Ein Pfund Fleisch Albert Ostermaier - F 1504 nach Motiven von William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"
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Albert Ostermaier Ein Pfund Fleisch nach Motiven von William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" F 1504
Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes Ein Pfund Fleisch (F 1504) Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb an Nichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnen erwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mit dem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kauf der vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw. einer Tantieme. Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungen in geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen. Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen der Rollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechte verfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main
Personen ANTONIO, ein Kaufmann / Banker BASSANIO, sein Freund / Investmentbanker SHYLOCK, ein Jude / Banker TUBAL, ein Jude, sein Freund / rechte Hand PORTIA, eine reiche Erbin, zunächst verkleidet als GRATIANO, ein Investmentpunk JESSICA OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 3
Vorspiel: Darkroom Völlige, undurchdringliche Dunkelheit. Schreie, ein Chor aus Schreien, Schreikoloraturen, Schmerzensschreie, die sich fast unmerklich in Lustschreie verwandeln. Champagnerkorkenknallen, Dancefloormusik, Killing for Love, Blind Faith, Let you go, Stöhnen, Stimmen, immer härtere Rhythmen, Christian Metal, Hardcore, immer schnellerer Herzschlag, nur noch Herzschlag, Herzschläge, ein Beckenschlag: Die Börse eröffnet. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 4
Bild 1: Punch Es riecht nach Schweiss, schwitzenden Männern. Ein leerer Box-Käfig mit Draht umschlossen, an den Seiten Sandsäcke, Speedballs und eine Schweinehälfte, auf die Shylock einschlägt und an der er seine Schlagkombinationen trainiert. Er nimmt ein Messer und fixiert das Herz mit einem Kreuz, versucht es immer wieder zu treffen und der zurückpendelnden Schweinehälfte auszuweichen. Sein nackter Oberkörper ist mit Blut verschmiert. Im Hintergrund ein unscharfer Flatscreen mit Nachrichten und Börsenkursen, eine Ringuhr, ein Gong, Lautsprecherboxen, an Haken Boxermäntel. SHYLOCK Am besten kauft man dann, wenn das Blut auf den Strassen klebt. Atmet heftig. Selbst, wenn es dein eigenes ist. Mein eigen Fleisch und Blut. Wenn es Krieg und Revolutionen gibt, Aufstände, Armageddon, wenn sie uns wie Vieh durch die Strassen hetzen, wenn es politische Probleme oder Wirtschaftsprobleme gibt, wenn sie uns bespucken, die Märkte kollabieren, wenn sie uns schächten und unsere Kinder verschachern, wenn ihnen ihre hohen Herzen in die Hose fallen, wenn sie ihren Hals nicht voll genug kriegen und ihre Kriege führen, wenn das Wasser in der Stadt steigt und alles überflutet, dann fallen die Preise. Dann fallen die Aktien, dann fallen die Messer vom Himmel, und ich fange sie auf mit meinen tausend Armen, ich greif in die fallenden Messer, die mich aufschlitzen. Wenn sie am Tiefpunkt sind, kauf ich, blutüberströmt vom eigenen Blut. Denn die am Tiefpunkt kaufen, machen eine Menge Geld und die Menge arm. Er hört zu boxen auf, löst die Bandagen. Ich bin ihre Schnittmenge, Tubal, verstehst du? Aber in mir haben sie sich geschnitten. Mit meines Messers Schneide schneid ich mir meinen Anteil ab und wasch mir die Hände und Brust in Unschuld. Er wäscht sich. Denn Wasser ist kostbarer als alles Blut der Welt. Tubal, wo OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 5
bist du? Wann kommen sie? Er nimmt ein weisses Handtuch, fährt sich über das Gesicht, schaut in es wie in einen Spiegel und spuckt Blut. Blickt sich ängstlich um, ob es jemand gesehen hat. Ich mach euch den Juden, das wollt ihr doch. Hab ich nicht Augen wie ihr? Kaut mir ein Ohr ab. Schmeckt es nach Jude? Meine Zunge, hat sie Biss? Meine Hoden, sind sie bitter oder süss? Eure Kaufmänner sind Kannibalen. Denn das ist sein Leib. Und sie öffnen die Münder. Und unser Leib sei das Geld, wünscht ihr. Und das ist sein Blut. Und unser Blut sei der Zins. Euer Blut? Das ich vergossen haben soll? Ich vergiesse nichts ausser Tränen. Ihr seid zum Heulen. Euch passt meine Nase nicht. Warum steckt ihr sie dann überall rein? Er hat eine Nase. Ja, eine Nase für alles, das ihr nicht riechen wollt. Ihr könnt mich nicht riechen, sagt ihr. Habt ihr denn keine Nase? Soll ich euch meine Nase leihen? Oder doch ein Ohr? Ich bin kein Mohr, ich bin der Jude, sagt ihr. Was macht mich zum Juden? Das, was mir fehlt, oder das, was euch fehlt? Sie fehlt mir. Sie fehlt mir so sehr. Wo war ich? Schau dir in die Augen, Shylock. Was siehst du? Was sie sehen wollen, seh ich voraus. Was soll’s, ich seh kein Land hinter dem Ende der Welt. Kommt. Ich spiel euch den Juden, spielt ihr mit meinem Leben. Tubal? TUBAL Ja? SHYLOCK Wo ist mein Herz? TUBAL In Eurer Brust schlägt es, hoff ich. SHYLOCK Mein Juwel, wo ist es? TUBAL In der Schatzkammer, verschlossen. SHYLOCK Du Narr, meine Tochter, Jessica, wo ist sie? TUBAL Ich hab sie aus den Augen verloren, als ich ihr auf den Markt folgte und die neuesten Gerüchte hörte. SHYLOCK Gerüchte? TUBAL Eine Blase, Herr? SHYLOCK Welche Frucht trägt sie? OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 6
TUBAL Sie platzt, fürchte ich. SHYLOCK Was wartest du dann noch? Es ist höchste Zeit. TUBAL Eine Totgeburt, fürchte ich. SHYLOCK Was? TUBAL Wenn sie keinen Schnitt setzen und es rausholen, wird es sich an seiner Nabelschnur erdrosseln. SHYLOCK Welche Nachtigallen hörst du singen? Ich versteh dich nicht, und du verlierst Zeit, und Zeit ist mein Geld. Wirf es nicht aus dem Fenster. TUBAL Es fällt auf den Asphalt, die Kurse fallen, alles fällt. Ich setz auf das Fallen. SHYLOCK Dann fall nicht über deine eigenen Füsse und nimm sie in die Hand. Tubal ab. Er wird alt. Ich bin alt geworden. Mein Blut trocknet nicht mehr. Was ist das? Eine Brandblase. Ich muss sie stechen. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 7
