ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE - DES BUCHS DER SPRÜCHE SONDERDRUCK STUDIEN ZUM WEST-ÖSTLICHEN DIVAN VON GOETHE

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ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE - DES BUCHS DER SPRÜCHE SONDERDRUCK STUDIEN ZUM WEST-ÖSTLICHEN DIVAN VON GOETHE
Sonderdruck
                     aus

 Studien zum West-östlichen Divan von Goethe
                 Seiten 107-135      , .-

  ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE
     DES BUCHS DER SPRüCHE

                     von

              MOMME MOMMSEN

                    1971

WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
                DARM STADT
Studien zum West-östlichen Divan (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften
zu Berlin, Kl. f. Sprachen, Literarur u. KunSl1962, Nr. 1). Berlin, Akademie-Verlag 1962, S. 109-138.

                ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES
                      BUCHS DER SPRüCHE

                                 Von    MOMME MOMMSEN

           1. Burdachs Datierung der K räuterschen Reinschrift

  Betrachtet man die 56 Gedichte des Buchs der Sprüche von ihrer
Entstehungsgeschichte her, so zerfallen sie in drei verschiedene
Gruppen:

   1. Eine Gruppe von 31 Gedichten bildet die chronologisch frü-
heste Schicht. Diese Gedichte stehen zusammen in einer Reinschrift
von F. Th. D. Kräuter, die aus dem Jahre 1815 stammt.
   2. Eine Gruppe von 13 Gedichten trat im Erstdruck des Divan
(1819) zu den eben genannten 31 Gedichten hinzu. Die meisten
dieser Gedichte stammen von Frühjahr 1816.
   3. Eine weitere Gruppe von 12 Gedichten wurde erst in der
zweiten Ausgabe des Divan (1827) hinzugefügt. Von diesen 12
entstand eine Reihe 1818, andere stammen aber auch aus früherer
oder späterer Zeit.

   Wir wollen uns im Folgenden mit der ersten der genannten
Gruppen beschäftigen. über die Entstehung und Datierung der
Kräuterschen Reinschrift herrschen in der Divan-Forschung seit
Burdach Vorstellungen, die im Widerspruch stehen zu gewichtigen
entstehungsgeschichtlichen Tatsachen. Hierdurch wurde für viele
Gedichte des Buchs der Sprüche eine Datierung festgelegt, die sich
bei näherer Prüfung als unmöglich erweist. Es gilt, einen folgen-
schweren Irrtum zu berichtigen.
   Die Kräutersche Reinschrift besteht aus 10 unpaginierten, ein-
seitig beschriebenen Folioblättern. Auf diesen Blättern finden sich
insgesamt 36 Spruchgedichtet, verteilt in Gruppen zu jeweils 5,
108                       Momme Mommsen                                              Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche       109

4, 3 oder auch 2. Fünf dieser Gedichte wurden nicht ins Buch              als Terminus ad quem für viele Gedichte, die sich auf dieser Hand-
der Sprüche aufgenommen; eins davon stellte Goethe ins Buch des           schrift finden, unwahrscheinlich, für eine größere Anzahl sogar
Sängers, drei ins Buch Suleika, ein weiteres blieb von der Auf-           schlechthin unmöglich ist.
nahme in den Divan ausgeschlossen 2 .                                        Ein erstes und allgemeinstes Bedenken gegen Burdachs These muß
   Bei der Redaktion des Buchs der Sprüche schaltete Goethe das           sich schon erheben, wenn man das Datum des 26. Januar 1815
später Entstandene in der Weise ein, daß dadurch die Gedichte der         nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem zugehörigen
Kräuterschen Reinschrift unterbrochen, die Reihenfolge auf den            Abschnitt der Entstehungsgeschichte des Divan betrachtet. Nach-
einzelnen Blättern derselben jedoch möglichst nicht geändert              dem Goethe im Juni, Juli und August 1814 einen ersten Anlauf
wurde. Die Kräutersche Reinschrift enthält also eine erste Vorord-        nahm zu einer Sammlung orientalisierender Gedichte, wobei Hafis
nung des Buchs der Sprüche.                                               die ausschlaggebende Quelle war, ging er im Dezember 1814 nach
                                                                          mehrmonatiger Pause daran, seine Kenntnis des Orients zu er-
   In dem 1888 erschienenen Band 6 der Weimarer Ausgabe, der              weitern. Es begann nun eine zweite Epoche der Divan-Ent-
die Gedichte des West-östlichen Divan brachte, stellte Burdach die        stehungsgeschichte, die im Zeichen ausgedehnter Umschau und
These auf, die Kräutersche Reinschrift sei am 26. Januar 1815 ent-        Forschung steht. Goethe studierte zahlreiche Orientwerke, überset-
standen 3 . Er glaubte dies aus einer Goetheschen Tagebuchnotiz           zungen, Reisebeschreibungen etc. und entfaltete, angeregt durch
folgern zu dürfen. Zwar meldete kein Geringerer als H. G. Gräf            die neuen Eindrücke, eine reiche dichterische Produktivität. Diese
gegen diese Datierung Bedenken an und gab zu verstehen, daß               Arbeitsperiode erstreckt sich von Dezember 1814 bis Ende Mai
Burdach sich bei der Interpretation des Goetheschen Tagebuch-             1815 (Abreise nach Wiesbaden). Goethes Schaffensintensität hielt
textes vermutlich geirrt hatte 4 • Dennoch wurde von der For-             ganz unvermindert an bis Mitte März, wo dann durch Krankheit
schung Burdachs These übernommen, als handle es sich um etwas             ein allmähliches Nachlassen einsetzte.
endgültig Bewiesenes. Das hatte zur Folge, daß die Divan-Kom-                Auf jeden Fall ist die Zeit von Dezember 1814 bis zum Früh-
mentare nun für sämtliche in der Kräuterschen Reinschrift ent-            sommer 1815 eine der Hauptepochen in der Entstehungsgeschichte
haltenen Gedichte das unhaltbare Entstehungsdatum angaben: vor            des Divan. Viele Gedichte verschiedensten Charakters und Um-
26. Januar 1815.                                                          fangs entstanden im Laufe dieser sechs Monate, die Goethe selbst
   Es wird unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, daß die Kräutersche         als eine zusammenhängende Arbeitsperiode ansah 5 • Vergegen-
Reinschrift keinesfalls schon am 26. Januar 1815 entstanden sein          wärtigt man sich nun, daß das Datum des 26. Januar 1815, an dem
kann, daß sie vielmehr erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt        die Kräutersche Reinschrift von drei Dutzend Spruchgedichten an-
hergestellt wurde. Es läßt sich zeigen, daß der 26. Januar 1815           geblich entstanden sein soll, nicht etwa am Ende, sondern in der
                                                                          Mitte, ja fast noch am Anfang jener Epoche steht, so ergibt sich
                                                                          ein unmögliches Bild. Es erscheint als eine Absurdität, annehmen
   1 "Getretner Quark", das in neueren Divan-Ausgaben als einheitliches
                                                                          zu wollen, Goethe habe, während er sämtliche übrigen Gattungen
sechszeiliges Gedicht wiedergegeben zu werden pflegt, erscheint in der
Kräuterschen Reinschrift ebenso wie in den beiden von Goethe veran-
stalteten Drucken noch zweigeteilt (2 + 4 Zeilen).                           5 Vgl. das - nicht verwendete - Titelblatt zum "Deutschen Divan"
   2 Vgl. WA I 6, S. 373,414,453.                                         (von 1815). Darin erwähnt Goethe zwei Phasen der Arbeit .am Divan
   3 WAl 6, S. 401.                                                       in den Jahren 1814/1815; die erste: Juni bis August 1814; die zweite:
   4 H. G. Gräf: Goethe über seine Dichtungen. T. 3, Die lyrischen        Dezember 1814 bis Juni 1815. (WA I 6, S. 361; Divan, Akademie-Aus-
Dichtungen, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1914, S. 9.                            gabe 3, S. 1.)
110                      Momme Mommsen                                              Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche      111

