Der Zauber des Anfangs - Feder & Schwert
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Der Zauber des Anfangs Der Anfang der Spielebranche war ein magischer, wie der erste Tag eines neuen Jahres oder die Geburt eines Kindes. Vor unseren staunenden Augen fand ein leuchtendes, vielversprechendes Ereignis statt, und wir freuten uns über jede kleine Neuigkeit. Es war, als hätten wir ein neues Spiel bekommen, das so cool war, dass wir unbedingt losspielen wollten, noch bevor wir die Regeln kannten. Ich wurde voll und ganz von diesem Zeitgeist eingenommen. Ich war gerade nach Kalifornien gezogen, und meine Tochter war gerade auf die Welt gekommen. Da war ich also, ein junger Vater an einem neuen Ort, der versuchte, seinen Platz zu finden. Alle Möglichkeiten standen mir offen. Jede Handlung hatte langfristige Konsequenzen, und keine davon konnte ich kennen. Unglaublich, aber wahr: Tatsächlich war es Magie, die mir half, mein zweites Kind Chaosium aufzubauen. Ich hatte nicht den Plan, eine Firma zu gründen und damit eine ganze Branche mitzuformen. Ich entwarf mein erstes Spiel aus keinem anderen Grund als Leidenschaft. Der Zauber, der meinem Anfang innewohnte, war eine Tarotkarten-Lesung, die mir befahl, in einer Branche, die noch nicht exis tierte, eine Firma zu gründen. Ich stürzte mich, ohne zu wissen, was hierfür nötig war, kopfüber hinein. Ich veröffentlichte mein Spiel und begann, es zu vertreiben. Einzelheiten zu dieser mutigen, naiven Tat hat Shannon im Kapitel zur Geschichte von Chaosium festgehalten, zusammen mit einigen wundervollen Fakten über das Entstehen unserer Branche.
2 Designers & Dragons Shannon Appelcline Doch präzise Daten und Fakten sind nicht in der Lage, die Begeisterung dieser frühen Tage wiederzugeben. Auf meiner ersten Convention, die von Avalon Hill gesponsert wurde, stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige mit dieser Leidenschaft war. Mir wurde schwummerig, als ich andere Spielefirmen kennenlernte. Ich wusste, AH würde da sein, ebenso TSR und auch Archive Miniatures, geleitet von meinem Freund Nevile Stocken, der für seine erste Reihe von Star-Wars-Figuren mit beiden Händen Geld scheffelte. Besonders amüsierte mich eine Firma, die von einem Typen namens Bizarre geleitet wurde und ein Spiel von einem Typen namens Symbolist herausbrachte (in Wahrheit natürlich Bizar und Simbolist von der Firma FGU, die gerade das gewaltige Chivalry & Sorcery veröffentlicht hatten). Als er meine Frau traf, fragte Scott Bizar sie in einem Anfall überschwänglicher Galanterie, ob sie eine Schwester habe. Später wurde er mein Schwager. Von einer abgehobenen Firma und einer finsteren Gestalt abgesehen, war alles eitel Sonnenschein. Ich lernte so viele Leute kennen, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann, einschließlich zweier Engländer, die auf dem Boden meines Hotelzimmers schliefen und später die erste Rollenspielfirma Englands grün- deten: Games Workshop. TSR stand über alldem, aber das war wohl eine Sache ihrer Firmenkultur, denn Tim Kask, Herausgeber der Zeitschrift The Dragon, die beiden Engländer und ich verbrachten einen ausgelassenen Nachmittag im Schatten einer Eiche, wo wir lachten, husteten und Hoffnungen, Witze und Geschichten teilten. Diese Freundschaften sollten auf Jahre Bestand haben. Eine Gestalt war uns, die wir jetzt die Großväter der Spielebranche