Bild 2: Brandblasen Antonio bläst Seifenblasen in die Luft, sieht ihnen mit verhangenen, traurigen Blicken nach. ANTONIO Ich weiss nicht, was mich traurig macht. Ich bin ausgebrannt. Siehst du die schwarzen Ränder um mein Herz, hier? BASSANIO Ich seh nichts. ANTONIO Du musst es fühlen, gib mir deinen Finger. Spürst du es? Die Brandnarben? Hier, deine Fingerkuppe ist voll Asche. Er schleckt sie ab. Die Schwärze muss zurück, wo sie herkam. BASSANIO Ich wäre auch schwermütig, hätte ich deinen Mut. Du bist ein Global Player, du spielst mit der Welt. Du jonglierst sie auf deinem Finger. ANTONIO Alles, was er berührt, wird Asche. BASSANIO Asche, ja, Gold. Du machst Asche zu Gold. ANTONIO Wäre dein Herz aus Gold, liefest du gebückt und der Himmel über deinem Rücken. Ich würde mit all meinem Gold dein Herz aufwiegen. BASSANIO Antonio, dein grosses Herz ist wahrlich Gold wert. Ich muss dir gestehen, ich habe mein Herz verloren. ANTONIO Nimm meines. Was sag ich, du hast es längst. Ich kann es dir leer verkaufen. Wo finde ich es nun? Bekomm ich deines? Wo? Hast du meines weiterverkauft? Schulden verkaufen sich gut. BASSANIO Wärst du nicht so sensibel, du wärst nur halb so reich. ANTONIO Bist du nicht auch reich? Reich beschenkt? BASSANIO Ja, reich an Gedanken, an Flausen im Kopf, an Träumen, Luftblasen, die aus meinem Herzen mir ins Hirn steigen. Könnte ich sie OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 8
verkaufen, wäre ich noch reicher als du. Aber wer kauft etwas, das es nur in der Phantasie gibt. ANTONIO Es sind alles Phantasiegeschäfte. In den grössten Palästen wohnt, wer die grössten Luftschlösser verkauft. Nichts hat mehr einen Gegenwert, nur das Leben den Tod vielleicht. Ich schenk dir mein Leben. BASSANIO Du bist ein Poet. Es gibt auf dem Parkett keinen Poeten wie dich. Du machst aus einem Gedicht ein Geschäft, aus einem Sonett Sonnenenergie, aus einem Flirren einen Fonds. Du musst nicht das Gras pflücken, um zu wissen, woher der Wind weht, du brauchst keine Kurse, um Kurs zu halten, du gehst auf den Grund, nicht deine Schiffe; der Sand, der durch deine Hand rinnt, ist nicht Vergeblichkeit, sondern der Sand, auf dem sie Millionen von Häusern an unseren Küsten bauen. Ich bewundere dich, deinen Geist. ANTONIO Du hast recht, ich bin ein Geist. Du langst durch mich hindurch. Da ist nichts, nur Nebel. Ein Nebel, der „ich“ sagt. Ein Nebel, der nur verschwindet, wenn du ihn vertreibst. Du kommst, machst Wind, viel Wind, und fängst zu wirbeln an. Aber ich spür, dir liegt etwas auf dem Herzen. BASSANIO Warst du je verliebt? ANTONIO Das fragst du mich? BASSANIO Ich bin es. Siehst du es nicht? Mit Haut und Haar. Auf Gedeih und Verderb. Ich könnte sterben vor Liebe! Aber… ANTONIO Aber? Was fehlt dir? Du hast doch alles, und es gehört dir längst! BASSANIO Ich bin nicht mehr ich selbst, so sehr lieb ich! ANTONIO Komm in meine Arme! BASSANIO Du hast es geahnt? OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 9
ANTONIO Wie sehr habe ich darauf gewartet, gehofft! Die Bleikammer in meiner Brust schmilzt dahin, wenn deine Brust sich an sie drückt. Wie in Wasser fällt das Blei und wird zum Schmetterling. BASSANIO Ach, würde es zum Goldesel. Das Blei. Das in meiner Brust. Ich brauche Geld, mein Freund. ANTONIO Geld? Du hast … Ihr kennt mich und verschwendet nur die Zeit, da ihr Umschweife macht mit meiner Liebe. Unstreitig tut ihr mir mehr zu nah, da ihr mein Äusserstes in Zweifel zieht… BASSANIO Alle Liebe ist vergebens ohne Geld, deshalb liebe ich das Geld so sehr, weil es mich lieben lässt. Meine Liebe ist kostbar. Sie hat ihren Preis. ANTONIO Ich zahl ihn. BASSANIO In Belmont. ANTONIO Lass uns aufbrechen! BASSANIO In Belmont ist ein Fräulein. ANTONIO Ein Fräulein? Wozu…? BASSANIO Reich an Erbe… ANTONIO Ich habe… BASSANIO Und sie ist schön. ANTONIO Schön… BASSANIO Und, schöner als die Worte, von hohen Tugenden. ANTONIO Tugenden, Junge… BASSANIO Von ihren Augen empfing ich holde stumme Botschaft einst. Aber von allen Himmelsrichtungen kommen die Freier her, sie zu frei’n. Berühmte. Mit Yachten, aus Wolken, von überall. Ihr sonnig’ Haar wallt um die Schläfen ihr wie ein gold’nes Vlies. Und ich hab nur Blei. Ich rede nur Blech, solang’ ich nicht Gold an ihre Ohren hänge. Hängen kann. Ich häng mich auf, gewinn ich sie nicht. Ich falle ins Bodenlose. O mein Antonio, geliebter Antonio, goldener Freund. Hätte ich nur die Mittel und OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 10
nicht alles längst verschwendet, was du mir mit offenen Armen gabst, wären es nicht leere Hände, könnte ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Du bist mein Schicksal. Nur aus dir wächst das Glück. Du legst es in meine Hände, und ich lass es gross werden. Ich kann es. Aber nur mit deinen Mitteln kann ich den Rang mit den andern Freiern halten. Ich werde ohne Zweifel glücklich sein. Und bist nicht auch du glücklich, wenn ich es bin? Ich will dich glücklich machen! ANTONIO Du weisst, mein sämtlich Gut ist short. Ist im Markt, in der Luft, verblasen, im Nebel! Was für ein Tag ist heute? Freitag? Ja? Heute um 23 Uhr ist mein Geld wieder da und mehr als es jemals war. BASSANIO Das ist zu spät, ich brauch es schon die nächsten Stunden. ANTONIO Ich habe alles in Fleischkontrakten. Leerverkäufe. Tausende Tonnen. Es ist alles gehedged, alles long abgesichert. Das goldene Kalb. Du kannst es haben. Ich schlachte es dir. BASSANIO Ich kann nicht warten. ANTONIO Ich muss warten. BASSANIO Keine stille Reserve? ANTONIO Ich habe alles gesetzt. Wie hätte ich früher gesagt: Alle meine Schiffe sind auf See und können dich nicht in den sicheren Hafen der Ehe bringen. Mir blutet das Herz, aber… BASSANIO Gibt es keine andere Chance? Ich fleh dich an, wenn dir mein Leben, mein Glück am Herzen liegt! Ich tue… ANTONIO Es gibt eine Möglichkeit. Geh zu und sieh, was in Venedig mein Kredit vermag. Den spann ich an, bis auf das Äusserste. Geh, frag gleich herum, ich will es auch, wo Geld zu haben. Ich bin nicht besorgt, dass man uns nicht auf meine Bürgschaft borgt. Ich dank dir. BASSANIO Wofür? ANTONIO Jetzt weiss ich, warum ich traurig bin. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 11
Bild 3: Swaps Auf dem Splitscreen Börsendaten, Katastrophennachrichten, Kriege, Folterungen, Kindercomics, Blumenbilder, Kamerafahrten über Landschaften ohne Menschen. Im Cage zwei ungleiche Kämpfer, der Christ ein Goliath, der scheinbare Jude ein David. Eine wettende, anfeuernde, eifernde Crowd. SHYLOCK über Freisprechanlage Fugger. Schrott. Das sind Schrottpapiere. Das ist Giftmüll. Warte. Bleiben Sie in der Leitung. Es klopft. Ja? Ah! Fugger. Sie müssen Fugger kaufen, stecken Sie Ihr ganzes Geld in Fugger. Fugger wird die Welt erobern. Die Häusermeere werden weiter sein als unser Meer. Die Brandung schlägt auf das Land und lässt Häuser zurück. Wir sind die Brandung. Es ist wie im Märchen. Sie werfen eine Münze in den Zauberhut, auf dem Fugger steht, und ich zieh für Sie einen Schein heraus. Gut. Alles? Für die Renten und Pensionsfonds. Ihre Rentner und Pensionäre werden sich freuen. Und wissen Sie was, Sie werden so viel Geld verdienen, dass Sie sich davon eines dieser Häuser am Meer kaufen können. So schliesst sich der Kreis. Wie gerne würde ich auf dem Meer wohnen. Sie wissen, ich darf nicht. Ich würde Ihnen die Aussicht verstellen. Aber am Telefon, das verstösst ja nicht gegen Ihren und meinen Glauben. Wollen Sie nicht auch noch Ihr privates Geld…? Ja? Umso besser. Die Uhr läuft. Sie haben gerade die Zeitschaltung zum Paradies gekauft. Glückwunsch. Grüssen Sie Ihren Gott. Sagen Sie ihm, ich hätte ihn gern in meinem Portfolio. Ciao, carissimo. Der Wichser. Jetzt geht er in sein Schliessfach beten. Sind Sie noch dran? Hören Sie, wir wetten gegen Fugger, alles gegen Fugger. Unsere Ratingfreunde geben Ihnen Bestnoten. Ciao, ciao. Henry? Ja, hören Sie. Wir sind doch versichert, wegen dieser CDOs? Ja? Gut. Für den Fall, dass das alles platzt. Setzen Sie gegen unsere Versicherung. Setzen Sie auf den Crash. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 12
