Ein Pfund Fleisch Albert Ostermaier - F 1504 nach Motiven von William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"

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Albert Ostermaier

Ein Pfund Fleisch
nach Motiven von
William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"

F 1504
Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

                             Ein Pfund Fleisch (F 1504)

Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb an
Nichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnen
erwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mit
dem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kauf
der vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.
einer Tantieme.
Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungen
in geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.
Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen der
Rollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen das
Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.
Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechte
verfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main
Personen

ANTONIO, ein Kaufmann / Banker
BASSANIO, sein Freund / Investmentbanker
SHYLOCK, ein Jude / Banker
TUBAL, ein Jude, sein Freund / rechte Hand
PORTIA, eine reiche Erbin, zunächst verkleidet als GRATIANO, ein
Investmentpunk
JESSICA

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                            3
Vorspiel: Darkroom

Völlige, undurchdringliche Dunkelheit. Schreie, ein Chor aus Schreien,
Schreikoloraturen, Schmerzensschreie, die sich fast unmerklich in Lustschreie
verwandeln. Champagnerkorkenknallen, Dancefloormusik, Killing for Love,
Blind Faith, Let you go, Stöhnen, Stimmen, immer härtere Rhythmen, Christian
Metal, Hardcore, immer schnellerer Herzschlag, nur noch Herzschlag,
Herzschläge, ein Beckenschlag: Die Börse eröffnet.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 1: Punch

Es riecht nach Schweiss, schwitzenden Männern. Ein leerer Box-Käfig mit
Draht umschlossen, an den Seiten Sandsäcke, Speedballs und eine
Schweinehälfte,          auf    die   Shylock   einschlägt   und   an   der   er   seine
Schlagkombinationen trainiert. Er nimmt ein Messer und fixiert das Herz mit
einem Kreuz, versucht es immer wieder zu treffen und der zurückpendelnden
Schweinehälfte auszuweichen. Sein nackter Oberkörper ist mit Blut verschmiert.
Im Hintergrund ein unscharfer Flatscreen mit Nachrichten und Börsenkursen,
eine Ringuhr, ein Gong, Lautsprecherboxen, an Haken Boxermäntel.

SHYLOCK                  Am besten kauft man dann, wenn das Blut auf den Strassen
        klebt. Atmet heftig. Selbst, wenn es dein eigenes ist. Mein eigen Fleisch
        und Blut. Wenn es Krieg und Revolutionen gibt, Aufstände, Armageddon,
        wenn sie uns wie Vieh durch die Strassen hetzen, wenn es politische
        Probleme oder Wirtschaftsprobleme gibt, wenn sie uns bespucken, die
        Märkte kollabieren, wenn sie uns schächten und unsere Kinder
        verschachern, wenn ihnen ihre hohen Herzen in die Hose fallen, wenn sie
        ihren Hals nicht voll genug kriegen und ihre Kriege führen, wenn das
        Wasser in der Stadt steigt und alles überflutet, dann fallen die Preise.
        Dann fallen die Aktien, dann fallen die Messer vom Himmel, und ich
        fange sie auf mit meinen tausend Armen, ich greif in die fallenden
        Messer, die mich aufschlitzen. Wenn sie am Tiefpunkt sind, kauf ich,
        blutüberströmt vom eigenen Blut. Denn die am Tiefpunkt kaufen, machen
        eine Menge Geld und die Menge arm. Er hört zu boxen auf, löst die
        Bandagen. Ich bin ihre Schnittmenge, Tubal, verstehst du? Aber in mir
        haben sie sich geschnitten. Mit meines Messers Schneide schneid ich mir
        meinen Anteil ab und wasch mir die Hände und Brust in Unschuld. Er
        wäscht sich. Denn Wasser ist kostbarer als alles Blut der Welt. Tubal, wo

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                                   5
bist du? Wann kommen sie? Er nimmt ein weisses Handtuch, fährt sich
        über das Gesicht, schaut in es wie in einen Spiegel und spuckt Blut. Blickt
        sich ängstlich um, ob es jemand gesehen hat. Ich mach euch den Juden,
        das wollt ihr doch. Hab ich nicht Augen wie ihr? Kaut mir ein Ohr ab.
        Schmeckt es nach Jude? Meine Zunge, hat sie Biss? Meine Hoden, sind
        sie bitter oder süss? Eure Kaufmänner sind Kannibalen. Denn das ist sein
        Leib. Und sie öffnen die Münder. Und unser Leib sei das Geld, wünscht
        ihr. Und das ist sein Blut. Und unser Blut sei der Zins. Euer Blut? Das ich
        vergossen haben soll? Ich vergiesse nichts ausser Tränen. Ihr seid zum
        Heulen. Euch passt meine Nase nicht. Warum steckt ihr sie dann überall
        rein? Er hat eine Nase. Ja, eine Nase für alles, das ihr nicht riechen wollt.
        Ihr könnt mich nicht riechen, sagt ihr. Habt ihr denn keine Nase? Soll ich
        euch meine Nase leihen? Oder doch ein Ohr? Ich bin kein Mohr, ich bin
        der Jude, sagt ihr. Was macht mich zum Juden? Das, was mir fehlt, oder
        das, was euch fehlt? Sie fehlt mir. Sie fehlt mir so sehr. Wo war ich?
        Schau dir in die Augen, Shylock. Was siehst du? Was sie sehen wollen,
        seh ich voraus. Was soll’s, ich seh kein Land hinter dem Ende der Welt.
        Kommt. Ich spiel euch den Juden, spielt ihr mit meinem Leben. Tubal?
TUBAL            Ja?
SHYLOCK                  Wo ist mein Herz?
TUBAL            In Eurer Brust schlägt es, hoff ich.
SHYLOCK                  Mein Juwel, wo ist es?
TUBAL            In der Schatzkammer, verschlossen.
SHYLOCK                  Du Narr, meine Tochter, Jessica, wo ist sie?
TUBAL            Ich hab sie aus den Augen verloren, als ich ihr auf den Markt folgte
        und die neuesten Gerüchte hörte.
SHYLOCK                  Gerüchte?
TUBAL            Eine Blase, Herr?
SHYLOCK                  Welche Frucht trägt sie?

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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TUBAL            Sie platzt, fürchte ich.
SHYLOCK                  Was wartest du dann noch? Es ist höchste Zeit.
TUBAL            Eine Totgeburt, fürchte ich.
SHYLOCK                  Was?
TUBAL            Wenn sie keinen Schnitt setzen und es rausholen, wird es sich an
        seiner Nabelschnur erdrosseln.
SHYLOCK                  Welche Nachtigallen hörst du singen? Ich versteh dich nicht,
        und du verlierst Zeit, und Zeit ist mein Geld. Wirf es nicht aus dem
        Fenster.
TUBAL            Es fällt auf den Asphalt, die Kurse fallen, alles fällt. Ich setz auf das
        Fallen.
SHYLOCK                  Dann fall nicht über deine eigenen Füsse und nimm sie in die
        Hand. Tubal ab. Er wird alt. Ich bin alt geworden. Mein Blut trocknet
        nicht mehr. Was ist das? Eine Brandblase. Ich muss sie stechen.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 2: Brandblasen

Antonio bläst Seifenblasen in die Luft, sieht ihnen mit verhangenen, traurigen
Blicken nach.

