ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE - DES BUCHS DER SPRÜCHE SONDERDRUCK STUDIEN ZUM WEST-ÖSTLICHEN DIVAN VON GOETHE
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Sonderdruck aus Studien zum West-östlichen Divan von Goethe Seiten 107-135 , .- ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES BUCHS DER SPRüCHE von MOMME MOMMSEN 1971 WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT DARM STADT
Studien zum West-östlichen Divan (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kl. f. Sprachen, Literarur u. KunSl1962, Nr. 1). Berlin, Akademie-Verlag 1962, S. 109-138. ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES BUCHS DER SPRüCHE Von MOMME MOMMSEN 1. Burdachs Datierung der K räuterschen Reinschrift Betrachtet man die 56 Gedichte des Buchs der Sprüche von ihrer Entstehungsgeschichte her, so zerfallen sie in drei verschiedene Gruppen: 1. Eine Gruppe von 31 Gedichten bildet die chronologisch frü- heste Schicht. Diese Gedichte stehen zusammen in einer Reinschrift von F. Th. D. Kräuter, die aus dem Jahre 1815 stammt. 2. Eine Gruppe von 13 Gedichten trat im Erstdruck des Divan (1819) zu den eben genannten 31 Gedichten hinzu. Die meisten dieser Gedichte stammen von Frühjahr 1816. 3. Eine weitere Gruppe von 12 Gedichten wurde erst in der zweiten Ausgabe des Divan (1827) hinzugefügt. Von diesen 12 entstand eine Reihe 1818, andere stammen aber auch aus früherer oder späterer Zeit. Wir wollen uns im Folgenden mit der ersten der genannten Gruppen beschäftigen. über die Entstehung und Datierung der Kräuterschen Reinschrift herrschen in der Divan-Forschung seit Burdach Vorstellungen, die im Widerspruch stehen zu gewichtigen entstehungsgeschichtlichen Tatsachen. Hierdurch wurde für viele Gedichte des Buchs der Sprüche eine Datierung festgelegt, die sich bei näherer Prüfung als unmöglich erweist. Es gilt, einen folgen- schweren Irrtum zu berichtigen. Die Kräutersche Reinschrift besteht aus 10 unpaginierten, ein- seitig beschriebenen Folioblättern. Auf diesen Blättern finden sich insgesamt 36 Spruchgedichtet, verteilt in Gruppen zu jeweils 5,
108 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 109 4, 3 oder auch 2. Fünf dieser Gedichte wurden nicht ins Buch als Terminus ad quem für viele Gedichte, die sich auf dieser Hand- der Sprüche aufgenommen; eins davon stellte Goethe ins Buch des schrift finden, unwahrscheinlich, für eine größere Anzahl sogar Sängers, drei ins Buch Suleika, ein weiteres blieb von der Auf- schlechthin unmöglich ist. nahme in den Divan ausgeschlossen 2 . Ein erstes und allgemeinstes Bedenken gegen Burdachs These muß Bei der Redaktion des Buchs der Sprüche schaltete Goethe das sich schon erheben, wenn man das Datum des 26. Januar 1815 später Entstandene in der Weise ein, daß dadurch die Gedichte der nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem zugehörigen Kräuterschen Reinschrift unterbrochen, die Reihenfolge auf den Abschnitt der Entstehungsgeschichte des Divan betrachtet. Nach- einzelnen Blättern derselben jedoch möglichst nicht geändert dem Goethe im Juni, Juli und August 1814 einen ersten Anlauf wurde. Die Kräutersche Reinschrift enthält also eine erste Vorord- nahm zu einer Sammlung orientalisierender Gedichte, wobei Hafis nung des Buchs der Sprüche. die ausschlaggebende Quelle war, ging er im Dezember 1814 nach mehrmonatiger Pause daran, seine Kenntnis des Orients zu er- In dem 1888 erschienenen Band 6 der Weimarer Ausgabe, der weitern. Es begann nun eine zweite Epoche der Divan-Ent- die Gedichte des West-östlichen Divan brachte, stellte Burdach die stehungsgeschichte, die im Zeichen ausgedehnter Umschau und These auf, die Kräutersche Reinschrift sei am 26. Januar 1815 ent- Forschung steht. Goethe studierte zahlreiche Orientwerke, überset- standen 3 . Er glaubte dies aus einer Goetheschen Tagebuchnotiz zungen, Reisebeschreibungen etc. und entfaltete, angeregt durch folgern zu dürfen. Zwar meldete kein Geringerer als H. G. Gräf die neuen Eindrücke, eine reiche dichterische Produktivität. Diese gegen diese Datierung Bedenken an und gab zu verstehen, daß Arbeitsperiode erstreckt sich von Dezember 1814 bis Ende Mai Burdach sich bei der Interpretation des Goetheschen Tagebuch- 1815 (Abreise nach Wiesbaden). Goethes Schaffensintensität hielt textes vermutlich geirrt hatte 4 • Dennoch wurde von der For- ganz unvermindert an bis Mitte März, wo dann durch Krankheit schung Burdachs These übernommen, als handle es sich um etwas ein allmähliches Nachlassen einsetzte. endgültig Bewiesenes. Das hatte zur Folge, daß die Divan-Kom- Auf jeden Fall ist die Zeit von Dezember 1814 bis zum Früh- mentare nun für sämtliche in der Kräuterschen Reinschrift ent- sommer 1815 eine der Hauptepochen in der Entstehungsgeschichte haltenen Gedichte das unhaltbare Entstehungsdatum angaben: vor des Divan. Viele Gedichte verschiedensten Charakters und Um- 26. Januar 1815. fangs entstanden im Laufe dieser sechs Monate, die Goethe selbst Es wird unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, daß die Kräutersche als eine zusammenhängende Arbeitsperiode ansah 5 • Vergegen- Reinschrift keinesfalls schon am 26. Januar 1815 entstanden sein wärtigt man sich nun, daß das Datum des 26. Januar 1815, an dem kann, daß sie vielmehr erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt die Kräutersche Reinschrift von drei Dutzend Spruchgedichten an- hergestellt wurde. Es läßt sich zeigen, daß der 26. Januar 1815 geblich entstanden sein soll, nicht etwa am Ende, sondern in der Mitte, ja fast noch am Anfang jener Epoche steht, so ergibt sich ein unmögliches Bild. Es erscheint als eine Absurdität, annehmen 1 "Getretner Quark", das in neueren Divan-Ausgaben als einheitliches zu wollen, Goethe habe, während er sämtliche übrigen Gattungen sechszeiliges Gedicht wiedergegeben zu werden pflegt, erscheint in der Kräuterschen Reinschrift ebenso wie in den beiden von Goethe veran- stalteten Drucken noch zweigeteilt (2 + 4 Zeilen). 5 Vgl. das - nicht verwendete - Titelblatt zum "Deutschen Divan" 2 Vgl. WA I 6, S. 373,414,453. (von 1815). Darin erwähnt Goethe zwei Phasen der Arbeit .am Divan 3 WAl 6, S. 401. in den Jahren 1814/1815; die erste: Juni bis August 1814; die zweite: 4 H. G. Gräf: Goethe über seine Dichtungen. T. 3, Die lyrischen Dezember 1814 bis Juni 1815. (WA I 6, S. 361; Divan, Akademie-Aus- Dichtungen, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1914, S. 9. gabe 3, S. 1.)