sind, noch eine Generation voraus. Lou Zocchi war da, so wie er es bei jeder wichti- gen Spieleconvention danach auch sein würde. Einige von Lous Spielen waren veröffentlicht worden, und er war für seine berühmten Würfel bekannt. Bei ihm kauften wir alle unsere Würfel, und eine Zeit lang war ich der Meinung, dass mehr- seitige Würfel als »Zocchis« in die Geschichte eingehen würden. Doch weder seine Spiele noch seine Würfel sind der Grund, warum Lou der Urgroßvater der Spiele ist. Ebenso wenig ist es die Tatsache, dass er seine Spiele jahrelang aus dem Kofferraum seines Autos verkaufte, wie ein Klinkenputzer mit einem Koffer voll Spaß. Nein, es liegt auch nicht daran, dass er uns 38 Jahre lang mit seiner singen- den Säge, seinen Zaubertricks oder seinem treuen Gefährten Woody unterhalten hat. Und auch seine rechtschaffene Entschlossenheit, unsere Branche von der oben erwähnten finsteren Gestalt zu befreien, ist nicht der Grund. Der Grund ist, dass Lous Herz schon immer am rechten Fleck war. Mit seiner Großzügigkeit und seiner Bereitschaft, jedes Wissen zu teilen, das wir brauchen würden, um unser irres Geschäft anzufangen, war er unser aller Vorbild. Seine wohlwollende Einstellung färbte damals auf uns alle ab, und so waren auch wir bereit zu teilen, was man brauchte, um in der Branche Fuß zu fassen.
Der Zauber des Anfangs 3 Andere frühe Conventions brachten weitere Koryphäen der Frühzeit der Rollenspiele ans Licht. Rick Loomis war ein fast ebenso etablierter Name wie Lou, aber eher im Briefspiel, bis er sein erstes Rollenspiel herausbrachte: Tunnels and Trolls von Ken St. Andre. Frank Chadwick und Marc Miller waren fast schüch- tern, als sie Traveller vorstellten, ihr erstes Science-Fiction-Weltraum-Rollenspiel. Besonders gut erinnere ich mich an Pete Fenlon von I.C.E. Er veröffentlichte sein erstes Rollenspiel, Rolemaster, und erklärte mir voller Stolz, dass es über Tabellen für jede denkbare Kampfsituation verfügte. »Kleine Krallen gegen komplette Plattenrüstung? Haben wir.« »Cool. Unser neues Rollenspiel hat gar keine Tabellen«, ließ ich ihn wissen. Das war natürlich RuneQuest. Zu jener Zeit schenkten Entwickler jedem zweiten Verlag ein Exemplar ihres neuesten Produkts. Wir waren klein genug, dass man das machen konnte, und man tat es mit einer Geisteshaltung der Großzügigkeit, selbst wenn das Spiel über das Ziel hinausschoss und kaum Erfolgsaussichten hatte. Natürlich war nicht alles perfekt, war nicht alles bloß Spaß. Der Bösewicht, den ich oben erwähnte? Das war Dave Casciano. Auf meiner ersten Origins- Convention traf ich ihn unter einer Naziflagge sitzend an, wo er gerade eine Feuerwaffe reinigte. Ich weiß noch, wie ich dachte: »Puh, wo bin ich da bloß reingeraten?« Casciano pflegte Spiele zu bewerben und dafür Geld einzustreichen, das Produkt aber niemals zu veröffentlichen. Er wurde noch vor Öffnung der Convention hinausgeworfen. Er kam jedoch immer wieder zurück, sozusagen der Herpes der Spielebranche. Einmal mehr war es unser Held, Lou Zocchi, der uns seiner entledigte. Der Schweinehund verklagte Lou – und mich auch –, doch Lou scheute keine Kosten und Mühen auf seinem Kreuzzug für Ethik in der Spielebranche. Er gab Tausende von Dollars für Flugtickets aus, damit Zeugen vor dem Bundesgericht aussagen konnten, bis die Justiz einsah, dass Casciano ein Pirat, ein Dieb und ein schwarzes Schaf