von Divan-Gedichten noch monatelang planmäßig weiter aus-                samtzahl - in chronologische Schwierigkeiten durch Burdachs
baute, auf dem einzigen Gebiet der Spruchdichtung bereits am             Terminus vom 26. Januar 1815.
26. Januar 1815 bewußt ein: Bis hierher und nicht weiter ge-                Drei Gedichte wurden angeregt durch Lektüre eines Buchs, das
sprochen und sich dann daran wie an eine strikte Weisung gehal-          Goethe erst am 11. März 1815 aus der Weimarer Bibliothek ent-
ten. Ende Januar 1815 war die Arbeit am Divan gerade voll in             lieh (bis 1. April 1815). Es handelt sich um die "Colligirte Reise-
Gang gekommen. Viele Quellenwerke begann Goethe erst nach                Beschreibung" des Adam Olearius, Ausgabe Hamburg 1696. In
diesem Zeitpunkt intensiver zu studieren und für seine Dichtung          dieser Ausgabe waren der bekannten Reisebeschreibung mehrere
auszuschöpfen, nicht zuletzt solche, die ihm nachweislich Anregun-       andere Schriften angehängt, und diese enthalten die Quellen zu
gen zu Spruchgedichten gaben.                                            folgenden Gedichten:
   Vor allem bleibt zu beachten, wie sehr die Kräutersche Rein-
schrift abschließenden Charakter trägt. Eine Fixierung des Be-             1. "Was brachte Lokmann nicht hervor." Chr. Wurm wies nach,
stands, wie Goethe sie damit vornahm, gehört apriori ans Ende            daß Saadis Bustan und Gülistan zugrunde liegt. Dem Bustan be-
einer Arbeitsepoche, nicht an ihren Anfang. In Hinblick auf die          gegnete Goethe erst in der oben genannten Olearius-Ausgabe.
Spruchdichtung des Divan war aber der Januar 1815 Frühstadium,
Beginn und nicht Ende. Charakteristisch dafür ist die Freizügig-           2. "Als ich einmal eine Spinne erschlagen." Das Gedicht wurde,
keit, mit der Goethe damals noch dem Divan-Projekt einzelne              wie Katharina Mommsen zeigte, angeregt durch die Reisebeschrei-
Stücke entzog, um sie unverzüglich innerhalb der Sammlung                bungen von Mandelslo und Volquard Iversen, die beide an die
 "Sprichwörtlich" (1815) zu veröffentlichen. Hätte er in dieser Zeit     Olearius-Ausgabe von 1696 angehängt waren 6 •
bereits an die Vereinigung von orientalisierenden Spruchgedichten
 zu einem Korpus gedacht, wie es sich in der Kräuterschen Rein-             3. "Herr! laß dir gefallen." Den Nachweis, daß auch hier Saa-
schrift realisiert, so wäre doch logischerweise alles Einschlägige       dis Bustan - wie bei Nr. 1 - die Quelle bot, gaben wir oben
 hier zusammengefaßt worden.                                             [hier nicht abgedruckt].
   Aus diesem allgemeinen überblick ergibt sich schon, daß mit
 größter Wahrscheinlichkeit vieles von dem, was die Kräutersche             Das Datum des 11. März 1815 - der ersten Entleihung jener
 Reinschrift enthält, erst in der Zeit von Februar bis Mai 1815          Olearius-Ausgabe von 1696 - muß folglich als ungefährer Ter-
 entstand. Man kann unmöglich bei der Vorstellung bleiben, daß           minus a quo für diese drei Gedichte gelten. Zwar stimmen die
 Goethe in diesen Monaten keinerlei Spruchgedichte mehr schrieb.         Entleihungsdaten nicht immer auf den Tag genau überein mit dem
 Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Zieht man die Quellen           Datum der ersten Benutzung eines Buchs; gelegentlich kann man
 in Betracht, die den Gedichten der Kräuterschen Reinschrift zu-         beobachten, daß Goethe ein Werk schon ein paar Tage vor dem
 grunde liegen, so läßt sich erkennen, daß eine große Anzahl dieser      offiziellen Ausleihedatum in Händen hatte. Aber bei diesen Fällen
 Gedichte am 26. Januar 1815 noch gar nicht existiert haben              ist der chronologische Spielraum erfahrungsgemäß begrenzt. Eine
 können.                                                                 Zeitspanne von fast sieben Wochen wäre als Differenz undenk-
    Für die meisten Gedichte, die sich auf der Kräuterschen Rein-        bar.
 schrift befinden, gilt, daß sie "orientalische Sinnreden" zur Vorlage      Bei sechs weiteren Gedichten, die in der Kräuterschen Reinschrift
 haben. Prüft man nun auf Grund der Entleihungsdaten und Tage-
 buchzeugnisse, wann Goethe erstmals die Quellenschriften las, so          6 Vgl. K. Mommsen: "Indisches" im West-östlichen Divan. In: Jahr-

 kommt man bei zumindest neun - also bei einem Viertel der Ge-           buch Goethe 22 (1960) S. 294-97.
114                      Momme Mommsen                                            Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche      115

im Februar oder März, werden auch die sechs Chardin-Gedichte -         men" versehene Papierkapsel befindet, die zur Sammlung von
mit ihren jeweiligen Vorstufen - entstanden sein, die wir auf          Handschriften für das Buch der Sprüche dienen sollte.
der Kräuterschen Reinschrift finden. Gerade am Beispiel dieser            In Wirklichkeit ist damit gar nichts bewiesen. Mit dem Wort
Gedichte bestätigt es sich, daß mit dem 26. Januar 1815 ein grund-     "Gnomen" bezeichnete Goethe in seinen Tagebüchern zu den ver-
sätzlich viel zu frühes Datum für die Entstehung der Kräuterschen      schiedensten Zeiten alles mögliche Spruch- und Sentenzartige, nur
Reinschrift angesetzt wurde. Hier war die Arbeit am Divan in           gerade nicht die Gedichte des Buchs der Sprüche. Für die Aufschrift
vollem Gang, noch in der Expansion begriffen. Von irgendeinem          "Gnomen" auf jener Kapsel - letztere dürfte wesentlich später
Stadium des Endes oder Einschnittes, wie es notwendige Voraus-         als zu Anfang des Jahres 1815 angelegt sein 10 - fehlen in Wahr-
setzung zur Herstellung der Kräuterschen Reinschrift wäre, kann        heit die Parallelzeugnisse. Denn auch die von Burdach angeführ-
noch keine Rede sein. Derartiges ist erst viel später festzustellen.   ten, im Januar 1815 von "Gnomen" sprechenden Tagebuchstellen be-
                                                                       ziehen sich keineswegs auf den West-östlichen Divan, sondern auf die
  Bei Berücksichtigung der Quellen ergibt sich also: am 26. Januar     soeben zum Druck vorbereitete Gedichtfolge, die Goethe unter dem
1815 hat mindestens ein Viertel der auf der Kräuterschen Rein-         Titel "Sprichwörtlich" publizierte. Dies sei jetzt näher betrachtet.
schrift enthaltenen Gedichte noch gar nicht existiert, sechs nach         Es war Burdach vor allem entgangen, daß Goethe in den Jahren
Chardin, drei nach Saadi, Mandelslo und Iversen gedichtete. Bur-       1814/1815 mit "Gnomen" vorzugsweise die damals im Entstehen
dachs These, der 26. Januar 1815 sei das Entstehungsdatum der          begriffene Sammlung "Sprichwörtlich" bezeichnete. Hätte er we-
Kräuterschen Reinschrift, ist im Hinblick auf diese Tatsachen          nigstens alle Tagebuchstellen in Betracht gezogen, an denen im
nicht aufrechtzuerhalten.                                              Januar 1815 das Wort "Gnomen" vorkommt - es sind nicht
                                                                       zwei, sondern insgesamt sechs! - so wäre ihm vielleicht ihr Zu-
                                                                       sammenhang mit "Sprichwörtlich" klargeworden. Da er es unter-
   1I. Die Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"         ließ und nur zwei Stellen isoliert herausgriff, bezog er die Tage-
             und ihr Verhältnis zum Buch der Sprüche                   buchaufzeichnung vom 26. Januar 1815 "Kreiter Gnomen
                                                                       Abschr[iftJ" statt auf "Sprichwörtlich" auf das Buch der
   Prüfen wir nun einmal die Argumente nach, die Burdach für           Sprüche des Divan. Das lenkte ihn auf die falsche Spur.
die Datierung der Kräuterschen Reinschrift vorbrachte. Am                 Als Burdach die Goetheschen Tagebuchnotizen durchging, hatte
19. Januar 1815 findet sich in Goethes Tagebuch der Vermerk:           er nur ein Augenmerk auf das eine Werk, dessen Herausgabe ihm
"Gnomen"; am 26. Januar 1815 heißt es ebendort: "Kreiter Gno-          oblag: den West-östlichen Divan. So achtete er zuwenig auf das,
men Abschr[ iftJ". Beide Notizen, so meinte Burdach, dürfe man         womit Goethe sich gleichzeitig beschäftigte. Dabei ist allerdings
auf das Buch der Sprüche beziehen, die zweite auf die Entstehung       ein Umstand zu beachten. Als Burdach in den achtziger Jahren des
der Kräuterschen Reinschrift. Mit dem Ausdruck "Gnomen" näm-           vorigen Jahrhunderts an dem Divan-Band der Weimarer Ausgabe
lich habe Goethe die Gedichte des Buchs der Sprüche bezeichnet.        arbeitete, standen ihm Goethes Tagebücher noch nicht gedruckt zur
Hierfür glaubte Burdach einen Beweis zu finden in dem Umstand,         Verfügung l l . Er war auf die sehr unübersichtlichen Originalhand-
daß sich unter den Divan-Papieren eine mit der Aufschrift "Gno-        schriften angewiesen, es fehlte ihm zudem das Hilfsmittel, das für
("Daß Araber an ihrem Theil"); am 17. März und 17. Mai 1815: "Nur        10 Vgl. Hans Albert Maier: Goethe. West-östlicher Divan. Bd. 2:

