicht gesagt. Es sollen, so der Premier
väterlich wohlmeinend, die Partner, wenn einer weg-
fällt, „nicht bestraft“ werden. Das sei „moderner“.
Ganz im Sinne seines Bildes einer Welt der Unver-
bindlichkeiten oder der auf ihre Auflösung ausge-
richteten Verbindlichkeiten, in der alles gleich gültig
ist, ein wenig so wie die Dramatik ohne Höhen und
Tiefen in seinem langen, inflationären Redefluss, der
jedes Wort abwertet, das in seinen Sog gerät, nur
nicht die zu erbringende Leistung.

Wie fordernd bis autoritär aber sein ureigenes Welt-
bild sein kann, zeigt Bettels sehr ichbezogener,
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