war. Danke, Lou! Nach dem Rausch der 70er veränderte sich unsere Branche. In der ersten Welle war jeder zugleich Entwickler und Herausgeber, so wie Chaosium. Danach engagierten wir »richtige« Geschäftsleute, wie Buchhalter und Vertriebler, und gründeten einen Unternehmensverband. Langsam verschob sich das Gewicht von »Spiele« zu »Branche«. Unsere zunächst kleine Gruppe begeisterter Verleger wuchs. Obwohl ich für diese Frühzeit nostalgische Gefühle hege, werde ich mich über die geschäftliche Seite nicht beklagen. Derartige Veränderungen sind nur natürlich und notwendig, damit eine Branche gedeihen kann. So konnte sie zu einem solchen Ausmaß Teil amerikanischer Kultur werden, dass sie sogar in Akte X oder Futurama ihren Platz fand. Von dem aufregenden Keimling der Anfangstage sind
4 Designers & Dragons Shannon Appelcline wir zu einem Wald der Kreativität herangewachsen. Vom blauäugigen Kleinkind sind wir zu einem reifen Unterhaltungsmedium geworden, das die Auswirkungen von Sammelkarten- und Computerspielen überstanden hat. Wir haben dieses neue Spiel namens »Spielebranche« schon gespielt, bevor es überhaupt Regeln hatte, und es machte riesigen Spaß. Und zusätzlich zu dieser glorreichen Vergangenheit haben wir auch noch eine strahlende Zukunft, auf die wir uns freuen können. Das macht mich froh. Greg Stafford 25. November 2013
Vorwort: 70er Jahre Dies ist ein Buch über die Rollenspielbranche in ihren urtümlichsten Tagen. Hier geht es um Hobbyspiele in den 70ern. Genauer gesagt, geht es um dreizehn verschiedene Firmen, die in den 70er-Jahren anfingen, Rollenspiele herauszu- bringen – von TSR selbst, über die Wargaming-Firmen und die Hersteller von Miniaturen bis hin zu den Firmen, die speziell ins Leben gerufen wurden, um Rollenspiele zu produzieren. Die Rollenspielbranche ist eine außerordentlich kreative Branche, die auf den Schultern von Träumern ruht, welche in der Lage sind, sich andere Welten vorzustellen. Sie ist auch eine kleine Branche, was sie sehr anfällig für allerlei Katastrophen macht. Das ist es, was im Herzen dieses Buchs zu finden ist, unter der Oberfläche der Trends und Verlage: eine Geschichte von Spieledesignern und ihren Drachen. Und es finden sich etliche Designer auf diesen Seiten. Die Namen, die man mit TSR verbindet, gehören zu den Bekanntesten: Dave Arneson und Gary Gygax, die zusammen Dungeons & Dragons erschufen, Jeff Perren und Dave Wesely, die einige der Fundamente des Spiels beisteuerten, sowie Eric Holmes, Tom Moldvay, David »Zeb« Cook und Frank Mentzer, die das Spiel jeweils umgebaut haben. Dennoch sind die Geschichten der Entwickler aus anderen Firmen nicht weniger wichtig. Darunter: Ken St. Andre, der es wagte, das zweite
6 Designers & Dragons Shannon Appelcline Fantasy-Rollenspiel zu entwickeln, Greg Stafford, der ein Spiel erschuf, um die schon lange in seinem Kopf kreisende Welt von Glorantha darzustellen, Bob Bledsaw, der an Rollenspiel-Ergänzungen glaubte, und Dave Hargrave, der bereit war, seine eigene Vorstellung von D&D mit der Welt zu teilen. Und die Drachen sind – traurig aber wahr – auch hier. Sie nisten auf dem Dach des alten Dungeon Hobby Shops. Zehn verschiedene Rechtsstreitigkeiten werden innerhalb der Geschichte von TSR Aufmerksamkeit erhalten, einschließlich: Dave Arneson vs. TSR (zweimal), TSR vs. Heritage Models, Elan Merchandising vs. TSR, TSR vs. Mayfair Games (zweimal), TSR vs. New Infinities Productions, TSR vs. GDW (zweimal) und TSR vs. das ganze Internet. Und das stellt nur eine Auswahl da; banalere Angelegenheiten, wie die Klage von Rose Estes und Will Niebling bezüglich Rechten im Zusammenhang mit Aktienanteilen, werden hier ignoriert. TSR musste sich auch Drachen anderer Art stellen, etwa Streitigkeiten im Vorstand, abgesetzten Präsidenten, kalifornischen Exilanten, jahrzehn- telangen Rachefeldzügen, Intrigen, hysterischen Medien und einer langen Auseinandersetzung mit der moralischen Minderheit. Drachen gibt es in allen Größen und Formen, muss man wissen. Es ist aber falsch zu denken, der Rest der Branche sei verschont geblieben. Die Geschichten anderer Verlage beleuchten ganze Drachenschwärme, ein- schließlich bestechlicher Druckereien, abrupter Richtungswechsel, schlecht aufgenommener Neueditionen, übergroßer Auflagen, Streits über Urheberrecht, Meinungsverschiedenheiten über Verträge, Beinah-Bankrotte, diebische Geschäftspartner und so weiter. Von den dreizehn Firmen, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, sind nur noch drei bis vier (je nach Zählweise) im Geschäft, und eine davon hat nichts mehr mit der Rollenspielbranche zu tun. Und die anderen sind bloße Schatten ihrer selbst zu ihren Hochzeiten. Denn Drachen sind ausdauernd. Stetig nagen sie an den Verlagen und ihren Designern wie das Meer an der Küste. Und am Ende gewinnen sie. Immer. Die Geschichte ist aber nicht die Niederlage oder der Sieg – die Geschichte ist der Kampf. Lesen Sie die Geschichte der ersten dreizehn bemerkenswerten Verlage, die die Rollenspielbranche hervorbrachte – die Geschichte ihrer Spieledesigner und ihrer Kämpfe gegen die Drachen.
Vorwort: 70er Jahre 7 Über das Symbol: Daniel Solis’ Symbol für die 70er ist ein Paar gekreuzter Schwerter. Es stellt die Ursprünge der Branche im Kriegsspiel dar, und ebenso das Spiel Dungeons & Dragons selbst, das seinen Anfang in Form von Jagdzügen auf Monster innerhalb von Verliesen nahm. Eine Geschichte der Zukunft des Rollenspiels Die Geschichten vieler Rollenspielverlage, die ihre Veröffentlichungstätigkeiten in den 70ern begannen, gingen über jenes Jahrzehnt hinaus. Sie wurden also auch durch die Trends späterer Zeiten beeinflusst. Im Folgenden sind die wichtigsten dieser »zukünftigen« Trends kurz beschrieben. • Aufschwung und Rezession der Rollenspiele (1980-1983): Aufgrund steigender medialer Aufmerksamkeit erlebten Rollenspiele in den frühen 80ern einen Boom. Unglücklicherweise sollte dieser Boom 1982 oder 1983 zu einer Rezession werden. Viele frühe Verlage fanden so ihr Ende. Die Verbliebenen waren gezwungen, die Qualität ihrer Produktionen zu erhöhen, um nicht den Anschluss zu verlieren. • Die Revolution des Erzählens (1984): Bis 1984 drehten sich die meisten Rollenspiele um die Erkundung bestimmter Orte. In jenem Jahr erschienen einige Veröffentlichungen – darunter Drachenlanze (Dragonlance), Paranoia und Toon –, die das Medium mehr in Richtung des Geschichtenerzählens steuerten. Dieser Trend sollte sich in den Folgejahren fortsetzen. • Die Heimcomputer-Revolution (1985): Innerhalb eines Jahres nach dem Auftauchen des Mac-Computers 1984 wurde privates Desktop- Publishing möglich. So tauchten ab etwa 1985 zahlreiche neue Kleinstverlage auf. • Die Cyberpunk-Revolution (1988): R. Talsorian Games brachte 1988 Cyberpunk auf den Markt und änderte so nachhaltig das Gesicht des