wenig ist's was ich verlange"; am 24. Mai 1815: "Vom Himmel steigend   Kommentar, Tübingen 1965, S. 18 f. und 224.
Jesus bracht'" (Reinschrift) und "Wenn der Mensch die Erde schätzet"     11 Die Jahrgänge 1815 und 1816 der Goetheschen Tagebücher erschie-

(Reinschrift).                                                         nen gedruckt erst 1893, in Abt. III, Bd. 5 der WA.
116                          Momme Mommsen                                          Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche     117

die Klärung entstehungsgeschichtlicher Fragen praktisch unentbehr-       (S. 1170), als auch unter dem Buch der Sprüche des Divan
lich ist: das Register der Tagebücher. Man darf also den Grund           (S. 1213). Bei beiden Werken versah er sie sämtlich mit Frage-
seines Irrtums im wesentlichen darin sehen, daß seine Infor-             zeichen. Allerdings verstand er sich nicht dazu, in der "Chrono-
mationsmöglichkeiten unzureichend waren. Gräf war bereits in             logischen Übersicht" (S. 890) unter dem Datum des 26. Januar
sehr viel besserer Lage. Er verfügte immerhin über die gedruck-          1815 die 36 Gedichte der Kräutersehen Handschrift zu nennen,
ten Tagebücher, als er die Lyrik-Bände seines Werks "Goethe über         wie das in den Divan-Kommentaren seit Burdach üblich wurde.
seine Dichtungen" bearbeitete. Mit der Entstehungsgeschichte             Offenbar glaubte er nicht an diesen Terminus ad quem.
sämtlicher Goethescher Dichtungen befaßt, mußte er sich jederzeit           Aufschlußreich ist, daß Gräf im Register zur 3. Abteilung der
Rechenschaft geben über die jeweilige Zugehörigkeit der Zeugnisse.       Weimarer Ausgabe (Tagebücher), das 1919 erschien - fünf Jahre
Das führte ihn notwendig dazu, daß er auch die Tagebuchnotiz             nach dem Register seiner Lyrik-Bände - , deutlicher wurde. Die
 vom 26. Januar 1815 richtiger interpretierte als Burdach. Er wies       "Gnomen"-Stellen von Januar 1815 teilte er zwar wiederum bei-
auf die Möglichkeit des Zusammenhangs mit der Sammlung                   den Werken zu; Fragezeichen setzte er aber diesmal nur beim
 "Sprichwörtlich" hin.                                                   Buch der Sprüche hinzu, bei "Sprichwörtlich" ließ er sie fort!
   Schwerer verständlich mag es erscheinen, daß Burdach sich später         Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem
 nicht revidiert hat, als die nötigen Hilfsmittel vorlagen, beispiels-   Rücksicht auf Burdach war, die Gräf daran hinderte, seine Mei-
 weise auch das wichtige Werk "Goethe als Benutzer der Weimarer          nung klarer zu bekunden. Polemik suchte er stets zu vermeiden
 Bibliothek" (von Keudell und Deetjen, 1931), das über die Lektüre       oder aufs Notwendigste zu beschränken. Um seine Ansicht durch
 der Quellenwerke Auskunft gibt. Doch hielt Burdach sogar noch           zusätzliche Beweise stützen und sie dadurch energischer vortragen
 in dem 1937 erschienenen Divan-Band der Welt-Goethe-Ausgabe             zu können, hätte er im übrigen seine Beobachtungen auf die Quel-
 an seiner unrichtigen Datierung der Kräutersehen Reinschrift fest.      lenverhältnisse bei den Gedichten der Kräutersehen Reinschrift aus-
    Leider bekannte sich Gräf zu seiner besseren Einsicht nicht mit      dehnen müssen, wie wir das oben taten. Das hätte ihn im Rahmen
 der nötigen Entschiedenheit. Diesem Umstand dürfte es vor allem         der großen ihm obliegenden Aufgabe zu weit geführt.
 zu verdanken sein, daß Burdachs These sich bis heute unange-               Gestützt auf die Erkenntnis, daß die Gedichte der Kräuterschen
 fochten behaupten konnte. In einer Anmerkung sprach Gräf zwar           Reinschrift am 26. Januar 1815 schon im Hinblick auf die von
 deutlich aus, daß er entgegen "Burdachs Annahme" glaube, die            Goethe benutzten Quellen zum Teil noch nicht existiert haben
 Erwähnung der "Gnomen" in Goethes Tagebuch vom 19. und                  können, wollen wir uns nun nochmals mit der Frage beschäftigen,
 26. Januar 1815 bezöge sich auf "Sprichwörtlich"12. Er wies da-         wie es mit den entstehungsgeschichtlichen Zeugnissen wirklich be-
 bei auch auf die vier TagebuchsteIlen hin, von denen Burdach nicht      stellt ist, die bisher noch mit Zweifeln behaftet erscheinen. Die
 Notiz nahm. Bei der Interpretation der einzelnen Zeugnisse wich         ersten Spruchgedichte für den Divan schrieb Goethe gerade zu je-
 er aber einer klaren Entscheidung aus. Er nannte sowohl "Sprich-        ner Zeit, als er aufs intensivste mit dem Abschluß der Sammlung
 wörtlich" als auch den Divan als mögliche Beziehung.                    "Sprichwörtlich" befaßt war. Infolgedessen überschneiden sich die
    Auch im Register zu den Lyrik-Bänden von "Goethe über seine          Entstehungsgeschichten beider Spruchsammlungen in einer prä-
 Dichtungen" gab Gräf seiner eigentlichen Meinung nicht Ausdruck.        gnanten Epoche, und aus dieser Überschneidung resultieren die
 Die sechs Tagebuch-Zeugnisse von Januar 1815, die von "Gnomen"          Irrtümer und Unsicherheiten, denen wir begegneten.
 sprechen, führte er dort sowohl unter "Sprichwörtlich" auf                 Die nötige Klarheit läßt sich nur gewinnen, wenn wir zunächst
                                                                         einmal die gesamte Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprich-
      12 Vgl. oben Anm. 4.                                               wörtlich" vor Augen führen. Es wird sich dann zeigen, daß die
118                       Momme Mommsen                                              Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche        119