ANTONIO                  Ich weiss nicht, was mich traurig macht. Ich bin ausgebrannt.
        Siehst du die schwarzen Ränder um mein Herz, hier?
BASSANIO                 Ich seh nichts.
ANTONIO                  Du musst es fühlen, gib mir deinen Finger. Spürst du es? Die
        Brandnarben? Hier, deine Fingerkuppe ist voll Asche. Er schleckt sie ab.
        Die Schwärze muss zurück, wo sie herkam.
BASSANIO                 Ich wäre auch schwermütig, hätte ich deinen Mut. Du bist ein
        Global Player, du spielst mit der Welt. Du jonglierst sie auf deinem
        Finger.
ANTONIO                  Alles, was er berührt, wird Asche.
BASSANIO                 Asche, ja, Gold. Du machst Asche zu Gold.
ANTONIO                  Wäre dein Herz aus Gold, liefest du gebückt und der Himmel
        über deinem Rücken. Ich würde mit all meinem Gold dein Herz
        aufwiegen.
BASSANIO                 Antonio, dein grosses Herz ist wahrlich Gold wert. Ich muss
        dir gestehen, ich habe mein Herz verloren.
ANTONIO                  Nimm meines. Was sag ich, du hast es längst. Ich kann es dir
        leer verkaufen. Wo finde ich es nun? Bekomm ich deines? Wo? Hast du
        meines weiterverkauft? Schulden verkaufen sich gut.
BASSANIO                 Wärst du nicht so sensibel, du wärst nur halb so reich.
ANTONIO                  Bist du nicht auch reich? Reich beschenkt?
BASSANIO                 Ja, reich an Gedanken, an Flausen im Kopf, an Träumen,
        Luftblasen, die aus meinem Herzen mir ins Hirn steigen. Könnte ich sie

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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verkaufen, wäre ich noch reicher als du. Aber wer kauft etwas, das es nur
        in der Phantasie gibt.
ANTONIO                  Es sind alles Phantasiegeschäfte. In den grössten Palästen
        wohnt, wer die grössten Luftschlösser verkauft. Nichts hat mehr einen
        Gegenwert, nur das Leben den Tod vielleicht. Ich schenk dir mein Leben.
BASSANIO                 Du bist ein Poet. Es gibt auf dem Parkett keinen Poeten wie
        dich. Du machst aus einem Gedicht ein Geschäft, aus einem Sonett
        Sonnenenergie, aus einem Flirren einen Fonds. Du musst nicht das Gras
        pflücken, um zu wissen, woher der Wind weht, du brauchst keine Kurse,
        um Kurs zu halten, du gehst auf den Grund, nicht deine Schiffe; der Sand,
        der durch deine Hand rinnt, ist nicht Vergeblichkeit, sondern der Sand,
        auf dem sie Millionen von Häusern an unseren Küsten bauen. Ich
        bewundere dich, deinen Geist.
ANTONIO                  Du hast recht, ich bin ein Geist. Du langst durch mich
        hindurch. Da ist nichts, nur Nebel. Ein Nebel, der „ich“ sagt. Ein Nebel,
        der nur verschwindet, wenn du ihn vertreibst. Du kommst, machst Wind,
        viel Wind, und fängst zu wirbeln an. Aber ich spür, dir liegt etwas auf
        dem Herzen.
BASSANIO                 Warst du je verliebt?
ANTONIO                  Das fragst du mich?
BASSANIO                 Ich bin es. Siehst du es nicht? Mit Haut und Haar. Auf
        Gedeih und Verderb. Ich könnte sterben vor Liebe! Aber…
ANTONIO                  Aber? Was fehlt dir? Du hast doch alles, und es gehört dir
        längst!
BASSANIO                 Ich bin nicht mehr ich selbst, so sehr lieb ich!
ANTONIO                  Komm in meine Arme!
BASSANIO                 Du hast es geahnt?

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ANTONIO                  Wie sehr habe ich darauf gewartet, gehofft! Die Bleikammer
        in meiner Brust schmilzt dahin, wenn deine Brust sich an sie drückt. Wie
        in Wasser fällt das Blei und wird zum Schmetterling.
BASSANIO                 Ach, würde es zum Goldesel. Das Blei. Das in meiner Brust.
        Ich brauche Geld, mein Freund.
ANTONIO                  Geld? Du hast … Ihr kennt mich und verschwendet nur die
        Zeit, da ihr Umschweife macht mit meiner Liebe. Unstreitig tut ihr mir
        mehr zu nah, da ihr mein Äusserstes in Zweifel zieht…
BASSANIO                 Alle Liebe ist vergebens ohne Geld, deshalb liebe ich das
        Geld so sehr, weil es mich lieben lässt. Meine Liebe ist kostbar. Sie hat
        ihren Preis.
ANTONIO                  Ich zahl ihn.
BASSANIO                 In Belmont.
ANTONIO                  Lass uns aufbrechen!
BASSANIO                 In Belmont ist ein Fräulein.
ANTONIO                  Ein Fräulein? Wozu…?
BASSANIO                 Reich an Erbe…
ANTONIO                  Ich habe…
BASSANIO                 Und sie ist schön.
ANTONIO                  Schön…
BASSANIO                 Und, schöner als die Worte, von hohen Tugenden.
ANTONIO                  Tugenden, Junge…
BASSANIO                 Von ihren Augen empfing ich holde stumme Botschaft einst.
        Aber von allen Himmelsrichtungen kommen die Freier her, sie zu frei’n.
        Berühmte. Mit Yachten, aus Wolken, von überall. Ihr sonnig’ Haar wallt
        um die Schläfen ihr wie ein gold’nes Vlies. Und ich hab nur Blei. Ich rede
        nur Blech, solang’ ich nicht Gold an ihre Ohren hänge. Hängen kann. Ich
        häng mich auf, gewinn ich sie nicht. Ich falle ins Bodenlose. O mein
        Antonio, geliebter Antonio, goldener Freund. Hätte ich nur die Mittel und