8 Designers & Dragons Shannon Appelcline Science-Fiction-Rollenspiels. Für fast ein Jahrzehnt wurden keine neuen Space-Opera-Spiele kreiert, und viele Verlage machten sich auf die Jagd nach ihrem eigenen Cyberpunk-Rollenspiel. • Aufschwung und Rezession der Sammelkartenspiele (1993-1996): Als Wizards of the Coast 1993 Magic: The Gathering veröffentlichte, erschuf der Verlag damit das Genre des Sammelkartenspiels. Dies erwies sich als deutlich lukrativer als das Verlegen von Rollenspielen, und mehrere Rollenspielverlage erschufen ihre eigenen Sammelkartenspiele. Auch Händler und Vertriebe nahmen für die Kartenspiele mehr Geld in die Hand als für Rollenspiele. Leider sollte sich das große anfängliche Interesse als Modeerscheinung erweisen, und viele Verlage, die zu viel in den Trend investiert hatten, bereuten dies bald. • Aufschwung und Rezession von D20 (2000-2004): Wizards of the Coast gelang es ein zweites Mal, die gesamte Branche zu verändern, als der Verlag Dungeons & Dragons: Third Edition (2000) auf den Markt brachte. Dazu gehörte eine Lizenz, die es jedem erlaubte, Erweiterungen für das Spiel zu kreieren. Hunderte neuer Firmen traten auf den Plan, um genau dies zu tun, und auch viele alte Verlage sprangen auf diesen lukra- tiven Zug auf. Alteingesessene Verlage, die sich dem Trend verweigerten, mussten strampeln, um den Kopf über Wasser zu halten. Doch wie schon bei den Sammelkartenspielen folgte der Niedergang dem Aufschwung auf dem Fuße. • Die Indie-Revolution (2001+): In den letzten Jahren sind viele Ideen zum Erzählspiel aus den 80ern und 90ern in der Bewegung der Indie- Verlage wieder aufgetaucht. Die kleinen, unabhängigen Firmen bringen Spiele auf den Markt, die ihnen wichtig sind. Darin geht es häufig um Geschichten, Moral, Gefühle und andere bedeutsame Themen – nicht nur um das Töten von Goblins.
Teil Eins: Gründungstage (1953-1974) Vorwort: 70er Jahre 9 Teil Eins: Gründungstage (1953-1974)
10 Designers & Dragons Shannon Appelcline V or 1974 gab es keine Rollenspielbranche. Es gab die Hobbyspielbranche, aber diese konzentrierte sich auf ein anderes Genre: Wargaming. Die Geschichte dieser Spiele reicht mindestens ins 17. Jahrhundert zurück, doch erst 1953 fanden sie Anhänger unter spielbegeisterten Amerikanern. Das war einem Mann namens Charles Roberts zu verdanken. Roberts entwickelte Tactics (1953), das erste Mainstream-Wargame. Anschließend entschied er sich, den Erfolg dieses Spiels für etwas Größeres zu nutzen: Avalon Hill, den ersten Verlag für Wargames. Dieser sollte viele Jahre lang der Branchenführer bleiben und zahlreiche Nachahmer inspirie- ren. Diese zahlreichen Verlage, darunter SPI, werden wir im weiteren Verlauf noch kennenlernen, sobald sie in drei aufeinanderfolgenden Wellen in die Rollenspielbranche eintreten. In der Zwischenzeit konnte ein anderer Trend die Vereinigten Staaten im Sturm erobern. Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien wurde seit den frühen 60ern in mehreren Editionen für den Massenmarkt veröffentlicht. Das Werk war ein essenzieller Teil der Literatur der 60er-Jahre, und Anstecker mit der Aufschrift »Frodo lebt« waren bei Love-Ins und Friedenskundgebungen zu sehen. Die Rollenspielgeschichte ist im Grunde die Geschichte, wie diese beiden Trends zusammentreffen – die Geschichte, wie zwei Miniaturen-Wargamer, die sich für mittelalterliche Kriegsführung und Fantasiewelten interessierten, ein neues Spiel und so ein neues Hobby ins Leben riefen. Diese Wargame- Enthusiasten waren Gary Gygax und Dave Arneson, und ihr Spiel hieß Dungeons & Dragons (1974). Dies war der Status Quo der Hobbybranche, als der erste Rollenspielverlag, TSR, im Jahr 1974 anfing, Rollenspiele zu veröffentlichen. Firma Jahre Erstes Rollenspiel Seite TSR 1973-1997 Dungeons & Dragons (1974) X