uns besonders interessierenden Zeugnisse des Januar 1815 in die-                                          1814
sem Rahmen ihre notwendige Funktion haben: sie betreffen näm-            Jan.   1. Zu Mittag Riemer. Ernst und Scherz Reden aller Sprachen und
lich die Herstellung der Druckvorlage für dies sehr umfangreiche                    Art sortirt.
                                                                                1. Riemer Tagebuch (JbSK15 3, 56 L): Nach Tisch mit Goethe im
Korpus von Spruchgedichten und haben nichts mit dem Divan zu
                                                                                   Deckenzimmer. Las ich ihm einige Reflexionen von mir vor,
tun. Erst wenn uns diese Verhältnisse bei "Sprichwörtlich" ein-
                                                                                   die er billigte. Dies bewog ihn, seine auf Karten und sonst
deutig klargeworden sind, läßt sich die Entstehungsgeschichte des                  notierten Sinnsprüche und Reime hervorzuholen. Wir ord-
Buchs der Sprüche richtig verstehen.                                                neten sie bis 8 Uhr.
   Die verfügbaren Zeugnisse für die Entstehung von "Sprich-                    2. Mittag Riemer. Gedichte und Aufsätze sortirt.
wörtlich" mögen hier einmal in ihrem eigenen Zusammenhang er-                   3. Manches geordnet. [?]
scheinen. Sie werden damit eine Übersichtlichkeit gewinnen, die                 3. An Riemer (WA IV 24, 85): Mögen Sie, mein lieber Professor,
Gräf ihnen im Rahmen seines Sammelwerkes nicht geben konnte.                       beyliegende Gedichte nach Muster des gleichfalls von Ihrer
Auch lassen sich heute wichtige Zeugnisse zusätzlich anführen, die                  Hand beyliegenden, nach Maaßgabe der Länge entweder ein-
Gräf noch nicht zur Verfügung standen.                                             blättrig oder zweyblättrig abschreiben; so werden wir unsere
                                                                                   Redaction dadurch sehr befördert sehen. Da Sie den heutigen
   Die Sammlung "Sprichwörtlich" erschien zuerst 1816 - der
                                                                                   Abend wohl für sich zu thun haben, ich aber die morgende
Titel nennt als Druckjahr 1815 - im zweiten Band der Ausgabe                       ganze Zeit versagt bin, so wäre es hübsch wenn Sie sich ein-
B von Cotta 13 . Dieser Band enthält viele bis dahin ungedruckte                   richteten daß wir Mittwoch [lan. 5.] abends eine recht ernst-
Gedichte, wofür eine Anzahl neuer Abteilungen eingerichtet wur-                    liche Sess'ion halten könnten.
den. Mit ihren 209 Gedichten ist die Sammlung "Sprichwörtlich"                  4. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Schrieb ich für Goethe einige
die weitaus umfangreichste dieser Abteilungen, diejenige jedenfalls,               seiner Gedichte ab zur neuen Ausgabe.
die Goethe am meisten Arbeit machte. Auch befand sie sich noch                  5. [Abends] Riemer. Kleine Gedichte ausgesucht und revidirt.
bis zum Schluß im Ausbau. Die letzten Gedichte für "Sprichwört-                 6. Abend für mich Sinn- und Sittensprüche.
lich" wurden Anfang 1815 geschrieben, unmittelbar vor Herstel-                  7. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Abends bei Goethe, alte
lung des Druckmanuskripts.                                                         Poesien von ihm und andern. [?]
                                                                                8. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis? -: Sprichwörter aller
   Mehrere von den neuen Abteilungen jenes zweiten Bandes
                                                                                   Nationen. [Wahrscheinlich verschiedene Einzelausgaben.])16
brachten Gedichte von verhältnismäßig geringem Umfang, so z. B.                10. Adagia.
"Epigrammatisch", "Gott, Gemüth und Welt", "An Personen".                      11. Sitten Sprüche.
Für das Verständnis der folgenden Zeugnisse ist es wichtig, zu                 12. [Abends] Gnomen.
berücksichtigen, daß die mehrfach auftauchende Bezeichnung               Febr. 3. Abends für mich. Tagesreime.
"Kleine Gedichte" sich gelegentlich auch auf diese Abteilungen be-             13. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 60): Früh Abschrift Goethescher
ziehen kann, für die sonst weiter keine unmittelbaren Entstehungs-                 Gedichte. [?]
zeugnisse existieren14.                                                        14. [Abends] Riemer ... Gnomen.
                                                                               18. [Abends] Riemer. Sonderung des Babylonischen,17
  13 Die Herausgabe verzögerte sich bis Frühjahr 1816. Die ersten bei-
den Bände der Ausgabe erschienen auch gesondert unter dem Titel             15 = Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Bd. 3, Leipzig 1923.
"Goethe's Gedichte".                                                        16 Zitiert aus: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Bearb.
  14 Unter Umständen bedeutet "Kleine Gedichte" auch: Gedichte über-     von Elise v. Keudell. Hrsg. von Werner Deetjen. Weimar 1931.
haupt, im Gegensatz zu größeren Werken. Vgl. unten 21. Dez. 1814: an        17 Das letzte Wort deutete Gräf irrig auf: Sonderung von ]ugendge-
Cotta.                                                                   dichten für Bd. 1 und 2 der Ausgabe Cotta B. Aus dem folgenden
120                         Momme Mommsen                                                Zur Entstehungsgesdtichte des Budts der Sprüdte         121
       18. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 60): Zu Goethe ... Den Abend             Jan.  21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis 30. Jan. 1815        Car-
           Gnomen u. dgl. rangiert.                                                    dani, Hieronymi, Operum T. 1. 2. Lugduni 1663.)21
Juli   19. Redaction meiner ersten Bände. Mittag Riemer. 18                        22. Gnomen.
       19. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 71): Auf Goethes Zimmer an                     23. Gnomen redigirt.
           seinen Werken.                                                          23. An Zelter (WA IV 25, 169): Meine ernstlidtste Betradttung
Dez.   21. An Corta (WA IV 25, 103): [Cotta habe gewünsdlt, Goethes                    ist jetzt die neuste Ausgabe meiner Lebens-Spuren, weldte
           "Werke wieder hervortreten zu sehen". Einverständnis und                    man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen
           Honorarforderung: 16000 Taler.] ... Ich werde die erste                     pflegt. In den zwey ersten Bänden wirst du manches finden
           Sendung [Manuskript zu Ausgabe Corta B Bd. 1 bis 4] bereit                  das quellenhaft ist, du wirst es sammeln und auf deine Mühle
           halten, daß sie auf eine gefällige Erklärung sogleich abgehen               leiten.
           kann, ob mir gleich die Redaction der kleineren Gedichte,               26. Kreiter Gnomen Absdtr[ift].
           welche ihren ersten Platz behaupten wollen, noch immer zu         Febr. 12. Gedidtte zweyter TheiI.
           schaffen macht;19 sie sind dergestalt angewachsen, daß ich sie          13. An den beyden ersten Bänden.
           in zwey Bände zu theilen genöthiget bin.                                14. Wie gestern früh.
                                                                                   15. Redaction der Gedidtte.
                                      1815                                         16. Arbeiten wie gestern.
Jan.    2.   Gedichte 2. Band.                                                     17. Arbeiten fortgesetzt.
        6.   Sprichwörtliches gesammelt ... [Nachmittags] Wie Morgens.             20. An Cotta (WA IV 25, 200): [Inhaltsverzeidtnis für Bd. 2 der
        7.   Redaction der kleinen Gedichte. [?]                                       Ausgabe Cotta B] : ... Sprichwörtlidt, über zwey Hundert.
        7.   An G. H. L. Nicolovius (WA IV 25, 134): Eine neue Ausgabe       März 27. [Absendung des Manuskripts an Cotta.]
             meiner Schriften beschäftigt mich ...
       16.   An Schelling (WA IV 25, 159): Eine frische Ausgabe meiner          Wir sehen, wie die Entstehungsgeschichte von "Sprichwörtlich"
             Werke, die ich so eben vorbereite, wird manches Neue bringen.   nur durch verhältnismäßig wenig Zeugnisse charakterisiert ist. Die
       17.   [Nachmittags] Redaction der kleinen Gedichte. [?]               Abteilung entstand in zwei kurzen Arbeitsepochen. Riemer gab
       18.   Bearbeitung der Gnomen.
                                                                             am 1. Januar 1814 den ersten Anstoß zum "Hervorholen" der
       19.   Gnomen.
                                                                             "Sinnsprüche und Reime", die Goethe seit mehreren Jahren ge-
       20.   Kreiter Gnomen. Nachricht von Cottas Acceptation. 20
                                                                             legentlich, aber wohl nicht ohne einen bestimmten ihm vorschwe-
       21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis 3. März 1815
           Zincgref, Julius Wilh.: ... Apophthegmata. Straßburg 1628/31      benden Plan geschrieben hatte. (Die wichtigen Riemerschen Tage-
           oder Frankfurt u. Leipzig 1653.)21                                buchzeugnisse standen Gräf noch nicht zur Verfügung.) Bis zum
                                                                             18. Februar 1814 beschäftigte Goethe sich nun mit den "Sitten-
Riemerschen Zeugnis, das Gräf noch nicht kannte, geht hervor, daß Ge-
dichte der Sammlung "Sprichwörtlich" gemeint sind. Zu "Babylonisch"          durch Lektüre von H. F. v. Diez' Einleitung zum Buch des Kabus. Dort
vgl. oben 1. J an. 1814: "Ernst und Scherz Reden aller Sprachen."            werden die Werke der beiden Autoren als Muster von Sentenzensamm-
   18 über die "Redaction" berichtet das Tagebuch weiter am 20.,             lungen erwähnt (S. 45 und 160). In der Liebe zu Spridtwfutern traf sidt
22.-24. Juli 1814. Sie betraf jedoch wesentlich "Lyrische und Gemischte      Goethe mit Diez. Dessen Denkwürdigkeiten von Asien (I), die er im
Gedichte" (Tagebuch 23. Juli).                                               Januar 1815 las, regten noch einige Gedidtte an, die in letzter Stunde
  19 Statt des Folgenden hieß es im Konzept ursprünglich: "indem gar man-    der Sammlung "Sprichwörtlidt" zugefügt wurden. WahrsdtejnIidt ver-
ches eingeschaltet und deshalb das frühere anders geordnet werden muß."      spradt Goethe sich weitere Anregungen von den beiden bei Di~z genann-
   20 Vgl. oben 21. Dez. 1814: an Cotta.                                     ten Büdtern, die er dann aus der Bibliothek entli~h. VgL Katharina
   21 Die Entleihung von Zincgref und Cardanus dürfte veranlaßt sein         Mommsen: Goethe und Diez. Berlin 1961. S. 86ff.
122                           Momme Mommsen                                       Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche    123