110 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 111 von Divan-Gedichten noch monatelang planmäßig weiter aus- samtzahl - in chronologische Schwierigkeiten durch Burdachs baute, auf dem einzigen Gebiet der Spruchdichtung bereits am Terminus vom 26. Januar 1815. 26. Januar 1815 bewußt ein: Bis hierher und nicht weiter ge- Drei Gedichte wurden angeregt durch Lektüre eines Buchs, das sprochen und sich dann daran wie an eine strikte Weisung gehal- Goethe erst am 11. März 1815 aus der Weimarer Bibliothek ent- ten. Ende Januar 1815 war die Arbeit am Divan gerade voll in lieh (bis 1. April 1815). Es handelt sich um die "Colligirte Reise- Gang gekommen. Viele Quellenwerke begann Goethe erst nach Beschreibung" des Adam Olearius, Ausgabe Hamburg 1696. In diesem Zeitpunkt intensiver zu studieren und für seine Dichtung dieser Ausgabe waren der bekannten Reisebeschreibung mehrere auszuschöpfen, nicht zuletzt solche, die ihm nachweislich Anregun- andere Schriften angehängt, und diese enthalten die Quellen zu gen zu Spruchgedichten gaben. folgenden Gedichten: Vor allem bleibt zu beachten, wie sehr die Kräutersche Rein- schrift abschließenden Charakter trägt. Eine Fixierung des Be- 1. "Was brachte Lokmann nicht hervor." Chr. Wurm wies nach, stands, wie Goethe sie damit vornahm, gehört apriori ans Ende daß Saadis Bustan und Gülistan zugrunde liegt. Dem Bustan be- einer Arbeitsepoche, nicht an ihren Anfang. In Hinblick auf die gegnete Goethe erst in der oben genannten Olearius-Ausgabe. Spruchdichtung des Divan war aber der Januar 1815 Frühstadium, Beginn und nicht Ende. Charakteristisch dafür ist die Freizügig- 2. "Als ich einmal eine Spinne erschlagen." Das Gedicht wurde, keit, mit der Goethe damals noch dem Divan-Projekt einzelne wie Katharina Mommsen zeigte, angeregt durch die Reisebeschrei- Stücke entzog, um sie unverzüglich innerhalb der Sammlung bungen von Mandelslo und Volquard Iversen, die beide an die "Sprichwörtlich" (1815) zu veröffentlichen. Hätte er in dieser Zeit Olearius-Ausgabe von 1696 angehängt waren 6 • bereits an die Vereinigung von orientalisierenden Spruchgedichten zu einem Korpus gedacht, wie es sich in der Kräuterschen Rein- 3. "Herr! laß dir gefallen." Den Nachweis, daß auch hier Saa- schrift realisiert, so wäre doch logischerweise alles Einschlägige dis Bustan - wie bei Nr. 1 - die Quelle bot, gaben wir oben hier zusammengefaßt worden. [hier nicht abgedruckt]. Aus diesem allgemeinen überblick ergibt sich schon, daß mit größter Wahrscheinlichkeit vieles von dem, was die Kräutersche Das Datum des 11. März 1815 - der ersten Entleihung jener Reinschrift enthält, erst in der Zeit von Februar bis Mai 1815 Olearius-Ausgabe von 1696 - muß folglich als ungefährer Ter- entstand. Man kann unmöglich bei der Vorstellung bleiben, daß minus a quo für diese drei Gedichte gelten. Zwar stimmen die Goethe in diesen Monaten keinerlei Spruchgedichte mehr schrieb. Entleihungsdaten nicht immer auf den Tag genau überein mit dem Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Zieht man die Quellen Datum der ersten Benutzung eines Buchs; gelegentlich kann man in Betracht, die den Gedichten der Kräuterschen Reinschrift zu- beobachten, daß Goethe ein Werk schon ein paar Tage vor dem grunde liegen, so läßt sich erkennen, daß eine große Anzahl dieser offiziellen Ausleihedatum in Händen hatte. Aber bei diesen Fällen Gedichte am 26. Januar 1815 noch gar nicht existiert haben ist der chronologische Spielraum erfahrungsgemäß begrenzt. Eine können. Zeitspanne von fast sieben Wochen wäre als Differenz undenk- Für die meisten Gedichte, die sich auf der Kräuterschen Rein- bar. schrift befinden, gilt, daß sie "orientalische Sinnreden" zur Vorlage Bei sechs weiteren Gedichten, die in der Kräuterschen Reinschrift haben. Prüft man nun auf Grund der Entleihungsdaten und Tage- buchzeugnisse, wann Goethe erstmals die Quellenschriften las, so 6 Vgl. K. Mommsen: "Indisches" im West-östlichen Divan. In: Jahr- kommt man bei zumindest neun - also bei einem Viertel der Ge- buch Goethe 22 (1960) S. 294-97.
114 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 115 im Februar oder März, werden auch die sechs Chardin-Gedichte - men" versehene Papierkapsel befindet, die zur Sammlung von mit ihren jeweiligen Vorstufen - entstanden sein, die wir auf Handschriften für das Buch der Sprüche dienen sollte. der Kräuterschen Reinschrift finden. Gerade am Beispiel dieser In Wirklichkeit ist damit gar nichts bewiesen. Mit dem Wort Gedichte bestätigt es sich, daß mit dem 26. Januar 1815 ein grund- "Gnomen" bezeichnete Goethe in seinen Tagebüchern zu den ver- sätzlich viel zu frühes Datum für die Entstehung der Kräuterschen schiedensten Zeiten alles mögliche Spruch- und Sentenzartige, nur Reinschrift angesetzt wurde. Hier war die Arbeit am Divan in gerade nicht die Gedichte des Buchs der Sprüche. Für die Aufschrift vollem Gang, noch in der Expansion begriffen. Von irgendeinem "Gnomen" auf jener Kapsel - letztere dürfte wesentlich später Stadium des Endes oder Einschnittes, wie es notwendige Voraus- als zu Anfang des Jahres 1815 angelegt sein 10 - fehlen in Wahr- setzung zur Herstellung der Kräuterschen Reinschrift wäre, kann heit die Parallelzeugnisse. Denn auch die von Burdach angeführ- noch keine Rede sein. Derartiges ist erst viel später festzustellen. ten, im Januar 1815 von "Gnomen" sprechenden Tagebuchstellen be- ziehen sich keineswegs auf den West-östlichen Divan, sondern auf die Bei Berücksichtigung der Quellen ergibt sich also: am 26. Januar soeben zum Druck vorbereitete Gedichtfolge, die Goethe unter dem 1815 hat mindestens ein Viertel der auf der Kräuterschen Rein- Titel "Sprichwörtlich" publizierte. Dies sei jetzt näher betrachtet. schrift enthaltenen Gedichte noch gar nicht existiert, sechs nach Es war Burdach vor allem entgangen, daß Goethe in den Jahren Chardin, drei nach Saadi, Mandelslo und Iversen gedichtete. Bur- 1814/1815 mit "Gnomen" vorzugsweise die damals im Entstehen dachs These, der 26. Januar 1815 sei das Entstehungsdatum der begriffene Sammlung "Sprichwörtlich" bezeichnete. Hätte er we- Kräuterschen Reinschrift, ist im Hinblick auf diese Tatsachen nigstens alle Tagebuchstellen in Betracht gezogen, an denen im nicht aufrechtzuerhalten. Januar 1815 das Wort "Gnomen" vorkommt - es sind nicht zwei, sondern insgesamt sechs! - so wäre ihm vielleicht ihr Zu- sammenhang mit "Sprichwörtlich" klargeworden. Da er es unter- 1I. Die Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" ließ und nur zwei Stellen isoliert herausgriff, bezog er die Tage- und ihr Verhältnis zum Buch der Sprüche buchaufzeichnung vom 26. Januar 1815 "Kreiter Gnomen Abschr[iftJ" statt auf "Sprichwörtlich" auf das Buch der Prüfen wir nun einmal die Argumente nach, die Burdach für Sprüche des Divan. Das lenkte ihn auf die falsche Spur. die Datierung der Kräuterschen Reinschrift vorbrachte. Am Als Burdach die Goetheschen Tagebuchnotizen durchging, hatte 19. Januar 1815 findet sich in Goethes Tagebuch der Vermerk: er nur ein Augenmerk auf das eine Werk, dessen Herausgabe ihm "Gnomen"; am 26. Januar 1815 heißt es ebendort: "Kreiter Gno- oblag: den West-östlichen Divan. So achtete er zuwenig auf das, men Abschr[ iftJ". Beide Notizen, so meinte Burdach, dürfe man womit Goethe sich gleichzeitig beschäftigte. Dabei ist allerdings auf das Buch der Sprüche beziehen, die zweite auf die Entstehung ein Umstand zu beachten. Als Burdach in den achtziger Jahren des der Kräuterschen Reinschrift. Mit dem Ausdruck "Gnomen" näm- vorigen Jahrhunderts an dem Divan-Band der Weimarer Ausgabe lich habe Goethe die Gedichte des Buchs der Sprüche bezeichnet. arbeitete, standen ihm Goethes Tagebücher noch nicht gedruckt zur Hierfür glaubte Burdach einen Beweis zu finden in dem Umstand, Verfügung l l . Er war auf die sehr unübersichtlichen Originalhand- daß sich unter den Divan-Papieren eine mit der Aufschrift "Gno- schriften angewiesen, es fehlte ihm zudem das Hilfsmittel, das für ("Daß Araber an ihrem Theil"); am 17. März und 17. Mai 1815: "Nur 10 Vgl. Hans Albert Maier: Goethe. West-östlicher Divan. Bd. 2: wenig ist's was ich verlange"; am 24. Mai 1815: "Vom Himmel steigend Kommentar, Tübingen 1965, S. 18 f. und 224. Jesus bracht'" (Reinschrift) und "Wenn der Mensch die Erde schätzet" 11 Die Jahrgänge 1815 und 1816 der Goetheschen Tagebücher erschie- (Reinschrift). nen gedruckt erst 1893, in Abt. III, Bd. 5 der WA.