Aber: Es bleibt unter uns. Setzen Sie alles, was ich habe, auf den Crash. Ja, Ciao, ciao. Warum poliert er ihm nicht die Fresse? Was für ein ungleicher Kampf. Und dann hat er noch Blei in den Fingerknöcheln. Und unser kleiner Junge nur Gold im Mund. Aber er ist wendig. Geh, wett auf den Juden. TUBAL Aber Ihr habt ihn bezahlt, dass er verliert. SHYLOCK Sie sollen sich doppelt freuen. Dann denken sie an kein Drittes. TUBAL Warum empfehlt Ihr Papiere, die Ihr als Schrott verhöhnt? SHYLOCK Meinst du, ich versündige mich, alter Mann? Stehl ich, mord ich, lüg ich anders, als sie lügen, morden, stehlen? Niemand macht sich die Finger schmutzig. Alle waschen sich permanent die Hände in ihrer Unschuld, die Börse ein einziger Waschzwang. Der Kern nur Seife, aus der man Blasen bläst, schöne, immer grössere Blasen, weil sie immer schönere, immer grössere Blasen blasen können, bis die Blase so gross wie der Erdball ist, eine Welt neben der Welt und Gott kann sie in den Händen wiegen wie zwei Brüste. Wenn du zwei Äpfel hast, in welchen beisst du? In den, der von deinem Stamm fiel, oder in den, den du vom Baum deines Nachbarn stahlst? TUBAL Wenn sie sehen, dass deine Äpfel Würmer haben, bist du es, der den Stich am Ende hat. SHYLOCK Sagen sie nicht, wir seien Parasiten, Schädlinge, die in ihren blassen Körpern wohnen, sich hinaufschlängelnd durch die Herzen bis in die Hirne fressen. Haben wir solch einen schlechten Geschmack? Sie brauchen uns, damit sie sich säubern können von ihrem eigenen Schmutz. Deshalb spülen sie uns in den Abguss. Was sollen sie mich einsperren? Sind wir nicht längst eingesperrt? Und bleiben, solange es Juden gibt, im Ghetto ihrer Vorurteile, ob sie uns nun lieben oder hassen? Ohne Juden gäb es keine Christen, aber ohne Christen gäb es Juden. Wenn sie uns OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 13
auslöschen, löschen sie sich selbst aus. Das ist es, was sie wollen. Ich bin wie ein guter Christ, ich helfe ihnen dabei. Man wird es mir lohnen. TUBAL Es ist stets ein Kreuz mit den Christen. Sie breiten die Arme aus, und du denkst, sie wollen dich umarmen, aber sie wollen dir nur ihre blutigen Hände zeigen und schreien: Das ist das Loch, durch das du musst, willst du ins Himmelreich. Und da musst du hin. Als wären wir die Nägel und der Rost in den Adern, der mit ihrem Blut kreist. SHYLOCK Sie sind verlogen, Tubal. Sie können mit Moral lügen. Sie lügen mit Anstand. Lügen mit Barmherzigkeit. Lügen mit der linken und der rechten Wange. Sie lügen aus Nächstenliebe. Sie glauben an die Lüge, weil sie ihren Glauben anlügen. Nimm diesen Antonio. Diesen ehrenhaften Mann. Was für eine Erscheinung. Die feinen, sensiblen Züge, die Trauerränder unter den Augen, die Hände, die den Wind streicheln, weil er die Kälte bringt und selbst doch frieren muss. Sein sanftes Herz, seine wohltätigen Muskelpakete, seine gnadenreichen Nasenflügel, die sorgenschweren Schulterblätter, beschrieben mit all dem Kummer seiner Gefährten, sein Märtyrerkehlkopf, der Bauchnabel, aus dem er Almosen den armen Seelen schöpft, seine zitternden Lippen, weil die Erde bebt, solange sie ungerecht ist, dieses Bild von einem Mann, von einem Kaufmann, von einem nicht käuflichen Mann, der sich Männer kauft wie kostbares Porzellan, das man sich nicht zu berühren traut. Nicht, weil er zerbrechen könnte, nein, weil man selbst zerbrechlich ist, wiegt man es in seinen Händen. Ach, Antonio. Wie werden alle schwach, hören sie seinen Namen. Wie stark macht er sie in ihrem Hass auf uns. Er ist der verlogenste von allen! In was investiert er sein ganzes Geld? Heute? Ja, gerade jetzt, schau es dir an! Dort! In Fleisch. In Fleischkontrakten! Was bedeutet das, Tubal? TUBAL Ich weiss nicht? OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 14
SHYLOCK Du bist verschlagen, aber vom alten Schlag, mein Lieber. Ich werde es dir erklären. Fleischkontrakte sind Agrarforwards. TUBAL Forwards? SHYLOCK Wo lebst du? TUBAL Im Ghetto. SHYLOCK Forwards sind ausserbörslich gehandelte Futures. Fleischkontrakte sind Agrarforwards. Was machen sie? Schau mich nicht an, als wär ich ein Kabbalist! Wobei es egal ist, nach welchem System du handelst – wir sind alle Spieler mit System, aber im Grunde spielt das System mit uns und spielt uns zugrunde. Egal. Agrarforwards. In Fleisch. Sie bringen das Ernährungssystem der Afrikaner und der Rothäute durcheinander oder wer immer dort jenseits des Endes unserer Welt wohnt. Agrarforwards stören, sie stören massiv, sie sind eine massive Störung des Ernährungssystems. Denn durch zu viele Kontrakte erzeugst du, ohne jede reale Basis, eine Menge an Fleisch, die es gar nicht gibt, da jeder deiner Kontrakte zum Beispiel hundert Tonnen Fleisch umfasst. Hundert Tonnen! Die Anzahl der Kontrakte ist aber nie gedeckelt oder abgesichert mit real vorhandenem Fleisch. Du beisst ins Leere. Es ist Luftfleisch, Phantasiefleisch. Und was passiert deshalb? Der reale Preis, der Preis also für reales Fleisch, für echtes Fleisch, für das Fleisch, das du auf dem Markt kaufst und das du in deine Pfanne haust, dieser Preis fällt, er fällt ins Bodenlose, und die Erzeuger beissen ins Gras, weil der Preis vergammelt, es ist Gammelfleisch. Und der schöne, edle Antonio verdient durch sein Hedging wieder und erzeugt Opfer um Opfer. TUBAL Verkaufst du nicht auch das Blaue vom Himmel und die Farbe deiner Augen? SHYLOCK Ich würde sogar meine eigene Tochter verkaufen. Willst du das als nächstes sagen? Weisst du Neues von ihr? TUBAL Keine Spur. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 15
SHYLOCK Ich möchte wetten, sie haben sie mir gestohlen. TUBAL Und wenn sie mehr verführt als entführt wäre? SHYLOCK Du verschweigst mir etwas? Was weisst du? TUBAL Dass die Liebe sich nicht beschneiden lässt, und dass Töchter ihre Väter wie ein Haus verlassen. Sie lassen das Licht an. SHYLOCK Sprich nicht in Rätseln. Zeit ist Geld. TUBAL Ihr gabt ihr Geld. Aber sie konnte sich keine Zeit dafür kaufen mit Euch. SHYLOCK Ich gab ihr genügend. Ich will sie sehen, hörst du! Schaff sie mir unter meine Augen zurück. TUBAL Da kommt Bassanio, der Schöne. SHYLOCK Schuldet er uns noch? TUBAL Wenn er dir gefällt – nicht mehr als einen Gefallen. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 16