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nicht alles längst verschwendet, was du mir mit offenen Armen gabst,
        wären es nicht leere Hände, könnte ich mein Schicksal selbst in die Hand
        nehmen. Du bist mein Schicksal. Nur aus dir wächst das Glück. Du legst
        es in meine Hände, und ich lass es gross werden. Ich kann es. Aber nur
        mit deinen Mitteln kann ich den Rang mit den andern Freiern halten. Ich
        werde ohne Zweifel glücklich sein. Und bist nicht auch du glücklich,
        wenn ich es bin? Ich will dich glücklich machen!
ANTONIO                  Du weisst, mein sämtlich Gut ist short. Ist im Markt, in der
        Luft, verblasen, im Nebel! Was für ein Tag ist heute? Freitag? Ja? Heute
        um 23 Uhr ist mein Geld wieder da und mehr als es jemals war.
BASSANIO                 Das ist zu spät, ich brauch es schon die nächsten Stunden.
ANTONIO                  Ich habe alles in Fleischkontrakten. Leerverkäufe. Tausende
        Tonnen. Es ist alles gehedged, alles long abgesichert. Das goldene Kalb.
        Du kannst es haben. Ich schlachte es dir.
BASSANIO                 Ich kann nicht warten.
ANTONIO                  Ich muss warten.
BASSANIO                 Keine stille Reserve?
ANTONIO                  Ich habe alles gesetzt. Wie hätte ich früher gesagt: Alle meine
        Schiffe sind auf See und können dich nicht in den sicheren Hafen der Ehe
        bringen. Mir blutet das Herz, aber…
BASSANIO                 Gibt es keine andere Chance? Ich fleh dich an, wenn dir mein
        Leben, mein Glück am Herzen liegt! Ich tue…
ANTONIO                  Es gibt eine Möglichkeit. Geh zu und sieh, was in Venedig
        mein Kredit vermag. Den spann ich an, bis auf das Äusserste. Geh, frag
        gleich herum, ich will es auch, wo Geld zu haben. Ich bin nicht besorgt,
        dass man uns nicht auf meine Bürgschaft borgt. Ich dank dir.
BASSANIO                 Wofür?
ANTONIO                  Jetzt weiss ich, warum ich traurig bin.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 3: Swaps

Auf     dem       Splitscreen   Börsendaten,   Katastrophennachrichten,   Kriege,
Folterungen, Kindercomics, Blumenbilder, Kamerafahrten über Landschaften
ohne Menschen. Im Cage zwei ungleiche Kämpfer, der Christ ein Goliath, der
scheinbare Jude ein David. Eine wettende, anfeuernde, eifernde Crowd.

SHYLOCK über Freisprechanlage Fugger. Schrott. Das sind Schrottpapiere.
        Das ist Giftmüll. Warte. Bleiben Sie in der Leitung. Es klopft. Ja? Ah!
        Fugger. Sie müssen Fugger kaufen, stecken Sie Ihr ganzes Geld in
        Fugger. Fugger wird die Welt erobern. Die Häusermeere werden weiter
        sein als unser Meer. Die Brandung schlägt auf das Land und lässt Häuser
        zurück. Wir sind die Brandung. Es ist wie im Märchen. Sie werfen eine
        Münze in den Zauberhut, auf dem Fugger steht, und ich zieh für Sie einen
        Schein heraus. Gut. Alles? Für die Renten und Pensionsfonds. Ihre
        Rentner und Pensionäre werden sich freuen. Und wissen Sie was, Sie
        werden so viel Geld verdienen, dass Sie sich davon eines dieser Häuser
        am Meer kaufen können. So schliesst sich der Kreis. Wie gerne würde ich
        auf dem Meer wohnen. Sie wissen, ich darf nicht. Ich würde Ihnen die
        Aussicht verstellen. Aber am Telefon, das verstösst ja nicht gegen Ihren
        und meinen Glauben. Wollen Sie nicht auch noch Ihr privates Geld…?
        Ja? Umso besser. Die Uhr läuft. Sie haben gerade die Zeitschaltung zum
        Paradies gekauft. Glückwunsch. Grüssen Sie Ihren Gott. Sagen Sie ihm,
        ich hätte ihn gern in meinem Portfolio. Ciao, carissimo. Der Wichser.
        Jetzt geht er in sein Schliessfach beten. Sind Sie noch dran? Hören Sie,
        wir wetten gegen Fugger, alles gegen Fugger. Unsere Ratingfreunde
        geben Ihnen Bestnoten. Ciao, ciao. Henry? Ja, hören Sie. Wir sind doch
        versichert, wegen dieser CDOs? Ja? Gut. Für den Fall, dass das alles
        platzt. Setzen Sie gegen unsere Versicherung. Setzen Sie auf den Crash.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Aber: Es bleibt unter uns. Setzen Sie alles, was ich habe, auf den Crash.
        Ja, Ciao, ciao. Warum poliert er ihm nicht die Fresse? Was für ein
        ungleicher Kampf. Und dann hat er noch Blei in den Fingerknöcheln. Und
        unser kleiner Junge nur Gold im Mund. Aber er ist wendig. Geh, wett auf
        den Juden.
TUBAL            Aber Ihr habt ihn bezahlt, dass er verliert.
SHYLOCK                  Sie sollen sich doppelt freuen. Dann denken sie an kein
        Drittes.
TUBAL            Warum empfehlt Ihr Papiere, die Ihr als Schrott verhöhnt?
SHYLOCK                  Meinst du, ich versündige mich, alter Mann? Stehl ich, mord
        ich, lüg ich anders, als sie lügen, morden, stehlen? Niemand macht sich
        die Finger schmutzig. Alle waschen sich permanent die Hände in ihrer
        Unschuld, die Börse ein einziger Waschzwang. Der Kern nur Seife, aus
        der man Blasen bläst, schöne, immer grössere Blasen, weil sie immer
        schönere, immer grössere Blasen blasen können, bis die Blase so gross
        wie der Erdball ist, eine Welt neben der Welt und Gott kann sie in den
        Händen wiegen wie zwei Brüste. Wenn du zwei Äpfel hast, in welchen
        beisst du? In den, der von deinem Stamm fiel, oder in den, den du vom
        Baum deines Nachbarn stahlst?
TUBAL            Wenn sie sehen, dass deine Äpfel Würmer haben, bist du es, der
        den Stich am Ende hat.
SHYLOCK Sagen sie nicht, wir seien Parasiten, Schädlinge, die in ihren blassen
        Körpern wohnen, sich hinaufschlängelnd durch die Herzen bis in die
        Hirne fressen. Haben wir solch einen schlechten Geschmack? Sie
        brauchen uns, damit sie sich säubern können von ihrem eigenen Schmutz.
        Deshalb spülen sie uns in den Abguss. Was sollen sie mich einsperren?
        Sind wir nicht längst eingesperrt? Und bleiben, solange es Juden gibt, im
        Ghetto ihrer Vorurteile, ob sie uns nun lieben oder hassen? Ohne Juden
        gäb es keine Christen, aber ohne Christen gäb es Juden. Wenn sie uns