sprüchen", den "Gnomen" - der Ausdruck fällt schon hier mehr-           reichen Goetheschen Werk üblich zu sein pflegt, die Herstellung
mals! Sicherlich entstand damals noch vieles Neue. Hierauf läßt         der Reinschrift für den Druck. Daß das Tagebuch hiervon berich-
die Bibliotheksentleihung vom 8. Januar 1814 schließen. (Auch die       tet, ist natürlich und notwendig. Man würde entsprechende Zeug-
oben angeführten Zeugnisse über Bibliotheksentleihungen fehlen          nisse mit Recht vermissen oder nach ihnen suchen, falls sie hier
noch bei Gräf.)                                                         nicht klar gegeben wären. Durch die irrtümliche Inanspruchnahme
    Der Abschluß dieser Arbeitsepoche ist bezeichnet durch die          dieser Zeugnisse für den Divan wurde die Entstehungsgeschichte
Worte "Sondern" und "Rangieren" des "Babylonischen" (18. Fe-            eines anderen Goetheschen Werks in ihrer entscheidenden Phase
bruar 1814). Das weist darauf hin, daß das handschriftliche Ma-         geplündert und entsprechend entstellt.
terial, das Goethe gemeinsam mit Riemer durchsah, zu diesem                Die Zeugnisse vom Februar 1815 dürften nur mehr die übrigen
Zeitpunkt noch aus vielen Einzelblättern bestand. Eine Gesamt-          Abteilungen der beiden Gedichtbände betreffen, die zwar auch
reinschrift existierte offensichtlich noch nicht, denn Auswahl und      Neues, doch in jeweils kleinerem Umfang brachten. (So könnten
Ordnung ("Sondern", "Rangieren") sind Arbeitsvorgänge, die eine         sich auch die Tagebuchzeugnisse vom 7. und 17. Januar 1815 auf
solche Reinschrift erst vorbereiten.                                    andere Abteilungen, "Epigrammatisch" etc., beziehen.) Am 27.
    Die zweite Arbeitsepoche fällt in den Anfang des Jahres 1815.       März wurde das Manuskript für die ersten vier Bände der neuen
 Auf Vereinbarungen mit Cotta hin Z2 ging Goethe im Januar die-         Ausgabe zum Druck gesandt. Band 1 und 2 erschienen im April
 ses Jahres an die endgültige Redaktion der ersten Bände der neuen      1816; Cotta hatte die Auslieferung aus merkantilischen Gründen
 Ausgabe. Vor allem waren Band 1 und 2, die Gedichtbände, jetzt         solange hinausgeschoben.
 fertigzustellen. In den Vordergrund trat als größte noch zu be-
 wältigende Aufgabe die abschließende Arbeit an "Sprichwörtlich" ,
 der umfangreichsten neuen Abteilung in Band 2.                                  IlI. Die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift
     Und jetzt stellt es sich klar heraus, welche Bewandtnis es damit
 hat, wenn Goethes Tagebuch im Januar 1815 so oft von "Gno-                Nach der im vorigen Abschnitt angestellten Untersuchung ist
 men" spricht (18.-20., 22., 23., 26. Januar). Bezug genommen           nunmehr Klarheit darüber geschaffen: es gibt im Januar 1815
 wird damit auf die Anfertigung des noch fehlenden Druckmanu-           überhaupt kein Zeugnis in Goethes Tagebüchern, das sich auf die
 skripts für "Sprichwörtlich"! Ein paarmal ist zu lesen, daß Goethe     in der Kräuterschen Reinschrift enthaltenen Gedichte beziehen
  "Sprichwörtliches gesammelt" hat (6.), daß Gnomen "bearbeitet"        läßt. Die Erwähnung der "Gnomen" und "Kleinen Gedichte" be-
  (18.), "redigirt" werden (23.): Beweis, daß die Reinschrift nicht     trifft nicht Spruchgedichte des West-östlichen Divan, sondern die
 vorliegt, sondern erst im Werden ist. Auch Neues kommt jetzt           Sammlung Sprichwörtlich und ihre letzte Redaktion. Damit sind
  noch hinzu 23 • Doch am 20. Januar ist Kräuter bereits mit der Her-   die Hindernisse beseitigt, die das Verständnis für den Werdepro-
  stellung des Druckmanuskripts befaßt und am 26. Januar schließt       zeß des Buchs der Sprüche so sehr beeinträchtigten. Wir sind be-
  er die Arbeit daran ab.                                               freit von der unmöglichen Forderung, annehmen zu/müssen, die
     Mit dem 26. Januar 1815 - dem uns besonders interessierenden       Hauptmasse der Gedichte dieses Buchs sei einzig und allein in der
  Datum -         endigt die eigentliche Entstehungsgeschichte von      Anfangsphase der lang andauernden Schaffensperiode des Früh-
   "Sprichwörtlich". Am Schluß steht, wie es bei einem umfang-          jahrs 1815 gedichtet - als habe Goethe vorsätzlich und unbe-
                                                                        greiflich früh am 26. Januar 1815 mit der Pflege dieSer Gedicht-
      22   Vgl. 21. Dezember 1814: an Cotta.                            gattung Schluß gemacht. Jetzt endlich steht nichts mehr iim Wege,
      23   Vgl. oben Anm. 21.                                           die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Die Arbeit an den
124                            Momme Mommsen                                                Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche          125