Bild 4: Cross-Dressing Portia vor einer faltbaren Spiegelwand. Spiegel, hinter denen Screens zu sehen sind, die Börsenkurse und Nachrichten zeigen. Sie changieren zwischen sichtbar und unsichtbar. Vor Portia liegen drei Kästchen. Sie spielt mit ihnen wie ein Hütchenspieler. Es ist ein Betrugsspiel, aber zugleich spielt sie es, wie Schachgranden gegen sich selbst Schach spielen. Sie scheint ein System zu verfolgen, denn ihre Bewegungen haben Konsequenzen. Während sie spielt, handelt sie an der Börse. Erst spät entdeckt man, dass sie blind spielt, während sie die Kästchen bewegt. Über die Screens laufen jetzt Männer mit ihren Facebookprofilen. PORTIA Ich weiss, dass es Sünde ist, ein Spötter zu sein. Aber er, er sieht aus wie ein Pferd. Wenn ein Vöglein singt, so macht er gleich Luftsprünge. Und der? Er liebt Männer. Aber noch mehr liebt er das Geld. Geld macht aus Frauen Männer. Ich bezahle, was ich bin, was ich sein will. Was fehlt, ein Mann zu sein, schnall ich mir an, eh sie es schnallen, und knall sie an die Wand. Was sind ihre Transaktionen anderes als Küsse. Jede tausendstel Sekunde Millionen von Küssen, Millionen von Zungen, die sie sich einander in den Rachen stecken. Dildo-Geschäfte. Sie schieben einander die Nutten zu wie ihre wertlosen Papiere. Sie pissen auf sie, sie lassen sich bepissen. Sie treffen sich in dunklen Räumen, weil sie sagen, ihre Seelen seien dunkel, weil ihr Handel seellos sei. So handeln sie sich im Dunkel ein, was sie im Licht nicht bekommen. Sie kleiden sich in feinste Stoffe. Aber unter den Stoffen tragen sie eine zweite Haut über der Haut. Eine zweite Haut aus Strom. Wenn du sie berührst, bekommst du einen Schlag. Ich schlag zurück. Ich bin reich. Ich erbe. Ich erbe die Toten, die mein Vater zurückliess. Wer mich heiratet, heiratet Geld. Sie brauchen nicht mich, um es zu vermehren. Geld schläft mit sich selbst. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 17
Jeder Dollar hat einen Ständer. Und jeder Schein ein Loch. Sie sind dabei nur die Hebammen mit den Plastikhandschuhen, die nervösen Väter vor der Tür beim Kaiserschnitt. Ich bin ihr Startkapital und werde zum Risiko. Ich bin ein Termingeschäft. Wenn es ihnen darum geht, wer den Grössten hat, habe ich den grössten Erfolg. Ich liebe. Mein einziger Fehler. Ich bin verliebt, angezählt. Die Liebe ist mein Hedge. Sie sichert mich ab. Bekommt mich der Falsche, liebe ich noch immer den Richtigen. Bekommt mich der Richtige, habe ich nichts falsch gemacht und doppelt gewonnen, während andere alles verlieren oder verloren haben. Schau dir den an. Wie abscheulich morgens, wenn er nüchtern ist, und noch abscheulicher, wenn das Scheusal betrunken ist. Wenn er am besten ist, so ist er wenig schlechter als ein Mann, und wenn er am schlechtesten ist, wenig besser als ein Vieh. Komme das Schlimmste, was da kommen mag – es muss mir glücken, sie alle loszuwerden bis auf einen. Ich muss sie in den Ruin treiben, bevor sie mich ruinieren, die faltenlose Haut mir spalten. Sie beginnt sich auszuziehen und als Mann zu kleiden. Aber Bassanio. Bassanio ist der Beste. Er ist ein Verschwender. Er wird die Welt retten, und ich bin rettungslos verliebt in ihn. Seine Gewinnsucht ist grenzenlos. Er kann nie genug kriegen. Er braucht Luxus, will alles haben, nichts sollen. Und seine Empfindungen folgen einer höheren Moral; nur das versteht er, und das verstehen die anderen nicht. Durch seine Gier schafft er Reichtum, verteilt er die Güter, denn er kann nicht alles selbst verzehren in seinem masslosen Hunger. Seine egoistischsten Interessen und Triebe, seine Passionen und Sehnsüchte, durch eine unsichtbare Hand schaffen sie Gemeinwohl. Durch meine Hand. Er macht aus unsrer Unvernunft Vernunft. In ihm sind Millionen von Teufeln, und alle heizen sie das Feuer an, das uns alle wärmt, ohne dass sie es wollten. Sie legt den Occupy-Song auf, tanzt unmerklich dazu. Vor ihr die drei Kästchen. In ihrer Hand ihr Slip. Gold. Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 18
Mann begehrt. Silber. Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient. Blei. Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles dran. Sie schiebt die Kästchen hin und her, her und hin. Dann öffnet sie das Goldkästchen. Gold. Was ein Mann begehrt. Sie legt ihren Slip in das Kästchen. Silber. Was er verdient. Sie spuckt in das Kästchen. Blei. Blei. Wagt alles. Sie hält es an ihr Herz. Portias Herzschlag. Hier soll er gefangen sein. Sie ist nun vollständig bekleidet. Und, wie sehe ich als Gratiano aus? Er liebt Jessica. Aus ganzem Herzen. Nur sie. Ein Mann, wie er im Buche steht! Und ich bin's, die es führt! OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 19
Bild 5: Ein Pfund Herz SHYLOCK Dreitausend Dukaten – gut. BASSANIO Bis Börsenschluss. SHYLOCK Bis Börsenschluss. Gut. BASSANIO Bis dahin muss ich ein reicher Mann sein. SHYLOCK Bist du nicht schon reich? An Jugend. An Schönheit. An Freunden. An Freuden? Feierst du nicht die Nacht im Tag und den Tag in der Nacht? Fliesst nicht das Geld durch deine Hände, wie der Fluss über die Steine? Du hast schöne, glatte Hände. BASSANIO Ich liebe. SHYLOCK Ja, mit solchen Händen ist die Liebe zum Anfassen. Schau meine an. Euer Geld hat scharfe Kanten, wenn ich es in die Hände bekomme. BASSANIO Ich kann sie nur zur Frau nehmen, wenn ich reich bin. Das ist die Aufnahmebedingung. SHYLOCK Verkauf dich ihr jetzt als der, der du zu Börsenschluss bist. Und als derjenige legst du dich gleich jetzt in ihr Bett und vollziehst deinen Teil des Ehevertrags. Am Ende des Tages wird sie sehen, was du dann wert bist. BASSANIO Sie braucht den Auszug. SHYLOCK Auch wir zogen aus Ägypten aus. Aber Ägypten, mein Freund, ist überall. Die Sonne und die Räder drehen sich überall gleich, und wir liegen darunter. Aber ich bin heute so seltsam melancholisch und weiche ab von deinem Anliegen. Du glaubst also, Geld sei der Schlüssel für dieses Schliessfach? Und die Lust danach, wenn es sich öffnet. BASSANIO Ich werde nicht zugelassen ohne Geld. Schau dir die anderen an, sie stinken vor Geld. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 20