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                              13
auslöschen, löschen sie sich selbst aus. Das ist es, was sie wollen. Ich bin
        wie ein guter Christ, ich helfe ihnen dabei. Man wird es mir lohnen.
TUBAL            Es ist stets ein Kreuz mit den Christen. Sie breiten die Arme aus,
        und du denkst, sie wollen dich umarmen, aber sie wollen dir nur ihre
        blutigen Hände zeigen und schreien: Das ist das Loch, durch das du
        musst, willst du ins Himmelreich. Und da musst du hin. Als wären wir die
        Nägel und der Rost in den Adern, der mit ihrem Blut kreist.
SHYLOCK                  Sie sind verlogen, Tubal. Sie können mit Moral lügen. Sie
        lügen mit Anstand. Lügen mit Barmherzigkeit. Lügen mit der linken und
        der rechten Wange. Sie lügen aus Nächstenliebe. Sie glauben an die Lüge,
        weil sie ihren Glauben anlügen. Nimm diesen Antonio. Diesen
        ehrenhaften Mann. Was für eine Erscheinung. Die feinen, sensiblen Züge,
        die Trauerränder unter den Augen, die Hände, die den Wind streicheln,
        weil er die Kälte bringt und selbst doch frieren muss. Sein sanftes Herz,
        seine wohltätigen Muskelpakete, seine gnadenreichen Nasenflügel, die
        sorgenschweren Schulterblätter, beschrieben mit all dem Kummer seiner
        Gefährten, sein Märtyrerkehlkopf, der Bauchnabel, aus dem er Almosen
        den armen Seelen schöpft, seine zitternden Lippen, weil die Erde bebt,
        solange sie ungerecht ist, dieses Bild von einem Mann, von einem
        Kaufmann, von einem nicht käuflichen Mann, der sich Männer kauft wie
        kostbares Porzellan, das man sich nicht zu berühren traut. Nicht, weil er
        zerbrechen könnte, nein, weil man selbst zerbrechlich ist, wiegt man es in
        seinen Händen. Ach, Antonio. Wie werden alle schwach, hören sie seinen
        Namen. Wie stark macht er sie in ihrem Hass auf uns. Er ist der
        verlogenste von allen! In was investiert er sein ganzes Geld? Heute? Ja,
        gerade jetzt, schau es dir an! Dort! In Fleisch. In Fleischkontrakten! Was
        bedeutet das, Tubal?
TUBAL            Ich weiss nicht?

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                              14
SHYLOCK                  Du bist verschlagen, aber vom alten Schlag, mein Lieber. Ich
        werde es dir erklären. Fleischkontrakte sind Agrarforwards.
TUBAL            Forwards?
SHYLOCK                  Wo lebst du?
TUBAL            Im Ghetto.
SHYLOCK                  Forwards       sind   ausserbörslich   gehandelte   Futures.
        Fleischkontrakte sind Agrarforwards. Was machen sie? Schau mich nicht
        an, als wär ich ein Kabbalist! Wobei es egal ist, nach welchem System du
        handelst – wir sind alle Spieler mit System, aber im Grunde spielt das
        System mit uns und spielt uns zugrunde. Egal. Agrarforwards. In Fleisch.
        Sie bringen das Ernährungssystem der Afrikaner und der Rothäute
        durcheinander oder wer immer dort jenseits des Endes unserer Welt
        wohnt. Agrarforwards stören, sie stören massiv, sie sind eine massive
        Störung des Ernährungssystems. Denn durch zu viele Kontrakte erzeugst
        du, ohne jede reale Basis, eine Menge an Fleisch, die es gar nicht gibt, da
        jeder deiner Kontrakte zum Beispiel hundert Tonnen Fleisch umfasst.
        Hundert Tonnen! Die Anzahl der Kontrakte ist aber nie gedeckelt oder
        abgesichert mit real vorhandenem Fleisch. Du beisst ins Leere. Es ist
        Luftfleisch, Phantasiefleisch. Und was passiert deshalb? Der reale Preis,
        der Preis also für reales Fleisch, für echtes Fleisch, für das Fleisch, das du
        auf dem Markt kaufst und das du in deine Pfanne haust, dieser Preis fällt,
        er fällt ins Bodenlose, und die Erzeuger beissen ins Gras, weil der Preis
        vergammelt, es ist Gammelfleisch. Und der schöne, edle Antonio verdient
        durch sein Hedging wieder und erzeugt Opfer um Opfer.
TUBAL            Verkaufst du nicht auch das Blaue vom Himmel und die Farbe
        deiner Augen?
SHYLOCK                  Ich würde sogar meine eigene Tochter verkaufen. Willst du
        das als nächstes sagen? Weisst du Neues von ihr?
TUBAL            Keine Spur.

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SHYLOCK                  Ich möchte wetten, sie haben sie mir gestohlen.
TUBAL            Und wenn sie mehr verführt als entführt wäre?
SHYLOCK                  Du verschweigst mir etwas? Was weisst du?
TUBAL            Dass die Liebe sich nicht beschneiden lässt, und dass Töchter ihre
        Väter wie ein Haus verlassen. Sie lassen das Licht an.
SHYLOCK                  Sprich nicht in Rätseln. Zeit ist Geld.
TUBAL            Ihr gabt ihr Geld. Aber sie konnte sich keine Zeit dafür kaufen mit
        Euch.
SHYLOCK                  Ich gab ihr genügend. Ich will sie sehen, hörst du! Schaff sie
        mir unter meine Augen zurück.
TUBAL            Da kommt Bassanio, der Schöne.
SHYLOCK                  Schuldet er uns noch?
TUBAL            Wenn er dir gefällt – nicht mehr als einen Gefallen.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 4: Cross-Dressing

Portia vor einer faltbaren Spiegelwand. Spiegel, hinter denen Screens zu sehen
sind, die Börsenkurse und Nachrichten zeigen. Sie changieren zwischen sichtbar
und unsichtbar.
Vor Portia liegen drei Kästchen. Sie spielt mit ihnen wie ein Hütchenspieler. Es
ist ein Betrugsspiel, aber zugleich spielt sie es, wie Schachgranden gegen sich
selbst Schach spielen. Sie scheint ein System zu verfolgen, denn ihre
Bewegungen haben Konsequenzen. Während sie spielt, handelt sie an der Börse.
Erst spät entdeckt man, dass sie blind spielt, während sie die Kästchen bewegt.
Über die Screens laufen jetzt Männer mit ihren Facebookprofilen.

PORTIA           Ich weiss, dass es Sünde ist, ein Spötter zu sein. Aber er, er sieht
        aus wie ein Pferd. Wenn ein Vöglein singt, so macht er gleich
        Luftsprünge. Und der? Er liebt Männer. Aber noch mehr liebt er das Geld.
        Geld macht aus Frauen Männer. Ich bezahle, was ich bin, was ich sein
        will. Was fehlt, ein Mann zu sein, schnall ich mir an, eh sie es schnallen,
        und knall sie an die Wand. Was sind ihre Transaktionen anderes als
        Küsse. Jede tausendstel Sekunde Millionen von Küssen, Millionen von
        Zungen, die sie sich einander in den Rachen stecken. Dildo-Geschäfte. Sie
        schieben einander die Nutten zu wie ihre wertlosen Papiere. Sie pissen auf
        sie, sie lassen sich bepissen. Sie treffen sich in dunklen Räumen, weil sie
        sagen, ihre Seelen seien dunkel, weil ihr Handel seellos sei. So handeln
        sie sich im Dunkel ein, was sie im Licht nicht bekommen. Sie kleiden sich
        in feinste Stoffe. Aber unter den Stoffen tragen sie eine zweite Haut über
        der Haut. Eine zweite Haut aus Strom. Wenn du sie berührst, bekommst
        du einen Schlag. Ich schlag zurück. Ich bin reich. Ich erbe. Ich erbe die
        Toten, die mein Vater zurückliess. Wer mich heiratet, heiratet Geld. Sie
        brauchen nicht mich, um es zu vermehren. Geld schläft mit sich selbst.