Spruchgedichten erstreckte sich über das gesamte Frühjahr, den                     Mit den letzten Worten ist natürlich auf die Spruchgedichte
Zeitraum von Dezember 1814 bis Mai 1815.                                        hingedeutet. Auffällig ist, daß Goethe sich weder über ihre Form
   Hiermit stimmen nun auch die sonstigen Tatsachen überein, mit                noch ihre Zahl im klaren war. Die Gedichte, auf die er hier an-
denen wir zu rechnen haben. Wir sahen, daß gewisse Gedichte der                 spielt, waren in Wirklichkeit alle Vier- oder Zweizeiler! Dann
Kräuterschen Reinschrift auf Grund ihrer Quellen späteren Ur-                   aber ist auch die Angabe hundert viel zu hoch gegriffen. Offen-
sprungs als Januar 1815 sein mußten. In diesem Zusammenhang                     sichtlich lag die Kräutersche Reinschrift noch nicht vor. Sie hätte
spielten die Entleihungsdaten eine ausschlaggebende Rolle. Be-                  mit dem besseren überblick eine genauere Formulierung ermög-
trachten wir diese Entleihungsdaten aber nochmals im überblick, so              licht. Burdach meinte, es seien in dem Brief an Cotta Gedichte mit
ergibt sich: gerade diejenigen Orientwerke, von denen die meisten               in Betracht gezogen, die später unter die Zahmen Xenien gestellt
Anregungen zu Spruchgedichten ausgingen, wurden von Goethe                      wurden 2s • Aber diese Erklärung steht auf schwachen Füßen. So-
nicht etwa nur im Januar, sondern bis in den Mai 1815 von der                   viel orientalisierende Zahme Xenien - es müßten an die 60
Weimarer Bibliothek entliehen: nämlich bis zur Abreise nach                     sein - kennen wir gar nicht. Zu damaliger Zeit dürften über-
Wiesbaden, die der Arbeitsperiode des Frühjahrs 1815 erst ein                   haupt nur wenige existiert haben.
Ende setzte. So entlieh der Dichter beispielsweise von Januar bis                  .i\hnliche Unsicherheit tritt auch in einer weiteren Erwähnung
Mai 1815: Saadis Gulistan, Chardins Voyages en Perse, die Fund-                 der Spruchgedichte zutage, die von Ende Mai 1815 stammt. Am
 gruben des Orients, Diez' Denkwürdigkeiten von Asien Bd. 1                     31. Mai 1815 schrieb Goethe an Christiane und August von Goethe
 und das Buch des Kabus. Dies waren Hauptquellenwerke für die                   aus Wiesbaden 26 :
 Divan-Spruchgedichte, und nichts hindert uns mehr, anzunehmen,
                                                                                     "Auch sind die neuen Glieder des D i v ans reinlich eingeschaltet
 daß Goethe bis in den Mai 1815 hinein Anregungen von ihnen                          und ein frischer Addreßcalender der ganzen Versammlung geschrie-
 empfangen hat.                                                                      ben, die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beygänger und kleine
   Andererseits ist der größte Teil des auf der Kräuterschen Rein-                   Dienerschaft nicht gerechnet."
 schrift Enthaltenen sicherlich bereits bis zur Abreise nach Wies-
 baden (Mai 1815) entstanden. Nach diesem Zeitpunkt standen                        Mit dem "Addreßcalender" ist das am Tage zuvor niederge-
 Goethe die Quellenwerke nicht mehr zur Verfügung. Allenfalls                   schriebene, hundert Nummern umfassende Wiesbadener Register
 könnte einzelnes, das nach Hafis, nach unbekannten Vorlagen                    gemeint. In diesem hatte Goethe die größeren Gedichte gezählt,
 oder ausnahmsweise ohne zugrundeliegende "orientalische Sinn-                  die kleineren nicht. über ihre Menge weiß er auch in den Briefen
 reden" gedichtet war, noch später entstanden sein.                             an Christiane und August keine Angabe zu machen, es bleibt bei
    Die ersten sicheren Zeugnisse, die etwas über Divan-Spruch-                 den ganz unbestimmten Bezeichnungen "Beygänger und kleine
 gedichte aussagen, stammen von Mai 1815, aus der Zeit kurz vor                 Dienerschaft". Das darf als weiterer Beweis gelten, daß die Kräu-
 und kurz nach der Abreise nach Wiesbaden. In der für Cotta                     tersche Reinschrift noch nicht vorlag.
 bestimmten Charakteristik des Divan-Plans vom 16. Mai 1815
 schrieb Goethe - der Brief an Cotta wurde nicht abgesandt - :
                                                                                   25 WA I 6, S. 400. Vgl. auch Gräf !II 2, S. 34 zur Stelle; ferner Bur-
           "Mein Divan besteht gegenwärtig schon ohngefähr aus hundert          dach, Akademievorträge S. 68.
           größern Gedichten von mehreren Strophen und Zeilen, und von             26 WA IV 26, S. 5 und 7. Datierung der im Folgenden zitiel'ten Brief-
           vielleicht eben soviel kleineren, von acht Zeilen und drunter24 ."   stelle nach H. G. Gräf, Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Frank-
                                                                                furt a. M. 1916. S. 368. (Gräf datiert wohl nach Goethes Tagebuch.) Die
      24   WA IV 25, S. 416.                                                    Briefe wurden abgesandt am 7. und 8. Juni 1815.
126                      Momme Mommsen                                            Zur Entstehungsgesc..ltichte des Buchs der Sprüche         127
   Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 1815 werden die da-           sämtliche Reinschriften der im Wiesbadener Register aufgeführten
mals existierenden orientalisierenden Spruchgedichte, die "Bey-      Gedichte mit der entsprechenden Nummer, die sie in dem Ver-
gänger und kleine Dienerschaft", vermutlich erwähnt unter Punkt      zeichnis erhalten hatten. Diese Nummer schrieb er mit roter Tinte
7, wo es heißt: "Talismane pp"27. Hierauf hat als erster Burdach     in die linke obere Ecke des jeweiligen Blatts. Daß eine solche
in der Weimarer Ausgabe hingewiesen. Allerdings glaubte Burdach,     Zählung bei der Kräutersehen Reinschrift fehlt, läßt mit Sicher-
unter "Talismane pp" sei im engeren Sinne die Kräutersehe Rein-      heit darauf schließen: sie existierte überhaupt noch nicht, als das
schrift zu verstehen. Denn in dieser beginnt ein Blatt, das die      Register angelegt wurde!28
ersten fünf Gedichte des nachmaligen Buchs der Sprüche in der
uns aus dem Divan bekannten Reihenfolge enthält, mit dem Ge-            Bezieht sich auch die Eintragung unter Nummer 7 des Wies-
dicht:                                                               badener Registers: "Talismane pp" nicht auf die Kräutersche
            Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen,              Reinschrift als solche, so schließt das doch nicht aus, daß mit ihr
            Das bewirkt ein Gleichgewicht.                           auf die Menge der bereits in Einzelhandschriften vorliegenden
            Wer mit gläubiger Nadel sticht                           orientalisierenden Spruchgedichte hingedeutet sein mag. Offenbar
            überall soll gutes Wort ihn freuen.
                                                                     bevorzugte Goethe für diese zur damaligen Zeit die Benennung
   So überzeugend diese These Burdachs auf den ersten Blick aus-     "Talismane"29 - wie er den Gedichten von Sprichwörtlich gern
sieht - wir müssen uns doch von ihr befreien. Immer ging ja          die Bezeichnung "Gnomen" gab. Das Wort "Talismane" erinnerte
Burdach von der Annahme aus, die Kräutersehe Reinschrift sei        an die Herkunft aus "orientalischen Sinnreden" und entsprach
bereits am 26. Januar 1815 entstanden. Wir sahen, daß das nicht     überhaupt der Atmosphäre des Divan. Das Gedicht " Talismane
der Fall war und werden weiter zeigen, daß sie erst geraume Zeit    werd' ich in dem Buch zerstreuen", und besonders natürlich der
nach der Niederschrift des Wiesbadener Registers, nämlich im        Umstand, daß es später an den Anfang des Buchs der Sprüche
Oktober 1815 angefertigt ward. Für jetzt seien nur die beiden       gestellt wurde, läßt - unter anderem - auf diese Benennung
Hauptgründe angeführt, die gegen die Existenz der Kräuterschen      schließen. Das GediLht, das zur Zeit des Wiesbadener Registers
Reinschrift zur Zeit der Abfassung des Wiesbadener Registers        sicherlich schon existierte, zeigt aber noch etwas mehr. Man darf
sprechen.                                                           es Goethe ruhig glauben, daß er damals beabsichtigte, die" Talis-

   1. Aus den angeführten Briefzeugnissen ging hervor, daß              28 Burdach selbst hat auf die durchgehende Bezifferung der Reinschrif-
Goethe keine übersicht über die wirkliche Anzahl und Form der        ten wiederholt hingewiesen. (Burdach, Akademievorträge S. 76; Welt-
damals vorliegenden Spruchgedichte hatte. Die Existenz der Kräu-     Goethe-Ausgabe Bd.5, S.380.) Er unterließ es aber zu erwähnen, daß
terschen Reinschrift hätte ihn zu bestimmteren, weniger vagen        bei der Kräuterschen Reinschrift, die er als zur Zeit des Wiesbadener
und irrigen Angaben führen müssen.                                   Registers existent ansah, diese Zählung fehlt, hier somit die einzige Aus-
                                                                    nahme vorläge. Eine weitere Ausnahme bildet die Handschrift von
   2. Wenn Punkt 7 des Wiesbadener Registers "Talismane pp          "Erschaffen und 'Beleben". Hier wies Burdach jedoch mit gU"ten Gründen
sich auf die Kräutersche Reinschrift bezöge, so wäre unbedingt zu   darauf hin, daß die mit der Zählung versehene Reinschrift vermutlich von
                                                                    Goethe an Zelter gesandt war. Nur bei einer verhältnismäßig geringen
erwarten, daß letztere einen entsprechenden Zählungsvermerk,
                                                                    Anzahl von den im Wiesbadener Register aufgeführten Gedichten fehlt
also die Ziffer 7, trüge. Goethe versah nämlich, wie man weiß,
                                                                    uns die Kontrolle über die Bezifferung, weil die Handschrifte~ verschol-
                                                                    len sind.
  27 WA I 6, S. 314. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 3.                  29 Vgl. unten S. 131 ff.
128                       Momme Mommsen                                               Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche      129