SHYLOCK Geld riecht nicht. Nur Menschen riechen. Gier ist kein Geruch. Ich würde es riechen an deinem Hals. Geld hat keinen Gestank, sonst bräuchten wir eine dritte Hand, die uns die Nase zuhält, wenn wir uns umarmen. BASSANIO Ich kenn keine Gier. Ich hatte Geld, ich werde Geld haben, ich werde Geld verlieren, verschenken, verschwenden, ich zündete es an, wenn mir kalt war, brannte meine Zigaretten an damit. Aber heut brennt nur die Luft. Das Geld ist da, aber gleichzeitig ist es nicht da. Hier ist das Streichholz. Aber wo ist das Geld? Hier ist die Zigarre. Aber wo das Geld, sie glühen zu lassen? SHYLOCK Ich helf dir gerne aus. BASSANIO Es ist alles ein Luftspiel, eine Fiktion. Wie kann ich eine Fiktion rauchen? Wie kann ich eine Fiktion f…, was rede ich, ich liebe sie. Wie auch immer, ich muss sie gewinnen. Ich bin ein Spieler, ich liebe das Spiel, aber jetzt spielt die Liebe mit mir. SHYLOCK Feuer? BASSANIO Antonio bürgt dafür. SHYLOCK Dass du bis zur Nacht ein reicher Mann bist. Die Taschen voll Geld. BASSANIO Dieses Mal halt ich’s fest. SHYLOCK Aber es muss doch fliessen. BASSANIO Ich fliess über vor Liebe. Es ist kein Flow, es ist ein Flash, ein Flash Flow. Wenn ich sie habe, steig ich aus. Dann wird ihr Geld für uns arbeiten, und ich arbeite mich Millimeter für Millimeter über ihre Haut, an deren Küsten ich wie an einem fremden Kontinent anlege. SHYLOCK Eine gewinnversprechende Anlage, gebe ich zu. Aber wird Antonio nicht traurig sein, dich ans Glück der Ehe zu verlieren? BASSANIO Antonio ist ein guter Mann. SHYLOCK Ja, er steht seinen Mann, du musst es wissen. Er ist gut. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 21
BASSANIO Habt ihr irgendeine Beschuldigung des Gegenteils wider ihn gehört? SHYLOCK Nein, nein. Verlangt er nicht „radikale Transparenz“. Habt ihr nicht alle seine Leitfäden studiert? Schmerz und Reflexion ist gleich Fortschritt. Wie schmerzlich recht er hat, nicht, wenn er es auf dich anwendet und dein neues Glück. Er ist sehr charismatisch, nicht? Manche sagen, ihr seid wie eine Sekte. Sein Fonds sei eine Sekte. Aber wenn einer eine Sekte verlässt, knallen keine Korken. BASSANIO Nichts ist ihm so wichtig wie die Freiheit. SHYLOCK Ja, er will die Freiheit in die ganze Welt bringen. „Die Märkte sind frei“, steht doch in eurer Verfassung geschrieben. Oder waren es die Menschen? Weisst du, was er früher gemacht hat? BASSANIO Er hat den armen Ländern geholfen, er war in der Politik. Er ist ein tiefgläubiger Mensch. SHYLOCK Wenn er vor dir steht, wie tief glaubt er an dich? BASSANIO Was meinst du? SHYLOCK Ist Gott nicht in jedem von euch? BASSANIO Dreitausend Dukaten, mehr nicht. Die Zeit läuft mir davon. SHYLOCK Nicht so schnell. Läufig mögen Hunde sein, ich habe Zeit. Du glaubst also, er hat gute Werke vollbracht? Dort im Herz der Finsternis, in den dunklen Kontinenten, wo die Wüsten über das Grün wandern? BASSANIO Er hat ihnen Kredit verschafft, Strassen bauen lassen. Er… SHYLOCK Ich erklär dir, was er gemacht hat, und wie sie es heute immer noch machen. Die armen Schwarzen, die armen, armen Afrikaner, sie sterben wie die Fliegen und verhungern auf offener Strasse! Aber, sie haben gar keine Strassen, muss da nicht das Christenherz bluten? Also verschafft ihnen der gute Samariter Kredit. Damit sie Strassen haben, auf denen sie verhungern können. Und Flughäfen für die vielen Fliegen. Die Afrikaner können das natürlich nicht selbst bauen – sie sind ja mit OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 22
Hungern und Sterben vollbeschäftigt – also geben sie das geliehene Geld unseren Firmen, die dann die Strassen bauen, die Autobahnen, auf denen es sich gleich viel menschenwürdiger verrecken lässt, geradezu zivilisiert. Die armen Afrikaner müssen aber jetzt diese Schulden zurückzahlen, nicht? Es war ja schon ein unglaubliches Christenwerk, ihnen die Kredite zu verschaffen. Was für ein Kampf! Aber zurückzahlen, das gehört sich einfach, selbst für diejenigen, denen nichts gehört. So viele Kredite, so viele Strassen. Aber ihnen gehört ja was, sie haben ja nicht nichts. Sie haben nichts zu fressen, ja, aber sie haben den Stoff, aus dem unsere Träume fabriziert werden. Sie haben Rohstoffe. Und aus ihren Rohstoffen, mit denen sie bezahlen müssen, machen wir Diamanten. Sind wir nicht selbst edel, wenn wir ihr Elend so veredeln? Steht das einem guten Christenmenschen nicht an? Die Regierungen werden immer abhängiger, sie brauchen immer mehr Geld. Korruption kostet Geld. Also investieren wir in Korruption. Und sie wirft für alle Gewinn ab, für dich, für mich, für die reichen Politiker der Armen, die immer noch verhungern und zu Hungerlöhnen für unser gutes Gewissen schuften. Wir geben ihnen ja Arbeit und Freiheit. Wir vermitteln ihnen Werte. Da ist es nur billig, dass sie uns Werte schaffen, mit denen wir handeln. Und diejenigen, die sich dieser Hilfe verweigern, die keinen Kredit von uns wollen, keine Strassen des Todes, die trifft die Strafe Gottes, denn Undankbarkeit ist eine schwere Sünde. Sie werden nicht sofort getötet, nein, erst noch ein wenig erpresst, oder Wahlen manipuliert, Intrigen, Sex usw. Wenn alles nicht hilft, hilft der Tod. Aber auch Mord hat seine eigene Moral. Ist es nicht eine Gnade, durch eine Kugel zu sterben, statt aus Hunger? Da nimmt man doch ganz anders an den Geschenken des Fortschritts teil. Ja, Antonio war und ist ein moralischer Mann, wie es auch ich bin. Ich verdiene das Gleiche, das er verdient hat. Nur verdient er auch deine Anerkennung und Liebe. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 23
BASSANIO Wie kannst du ihn einen Heuchler und Mörder schimpfen! SHYLOCK Dein Gott bewahre, nein! Er ist ein guter Mann. Versteht mich, ich mein damit, dass er vermögend ist. Gott preist sein Vermögen, und ich hab dir nichts als seinen Preis genannt. Und ihm werde ich meinen nennen, wenn er kommt. Seine Mittel stehen auf Hoffnung, wie ich höre. Deswegen seid ihr, deswegen bist du bei mir: um guter Hoffnung zu sein, dass mein Geld euch ein neues Leben gebiert. Ich denke, ich kann seine Bürgschaft annehmen. BASSANIO Seid versichert, Ihr könnt es. SHYLOCK Der Weg zum Reichtum, wenn du ihn möchtest, ist so klar wie der Weg zum Markt. Verschwende weder Zeit noch Geld, sondern mach das Beste aus und auch mit beiden. Kann ich Antonio sprechen? BASSANIO Wenn es Euch beliebt, mit uns zu lunchen? SHYLOCK Ja, Schinken zu riechen, Schweine aus Parma und schwimmende aus Venedig, um von dem Eigenheim mir eine Scheibe abzuschneiden, in dem euer Prophet, der Nazarener, den Teufel hereinbeschwor. Wie ihr in den Käfig diese Muskelpakete, die meinen kleinen Jungen verprügeln und zur Sau machen. Nein, eure Suppe solltet ihr alleine auslöffeln. Schau dir den Markt an. Bleibt ruhig subprime. Ich will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, ich geh mit euch long, ich geh mit euch short, und was dergleichen mehr ist oder weniger wird. Aber ich will nicht mit euch essen. Die Sache schmeckt mir nicht. BASSANIO Dann trinkt mit uns. Wär dir Champagner koscher genug? SHYLOCK Weder will ich mit euch trinken. Ich trinke nicht. Noch beten. Ihr mögt andere in die Knie zwingen. Ich kriech nicht zu eurem Kreuz. Ich steh aufrecht vor meinem Gott. BASSANIO Aber wie lang noch steht dein Gott zu dir? Möge dein Glück dir treu bleiben. Da kommt Antonio. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 24