Teil Eins: Gründungstage (1953-1974) TSR: 1973-1997 11 TSR: 1973-1997 TSR begründete die Rollenspielbranche und beherrschte sie für fast 25 Jahre. Eine kurze Einführung: 1958+ Die Geschichte von TSR beginnt mit der Geschichte zweier Männer: Gary Gygax (aus Lake Geneva, Wisconsin) und Dave Arneson (aus den Twin Cities, Minnesota). Bald würden die beiden das erste Rollenspiel der Welt entwickeln. Es war dasselbe Spiel, das die beiden mit dem Feld der Hobbyspiele in Berührung brachte – Gettysburg (1958) von Avalon Hill –, und von dort aus sollten sie bald führende Positionen in der Wargaming-Szene einnehmen. Bevor wir diese Männer kennenlernen, sollten wir jedoch kurz die Quelle ihrer Geschichten würdigen. Die Frühgeschichte von TSR ist von alters her etwas konfus. Dies liegt vor allem daran, dass Interviews mit den Federführenden über die Jahre immer wieder unterschiedliche Aussagen enthielten. Dies führte zu unterschiedlichen Erinnerungen, oft durch dieselben Personen. In jüngerer Zeit hat sich Jon Peterson der heroischen Aufgabe angenommen, die frühesten Jahre des Hobbys zu beschreiben, und behandelte die Miniaturen-Wargame- Szene und TSR bis zum Jahr 1977 in seinem Werk Playing at the World (2012). Peterson konnte viele Ereignisse mit Daten versehen und Fakten glattbügeln, indem er schwer zugängliche Primärquellen der Zeit ausgrub. Die hier vorliegende Geschichte von TSR orientiert sich in den frühesten Jahren an der Chronologie aus Playing at the World, fügt aber Einzelheiten aus anderen Quellen hinzu, wenn angemessen. Kehren wir nun zu unseren beiden kreativen Herren zurück.
12 Designers & Dragons Shannon Appelcline Gary Gygax und Chainmail: 1967-1971 Gygax gewann 1967 in den Kreisen der Wargamer an Einfluss, als er dabei half, die International Federation of Wargamers (IFW) zu reformieren, einen Verein, der ein Jahr zuvor gegründet worden war, um die Brett-Wargames von Avalon Hill zu unterstützen. Bald darauf schrieb er für diverse Wargaming-Magazine. Auf der von der IFW veranstalteten Gen Con I (1968) sah Gygax eine Vorführung eines Mittelalter-Miniaturenspiels: Siege of Bodenberg von Henry Bodenstedt (1967). Dies weckte in ihm neue Interessen am Miniaturen- Wargaming und am Wargaming in vornapoleonischen Settings. Dieses wurde damals von Avalon Hill eher vernachlässigt. Unterdessen machte Gygax auch seine ersten Schritte als Spieledesigner, mit dem Wargame Little Big Horn (1968), das durch die War Game Inventors Guild herausgebracht wurde, einem Teil der IFW. Seine Überarbeitung des »uralten Wargames« Arbela (1968) von Dane Lyons ist aber fast erwähnenswerter, da er dieses unter seinem eigenen Firmennamen ver- trieb: Gystaff Enterprises. 