116 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 117 die Klärung entstehungsgeschichtlicher Fragen praktisch unentbehr- (S. 1170), als auch unter dem Buch der Sprüche des Divan lich ist: das Register der Tagebücher. Man darf also den Grund (S. 1213). Bei beiden Werken versah er sie sämtlich mit Frage- seines Irrtums im wesentlichen darin sehen, daß seine Infor- zeichen. Allerdings verstand er sich nicht dazu, in der "Chrono- mationsmöglichkeiten unzureichend waren. Gräf war bereits in logischen Übersicht" (S. 890) unter dem Datum des 26. Januar sehr viel besserer Lage. Er verfügte immerhin über die gedruck- 1815 die 36 Gedichte der Kräutersehen Handschrift zu nennen, ten Tagebücher, als er die Lyrik-Bände seines Werks "Goethe über wie das in den Divan-Kommentaren seit Burdach üblich wurde. seine Dichtungen" bearbeitete. Mit der Entstehungsgeschichte Offenbar glaubte er nicht an diesen Terminus ad quem. sämtlicher Goethescher Dichtungen befaßt, mußte er sich jederzeit Aufschlußreich ist, daß Gräf im Register zur 3. Abteilung der Rechenschaft geben über die jeweilige Zugehörigkeit der Zeugnisse. Weimarer Ausgabe (Tagebücher), das 1919 erschien - fünf Jahre Das führte ihn notwendig dazu, daß er auch die Tagebuchnotiz nach dem Register seiner Lyrik-Bände - , deutlicher wurde. Die vom 26. Januar 1815 richtiger interpretierte als Burdach. Er wies "Gnomen"-Stellen von Januar 1815 teilte er zwar wiederum bei- auf die Möglichkeit des Zusammenhangs mit der Sammlung den Werken zu; Fragezeichen setzte er aber diesmal nur beim "Sprichwörtlich" hin. Buch der Sprüche hinzu, bei "Sprichwörtlich" ließ er sie fort! Schwerer verständlich mag es erscheinen, daß Burdach sich später Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem nicht revidiert hat, als die nötigen Hilfsmittel vorlagen, beispiels- Rücksicht auf Burdach war, die Gräf daran hinderte, seine Mei- weise auch das wichtige Werk "Goethe als Benutzer der Weimarer nung klarer zu bekunden. Polemik suchte er stets zu vermeiden Bibliothek" (von Keudell und Deetjen, 1931), das über die Lektüre oder aufs Notwendigste zu beschränken. Um seine Ansicht durch der Quellenwerke Auskunft gibt. Doch hielt Burdach sogar noch zusätzliche Beweise stützen und sie dadurch energischer vortragen in dem 1937 erschienenen Divan-Band der Welt-Goethe-Ausgabe zu können, hätte er im übrigen seine Beobachtungen auf die Quel- an seiner unrichtigen Datierung der Kräutersehen Reinschrift fest. lenverhältnisse bei den Gedichten der Kräutersehen Reinschrift aus- Leider bekannte sich Gräf zu seiner besseren Einsicht nicht mit dehnen müssen, wie wir das oben taten. Das hätte ihn im Rahmen der nötigen Entschiedenheit. Diesem Umstand dürfte es vor allem der großen ihm obliegenden Aufgabe zu weit geführt. zu verdanken sein, daß Burdachs These sich bis heute unange- Gestützt auf die Erkenntnis, daß die Gedichte der Kräuterschen fochten behaupten konnte. In einer Anmerkung sprach Gräf zwar Reinschrift am 26. Januar 1815 schon im Hinblick auf die von deutlich aus, daß er entgegen "Burdachs Annahme" glaube, die Goethe benutzten Quellen zum Teil noch nicht existiert haben Erwähnung der "Gnomen" in Goethes Tagebuch vom 19. und können, wollen wir uns nun nochmals mit der Frage beschäftigen, 26. Januar 1815 bezöge sich auf "Sprichwörtlich"12. Er wies da- wie es mit den entstehungsgeschichtlichen Zeugnissen wirklich be- bei auch auf die vier TagebuchsteIlen hin, von denen Burdach nicht stellt ist, die bisher noch mit Zweifeln behaftet erscheinen. Die Notiz nahm. Bei der Interpretation der einzelnen Zeugnisse wich ersten Spruchgedichte für den Divan schrieb Goethe gerade zu je- er aber einer klaren Entscheidung aus. Er nannte sowohl "Sprich- ner Zeit, als er aufs intensivste mit dem Abschluß der Sammlung wörtlich" als auch den Divan als mögliche Beziehung. "Sprichwörtlich" befaßt war. Infolgedessen überschneiden sich die Auch im Register zu den Lyrik-Bänden von "Goethe über seine Entstehungsgeschichten beider Spruchsammlungen in einer prä- Dichtungen" gab Gräf seiner eigentlichen Meinung nicht Ausdruck. gnanten Epoche, und aus dieser Überschneidung resultieren die Die sechs Tagebuch-Zeugnisse von Januar 1815, die von "Gnomen" Irrtümer und Unsicherheiten, denen wir begegneten. sprechen, führte er dort sowohl unter "Sprichwörtlich" auf Die nötige Klarheit läßt sich nur gewinnen, wenn wir zunächst einmal die gesamte Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprich- 12 Vgl. oben Anm. 4. wörtlich" vor Augen führen. Es wird sich dann zeigen, daß die
118 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 119 uns besonders interessierenden Zeugnisse des Januar 1815 in die- 1814 sem Rahmen ihre notwendige Funktion haben: sie betreffen näm- Jan. 1. Zu Mittag Riemer. Ernst und Scherz Reden aller Sprachen und lich die Herstellung der Druckvorlage für dies sehr umfangreiche Art sortirt. 1. Riemer Tagebuch (JbSK15 3, 56 L): Nach Tisch mit Goethe im Korpus von Spruchgedichten und haben nichts mit dem Divan zu Deckenzimmer. Las ich ihm einige Reflexionen von mir vor, tun. Erst wenn uns diese Verhältnisse bei "Sprichwörtlich" ein- die er billigte. Dies bewog ihn, seine auf Karten und sonst deutig klargeworden sind, läßt sich die Entstehungsgeschichte des notierten Sinnsprüche und Reime hervorzuholen. Wir ord- Buchs der Sprüche richtig verstehen. neten sie bis 8 Uhr. Die verfügbaren Zeugnisse für die Entstehung von "Sprich- 2. Mittag Riemer. Gedichte und Aufsätze sortirt. wörtlich" mögen hier einmal in ihrem eigenen Zusammenhang er- 3. Manches geordnet. [?] scheinen. Sie werden damit eine Übersichtlichkeit gewinnen, die 3. An Riemer (WA IV 24, 85): Mögen Sie, mein lieber Professor, Gräf ihnen im Rahmen seines Sammelwerkes nicht geben konnte. beyliegende Gedichte nach Muster des gleichfalls von Ihrer Auch lassen sich heute wichtige Zeugnisse zusätzlich anführen, die Hand beyliegenden, nach Maaßgabe der Länge entweder ein- Gräf noch nicht zur Verfügung standen. blättrig oder zweyblättrig abschreiben; so werden wir unsere Redaction dadurch sehr befördert sehen. Da Sie den heutigen Die Sammlung "Sprichwörtlich" erschien zuerst 1816 - der Abend wohl für sich zu thun haben, ich aber die morgende Titel nennt als Druckjahr 1815 - im zweiten Band der Ausgabe ganze Zeit versagt bin, so wäre es hübsch wenn Sie sich ein- B von Cotta 13 . Dieser Band enthält viele bis dahin ungedruckte richteten daß wir Mittwoch [lan. 5.] abends eine recht ernst- Gedichte, wofür eine Anzahl neuer Abteilungen eingerichtet wur- liche Sess'ion halten könnten. den. Mit ihren 209 Gedichten ist die Sammlung "Sprichwörtlich" 4. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Schrieb ich für Goethe einige die weitaus umfangreichste dieser Abteilungen, diejenige jedenfalls, seiner Gedichte ab zur neuen Ausgabe. die Goethe am meisten Arbeit machte. Auch befand sie sich noch 5. [Abends] Riemer. Kleine Gedichte ausgesucht und revidirt. bis zum Schluß im Ausbau. Die letzten Gedichte für "Sprichwört- 6. Abend für mich Sinn- und Sittensprüche. lich" wurden Anfang 1815 geschrieben, unmittelbar vor Herstel- 7. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Abends bei Goethe, alte lung des Druckmanuskripts. Poesien von ihm und andern. [?] 8. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis? -: Sprichwörter aller Mehrere von den neuen Abteilungen jenes zweiten Bandes Nationen. [Wahrscheinlich verschiedene Einzelausgaben.])16 brachten Gedichte von verhältnismäßig geringem Umfang, so z. B. 10. Adagia. "Epigrammatisch", "Gott, Gemüth und Welt", "An Personen". 11. Sitten Sprüche. Für das Verständnis der folgenden Zeugnisse ist es wichtig, zu 12. [Abends] Gnomen. berücksichtigen, daß die mehrfach auftauchende Bezeichnung Febr. 3. Abends für mich. Tagesreime. "Kleine Gedichte" sich gelegentlich auch auf diese Abteilungen be- 13. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 60): Früh Abschrift Goethescher ziehen kann, für die sonst weiter keine unmittelbaren Entstehungs- Gedichte. [?] zeugnisse existieren14. 14. [Abends] Riemer ... Gnomen. 18. [Abends] Riemer. Sonderung des Babylonischen,17 13 Die Herausgabe verzögerte sich bis Frühjahr 1816. Die ersten bei- den Bände der Ausgabe erschienen auch gesondert unter dem Titel 15 = Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Bd. 3, Leipzig 1923. "Goethe's Gedichte". 16 Zitiert aus: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Bearb. 14 Unter Umständen bedeutet "Kleine Gedichte" auch: Gedichte über- von Elise v. Keudell. Hrsg. von Werner Deetjen. Weimar 1931. haupt, im Gegensatz zu größeren Werken. Vgl. unten 21. Dez. 1814: an 17 Das letzte Wort deutete Gräf irrig auf: Sonderung von ]ugendge- Cotta. dichten für Bd. 1 und 2 der Ausgabe Cotta B. Aus dem folgenden
120 Momme Mommsen Zur Entstehungsgesdtichte des Budts der Sprüdte 121 18. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 60): Zu Goethe ... Den Abend Jan. 21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis 30. Jan. 1815 Car- Gnomen u. dgl. rangiert. dani, Hieronymi, Operum T. 1. 2. Lugduni 1663.)21 Juli 19. Redaction meiner ersten Bände. Mittag Riemer. 18 22. Gnomen. 19. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 71): Auf Goethes Zimmer an 23. Gnomen redigirt. seinen Werken. 23. An Zelter (WA IV 25, 169): Meine ernstlidtste Betradttung Dez. 21. An Corta (WA IV 25, 103): [Cotta habe gewünsdlt, Goethes ist jetzt die neuste Ausgabe meiner Lebens-Spuren, weldte "Werke wieder hervortreten zu sehen". Einverständnis und man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen Honorarforderung: 16000 Taler.] ... Ich werde die erste pflegt. In den zwey ersten Bänden wirst du manches finden Sendung [Manuskript zu Ausgabe Corta B Bd. 1 bis 4] bereit das quellenhaft ist, du wirst es sammeln und auf deine Mühle halten, daß sie auf eine gefällige Erklärung sogleich abgehen leiten. kann, ob mir gleich die Redaction der kleineren Gedichte, 26. Kreiter Gnomen Absdtr[ift]. welche ihren ersten Platz behaupten wollen, noch immer zu Febr. 12. Gedidtte zweyter TheiI. schaffen macht;19 sie sind dergestalt angewachsen, daß ich sie 13. An den beyden ersten Bänden. in zwey Bände zu theilen genöthiget bin. 14. Wie gestern früh. 15. Redaction der Gedidtte. 1815 16. Arbeiten wie gestern. Jan. 2. Gedichte 2. Band. 17. Arbeiten fortgesetzt. 6. Sprichwörtliches gesammelt ... [Nachmittags] Wie Morgens. 20. An Cotta (WA IV 25, 200): [Inhaltsverzeidtnis für Bd. 2 der 7. Redaction der kleinen Gedichte. [?] Ausgabe Cotta B] : ... Sprichwörtlidt, über zwey Hundert. 7. An G. H. L. Nicolovius (WA IV 25, 134): Eine neue Ausgabe März 27. [Absendung des Manuskripts an Cotta.] meiner Schriften beschäftigt mich ... 16. An Schelling (WA IV 25, 159): Eine frische Ausgabe meiner Wir sehen, wie die Entstehungsgeschichte von "Sprichwörtlich" Werke, die ich so eben vorbereite, wird manches Neue bringen. nur durch verhältnismäßig wenig Zeugnisse charakterisiert ist. Die 17. [Nachmittags] Redaction der kleinen Gedichte. [?] Abteilung entstand in zwei kurzen Arbeitsepochen. Riemer gab 18. Bearbeitung der Gnomen. am 1. Januar 1814 den ersten Anstoß zum "Hervorholen" der 19. Gnomen. "Sinnsprüche und Reime", die Goethe seit mehreren Jahren ge- 20. Kreiter Gnomen. Nachricht von Cottas Acceptation. 20 legentlich, aber wohl nicht ohne einen bestimmten ihm vorschwe- 21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis 3. März 1815 Zincgref, Julius Wilh.: ... Apophthegmata. Straßburg 1628/31 benden Plan geschrieben hatte. (Die wichtigen Riemerschen Tage- oder Frankfurt u. Leipzig 1653.)21 buchzeugnisse standen Gräf noch nicht zur Verfügung.) Bis zum 18. Februar 1814 beschäftigte Goethe sich nun mit den "Sitten- Riemerschen Zeugnis, das Gräf noch nicht kannte, geht hervor, daß Ge- dichte der Sammlung "Sprichwörtlich" gemeint sind. Zu "Babylonisch" durch Lektüre von H. F. v. Diez' Einleitung zum Buch des Kabus. Dort vgl. oben 1. J an. 1814: "Ernst und Scherz Reden aller Sprachen." werden die Werke der beiden Autoren als Muster von Sentenzensamm- 18 über die "Redaction" berichtet das Tagebuch weiter am 20., lungen erwähnt (S. 45 und 160). In der Liebe zu Spridtwfutern traf sidt 22.-24. Juli 1814. Sie betraf jedoch wesentlich "Lyrische und Gemischte Goethe mit Diez. Dessen Denkwürdigkeiten von Asien (I), die er im Gedichte" (Tagebuch 23. Juli). Januar 1815 las, regten noch einige Gedidtte an, die in letzter Stunde 19 Statt des Folgenden hieß es im Konzept ursprünglich: "indem gar man- der Sammlung "Sprichwörtlidt" zugefügt wurden. WahrsdtejnIidt ver- ches eingeschaltet und deshalb das frühere anders geordnet werden muß." spradt Goethe sich weitere Anregungen von den beiden bei Di~z genann- 20 Vgl. oben 21. Dez. 1814: an Cotta. ten Büdtern, die er dann aus der Bibliothek entli~h. VgL Katharina 21 Die Entleihung von Zincgref und Cardanus dürfte veranlaßt sein Mommsen: Goethe und Diez. Berlin 1961. S. 86ff.