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Jeder Dollar hat einen Ständer. Und jeder Schein ein Loch. Sie sind dabei
        nur die Hebammen mit den Plastikhandschuhen, die nervösen Väter vor
        der Tür beim Kaiserschnitt. Ich bin ihr Startkapital und werde zum Risiko.
        Ich bin ein Termingeschäft. Wenn es ihnen darum geht, wer den Grössten
        hat, habe ich den grössten Erfolg. Ich liebe. Mein einziger Fehler. Ich bin
        verliebt, angezählt. Die Liebe ist mein Hedge. Sie sichert mich ab.
        Bekommt mich der Falsche, liebe ich noch immer den Richtigen.
        Bekommt mich der Richtige, habe ich nichts falsch gemacht und doppelt
        gewonnen, während andere alles verlieren oder verloren haben. Schau dir
        den an. Wie abscheulich morgens, wenn er nüchtern ist, und noch
        abscheulicher, wenn das Scheusal betrunken ist. Wenn er am besten ist, so
        ist er wenig schlechter als ein Mann, und wenn er am schlechtesten ist,
        wenig besser als ein Vieh. Komme das Schlimmste, was da kommen mag
        – es muss mir glücken, sie alle loszuwerden bis auf einen. Ich muss sie
        in den Ruin treiben, bevor sie mich ruinieren, die faltenlose Haut mir
        spalten. Sie beginnt sich auszuziehen und als Mann zu kleiden. Aber
        Bassanio. Bassanio ist der Beste. Er ist ein Verschwender. Er wird die
        Welt retten, und ich bin rettungslos verliebt in ihn. Seine Gewinnsucht ist
        grenzenlos. Er kann nie genug kriegen. Er braucht Luxus, will alles haben,
        nichts sollen. Und seine Empfindungen folgen einer höheren Moral; nur
        das versteht er, und das verstehen die anderen nicht. Durch seine Gier
        schafft er Reichtum, verteilt er die Güter, denn er kann nicht alles selbst
        verzehren in seinem masslosen Hunger. Seine egoistischsten Interessen
        und Triebe, seine Passionen und Sehnsüchte, durch eine unsichtbare Hand
        schaffen sie Gemeinwohl. Durch meine Hand. Er macht aus unsrer
        Unvernunft Vernunft. In ihm sind Millionen von Teufeln, und alle heizen
        sie das Feuer an, das uns alle wärmt, ohne dass sie es wollten. Sie legt den
        Occupy-Song auf, tanzt unmerklich dazu. Vor ihr die drei Kästchen. In
        ihrer Hand ihr Slip. Gold. Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Mann begehrt. Silber. Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient.
        Blei. Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles dran. Sie schiebt die
        Kästchen hin und her, her und hin. Dann öffnet sie das Goldkästchen.
        Gold. Was ein Mann begehrt. Sie legt ihren Slip in das Kästchen. Silber.
        Was er verdient. Sie spuckt in das Kästchen. Blei. Blei. Wagt alles. Sie
        hält es an ihr Herz. Portias Herzschlag. Hier soll er gefangen sein. Sie ist
        nun vollständig bekleidet. Und, wie sehe ich als Gratiano aus? Er liebt
        Jessica. Aus ganzem Herzen. Nur sie. Ein Mann, wie er im Buche steht!
        Und ich bin's, die es führt!

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Bild 5: Ein Pfund Herz

SHYLOCK                  Dreitausend Dukaten – gut.
BASSANIO                 Bis Börsenschluss.
SHYLOCK                  Bis Börsenschluss. Gut.
BASSANIO                 Bis dahin muss ich ein reicher Mann sein.
SHYLOCK                  Bist du nicht schon reich? An Jugend. An Schönheit. An
        Freunden. An Freuden? Feierst du nicht die Nacht im Tag und den Tag in
        der Nacht? Fliesst nicht das Geld durch deine Hände, wie der Fluss über
        die Steine? Du hast schöne, glatte Hände.
BASSANIO                 Ich liebe.
SHYLOCK                  Ja, mit solchen Händen ist die Liebe zum Anfassen. Schau
        meine an. Euer Geld hat scharfe Kanten, wenn ich es in die Hände
        bekomme.
BASSANIO                 Ich kann sie nur zur Frau nehmen, wenn ich reich bin. Das ist
        die Aufnahmebedingung.
SHYLOCK                  Verkauf dich ihr jetzt als der, der du zu Börsenschluss bist.
        Und als derjenige legst du dich gleich jetzt in ihr Bett und vollziehst
        deinen Teil des Ehevertrags. Am Ende des Tages wird sie sehen, was
        du dann wert bist.
BASSANIO                 Sie braucht den Auszug.
SHYLOCK                  Auch wir zogen aus Ägypten aus. Aber Ägypten, mein
        Freund, ist überall. Die Sonne und die Räder drehen sich überall gleich,
        und wir liegen darunter. Aber ich bin heute so seltsam melancholisch und
        weiche ab von deinem Anliegen. Du glaubst also, Geld sei der Schlüssel
        für dieses Schliessfach? Und die Lust danach, wenn es sich öffnet.
BASSANIO                 Ich werde nicht zugelassen ohne Geld. Schau dir die anderen
        an, sie stinken vor Geld.