SHYLOCK zu sich Ich hasse ihn. Weil er ein Christ ist? Weil er Geld umsonst verleiht? Weil seine Nase krümmer als die meine ist? Weil er dreckige Geschäfte als gute Taten verkauft? Hat mein Geld nicht den gleichen Wert wie seins? Kann es nicht das Gleiche kaufen? Ist es nicht genauso schnell verloren? Brennt es nicht, wie sein Geld brennt? Kann es nicht Menschen kaufen? Er hasst mich so sehr, dass ich glauben könnte, er hasse sich in mir. Und sollen sie sich nicht selbst lieben, die Christen? Wenn ich ihn sehe, bin ich ganz ausser mir. Und wenn ich Bassanio sehe, sehe ich Antonio hinter ihm. Er hasst mein Volk, wie Juden Juden hassen. Hasst mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn, den er nur Wucher nennt. Warum sollte ich ihm das je vergeben? Müsst mich nicht mein Stamm verfluchen? Ist nicht Vergeben eine Christentugend? OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 25
Bild 6: Speed Portia jetzt als Gratiano. Mit Tubal. GRATIANO Wir stoppen Antonio aus. Alles darauf, dass sein forward ihm ins eigene Fleisch schneidet. Wir wetten gegen ihn, wo wir nur können. Aber keiner darf etwas merken. Erst, wenn es zu spät ist. Algorithmen, Millisekunden, Flash Crash. TUBAL Der Heisse-Kartoffel-Effekt. GRATIANO Es geht um Fleisch. TUBAL Wie lange können Sie eine heisse Kartoffel in der Hand halten? GRATIANO Ich lass sie im Bruchteil einer Sekunde fallen? TUBAL Wenn Sie sich nicht die Finger verbrennen wollen, ja. GRATIANO Und wenn ich sie zerdrücke? TUBAL Wer macht sich schon gerne seine Hände schmutzig. GRATIANO Sie haben recht, ich will Ihnen nicht die Arbeit stehlen. Übrigens… TUBAL Ich höre. GRATIANO Jessica? TUBAL Sie ist Euch ganz verfallen. GRATIANO Alles, was ich habe, steckt in diesen giftigen Papieren. TUBAL Sie hat eine Mitgift. GRATIANO Sie ist eine Jüdin. TUBAL Sie wird konvertieren. GRATIANO Als könnte man den Glauben wie eine Währung wechseln. TUBAL Die Träume in ihren Venen kreisen wie das Geld. GRATIANO Gut. Sie soll weiter träumen. Sorg dafür. Hier hast du Geld. Und zu niemandem ein Wort. Dann bekommst du den Schein und darfst bleiben, wenn sie euch alle aus der Stadt jagen. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 26
TUBAL Ich bin es gewohnt zu gehen. GRATIANO Aber über das Wasser kannst auch du nicht gehen. Hier, gib das Jessica. Sag, es kommt von mir. Warte. Hör es dir zuerst an. Er rezitiert ein Gedicht von Charles Manson. Hier, nimm’s. TUBAL Aber das ist von Antonios Hand! Das ist seine Schrift! OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 27
Bild 7: Ein Pfund Herz II BASSANIO Shylock, hört Ihr? SHYLOCK Ich überlege. Ihr seid romantisch. Ihr liebt. Sicher braucht Ihr die Summe in bar. Denn braucht die Liebe nicht einen realen Gegenwert? Wollt Ihr sie anders, ist’s ein Handstreich. Wollt Ihr bare Münze, dann… bis heute Nacht sagt Ihr…? ANTONIO Shylock, wiewohl ich weder leihe noch borge… SHYLOCK Nein? ANTONIO Um Überschuss… SHYLOCK Überschuss? ANTONIO … zu geben oder nehmen, doch will ich, weil mein Freund es dringend braucht… SHYLOCK Er braucht es. ANTONIO … die Sitte brechen. SHYLOCK Antonio, ein Sittenbrecher, hört. Leiht ihm Euer Ohr. ANTONIO Weiss er, Shylock, wie viel er braucht? SHYLOCK Ja, alles, was er braucht. Und dreitausend Dukaten. ANTONIO Und bis Börsenschluss. SHYLOCK Ja, das vergass ich fast, bis Börsenschluss. Nun gut denn, Eure Bürgschaft! Lasst mich sehen. Nein, wartet. Antonio. Es heisst, dass Ihr auf Vorteil weder leiht noch borgt? ANTONIO Wir wollen keine Zeit verlieren. SHYLOCK Ja, Zeit ist Geld, aber Geld auch Zeit. Mein Geld gibt ihm die Zeit, die schöne Erbin zu werben. Mein Geld treibt ihn in ihre Arme. Und überwinden Küsse die Zeit nicht, Antonio? Und zahlt Geld nicht auch den Arzt, der die Wunde schliesst? Die Zeit ist doch arg zerstörerisch. Sieh nur, selbst unserem Adonis schlägt sie mit ihrer Axt Sorgenfalten auf die glatte Stirn. Und Euch macht sie die Glieder bleiern. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 28
ANTONIO Was tut das hier zur Sache? BASSANIO Lasst ihn reden. Die Zeit haben wir. SHYLOCK Stürmische Jugend. Sie glaubt, reich zu sein, überwinde die Zerstörung der Zeit. Geld nimmt Zeit. Wir brauchen Zeit, unseren Handel hier abzuschliessen. Geld ist auf die Zukunft ausgerichtet. Das, was Geld wirklich ist, verwirklicht sich erst in der Zukunft. Hier, mein Geld, es verwirklicht sich erst zwischen ihren Schenkeln. ANTONIO Müsst ihr immer nur vom Geld reden, wenn er von Liebe redet. SHYLOCK Geld, Antonio, das will ich sagen. Geld ist Kredit, vergesst das nicht. Geld muss im Fluss bleiben. Geld, werter Antonio, muss sich vermehren, und deshalb schieb ich es ihm gern in den Hintern. Denn da der Tod durch einen Menschen gekommen ist, so auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten, glaubt ihr. ANTONIO Siehst du, Bassanio, der Teufel kann sich auf die Schrift berufen. Ein schöner Apfel, wie alles glänzt, wie üppig rund alles ist, wie prall in der Sonne. Aber im Herzen, hier im Herzen faul. Ein Wurm im Herzen. SHYLOCK Ja, und schneidet man einen Wurm entzwei, sind’s zwei. Bassanio, was meint Ihr? Ist die Liebe nicht unsterblich? BASSANIO Aber ja, unsterblich verliebt bin ich. SHYLOCK Seht, Antonio. Geld macht uns unsterblich, weil Geld gleich Zeit ist. Und beides Profit und Reichtum. Wir sind begrenzt, schwächlich. Seht, wie blass Ihr seid. Gicht plagt Euch, nachts schlaft Ihr nicht, weil alles schmerzt, nach einem langen Tag des Kampfes, jung sein zu müssen. Aber er, er ist jung. Ihr leiht von ihm mit den Augen. Jugend ist sein Kapital. Und wer würde sich nicht gern von solch einem Kapital decken lassen? Geld muss sich vermehren, vermehrt es sich, kommt es in Umlauf, schafft es nicht nur mehr vom Selben, sondern ein Mehr von sich selbst. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 29