122 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 123 sprüchen", den "Gnomen" - der Ausdruck fällt schon hier mehr- reichen Goetheschen Werk üblich zu sein pflegt, die Herstellung mals! Sicherlich entstand damals noch vieles Neue. Hierauf läßt der Reinschrift für den Druck. Daß das Tagebuch hiervon berich- die Bibliotheksentleihung vom 8. Januar 1814 schließen. (Auch die tet, ist natürlich und notwendig. Man würde entsprechende Zeug- oben angeführten Zeugnisse über Bibliotheksentleihungen fehlen nisse mit Recht vermissen oder nach ihnen suchen, falls sie hier noch bei Gräf.) nicht klar gegeben wären. Durch die irrtümliche Inanspruchnahme Der Abschluß dieser Arbeitsepoche ist bezeichnet durch die dieser Zeugnisse für den Divan wurde die Entstehungsgeschichte Worte "Sondern" und "Rangieren" des "Babylonischen" (18. Fe- eines anderen Goetheschen Werks in ihrer entscheidenden Phase bruar 1814). Das weist darauf hin, daß das handschriftliche Ma- geplündert und entsprechend entstellt. terial, das Goethe gemeinsam mit Riemer durchsah, zu diesem Die Zeugnisse vom Februar 1815 dürften nur mehr die übrigen Zeitpunkt noch aus vielen Einzelblättern bestand. Eine Gesamt- Abteilungen der beiden Gedichtbände betreffen, die zwar auch reinschrift existierte offensichtlich noch nicht, denn Auswahl und Neues, doch in jeweils kleinerem Umfang brachten. (So könnten Ordnung ("Sondern", "Rangieren") sind Arbeitsvorgänge, die eine sich auch die Tagebuchzeugnisse vom 7. und 17. Januar 1815 auf solche Reinschrift erst vorbereiten. andere Abteilungen, "Epigrammatisch" etc., beziehen.) Am 27. Die zweite Arbeitsepoche fällt in den Anfang des Jahres 1815. März wurde das Manuskript für die ersten vier Bände der neuen Auf Vereinbarungen mit Cotta hin Z2 ging Goethe im Januar die- Ausgabe zum Druck gesandt. Band 1 und 2 erschienen im April ses Jahres an die endgültige Redaktion der ersten Bände der neuen 1816; Cotta hatte die Auslieferung aus merkantilischen Gründen Ausgabe. Vor allem waren Band 1 und 2, die Gedichtbände, jetzt solange hinausgeschoben. fertigzustellen. In den Vordergrund trat als größte noch zu be- wältigende Aufgabe die abschließende Arbeit an "Sprichwörtlich" , der umfangreichsten neuen Abteilung in Band 2. IlI. Die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift Und jetzt stellt es sich klar heraus, welche Bewandtnis es damit hat, wenn Goethes Tagebuch im Januar 1815 so oft von "Gno- Nach der im vorigen Abschnitt angestellten Untersuchung ist men" spricht (18.-20., 22., 23., 26. Januar). Bezug genommen nunmehr Klarheit darüber geschaffen: es gibt im Januar 1815 wird damit auf die Anfertigung des noch fehlenden Druckmanu- überhaupt kein Zeugnis in Goethes Tagebüchern, das sich auf die skripts für "Sprichwörtlich"! Ein paarmal ist zu lesen, daß Goethe in der Kräuterschen Reinschrift enthaltenen Gedichte beziehen "Sprichwörtliches gesammelt" hat (6.), daß Gnomen "bearbeitet" läßt. Die Erwähnung der "Gnomen" und "Kleinen Gedichte" be- (18.), "redigirt" werden (23.): Beweis, daß die Reinschrift nicht trifft nicht Spruchgedichte des West-östlichen Divan, sondern die vorliegt, sondern erst im Werden ist. Auch Neues kommt jetzt Sammlung Sprichwörtlich und ihre letzte Redaktion. Damit sind noch hinzu 23 • Doch am 20. Januar ist Kräuter bereits mit der Her- die Hindernisse beseitigt, die das Verständnis für den Werdepro- stellung des Druckmanuskripts befaßt und am 26. Januar schließt zeß des Buchs der Sprüche so sehr beeinträchtigten. Wir sind be- er die Arbeit daran ab. freit von der unmöglichen Forderung, annehmen zu/müssen, die Mit dem 26. Januar 1815 - dem uns besonders interessierenden Hauptmasse der Gedichte dieses Buchs sei einzig und allein in der Datum - endigt die eigentliche Entstehungsgeschichte von Anfangsphase der lang andauernden Schaffensperiode des Früh- "Sprichwörtlich". Am Schluß steht, wie es bei einem umfang- jahrs 1815 gedichtet - als habe Goethe vorsätzlich und unbe- greiflich früh am 26. Januar 1815 mit der Pflege dieSer Gedicht- 22 Vgl. 21. Dezember 1814: an Cotta. gattung Schluß gemacht. Jetzt endlich steht nichts mehr iim Wege, 23 Vgl. oben Anm. 21. die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Die Arbeit an den
124 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 125 Spruchgedichten erstreckte sich über das gesamte Frühjahr, den Mit den letzten Worten ist natürlich auf die Spruchgedichte Zeitraum von Dezember 1814 bis Mai 1815. hingedeutet. Auffällig ist, daß Goethe sich weder über ihre Form Hiermit stimmen nun auch die sonstigen Tatsachen überein, mit noch ihre Zahl im klaren war. Die Gedichte, auf die er hier an- denen wir zu rechnen haben. Wir sahen, daß gewisse Gedichte der spielt, waren in Wirklichkeit alle Vier- oder Zweizeiler! Dann Kräuterschen Reinschrift auf Grund ihrer Quellen späteren Ur- aber ist auch die Angabe hundert viel zu hoch gegriffen. Offen- sprungs als Januar 1815 sein mußten. In diesem Zusammenhang sichtlich lag die Kräutersche Reinschrift noch nicht vor. Sie hätte spielten die Entleihungsdaten eine ausschlaggebende Rolle. Be- mit dem besseren überblick eine genauere Formulierung ermög- trachten wir diese Entleihungsdaten aber nochmals im überblick, so licht. Burdach meinte, es seien in dem Brief an Cotta Gedichte mit ergibt sich: gerade diejenigen Orientwerke, von denen die meisten in Betracht gezogen, die später unter die Zahmen Xenien gestellt Anregungen zu Spruchgedichten ausgingen, wurden von Goethe wurden 2s • Aber diese Erklärung steht auf schwachen Füßen. So- nicht etwa nur im Januar, sondern bis in den Mai 1815 von der viel orientalisierende Zahme Xenien - es müßten an die 60 Weimarer Bibliothek entliehen: nämlich bis zur Abreise nach sein - kennen wir gar nicht. Zu damaliger Zeit dürften über- Wiesbaden, die der Arbeitsperiode des Frühjahrs 1815 erst ein haupt nur wenige existiert haben. Ende setzte. So entlieh der Dichter beispielsweise von Januar bis .i\hnliche Unsicherheit tritt auch in einer weiteren Erwähnung Mai 1815: Saadis Gulistan, Chardins Voyages en Perse, die Fund- der Spruchgedichte zutage, die von Ende Mai 1815 stammt. Am gruben des Orients, Diez' Denkwürdigkeiten von Asien Bd. 1 31. Mai 1815 schrieb Goethe an Christiane und August von Goethe und das Buch des Kabus. Dies waren Hauptquellenwerke für die aus Wiesbaden 26 : Divan-Spruchgedichte, und