mane" wirklich in dem "Buch" zu "zerstreuen". Der Vierzeiler                  Der Vermerk "Talismane pp" unter Nummer 7 des Wiesbade-
sollte in dieser Hinsicht wörtlich genommen werden, so wie er bei          ner Registers deutete nur auf die Existenz der Spruchgedichte
seiner Konzeption gemeint war.                                             hin, über deren Form und Zahl sich Goethe nicht im klaren war,
   Der "Deutsche Divan", für den Goethe im Wiesbadener Regi-               und er erinnerte an die Absicht, diese Gedichte später im Divan
ster eine erste Vorordnung traf, sollte ja nicht aus einzelnen             zu "zerstreuen". Es ist ganz verständlich, daß die "Zerstreuung"
Büchern bestehen, sondern die Gedichte in ungezwungener Reihen-            als solche noch nicht in dem Register, das nur vorläufig die 100
folge bringen. (Die Einteilung in Bücher erfolgte erst im Oktober          wichtigsten Gedichte verzeichnen sollte, vorgenommen wurde. Dies
1815.) Es war zunächst nur ein Korpus von Gedichten geplant,               konnte erst geschehen, wenn es an die endgültige Ausgestaltung
das formal etwa der Gruppe "Lieder" oder "Vermischte Ge-                   ging. Bis zu dieser sollte der "Deutsche Divan" - wie Goethe
dichte" in den bereits bestehenden Ausgaben Goethescher Werke              16. Mai 1815 an Cotta schrieb - "noch um manche Glieder ver-
entsprach. Innerhalb dieses einheitlichen Ganzen wollte der Dich-          mehrt" werden 31 • Erst wenn alles beisammen war, ließ sich die
ter - dies besagt doch der genannte Vierzeiler - die Spruchge-             Zerstreuung der "Talismane" vornehmen, sie mußte bis zuletzt
dichte als Talismane "zerstreuen"; der Leser sollte "mit gläubiger         aufgeschoben werden.
Nadel stechen" und sich Orakel holen. Damit wäre ein "Gleich-                 Daß Goethe im Ernst daran gedacht haben sollte, bereits an
gewicht bewirkt": das in seiner Grundtendenz leidenschaftliche             siebenter Stelle des "Deutschen Divan" den gesamten Komplex der
Werk wäre zugleich ein Weisheitsbuch gewesen. Zugrunde lag die             "Talismane" hintereinander aufmarschieren zu lassen, darf als aus-
Vorstellung von dem "Buchorakel", die Goethe von Jugend her                geschlossen gelten. Es wäre in formaler Hinsicht ganz unsinnig
vertraut war.                                                             gewesen, das Werk gleich zu Anfang mit drei Dutzend Spruch-
   Das Kapitel "Buchorakel" der Noten und Abhandlungen deu-               gedichten zu belasten. Das Publikum hätte auf diese Weise viele
tet darauf hin, daß Goethe diese Lieblingsidee auch in dem end-           Seiten durchlesen müssen, ehe es überhaupt auf Partien traf, die
gültigen Divan verwirklicht hatte, wenn auch in abgewandelter             von dem wesentlichen Charakter und dem eigentlich Neuen des
Form. Die "Talismane" selbst standen hier nun in einem geschlos-          Werks einen Begriff gaben. Nicht ein einziges Gedicht hätte den
senen Buch beisammen. Doch waren inzwischen so viel sonstige              Leser vorher auch nur mit der Gestalt des Hafis bekannt gemacht,
Weisheitsgedichte in dem gesamten Werk "zerstreut", daß die ur-           die doch damals noch ganz und gar zentral war - sollte doch der
sprüngliche Idee als auf andere Weise realisiert gelten konnte. Wie       "Deutsche Divan" zu Hafis in "stetem Bezug" stehn 32 • Die
stark Goethe schon 1815 von ihr beherrscht wurde, wie wörtlich            Spruchgedichte hätten sich mit ihrer erdrückenden Menge wie eine
also der auf das Buchorakel deutende Vierzeiler "Talismane                gewaltige Exposition ausgenommen, auf die dann ganz etwas
werd' ich in dem Buch zerstreuen" zu nehmen sei, zeigt das ge-            anderes gefolgt wäre. So komponiert Goethe nicht, dem ein un-
meinsame "Däumeln" im Divan des Hafis, von dem Boisseree aus              trüglicher Instinkt für Maß und Proportion eignete, der gerade
den Tagen des Zusammenseins mit Goethe - Oktober 1815 -                   auf sinnvolle Exposition und Abfolge zu allen Zeiten besondere
berichtet30 •                                                             Sorgfalt wandte. Dem Dichter eine derartige kompositorische
                                                                          Unmöglichkeit zuzutrauen, war ein schwer verständlicher Fehl-
  30 Vgl. Boisserees Tagebuch vom 7. Oktober 1815: "Wir däumeln im
                                                                          griff Burdachs. Welche Unform dabei zustande gekommen wäre,
Divan. Ich immer unglücklich - oder doch schlecht u. verworren,           zeigt der von E. Grumach veranstaltete Druck der im Wiesbadener
G[oethe] meist verliebt." (Firmenich-Richartz S. 426.) "Divan" bedeutet     31 WA IV 25, S. 415.
hier: die Hafis-übersetzung von J. v. Hammer, nicht etwa Goethes            32 Vgl. das projektierte Titelblatt zum "Deutschen Divan" von 1815
Divan-Manuskript.                                                         (Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 1).
130                      Momme Mommsen                                               Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche         131