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SHYLOCK                  Geld riecht nicht. Nur Menschen riechen. Gier ist kein
        Geruch. Ich würde es riechen an deinem Hals. Geld hat keinen Gestank,
        sonst bräuchten wir eine dritte Hand, die uns die Nase zuhält, wenn wir
        uns umarmen.
BASSANIO                 Ich kenn keine Gier. Ich hatte Geld, ich werde Geld haben,
        ich werde Geld verlieren, verschenken, verschwenden, ich zündete es an,
        wenn mir kalt war, brannte meine Zigaretten an damit. Aber heut brennt
        nur die Luft. Das Geld ist da, aber gleichzeitig ist es nicht da. Hier ist das
        Streichholz. Aber wo ist das Geld? Hier ist die Zigarre. Aber wo das Geld,
        sie glühen zu lassen?
SHYLOCK                  Ich helf dir gerne aus.
BASSANIO                 Es ist alles ein Luftspiel, eine Fiktion. Wie kann ich eine
        Fiktion rauchen? Wie kann ich eine Fiktion f…, was rede ich, ich liebe
        sie. Wie auch immer, ich muss sie gewinnen. Ich bin ein Spieler, ich liebe
        das Spiel, aber jetzt spielt die Liebe mit mir.
SHYLOCK                  Feuer?
BASSANIO                 Antonio bürgt dafür.
SHYLOCK                  Dass du bis zur Nacht ein reicher Mann bist. Die Taschen
        voll Geld.
BASSANIO                 Dieses Mal halt ich’s fest.
SHYLOCK                  Aber es muss doch fliessen.
BASSANIO                 Ich fliess über vor Liebe. Es ist kein Flow, es ist ein Flash,
        ein Flash Flow. Wenn ich sie habe, steig ich aus. Dann wird ihr Geld für
        uns arbeiten, und ich arbeite mich Millimeter für Millimeter über ihre
        Haut, an deren Küsten ich wie an einem fremden Kontinent anlege.
SHYLOCK                  Eine gewinnversprechende Anlage, gebe ich zu. Aber wird
        Antonio nicht traurig sein, dich ans Glück der Ehe zu verlieren?
BASSANIO                 Antonio ist ein guter Mann.
SHYLOCK                  Ja, er steht seinen Mann, du musst es wissen. Er ist gut.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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BASSANIO                 Habt ihr irgendeine Beschuldigung des Gegenteils wider ihn
        gehört?
SHYLOCK                  Nein, nein. Verlangt er nicht „radikale Transparenz“. Habt ihr
        nicht alle seine Leitfäden studiert? Schmerz und Reflexion ist gleich
        Fortschritt. Wie schmerzlich recht er hat, nicht, wenn er es auf dich
        anwendet und dein neues Glück. Er ist sehr charismatisch, nicht? Manche
        sagen, ihr seid wie eine Sekte. Sein Fonds sei eine Sekte. Aber wenn einer
        eine Sekte verlässt, knallen keine Korken.
BASSANIO                 Nichts ist ihm so wichtig wie die Freiheit.
SHYLOCK                  Ja, er will die Freiheit in die ganze Welt bringen. „Die
        Märkte sind frei“, steht doch in eurer Verfassung geschrieben. Oder waren
        es die Menschen? Weisst du, was er früher gemacht hat?
BASSANIO                 Er hat den armen Ländern geholfen, er war in der Politik. Er
        ist ein tiefgläubiger Mensch.
SHYLOCK                  Wenn er vor dir steht, wie tief glaubt er an dich?
BASSANIO                 Was meinst du?
SHYLOCK                  Ist Gott nicht in jedem von euch?
BASSANIO                 Dreitausend Dukaten, mehr nicht. Die Zeit läuft mir davon.
SHYLOCK                  Nicht so schnell. Läufig mögen Hunde sein, ich habe Zeit. Du
        glaubst also, er hat gute Werke vollbracht? Dort im Herz der Finsternis, in
        den dunklen Kontinenten, wo die Wüsten über das Grün wandern?
BASSANIO                 Er hat ihnen Kredit verschafft, Strassen bauen lassen. Er…
SHYLOCK                  Ich erklär dir, was er gemacht hat, und wie sie es heute
        immer noch machen. Die armen Schwarzen, die armen, armen Afrikaner,
        sie sterben wie die Fliegen und verhungern auf offener Strasse! Aber, sie
        haben gar keine Strassen, muss da nicht das Christenherz bluten? Also
        verschafft ihnen der gute Samariter Kredit. Damit sie Strassen haben, auf
        denen sie verhungern können. Und Flughäfen für die vielen Fliegen. Die
        Afrikaner können das natürlich nicht selbst bauen – sie sind ja mit

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Hungern und Sterben vollbeschäftigt – also geben sie das geliehene Geld
        unseren Firmen, die dann die Strassen bauen, die Autobahnen, auf denen
        es sich gleich viel menschenwürdiger verrecken lässt, geradezu zivilisiert.
        Die armen Afrikaner müssen aber jetzt diese Schulden zurückzahlen,
        nicht? Es war ja schon ein unglaubliches Christenwerk, ihnen die Kredite
        zu verschaffen. Was für ein Kampf! Aber zurückzahlen, das gehört sich
        einfach, selbst für diejenigen, denen nichts gehört. So viele Kredite, so
        viele Strassen. Aber ihnen gehört ja was, sie haben ja nicht nichts. Sie
        haben nichts zu fressen, ja, aber sie haben den Stoff, aus dem unsere
        Träume fabriziert werden. Sie haben Rohstoffe. Und aus ihren
        Rohstoffen, mit denen sie bezahlen müssen, machen wir Diamanten. Sind
        wir nicht selbst edel, wenn wir ihr Elend so veredeln? Steht das einem
        guten Christenmenschen nicht an? Die Regierungen werden immer
        abhängiger, sie brauchen immer mehr Geld. Korruption kostet Geld. Also
        investieren wir in Korruption. Und sie wirft für alle Gewinn ab, für dich,
        für mich, für die reichen Politiker der Armen, die immer noch verhungern
        und zu Hungerlöhnen für unser gutes Gewissen schuften. Wir geben ihnen
        ja Arbeit und Freiheit. Wir vermitteln ihnen Werte. Da ist es nur billig,
        dass sie uns Werte schaffen, mit denen wir handeln. Und diejenigen, die
        sich dieser Hilfe verweigern, die keinen Kredit von uns wollen, keine
        Strassen des Todes, die trifft die Strafe Gottes, denn Undankbarkeit ist
        eine schwere Sünde. Sie werden nicht sofort getötet, nein, erst noch ein
        wenig erpresst, oder Wahlen manipuliert, Intrigen, Sex usw. Wenn alles
        nicht hilft, hilft der Tod. Aber auch Mord hat seine eigene Moral. Ist es
        nicht eine Gnade, durch eine Kugel zu sterben, statt aus Hunger? Da
        nimmt man doch ganz anders an den Geschenken des Fortschritts teil. Ja,
        Antonio war und ist ein moralischer Mann, wie es auch ich bin. Ich
        verdiene das Gleiche, das er verdient hat. Nur verdient er auch deine
        Anerkennung und Liebe.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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BASSANIO                 Wie kannst du ihn einen Heuchler und Mörder schimpfen!
SHYLOCK                  Dein Gott bewahre, nein! Er ist ein guter Mann. Versteht
        mich, ich mein damit, dass er vermögend ist. Gott preist sein Vermögen,
        und ich hab dir nichts als seinen Preis genannt. Und ihm werde ich
        meinen nennen, wenn er kommt. Seine Mittel stehen auf Hoffnung, wie
        ich höre. Deswegen seid ihr, deswegen bist du bei mir: um guter
        Hoffnung zu sein, dass mein Geld euch ein neues Leben gebiert. Ich
        denke, ich kann seine Bürgschaft annehmen.
BASSANIO                 Seid versichert, Ihr könnt es.
SHYLOCK                  Der Weg zum Reichtum, wenn du ihn möchtest, ist so klar
        wie der Weg zum Markt. Verschwende weder Zeit noch Geld, sondern
        mach das Beste aus und auch mit beiden. Kann ich Antonio sprechen?
BASSANIO                 Wenn es Euch beliebt, mit uns zu lunchen?
SHYLOCK                  Ja, Schinken zu riechen, Schweine aus Parma und
        schwimmende aus Venedig, um von dem Eigenheim mir eine Scheibe
        abzuschneiden, in dem euer Prophet, der Nazarener, den Teufel
        hereinbeschwor. Wie ihr in den Käfig diese Muskelpakete, die meinen
        kleinen Jungen verprügeln und zur Sau machen. Nein, eure Suppe solltet
        ihr alleine auslöffeln. Schau dir den Markt an. Bleibt ruhig subprime. Ich
        will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, ich geh
        mit euch long, ich geh mit euch short, und was dergleichen mehr ist oder
        weniger wird. Aber ich will nicht mit euch essen. Die Sache schmeckt mir
        nicht.
BASSANIO                 Dann trinkt mit uns. Wär dir Champagner koscher genug?
SHYLOCK                  Weder will ich mit euch trinken. Ich trinke nicht. Noch beten.
        Ihr mögt andere in die Knie zwingen. Ich kriech nicht zu eurem Kreuz.
        Ich steh aufrecht vor meinem Gott.
BASSANIO                 Aber wie lang noch steht dein Gott zu dir? Möge dein Glück
        dir treu bleiben. Da kommt Antonio.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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SHYLOCK zu sich                 Ich hasse ihn. Weil er ein Christ ist? Weil er Geld
        umsonst verleiht? Weil seine Nase krümmer als die meine ist? Weil er
        dreckige Geschäfte als gute Taten verkauft? Hat mein Geld nicht den
        gleichen Wert wie seins? Kann es nicht das Gleiche kaufen? Ist es nicht
        genauso schnell verloren? Brennt es nicht, wie sein Geld brennt? Kann es
        nicht Menschen kaufen? Er hasst mich so sehr, dass ich glauben könnte,
        er hasse sich in mir. Und sollen sie sich nicht selbst lieben, die Christen?
        Wenn ich ihn sehe, bin ich ganz ausser mir. Und wenn ich Bassanio sehe,
        sehe ich Antonio hinter ihm. Er hasst mein Volk, wie Juden Juden hassen.
        Hasst mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn, den er nur Wucher
        nennt. Warum sollte ich ihm das je vergeben? Müsst mich nicht mein
        Stamm verfluchen? Ist nicht Vergeben eine Christentugend?