nichts hindert uns mehr, anzunehmen, "Auch sind die neuen Glieder des D i v ans reinlich eingeschaltet daß Goethe bis in den Mai 1815 hinein Anregungen von ihnen und ein frischer Addreßcalender der ganzen Versammlung geschrie- empfangen hat. ben, die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beygänger und kleine Andererseits ist der größte Teil des auf der Kräuterschen Rein- Dienerschaft nicht gerechnet." schrift Enthaltenen sicherlich bereits bis zur Abreise nach Wies- baden (Mai 1815) entstanden. Nach diesem Zeitpunkt standen Mit dem "Addreßcalender" ist das am Tage zuvor niederge- Goethe die Quellenwerke nicht mehr zur Verfügung. Allenfalls schriebene, hundert Nummern umfassende Wiesbadener Register könnte einzelnes, das nach Hafis, nach unbekannten Vorlagen gemeint. In diesem hatte Goethe die größeren Gedichte gezählt, oder ausnahmsweise ohne zugrundeliegende "orientalische Sinn- die kleineren nicht. über ihre Menge weiß er auch in den Briefen reden" gedichtet war, noch später entstanden sein. an Christiane und August keine Angabe zu machen, es bleibt bei Die ersten sicheren Zeugnisse, die etwas über Divan-Spruch- den ganz unbestimmten Bezeichnungen "Beygänger und kleine gedichte aussagen, stammen von Mai 1815, aus der Zeit kurz vor Dienerschaft". Das darf als weiterer Beweis gelten, daß die Kräu- und kurz nach der Abreise nach Wiesbaden. In der für Cotta tersche Reinschrift noch nicht vorlag. bestimmten Charakteristik des Divan-Plans vom 16. Mai 1815 schrieb Goethe - der Brief an Cotta wurde nicht abgesandt - : 25 WA I 6, S. 400. Vgl. auch Gräf !II 2, S. 34 zur Stelle; ferner Bur- "Mein Divan besteht gegenwärtig schon ohngefähr aus hundert dach, Akademievorträge S. 68. größern Gedichten von mehreren Strophen und Zeilen, und von 26 WA IV 26, S. 5 und 7. Datierung der im Folgenden zitiel'ten Brief- vielleicht eben soviel kleineren, von acht Zeilen und drunter24 ." stelle nach H. G. Gräf, Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Frank- furt a. M. 1916. S. 368. (Gräf datiert wohl nach Goethes Tagebuch.) Die 24 WA IV 25, S. 416. Briefe wurden abgesandt am 7. und 8. Juni 1815.
126 Momme Mommsen Zur Entstehungsgesc..ltichte des Buchs der Sprüche 127 Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 1815 werden die da- sämtliche Reinschriften der im Wiesbadener Register aufgeführten mals existierenden orientalisierenden Spruchgedichte, die "Bey- Gedichte mit der entsprechenden Nummer, die sie in dem Ver- gänger und kleine Dienerschaft", vermutlich erwähnt unter Punkt zeichnis erhalten hatten. Diese Nummer schrieb er mit roter Tinte 7, wo es heißt: "Talismane pp"27. Hierauf hat als erster Burdach in die linke obere Ecke des jeweiligen Blatts. Daß eine solche in der Weimarer Ausgabe hingewiesen. Allerdings glaubte Burdach, Zählung bei der Kräutersehen Reinschrift fehlt, läßt mit Sicher- unter "Talismane pp" sei im engeren Sinne die Kräutersehe Rein- heit darauf schließen: sie existierte überhaupt noch nicht, als das schrift zu verstehen. Denn in dieser beginnt ein Blatt, das die Register angelegt wurde!28 ersten fünf Gedichte des nachmaligen Buchs der Sprüche in der uns aus dem Divan bekannten Reihenfolge enthält, mit dem Ge- Bezieht sich auch die Eintragung unter Nummer 7 des Wies- dicht: badener Registers: "Talismane pp" nicht auf die Kräutersche Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen, Reinschrift als solche, so schließt das doch nicht aus, daß mit ihr Das bewirkt ein Gleichgewicht. auf die Menge der bereits in Einzelhandschriften vorliegenden Wer mit gläubiger Nadel sticht orientalisierenden Spruchgedichte hingedeutet sein mag. Offenbar überall soll gutes Wort ihn freuen. bevorzugte Goethe für diese zur damaligen Zeit die Benennung So überzeugend diese These Burdachs auf den ersten Blick aus- "Talismane"29 - wie er den Gedichten von Sprichwörtlich gern sieht - wir müssen uns doch von ihr befreien. Immer ging ja die Bezeichnung "Gnomen" gab. Das Wort "Talismane" erinnerte Burdach von der Annahme aus, die Kräutersehe Reinschrift sei an die Herkunft aus "orientalischen Sinnreden" und entsprach bereits am 26. Januar 1815 entstanden. Wir sahen, daß das nicht überhaupt der Atmosphäre des Divan. Das Gedicht " Talismane der Fall war und werden weiter zeigen, daß sie erst geraume Zeit werd' ich in dem Buch zerstreuen", und besonders natürlich der nach der Niederschrift des Wiesbadener Registers, nämlich im Umstand, daß es später an den Anfang des Buchs der Sprüche Oktober 1815 angefertigt ward. Für jetzt seien nur die beiden gestellt wurde, läßt - unter anderem - auf diese Benennung Hauptgründe angeführt, die gegen die Existenz der Kräuterschen schließen. Das GediLht, das zur Zeit des Wiesbadener Registers Reinschrift zur Zeit der Abfassung des Wiesbadener Registers sicherlich schon existierte, zeigt aber noch etwas mehr. Man darf sprechen. es Goethe ruhig glauben, daß er damals beabsichtigte, die" Talis- 1. Aus den angeführten Briefzeugnissen ging hervor, daß 28 Burdach selbst hat auf die durchgehende Bezifferung der Reinschrif- Goethe keine übersicht über die wirkliche Anzahl und Form der ten wiederholt hingewiesen. (Burdach, Akademievorträge S. 76; Welt- damals vorliegenden Spruchgedichte hatte. Die Existenz der Kräu- Goethe-Ausgabe Bd.5, S.380.) Er unterließ es aber zu erwähnen, daß terschen Reinschrift hätte ihn zu bestimmteren, weniger vagen bei der Kräuterschen Reinschrift, die er als zur Zeit des Wiesbadener und irrigen Angaben führen müssen. Registers existent ansah, diese Zählung fehlt, hier somit die einzige Aus- nahme vorläge. Eine weitere Ausnahme bildet die Handschrift von 2. Wenn Punkt 7 des Wiesbadener Registers "Talismane pp "Erschaffen und 'Beleben". Hier wies Burdach jedoch mit gU"ten Gründen sich auf die Kräutersche Reinschrift bezöge, so wäre unbedingt zu darauf hin, daß die mit der Zählung versehene Reinschrift vermutlich von Goethe an Zelter gesandt war. Nur bei einer verhältnismäßig geringen erwarten, daß letztere einen entsprechenden Zählungsvermerk, Anzahl von den im Wiesbadener Register aufgeführten Gedichten fehlt also die Ziffer 7, trüge. Goethe versah nämlich, wie man weiß, uns die Kontrolle über die Bezifferung, weil die Handschrifte~ verschol- len sind. 27 WA I 6, S. 314. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 3. 29 Vgl. unten S. 131 ff.