Register genannten Gedichte gemäß Burdachs Vorstellungen, den             lung des Divans in Bücher fiel die Entscheidung. Jetzt erwies sich
man jetzt in den "Akademievorträgen" lesen kann 33 •                      das Gedicht als die geeignetste Einleitung zum Buch der Sprüche.
   Wie Goethe wirklich im Wiesbadener Register auf Exposition                Aus den Tagebuchzeugnissen, die von der Herstellung des Wies-
bedacht war, sieht man eher hieran: bevor unter Nr. 7 die Spruch-         badener Registers berichten, ist zu erkennen, daß die" Talismane"
gedichte als "Talismane" erscheinen, wird in Nr. 4 ("Segenspfän-          ein Problem bildeten, das noch in letzter Stunde gelöst werden
der") und in Nr. 5 ("Gottes ist der Orient")34 klargestellt, was es       mußte, ehe das Register niedergeschrieben werden konnte. Den Ent-
mit solchen Talismanen etc. auf sich hat. Nr. 4 enthält eine Schil-       schluß, ein Gesamtverzeichnis der Gedichte anzufertigen, mag Goethe
derung ihres Charakters, Nr. 5 gibt praktische Beispiele, zu einem        in den Reisetagen gefaßt haben, als er von Weimar nach Wiesbaden
Ganzen zusammengestellt. Natürlich dachte Goethe bei dem Ver-             unterwegs war (24. bis 27. Mai 1815). Kaum in Wiesbaden ange-
merk Nr. 7: "Talismane pp" nicht an die Aufeinanderfolge von              kommen, nimmt er die Arbeit vor. Nun lesen wir im Tagebuch:
drei Dutzend Spruchgedichten, sondern an den Beginn des "Zer-             Mai   27. In Wiesbaden 1"12. Im Bären eingekehrt. Einrichtung. Biblio-
streuens". Sicherlich sollte das Gedicht "Talismane werd' ich in                    thekar Hundeshagen. Den Divan geordnet.
dem Buch zerstreuen" an die Spitze der eingestreuten Gedichte                   28. Divan. Register. Gebadet. Fortsetzung am Divan. Mittag für
treten. Die Einschaltung des größeren Gedichts Nr. 6 ("Vier Gna-                    mich. Talismane Amulete.
den") weist übrigens deutlich auf die Tendenz hin, die Spruchge-                29. [Nachmittags] Divan numerirt.
dichte nicht in einer Folge erscheinen zu lassen.                               30. [Nachmittags] Divan Verzeichniß.
   Dem Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen"                   Zwischen "Ordnung" und "Numerierung" beschäftigten Goethe
kommt eine Schlüsselstellung zu. Es bedurfte der Exposition - die         also nochmals "Talismane Amulete". Hierbei könnte es sich
in Nr. 4 und 5 erfolgte - , hatte aber selbst expositionellen             um das Gedicht "Segenspfänder" gehandelt haben, und entspre-
Charakter. Anscheinend trug Goethe sich eine Zeitlang mit dem             chend interpretiert auch Graf das Zeugnis vom 28. Mai; Strophe 1
Gedanken, es zu dem Expositionsgedicht Nr. 4 ("Segenspfänder")            und 2 des Gedichtes schildern ja den Charakter von Talismanen
hinzuzuziehen. Denn in der Handschrift dieses Gedichts steht              und Amuletten. Aber "Segenspfänder" war schon früher ge-
am Schluß unter der fünften Strophe von des Dichters Hand der             dichtet, es ist recht unwahrscheinlich, daß Goethe zum jetzi-
Vermerk: "Das sechste?" Wenn wir in Betracht ziehen, daß das              gen Zeitpunkt noch so viel an dem Gedicht zu tun fand, daß eine
Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen" damals               Erwähnung dieser Arbeit im Tagebuch sich gelohnt hätte. Infolge-
noch in einer Einzelhandschrift, und nur in dieser, vorlag, so wer-       dessen wird man die Eintragung: "Talismane Amulete" wohl auf
den wir "Das sechste?" am besten auf dieses Gedicht beziehen. Es          die Beschäftigung mit dem gesamten Problem der "Talismane"
hätte als sechstes Teilstück der "Segenspfänder" einen überaus            beziehen müssen, wie es sich dem Dichter nun vor der Registrie-
sinnvollen Platz gefunden im Hinblick auf die umfassende Expo-            rung der Divan-Gedichte stellte. Goethe wird überlegt haben, wie
sition. Mit dem Vermerk "Das sechste?" hielt Goethe sich an-              die Masse der Spruchgedichte in jenem Verzeichnis zu behandeln
scheinend diese Möglichkeit offen. Bei der später erfolgten Eintei-       sei, die er als "Talismane" zu "zerstreuen" gedachte. Hierfür war
                                                                          auch an eine Exposition zu denken; das führte zu einer Beschäfti-
                                                                          gung mit den jetzt "Segenpfänder" und "Talismane" benannten
   33 Burdach, Akademievorträge S. 112-116.
   34 Unter Nr. 5 nennt das Wiesbadener Register den Titel: "Talismane,   Gedichten 35 . Resultat dieser überlegungen war dann -        zum
Amulete Abraxas und Siegel". Gemeint ist jedoch das Gedicht"Talis-
mane" ("Gottes ist der Orient"). Der Irrtum ist eine Folge des Ver-         35 Bei dieser Gelegenheit mag das Versehen passiert sein, auf das
sehens, von dem unten Anm. 35 gesprochen wird.                            Burdach hinwies (WA 6, 363 f.; Burdach, Akademievorträge S. 71): der
132                       Momme Mommsen                                               Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche     133

mindesten - die Anordnung der Nummer 4 bis 7 des Wiesbade-                 fünf Monate dauernde Rhein-Main-Reise von 1815 ihr Ende
ner Registers, über die wir oben sprachen.                                 fand - , wurde auch die neue Form des Divan bestimmt. "Divan
                                                                           in Bücher eingetheilt", heißt es im Tagebuch vom 6. Oktober
   Aus den zunächst auf die Niederschrift des Wiesbadener Regi-            1815, und tatsächlich trat Goethe am darauffolgenden Tage die
sters folgenden vier Monaten berichten keinerlei Zeugnisse von             Heimreise an.
der Beschäftigung mit Spruchgedichten bzw. "Talismanen". Der                  In Weimar, wo der Dichter am 11. Oktober eintraf, wurden
Divan wurde in dieser Zeit "auf eine sehr brillante Weise erwei-           zunächst die dringendsten sonstigen Arbeiten erledigt. Am 16.
tert"36: hinzu kamen die Suleika-Gedichte, von denen die Mehr-             Oktober ist dann erstmals wieder im Tagebuch vom Divan die
zahl September/Oktober 1815 entstanden. Diese Gedichte gaben               Rede: "Abschrift des Buchs Hafis" heißt es da. Goethe stellte also
dem ganzen Projekt ein verändertes Gepräge. Ihr Charakter und              jetzt die Gedichte des Divan zu Büchern zusammen und ließ sie
ihre Entstehung riefen bei Goethe das natürliche Bestreben hervor,         dann abschreiben. Auf diese redaktionelle Tätigkeit mögen sich
sie in eine geschlossene Gruppe zusammenzufügen; waren sie doch           weiter die Tagebuchzeugnisse von Oktober und November 1815 be-
das Denkmal einer der glücklichsten und wichtigsten Epochen sei-          ziehen, die stets nur lakonisch den Vermerk "Divan" wiederholen.
nes Lebens. Damit ergab sich die Notwendigkeit, das gesamte                   Ein einziges Mal wird während dieser Zeit im Tagebuch etwas
Werk in eine neue Form zu bringen. Goethe entschloß sich zur              Spezielleres genannt, und dieses Zeugnis ist das in unserem Zu-
Aufgabe des Plans einer nicht unterteilten, zwanglos gereihten            sammenhang wichtigste überhaupt. Am 26. Oktober heißt es:
Gedichtsammlung, wie er im Wiesbadener Register angelegt war.              "Nach Tische den Talisman geordnet". Diese Worte können nach
Statt dessen sollte nun das thematisch Zusammengehörige ver-              Lage der Dinge nur so zu verstehen sein: Goethe "ordnet" nun-
einigt und in einzelne Bücher abgeteilt werden. Mit diesem                mehr die" Talismane", die er nach bisheriger Intention im Divan
Beschluß entschied sich auch, an einem der bedeutsamsten Wende-           "zerstreuen" wollte, zu einem zusammenhängenden Korpus,
punkte in der Geschichte des Divan, das Schicksal der Spruchge-           einem "Buch". Das Entsprechende tat er ja zu dieser Zeit mit
dichte. Der Gedanke, sie als "Talismane" zu "zerstreuen", wurde           sämtlichen Gedichten des Divan. Die "Ordnung" bezieht sich im
fallengelassen. Auch diese Gedichte mußten nun als eine geschlos-         Falle des "Talisman" natürlich auf die Einzelhandschriften, in
sene Gruppe zusammengefaßt werden.                                        denen ihm bisher nur die Spruchgedichte vorlagen. Nachdem diese
   Es war diese Entscheidung und Festsetzung einer neuen Form             Handschriften "geordnet" waren, stellte dann Kräuter die Sam-
des Divan, die zu der Zusammenstellung des Korpus von orien-              melhandschrift her, die wir heute als die Kräutersche Reinschrift
talisierenden Spruchgedichten führte, welche uns in der Kräuter-          des Buchs der Sprüche bezeichnen. Damit können wir nun diese
 schen Reinschrift entgegentritt. Und erst jetzt, in dieser bedeutungs-   Handschrift auch so datieren, wie es der Wirklichkeit entspricht:
vollen Zeit ist die Reinschrift selbst angefertigt worden, die man        sie ist anzusetzen auf die Zeit unmittelbar nach dem 26. Oktober
bisher fälschlich auf den 26. Januar 1815 datierte. Das läßt sich aus     1815.
den Zeugnissen erkennen, die uns nun noch zu betrachten bleiben.             Hier erweist es sich nochmals, daß die Kräutersche Reinschrift
    Am gleichen Tage, an dem Goethe laut Tagebuch den "Ent-               bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert haben kann. Denn es
schluß zur Abreise" von Heidelberg faßte - womit die beinah               wäre gar nicht möglich, die Tagebucheintragung vom 26. Oktober
                                                                          1815: "Den Talisman geordnet" etwa mit dieser Reinschrift in
Titel: "Talismane, Amulete, Abraxas Inschriften und Siegel" ward über     Verbindung zu bringen. In ihr lag ja die Ordnung schon vor, mit
das falsche Gedicht ("Talismane") gesetzt.                                der Goethe sich jetzt beschäftigte. An der Kräuterschen Reinschrift
   36 Goethe an Knebel, 21. Oktober 1815 (WA IV 26, S. 106).              war nicht mehr viel zu ordnen: von ihren zehn, jeweils im Durch-
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