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 6: Speed

Portia jetzt als Gratiano. Mit Tubal.

GRATIANO                 Wir stoppen Antonio aus. Alles darauf, dass sein forward ihm
        ins eigene Fleisch schneidet. Wir wetten gegen ihn, wo wir nur können.
        Aber keiner darf etwas merken. Erst, wenn es zu spät ist. Algorithmen,
        Millisekunden, Flash Crash.
TUBAL            Der Heisse-Kartoffel-Effekt.
GRATIANO                 Es geht um Fleisch.
TUBAL            Wie lange können Sie eine heisse Kartoffel in der Hand halten?
GRATIANO                 Ich lass sie im Bruchteil einer Sekunde fallen?
TUBAL            Wenn Sie sich nicht die Finger verbrennen wollen, ja.
GRATIANO                 Und wenn ich sie zerdrücke?
TUBAL            Wer macht sich schon gerne seine Hände schmutzig.
GRATIANO                 Sie haben recht, ich will Ihnen nicht die Arbeit stehlen.
        Übrigens…
TUBAL            Ich höre.
GRATIANO                 Jessica?
TUBAL            Sie ist Euch ganz verfallen.
GRATIANO                 Alles, was ich habe, steckt in diesen giftigen Papieren.
TUBAL            Sie hat eine Mitgift.
GRATIANO                 Sie ist eine Jüdin.
TUBAL            Sie wird konvertieren.
GRATIANO                 Als könnte man den Glauben wie eine Währung wechseln.
TUBAL            Die Träume in ihren Venen kreisen wie das Geld.
GRATIANO                 Gut. Sie soll weiter träumen. Sorg dafür. Hier hast du Geld.
        Und zu niemandem ein Wort. Dann bekommst du den Schein und darfst
        bleiben, wenn sie euch alle aus der Stadt jagen.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                                 26
TUBAL            Ich bin es gewohnt zu gehen.
GRATIANO                 Aber über das Wasser kannst auch du nicht gehen. Hier, gib
        das Jessica. Sag, es kommt von mir. Warte. Hör es dir zuerst an.
        Er rezitiert ein Gedicht von Charles Manson.
        Hier, nimm’s.
TUBAL            Aber das ist von Antonios Hand! Das ist seine Schrift!

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                             27
Bild 7: Ein Pfund Herz II

BASSANIO                 Shylock, hört Ihr?
SHYLOCK                  Ich überlege. Ihr seid romantisch. Ihr liebt. Sicher braucht Ihr
        die Summe in bar. Denn braucht die Liebe nicht einen realen Gegenwert?
        Wollt Ihr sie anders, ist’s ein Handstreich. Wollt Ihr bare Münze, dann…
        bis heute Nacht sagt Ihr…?
ANTONIO                  Shylock, wiewohl ich weder leihe noch borge…
SHYLOCK                  Nein?
ANTONIO                  Um Überschuss…
SHYLOCK                  Überschuss?
ANTONIO                  … zu geben oder nehmen, doch will ich, weil mein Freund es
        dringend braucht…
SHYLOCK                  Er braucht es.
ANTONIO                  … die Sitte brechen.
SHYLOCK                  Antonio, ein Sittenbrecher, hört. Leiht ihm Euer Ohr.
ANTONIO                  Weiss er, Shylock, wie viel er braucht?
SHYLOCK                  Ja, alles, was er braucht. Und dreitausend Dukaten.
ANTONIO                  Und bis Börsenschluss.
SHYLOCK                  Ja, das vergass ich fast, bis Börsenschluss. Nun gut denn,
        Eure Bürgschaft! Lasst mich sehen. Nein, wartet. Antonio. Es heisst, dass
        Ihr auf Vorteil weder leiht noch borgt?
ANTONIO                  Wir wollen keine Zeit verlieren.
SHYLOCK                  Ja, Zeit ist Geld, aber Geld auch Zeit. Mein Geld gibt ihm die
        Zeit, die schöne Erbin zu werben. Mein Geld treibt ihn in ihre Arme. Und
        überwinden Küsse die Zeit nicht, Antonio? Und zahlt Geld nicht auch den
        Arzt, der die Wunde schliesst? Die Zeit ist doch arg zerstörerisch. Sieh
        nur, selbst unserem Adonis schlägt sie mit ihrer Axt Sorgenfalten auf die
        glatte Stirn. Und Euch macht sie die Glieder bleiern.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                                   28
ANTONIO                  Was tut das hier zur Sache?
BASSANIO                 Lasst ihn reden. Die Zeit haben wir.
SHYLOCK                  Stürmische Jugend. Sie glaubt, reich zu sein, überwinde die
        Zerstörung der Zeit. Geld nimmt Zeit. Wir brauchen Zeit, unseren Handel
        hier abzuschliessen. Geld ist auf die Zukunft ausgerichtet. Das, was Geld
        wirklich ist, verwirklicht sich erst in der Zukunft. Hier, mein Geld, es
        verwirklicht sich erst zwischen ihren Schenkeln.
ANTONIO                  Müsst ihr immer nur vom Geld reden, wenn er von Liebe
        redet.
SHYLOCK                  Geld, Antonio, das will ich sagen. Geld ist Kredit, vergesst
        das nicht. Geld muss im Fluss bleiben. Geld, werter Antonio, muss sich
        vermehren, und deshalb schieb ich es ihm gern in den Hintern. Denn da
        der Tod durch einen Menschen gekommen ist, so auch durch einen
        Menschen die Auferstehung der Toten, glaubt ihr.
ANTONIO                  Siehst du, Bassanio, der Teufel kann sich auf die Schrift
        berufen. Ein schöner Apfel, wie alles glänzt, wie üppig rund alles ist, wie
        prall in der Sonne. Aber im Herzen, hier im Herzen faul. Ein Wurm im
        Herzen.
SHYLOCK                  Ja, und schneidet man einen Wurm entzwei, sind’s zwei.
        Bassanio, was meint Ihr? Ist die Liebe nicht unsterblich?
BASSANIO                 Aber ja, unsterblich verliebt bin ich.
SHYLOCK                  Seht, Antonio. Geld macht uns unsterblich, weil Geld gleich
        Zeit ist. Und beides Profit und Reichtum. Wir sind begrenzt, schwächlich.
        Seht, wie blass Ihr seid. Gicht plagt Euch, nachts schlaft Ihr nicht, weil
        alles schmerzt, nach einem langen Tag des Kampfes, jung sein zu müssen.
        Aber er, er ist jung. Ihr leiht von ihm mit den Augen. Jugend ist sein
        Kapital. Und wer würde sich nicht gern von solch einem Kapital decken
        lassen? Geld muss sich vermehren, vermehrt es sich, kommt es in Umlauf,
        schafft es nicht nur mehr vom Selben, sondern ein Mehr von sich selbst.