128 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 129 mane" wirklich in dem "Buch" zu "zerstreuen". Der Vierzeiler Der Vermerk "Talismane pp" unter Nummer 7 des Wiesbade- sollte in dieser Hinsicht wörtlich genommen werden, so wie er bei ner Registers deutete nur auf die Existenz der Spruchgedichte seiner Konzeption gemeint war. hin, über deren Form und Zahl sich Goethe nicht im klaren war, Der "Deutsche Divan", für den Goethe im Wiesbadener Regi- und er erinnerte an die Absicht, diese Gedichte später im Divan ster eine erste Vorordnung traf, sollte ja nicht aus einzelnen zu "zerstreuen". Es ist ganz verständlich, daß die "Zerstreuung" Büchern bestehen, sondern die Gedichte in ungezwungener Reihen- als solche noch nicht in dem Register, das nur vorläufig die 100 folge bringen. (Die Einteilung in Bücher erfolgte erst im Oktober wichtigsten Gedichte verzeichnen sollte, vorgenommen wurde. Dies 1815.) Es war zunächst nur ein Korpus von Gedichten geplant, konnte erst geschehen, wenn es an die endgültige Ausgestaltung das formal etwa der Gruppe "Lieder" oder "Vermischte Ge- ging. Bis zu dieser sollte der "Deutsche Divan" - wie Goethe dichte" in den bereits bestehenden Ausgaben Goethescher Werke 16. Mai 1815 an Cotta schrieb - "noch um manche Glieder ver- entsprach. Innerhalb dieses einheitlichen Ganzen wollte der Dich- mehrt" werden 31 • Erst wenn alles beisammen war, ließ sich die ter - dies besagt doch der genannte Vierzeiler - die Spruchge- Zerstreuung der "Talismane" vornehmen, sie mußte bis zuletzt dichte als Talismane "zerstreuen"; der Leser sollte "mit gläubiger aufgeschoben werden. Nadel stechen" und sich Orakel holen. Damit wäre ein "Gleich- Daß Goethe im Ernst daran gedacht haben sollte, bereits an gewicht bewirkt": das in seiner Grundtendenz leidenschaftliche siebenter Stelle des "Deutschen Divan" den gesamten Komplex der Werk wäre zugleich ein Weisheitsbuch gewesen. Zugrunde lag die "Talismane" hintereinander aufmarschieren zu lassen, darf als aus- Vorstellung von dem "Buchorakel", die Goethe von Jugend her geschlossen gelten. Es wäre in formaler Hinsicht ganz unsinnig vertraut war. gewesen, das Werk gleich zu Anfang mit drei Dutzend Spruch- Das Kapitel "Buchorakel" der Noten und Abhandlungen deu- gedichten zu belasten. Das Publikum hätte auf diese Weise viele tet darauf hin, daß Goethe diese Lieblingsidee auch in dem end- Seiten durchlesen müssen, ehe es überhaupt auf Partien traf, die gültigen Divan verwirklicht hatte, wenn auch in abgewandelter von dem wesentlichen Charakter und dem eigentlich Neuen des Form. Die "Talismane" selbst standen hier nun in einem geschlos- Werks einen Begriff gaben. Nicht ein einziges Gedicht hätte den senen Buch beisammen. Doch waren inzwischen so viel sonstige Leser vorher auch nur mit der Gestalt des Hafis bekannt gemacht, Weisheitsgedichte in dem gesamten Werk "zerstreut", daß die ur- die doch damals noch ganz und gar zentral war - sollte doch der sprüngliche Idee als auf andere Weise realisiert gelten konnte. Wie "Deutsche Divan" zu Hafis in "stetem Bezug" stehn 32 • Die stark Goethe schon 1815 von ihr beherrscht wurde, wie wörtlich Spruchgedichte hätten sich mit ihrer erdrückenden Menge wie eine also der auf das Buchorakel deutende Vierzeiler "Talismane gewaltige Exposition ausgenommen, auf die dann ganz etwas werd' ich in dem Buch zerstreuen" zu nehmen sei, zeigt das ge- anderes gefolgt wäre. So komponiert Goethe nicht, dem ein un- meinsame "Däumeln" im Divan des Hafis, von dem Boisseree aus trüglicher Instinkt für Maß und Proportion eignete, der gerade den Tagen des Zusammenseins mit Goethe - Oktober 1815 - auf sinnvolle Exposition und Abfolge zu allen Zeiten besondere berichtet30 • Sorgfalt wandte. Dem Dichter eine derartige kompositorische Unmöglichkeit zuzutrauen, war ein schwer verständlicher Fehl- 30 Vgl. Boisserees Tagebuch vom 7. Oktober 1815: "Wir däumeln im griff Burdachs. Welche Unform dabei zustande gekommen wäre, Divan. Ich immer unglücklich - oder doch schlecht u. verworren, zeigt der von E. Grumach veranstaltete Druck der im Wiesbadener G[oethe] meist verliebt." (Firmenich-Richartz S. 426.) "Divan" bedeutet 31 WA IV 25, S. 415. hier: die Hafis-übersetzung von J. v. Hammer, nicht etwa Goethes 32 Vgl. das projektierte Titelblatt zum "Deutschen Divan" von 1815 Divan-Manuskript. (Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 1).
130 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 131 Register genannten Gedichte gemäß Burdachs Vorstellungen, den lung des Divans in Bücher fiel die Entscheidung. Jetzt erwies sich man jetzt in den "Akademievorträgen" lesen kann 33 • das Gedicht als die geeignetste Einleitung zum Buch der Sprüche. Wie Goethe wirklich im Wiesbadener Register auf Exposition Aus den Tagebuchzeugnissen, die von der Herstellung des Wies- bedacht war, sieht man eher hieran: bevor unter Nr. 7 die Spruch- badener Registers berichten, ist zu erkennen, daß die" Talismane" gedichte als "Talismane" erscheinen, wird in Nr. 4 ("Segenspfän- ein Problem bildeten, das noch in letzter Stunde gelöst werden der") und in Nr. 5 ("Gottes ist der Orient")34 klargestellt, was es mußte, ehe das Register niedergeschrieben werden konnte. Den Ent- mit solchen Talismanen etc. auf sich hat. Nr. 4 enthält eine Schil- schluß, ein Gesamtverzeichnis der Gedichte anzufertigen, mag Goethe derung ihres Charakters, Nr. 5 gibt praktische Beispiele, zu einem in den Reisetagen gefaßt haben, als er von Weimar nach Wiesbaden Ganzen zusammengestellt. Natürlich dachte Goethe bei dem Ver- unterwegs war (24. bis 27. Mai 1815). Kaum in Wiesbaden ange- merk Nr. 7: "Talismane pp" nicht an die Aufeinanderfolge von kommen, nimmt er die Arbeit vor. Nun lesen wir im Tagebuch: drei Dutzend Spruchgedichten, sondern an den Beginn des "Zer- Mai 27. In Wiesbaden 1"12. Im Bären eingekehrt. Einrichtung. Biblio- streuens". Sicherlich sollte das Gedicht "Talismane werd' ich in thekar Hundeshagen. Den Divan geordnet. dem Buch zerstreuen" an die Spitze der eingestreuten Gedichte 28. Divan. Register. Gebadet. Fortsetzung am Divan. Mittag für treten. Die Einschaltung des größeren Gedichts Nr. 6 ("Vier Gna- mich. Talismane Amulete. den") weist übrigens deutlich auf die Tendenz hin, die Spruchge- 29. [Nachmittags] Divan numerirt. dichte nicht in einer Folge erscheinen zu lassen. 