Das Geld ist seltsam. Es ist, als besprängen sich zwei Hengste, und beide sind sie trächtig danach und werfen junge Mähnen in den Wind. Wenn zwei Männer sich lieben, ist das Geld die Frau, die ihren Samen fruchtbar macht. Aber Gott verbietet die Liebe zwischen Männern, nicht? Lass es mich anders sagen. Wollen wir nicht alle und ein jeder von uns auf seine Weise, dass die Profite schneller und schneller steigen? Aber wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis in die tausendste Generation. Wer eine Krone mordet, zerstört alles, was damit hätte produziert werden können. Ihr müsst Zinsen nehmen. Sonst sind Euer Gott und die Liebe sterblich. ANTONIO Gut. Der Zins, den ich zahle, ist, Euch zugehört zu haben. SHYLOCK Dreitausend Dukaten oder Kronen sind eine runde Summe. Gute Werke soll man tun. ANTONIO Was schuld ich Euch? SHYLOCK Schuld? Ihr seid Christ, Ihr werdet immer schuldig sein. Ihr seid es Eurem Gott schuldig. Aber Ihr könnt erlöst werden. Der Glaube wird zum Kredit, sola credito. Da Gott Besseres zu tun hat, werde ich Euch vorübergehend erlösen. Nicht der Glaube, der Kredit allein erlöst. Und ist es nicht wunderbar, wie er uns aus unserer Einsamkeit befreit? Wärt Ihr sonst heute zu mir gekommen? Was für ein Künstler nicht das Geld ist, wenn man es laufen lässt, statt es einzuschliessen. Ihr kennt das doch, wie wunderbar kleine Ausgaben zu grossen Summen anschwellen. Ich sehe alles. Gläubiger haben nicht nur das beste Gedächtnis, sondern auch die schärfsten Augen und Ohren. ANTONIO Ihr habt Eure Nase vergessen, das Bild abzurunden. Ihr steckt sie überall hinein. BASSANIO Streitet nicht. Mir laufen die Zeit und meine Liebste davon. Ihr feilscht um Worte, aber Worte verlieren nur Zeit und fügen Schmerz zu. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 30
SHYLOCK Signor Antonio, wie oft habt Ihr mich auf dem Rialto geschmäht wegen meiner Zinsen und Gelder. Ich zuckte nur mit den Achseln. War da eine Mücke? Dazu zwingt Ihr uns ja, geduldig zu sein. Wir warten, dass der Messias auch bei uns vorbeischaut. Ich vergass, Ihr habt ihn ja gekidnappt. Wie meine Tochter. Ihr sagt, wir saugen Euch aus, ziehen Euch das letzte Hemd aus, ziehen Euch die letzte Kröte aus dem Beutel. Aber Ihr macht uns zu Kröten, langsam erhitzt Ihr das Wasser und lasst es steigen, bis wir in unserem Ghetto platzen. Ihr heftet uns mit Stichen Sterne an das Hemd, als wären wir gefallene Sterne hier auf Erden. Und sind nicht die Sterne, die wir sehen, längst erloschen. Am lebendigen Leib macht Ihr uns zu Untoten, die ihre Zähne in Eure unschuldigen Hälschen schlagen und Euer Blut saugen. Dabei ist es ja nur Geld. Aber Euer Blut ist Geld, nicht Wein. Und Euer Brot ist Geld, nicht Fleisch. Einen Bluthund schimpftest du mich, bloss weil ich nutze, was mein eigen ist. Aber wir wollen es vergessen, nur das muss ich Euch noch fragen: Hat ein Hund Geld, das er leihen kann? Muss ich jetzt vor Euch am Boden kriechen, Männchen machen, Euch zwischen den Beinen beschnuppern, winseln, mich auf dem Bauch drehen, bellen: Schöner Herr, am letzten Mittwoch spiet Ihr mich an und habt mich getreten. Das war schön, drum leih ich Euch gerne das Geld, denn ich hab davon so viel wie Flöhe im Fell. ANTONIO Ich könnt immer wieder dich treten und anspeien. Du schreist danach, bettelst wie ein Hund um Schläge. Mach’s kurz: Willst du dieses Geld leihen, leih es nicht deinen Freunden, denn wann nahm die Freundschaft vom Freund Ertrag für unfruchtbares Metall. Nein, leih es lieber dem Feind. Dann kannst du mit noch kälterer Stirn eintreiben, was dir verfallen ist. SHYLOCK Ihr stürmt. Ihr zürnt. Versteht Ihr denn keinen Spass? Ich will und wollt Euch Liebes tun, Freund mit Euch sein, die Schmach vergessen, OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 31
die Ihr mir angetan. Keinen Heller Zins. Der Preis der Freundschaft. Meine Gelder umsonst. Mein Antrag ist doch liebreich. ANTONIO Ja. Das ist er. SHYLOCK Und diese Liebe will ich Euch erweisen. Zeit ist Geld. Da zeichnet Eure Schuldverschreibung. Nur zum Spass: Wenn Ihr mir nicht bis zu Börsenschluss hier an Ort und Stelle die Dreitausend wieder zahlt, dann lasst … Wartet! Ich will nicht herzlos sein, wie Ihr zu behaupten pflegt. Dann lasst mir ein volles Pfund von Eurem Fleisch zur Busse und Tilgung ansetzen. Dass ich dann eigenhändig und unübertragbar, aus welchem Teil ich auch will, aus Eurem Leib schneiden darf. ANTONIO Das unterschreib ich gern. Mit Tinte oder Blut, ganz wie es Euch gefällt. Und ich will sagen, dass der Jude liebreich ist. BASSANIO Nein, unterzeichne es nicht. So gross kann keine Liebe sein. ANTONIO Ich werde nicht verfallen. Schon vor dem Schluss werd ich weit mehr als flüssig sein. SHYLOCK Vom ihm kannst du dir eine Scheibe abschneiden. Wie sentimental Ihr seid. Was hätt ich schon von süssem Menschenfleisch, das sauer aufstösst. Ein gut abgehangener Ochse, ein Lämmchen, ein Stier, das schöne Horn, ja, aber ein Mensch? Was ist die blosse Materie im Augenblick? Der zukünftige Tauschwert transzendiert sie. Das ist Erlösung. Ohne Schulden keine Erlösung, das ist die Formel Eures Glücks, auch wenn Ihr es nicht aussprecht. Ich verhelf Euch gerne dazu. Kränkt mich nicht für diese Liebe. BASSANIO Nehmt mein Herz. SHYLOCK Das gehört mir doch längst. ANTONIO Ich zeichne diesen Schein. Unterzeichnet. SHYLOCK Tubal gibt Euch die Münzen. Ich hoff, sie wiegen nicht zu schwer. Ich geb Euch einen Diener mit. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 32
ANTONIO im Abgehen mit Bassanio Der Hebräer wird noch ein Christ. Er wendet sich zur Güte. BASSANIO Er wendet nur den Mantel, nicht die Brust, die er verhüllt. Ich mag seine Freundlichkeit nicht. Ich trau ihm nicht. Doch trau ich ihm alles zu. ANTONIO Sei ohne Sorge, er geht leer aus. Er hat recht, das Geld muss in Bewegung sein, damit der Kreis sich schliesst. BASSANIO Oder die Schlinge. ANTONIO Nein. In ein paar Stunden bin ich reicher, als ich je war, und er hat nichts verdient daran. BASSANIO Aber du verdienst meinen Dank, meine Liebe. ANTONIO Ist sie nicht Portias Pfand? Eile! Nur wer genügend Schulden hat, bleibt der Welt im Gedächtnis. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 33
Bild 8: Keine Bank mehr Gratiano vor Antonio und Bassanio, Hütchen spielend. GRATIANO Banken gibt es nicht mehr. Sie waren nur ein Drainagesystem für Geldflüsse. Die Banker haben grosszügig Profit gemacht. Wodurch? Durch blosse Berührung. Wie Midas. Sie haben nur angefasst. Sie fasst Bassanio an. Ohne adäquate Leistung. Nur leere Versprechungen von Gewinnen. ANTONIO zu Bassani Wo hast du den aufgegabelt? BASSANIO Er ist mir zugelaufen. ANTONIO Ein läufiger Hund. BASSANIO Ein Terrier, du wirst sehen. Er verbeisst sich. GRATIANO Mit dieser Art Midaskunst sind die Banken schliesslich abgeschafft worden. ANTONIO Wer würde je die Banken abschaffen. Genauso gut könntest du die Juden abschaffen oder dem Meer das Wasser verbieten. BASSANIO Hör ihm zu. Wir müssen immer der Zeit voraus sein. Wir müssen schneller sein, unser Geld muss schneller fliessen. Schau nur, wie flink seine Hände sind. Weisst du noch, unter welchem Kästchen der Diamant liegt? ANTONIO Wenn du es nicht mehr weisst, gehört er ihm. War das nicht der Einsatz des Spiels? BASSANIO Er wird uns mehr bringen als eine Mine voll Diamanten. GRATIANO Hört ihr mir noch zu? Also, keine Banken. Die alten Serviceleistungen sind in Universal Payment System Knots (UPSK) virtueller Art ausgelagert worden. Geldverkehr, Versicherung, Pensionen sind dort implementiert und werden zu geringen Operationskosten ohne Menschen exekutiert. Die Bankenwelt ist obsolet. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 34