1970 gründete Gygax eine neue Gruppe, um ihn bei seinem neuen Interesse zu unterstützen: die Lake Geneva Tactical Studies Association. Bei ihrer Gründung hatte die Gruppe sieben Mitglieder: Gary Gygax, Donald Kaye, Rob Kuntz, Jeff Perren, Michael Reese, Leon Tucker und, je nachdem, welcher Quelle man glauben mag, entweder Gygax’ Sohn Ernie oder Terry, den Bruder von Kuntz. Diese Gruppe stellte wiederum den Kern einer Sonderinteressengruppe inner- halb der IFW, genannt Castle & Crusade Society, die sich auf mittelalterliche Kriegsführung konzentrierte. Tatsächlich war es Jeff Perren, der den Ball für D&D ins Rollen brachte, indem er ein vierseitiges Regelwerk für Mittelalter-Miniaturen entwarf. Als Gygax diese Regeln zu Gesicht bekam, beschloss er, sie zu überarbeiten und zu erweitern – eine Tendenz, die auch in der Zukunft eine Rolle spielen würde. Das Resultat von Perren & Gygax wurde als »Geneva Medieval Miniatures« in Don Greenwoods Fanzine Panzerfaust (April 1970) veröffentlicht. Eine erweiterte Fassung mit dem Titel »LGTSA Miniatures Rules« erschien schließlich in Ausgabe #5 ( Juli 1970) von The Doomsday Book, der Zeitschrift der Castle & Crusade Society. Derartige Amateurveröffentlichungen neuer Regeln waren zu dieser Zeit völlig gebräuchlich. Dies zeigt, dass das Miniaturenhobby zwar amateurhaft, aber kreativ war. Erfreulicherweise würde Gygax bald die Möglichkeit erhalten, ein weit größe- res Publikum zu erreichen. Dies hatte er Don Lowry zu verdanken, einem ehemaligen Luftwaffenoffizier, der 1970 Lowrys Hobbies eröffnete, einen Versandhandel für Wargaming. Außerdem veröffentlichte er einige Spiele, unter anderem »Fast Rules« (1970),
Teil Eins: Gründungstage (1953-1974) TSR: 1973-1997 13 also schnelle Regeln, für Panzergefechte, verfasst von Tucker und Reese aus der LGTSA. Lowry traf Gygax auf der Gen Con III (1970), was sich einige Monate später, als Gygax seine Stelle bei einer Versicherungsfirma verlor, als Glücksfall heraus- stellte. Lowry war gerade im Begriff, Guidon Games aus der Taufe zu heben, um mehr (und professionellere) Spiele zu verlegen. Da Gygax gerade verfügbar war, konnte er bei Guidon Regeln für Miniaturen-Wargames redigieren und produzie- ren. Heraus kam eine Reihe mit Namen »Wargaming with Miniatures«. Das erste Buch aus dem Hause Guidon, Chainmail (1971), erschien im März 1971 und stellte eine erneute Erweiterung der Miniaturenregeln von Perren und Gygax dar. Die Regeln enthielten zwei neue Abschnitte, die besonders erwähnens- wert sind. Die Regeln zum »Kampf Mann gegen Mann« waren der erste, entscheidende Schritt auf dem Weg zu Dungeons & Dragons. Perrens Original arbeitete mit dem Maßstab 20:1, die Version der LGTSA mit 10:1. Diese neuen Regeln empfohlen jedoch den Maßstab 1:1, ein Maßstab, der bis dato nur von Heereskommandanten genutzt wurde. Mit anderen Worten: Dies war die Art von Kampfregeln, wie sie im Kern von Rollenspielen zu finden sein würde. Die »Fantasy-Erweiterung« für Chainmail war womöglich noch wichti- ger. Auf vierzehn Seiten beschrieb sie, wie man einzelne Helden, Superhelden und Magier ins Spiel einfügte. Magier verfügten sogar über eine Auswahl von Zaubersprüchen, wie man sie später aus D&D kennen sollte, etwa Feuerball, Blitz, Macht der Vorstellungskraft, Dunkelheit und mehr. Chainmail war offensichtlich die wichtigste Guidon-Veröffentlichung für die zukünftige Rollenspielbranche, doch die Reihe sollte auch Werke anderer zukünf- tiger Rollenspiel-Koryphäen enthalten, darunter Lou Zocchi, Tom Wham … und Dave Arneson.
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