30. [Nachmittags] Divan Verzeichniß. Dem Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen" Zwischen "Ordnung" und "Numerierung" beschäftigten Goethe kommt eine Schlüsselstellung zu. Es bedurfte der Exposition - die also nochmals "Talismane Amulete". Hierbei könnte es sich in Nr. 4 und 5 erfolgte - , hatte aber selbst expositionellen um das Gedicht "Segenspfänder" gehandelt haben, und entspre- Charakter. Anscheinend trug Goethe sich eine Zeitlang mit dem chend interpretiert auch Graf das Zeugnis vom 28. Mai; Strophe 1 Gedanken, es zu dem Expositionsgedicht Nr. 4 ("Segenspfänder") und 2 des Gedichtes schildern ja den Charakter von Talismanen hinzuzuziehen. Denn in der Handschrift dieses Gedichts steht und Amuletten. Aber "Segenspfänder" war schon früher ge- am Schluß unter der fünften Strophe von des Dichters Hand der dichtet, es ist recht unwahrscheinlich, daß Goethe zum jetzi- Vermerk: "Das sechste?" Wenn wir in Betracht ziehen, daß das gen Zeitpunkt noch so viel an dem Gedicht zu tun fand, daß eine Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen" damals Erwähnung dieser Arbeit im Tagebuch sich gelohnt hätte. Infolge- noch in einer Einzelhandschrift, und nur in dieser, vorlag, so wer- dessen wird man die Eintragung: "Talismane Amulete" wohl auf den wir "Das sechste?" am besten auf dieses Gedicht beziehen. Es die Beschäftigung mit dem gesamten Problem der "Talismane" hätte als sechstes Teilstück der "Segenspfänder" einen überaus beziehen müssen, wie es sich dem Dichter nun vor der Registrie- sinnvollen Platz gefunden im Hinblick auf die umfassende Expo- rung der Divan-Gedichte stellte. Goethe wird überlegt haben, wie sition. Mit dem Vermerk "Das sechste?" hielt Goethe sich an- die Masse der Spruchgedichte in jenem Verzeichnis zu behandeln scheinend diese Möglichkeit offen. Bei der später erfolgten Eintei- sei, die er als "Talismane" zu "zerstreuen" gedachte. Hierfür war auch an eine Exposition zu denken; das führte zu einer Beschäfti- gung mit den jetzt "Segenpfänder" und "Talismane" benannten 33 Burdach, Akademievorträge S. 112-116. 34 Unter Nr. 5 nennt das Wiesbadener Register den Titel: "Talismane, Gedichten 35 . Resultat dieser überlegungen war dann - zum Amulete Abraxas und Siegel". Gemeint ist jedoch das Gedicht"Talis- mane" ("Gottes ist der Orient"). Der Irrtum ist eine Folge des Ver- 35 Bei dieser Gelegenheit mag das Versehen passiert sein, auf das sehens, von dem unten Anm. 35 gesprochen wird. Burdach hinwies (WA 6, 363 f.; Burdach, Akademievorträge S. 71): der
132 Momme Mommsen Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche 133 mindesten - die Anordnung der Nummer 4 bis 7 des Wiesbade- fünf Monate dauernde Rhein-Main-Reise von 1815 ihr Ende ner Registers, über die wir oben sprachen. fand - , wurde auch die neue Form des Divan bestimmt. "Divan in Bücher eingetheilt", heißt es im Tagebuch vom 6. Oktober Aus den zunächst auf die Niederschrift des Wiesbadener Regi- 1815, und tatsächlich trat Goethe am darauffolgenden Tage die sters folgenden vier Monaten berichten keinerlei Zeugnisse von Heimreise an. der Beschäftigung mit Spruchgedichten bzw. "Talismanen". Der In Weimar, wo der Dichter am 11. Oktober eintraf, wurden Divan wurde in dieser Zeit "auf eine sehr brillante Weise erwei- zunächst die dringendsten sonstigen Arbeiten erledigt. Am 16. tert"36: hinzu kamen die Suleika-Gedichte, von denen die Mehr- Oktober ist dann erstmals wieder im Tagebuch vom Divan die zahl September/Oktober 1815 entstanden. Diese Gedichte gaben Rede: "Abschrift des Buchs Hafis" heißt es da. Goethe stellte also dem ganzen Projekt ein verändertes Gepräge. Ihr Charakter und jetzt die Gedichte des Divan zu Büchern zusammen und ließ sie ihre Entstehung riefen bei Goethe das natürliche Bestreben hervor, dann abschreiben. Auf diese redaktionelle Tätigkeit mögen sich sie in eine geschlossene Gruppe zusammenzufügen; waren sie doch weiter die Tagebuchzeugnisse von Oktober und November 1815 be- das Denkmal einer der glücklichsten und wichtigsten Epochen sei- ziehen, die stets nur lakonisch den Vermerk "Divan" wiederholen. nes Lebens. Damit ergab sich die Notwendigkeit, das gesamte Ein einziges Mal wird während dieser Zeit im Tagebuch etwas Werk in eine neue Form zu bringen. Goethe entschloß sich zur Spezielleres genannt, und dieses Zeugnis ist das in unserem Zu- Aufgabe des Plans einer nicht unterteilten, zwanglos gereihten sammenhang wichtigste überhaupt. Am 26. Oktober heißt es: Gedichtsammlung, wie er im Wiesbadener Register angelegt war. "Nach Tische den Talisman geordnet". Diese Worte können nach Statt dessen sollte nun das thematisch Zusammengehörige ver- Lage der Dinge nur so zu verstehen sein: Goethe "ordnet" nun- einigt und in einzelne Bücher abgeteilt werden. Mit diesem mehr die" Talismane", die er nach bisheriger Intention im Divan Beschluß entschied sich auch, an einem der bedeutsamsten Wende- "zerstreuen" wollte, zu einem zusammenhängenden Korpus, punkte in der Geschichte des Divan, das Schicksal der Spruchge- einem "Buch". Das Entsprechende tat er ja zu dieser Zeit mit dichte. Der Gedanke, sie als "Talismane" zu "zerstreuen", wurde sämtlichen Gedichten des Divan. Die "Ordnung" bezieht sich im fallengelassen. Auch diese Gedichte mußten nun als eine geschlos- Falle des "Talisman" natürlich auf die Einzelhandschriften, in sene Gruppe zusammengefaßt werden. denen ihm bisher nur die Spruchgedichte vorlagen. Nachdem diese Es war diese Entscheidung und Festsetzung einer neuen Form Handschriften "geordnet" waren, stellte dann Kräuter die Sam- des Divan, die zu der Zusammenstellung des Korpus von orien- melhandschrift her, die wir heute als die Kräutersche Reinschrift talisierenden Spruchgedichten führte, welche uns in der Kräuter- des Buchs der Sprüche bezeichnen. Damit können wir nun diese schen Reinschrift entgegentritt. Und erst jetzt, in dieser bedeutungs- Handschrift auch so datieren, wie es der Wirklichkeit entspricht: vollen Zeit ist die Reinschrift selbst angefertigt worden, die man sie ist anzusetzen auf die Zeit unmittelbar nach dem 26. Oktober bisher fälschlich auf den 26. Januar 1815 datierte. Das läßt sich aus 1815. den Zeugnissen erkennen, die uns nun noch zu betrachten bleiben. Hier erweist es sich nochmals, daß die Kräutersche Reinschrift Am gleichen Tage, an dem Goethe laut Tagebuch den "Ent- bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert haben kann. Denn es schluß zur Abreise" von Heidelberg faßte - womit die beinah wäre gar nicht möglich, die Tagebucheintragung vom 26. Oktober 1815: "Den Talisman geordnet" etwa mit dieser Reinschrift in Titel: "Talismane, Amulete, Abraxas Inschriften und Siegel" ward über Verbindung zu bringen. In ihr lag ja die Ordnung schon vor, mit das falsche Gedicht ("Talismane") gesetzt. der Goethe sich jetzt beschäftigte. An der Kräuterschen Reinschrift 36 Goethe an Knebel, 21. Oktober 1815 (WA IV 26, S. 106). war nicht mehr viel zu ordnen: von ihren zehn, jeweils im Durch-
Sie können auch lesen