BASSANIO Was hast du? ANTONIO Es ist nur das Herz. BASSANIO Hast du deine Tabletten. ANTONIO Es ist ein Phantomschmerz. Ich habe es ja verpfändet. BASSANIO Hättest du nur die Schmerzen mit verpfändet. GRATIANO An den UPSKs hängen soziale Netze, die sichere Transaktionen in ihrer Cloud ausführen. In diesem Netz können sich direkt Leute verlinken, die sich gegenseitig Geld leihen. Es braucht allerdings Teilnehmer, euch, dich, mich, uns, trusted friends – ANTONIO zu Bassanio Warum fasst er dich immer an? GRATIANO Freunde, die für das Risiko der privaten Transaktion einstehen. So gibt es Rollen als freelance risk assessor (FRA) und loss adjusters (LA). Der FRA und der LA erzeugen eine Vertrauensidentität für den Geldnehmer. Geld gibt es nur noch als virtuelle Money Tokens. Es kann sogar auch in Social-Gaming Extensions erspielt werden. Die Währung heisst MT. MTs hängen vom sozialen Ranking im sozialen UPSN Netz ab. Soziales Ranking entsteht durch Projektjobs. Oder durch Geschäfte, durch Kontakte, durch Bewertungen anderer. MTs lassen sich auch erspielen in virtuellen sozialen Spielen. Dazu kann man auch professionelle Spieler gegen MTs anheuern, um den eigenen Status zu erhöhen und so mehr MTs wert zu werden. ANTONIO Ich verstehe kein Wort. BASSANIO Du musst ihn nicht verstehen. Du wirst seine Gewinne verstehen. Ich habe auch nie verstanden, mit was wir alles handeln. ANTONIO Mit was wir handeln, verstehe ich seit langem nicht mehr. Ich habe die Schiffe verstanden, die übers Meer segeln. Ich habe die Winde verstanden, die Klippen, die Riffe, den Sturm, die Wolken. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 35
BASSANIO Aber dann verstehst du es doch. Wir handeln mit Wolken. Wir kaufen und verkaufen Wolken. Wolken am Himmel und Wolken in unseren Köpfen. Wir buchen die Luft. ANTONIO Ich kann ohne dich nicht atmen. Ich sterbe. GRATIANO Wer viele gute Geschäfte gemacht hat, der hat Anspruch auf Unsterblichkeit: Das Gehirn wird komplett gescannt und als Avatar ins Web gespielt. Ihr wisst, was ein Avatar ist? ANTONIO Shylock? GRATIANO Ein Avatar ist ein virtueller Stellvertreter einer realen Person. Er ist für dich im Web. Und dieser Avatar, der kann auch im grossen politischen Gremium Politik, Gesetze usw. machen. ANTONIO zu Bassanio Wenn dein Avatar und mein Avatar…? Du sagtest, das Web ist frei, alles wäre möglich? GRATIANO Ebenso wird die DNA total gespeichert, und man ist auf Warteliste für Wiederinkorporation inklusive der Gehirninformation. Die Inkorporation ist noch kritisch bezüglich der Organherstellung, so dass diese bisweilen schief geht. Ein Beispiel: S ist ein grosser anonymer MT- Geber im UPSK-Netz, hat viele Rankings und Anspruch auf ein virtuelles Weiterleben erworben. A ist der MT-Nehmer. Er gibt die MTs an B, der P, die er liebt, durch den MT-Segen gewinnen kann. B/P ist der FRA. Wenn S den FRA ausschalten kann, platzt das MT-Geschäft, und A ist lebenslang aus dem UPS draussen und kann keinen Job mehr bekommen, ist MT-los und kann nie in die Ruhmeshalle des Gremiums, er ist ein Paria. A hat Schwierigkeiten, sich MTs zu verschaffen. Er hat ausserdem durch Recherche herausbekommen, dass S schon öfter den FRA ausgeschaltet hat und so den MT-Nehmer beliebig erpressen kann. S weiss nicht, dass der FRA Portia ist. A in Panik kontaktiert und schlägt S über das EXT als Pfand seine Organe als zusätzliche Sicherheit vor. Der schwarze Organhandel blüht ausserhalb des UPSK-Netz, da die OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 36
Inkorporation daran hängt. Aber A hat die Verhandlungen mit S aufgezeichnet und gibt sie einem bezahlten Whistleblower zur Sicherheit weiter, der das Material veröffentlicht, wenn A oder dem FRA etwas zustösst. Würde das Material unter Offenlegung der Identität von S publiziert werden, wäre auch der ein Paria und ohne Existenz. T soll den Whistleblower auffinden, über Spuren im Web töten. P lässt T auffliegen, und S muss sich beugen. A kann währenddessen seinen MT-Status mit Hilfe bezahlter Bangalore-Spieler höher spielen, und S wird angeklagt, da T aufgeflogen ist. Er muss der Inkorporation abschwören und kommt so in die Realität zurück. B und P bleiben zusammen. Es gibt in dieser Gesellschaft nur noch Werte, die dem totalen Netz entspringen. Ausserhalb ist man nichts. Religion ist weg. Nur der Glaube an das ewige virtuelle Weiterleben bzw. die Inkorporation ist die Religion. S und A spielen ums eigene Weiterleben. Der eine um das nach dem Tod. Der andere um das Konkrete. Das Netz ist das Zentrum, das Gehirn, das Jenseits und Diesseits. Die Errettung des Menschen kann nur seine Rückführung in die Realität sein und den echten Tod als Erlösung. A errettet S aus dem virtuellen Irrtum. Die moralische Tat besteht darin, ihn in das reale Leben zurückgeführt zu haben. Die eisernen Webregeln lösen aus, dass S scheitern muss. P gibt den Anstoss. ANTONIO Ich verstehe noch viel weniger als zuvor, aber du hast mich auf eine Idee gebracht. BASSANIO Hab ich nicht gesagt, er ist genial! ANTONIO Lasst mich bitte kurz alleine. Zeig ihm alles, was er wissen muss. Stelle ihn ein. BASSANIO Ich habe ihm meine dreitausend Dukaten gegeben. Er macht hundertausend daraus, hat er mir versprochen. Er will nur einen Bonus. Er spricht immer von Bonus und schaut mich dabei immer ganz seltsam an. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 37
Aber, hey, er ist ein Genie. Seine Algorithmen machen mich reich, und noch eh dieser Tag zu Ende ist, zahl ich alles zurück. GRATIANO Unter welchem Kästchen ist der Diamant? Habt ihr zugehört? ANTONIO Er ist zwischen deinen Beinen. BASSANIO Er will sich die Zunge für ihn stechen lassen, gewinnt er. ANTONIO Sag, was ist dein Preis, wenn du verlierst? Es sind drei Kästchen. Bassanio und ich sind zwei. Deine Chancen stehen schlecht. Was ist dein Einsatz? GRATIANO Ihr bekommt mich. Mit Haut und Haar. ANTONIO Geht. Wir sehen später, was unter den Kästchen steckt. Und ist der Diamant unter keinem, lass ich dich durch drei teilen. Bassanio und Gratiano ab. Antonio über Freisprechanlage. Hör zu! Ich brauche ein Herz. Ja, ein Herz. Long. Bei Börsenschluss. Egal, vorher. Es gibt doch die Organbörse. Wie? Ich weiss, dass sie illegal ist. Ich bezahl dich nicht für deine Moral. Mir ist egal, wem sie es aus der Brust reissen. Wenn du keines bekommst, dann finde einen, der das besorgt. Nein. Es soll nicht implantiert werden. Es kann kalt sein. Ein kaltes Herz. Aber ich brauche es. Egal, was es kostet. OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch © S. Fischer Verlag 38
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