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Das Geld ist seltsam. Es ist, als besprängen sich zwei Hengste, und beide
        sind sie trächtig danach und werfen junge Mähnen in den Wind. Wenn
        zwei Männer sich lieben, ist das Geld die Frau, die ihren Samen fruchtbar
        macht. Aber Gott verbietet die Liebe zwischen Männern, nicht? Lass es
        mich anders sagen. Wollen wir nicht alle und ein jeder von uns auf seine
        Weise, dass die Profite schneller und schneller steigen? Aber wer ein
        Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis in
        die tausendste Generation. Wer eine Krone mordet, zerstört alles, was
        damit hätte produziert werden können. Ihr müsst Zinsen nehmen. Sonst
        sind Euer Gott und die Liebe sterblich.
ANTONIO                  Gut. Der Zins, den ich zahle, ist, Euch zugehört zu haben.
SHYLOCK                  Dreitausend Dukaten oder Kronen sind eine runde Summe.
        Gute Werke soll man tun.
ANTONIO                  Was schuld ich Euch?
SHYLOCK                  Schuld? Ihr seid Christ, Ihr werdet immer schuldig sein. Ihr
        seid es Eurem Gott schuldig. Aber Ihr könnt erlöst werden. Der Glaube
        wird zum Kredit, sola credito. Da Gott Besseres zu tun hat, werde ich
        Euch vorübergehend erlösen. Nicht der Glaube, der Kredit allein erlöst.
        Und ist es nicht wunderbar, wie er uns aus unserer Einsamkeit befreit?
        Wärt Ihr sonst heute zu mir gekommen? Was für ein Künstler nicht das
        Geld ist, wenn man es laufen lässt, statt es einzuschliessen. Ihr kennt das
        doch, wie wunderbar kleine Ausgaben zu grossen Summen anschwellen.
        Ich sehe alles. Gläubiger haben nicht nur das beste Gedächtnis, sondern
        auch die schärfsten Augen und Ohren.
ANTONIO                  Ihr habt Eure Nase vergessen, das Bild abzurunden. Ihr steckt
        sie überall hinein.
BASSANIO                 Streitet nicht. Mir laufen die Zeit und meine Liebste davon.
        Ihr feilscht um Worte, aber Worte verlieren nur Zeit und fügen Schmerz
        zu.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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SHYLOCK                  Signor Antonio, wie oft habt Ihr mich auf dem Rialto
        geschmäht wegen meiner Zinsen und Gelder. Ich zuckte nur mit den
        Achseln. War da eine Mücke? Dazu zwingt Ihr uns ja, geduldig zu sein.
        Wir warten, dass der Messias auch bei uns vorbeischaut. Ich vergass, Ihr
        habt ihn ja gekidnappt. Wie meine Tochter. Ihr sagt, wir saugen Euch aus,
        ziehen Euch das letzte Hemd aus, ziehen Euch die letzte Kröte aus dem
        Beutel. Aber Ihr macht uns zu Kröten, langsam erhitzt Ihr das Wasser und
        lasst es steigen, bis wir in unserem Ghetto platzen. Ihr heftet uns mit
        Stichen Sterne an das Hemd, als wären wir gefallene Sterne hier auf
        Erden. Und sind nicht die Sterne, die wir sehen, längst erloschen. Am
        lebendigen Leib macht Ihr uns zu Untoten, die ihre Zähne in Eure
        unschuldigen Hälschen schlagen und Euer Blut saugen. Dabei ist es ja nur
        Geld. Aber Euer Blut ist Geld, nicht Wein. Und Euer Brot ist Geld, nicht
        Fleisch. Einen Bluthund schimpftest du mich, bloss weil ich nutze, was
        mein eigen ist. Aber wir wollen es vergessen, nur das muss ich Euch noch
        fragen: Hat ein Hund Geld, das er leihen kann? Muss ich jetzt vor Euch
        am Boden kriechen, Männchen machen, Euch zwischen den Beinen
        beschnuppern, winseln, mich auf dem Bauch drehen, bellen: Schöner
        Herr, am letzten Mittwoch spiet Ihr mich an und habt mich getreten. Das
        war schön, drum leih ich Euch gerne das Geld, denn ich hab davon so viel
        wie Flöhe im Fell.
ANTONIO                  Ich könnt immer wieder dich treten und anspeien. Du schreist
        danach, bettelst wie ein Hund um Schläge. Mach’s kurz: Willst du dieses
        Geld leihen, leih es nicht deinen Freunden, denn wann nahm die
        Freundschaft vom Freund Ertrag für unfruchtbares Metall. Nein, leih es
        lieber dem Feind. Dann kannst du mit noch kälterer Stirn eintreiben, was
        dir verfallen ist.
SHYLOCK                  Ihr stürmt. Ihr zürnt. Versteht Ihr denn keinen Spass? Ich will
        und wollt Euch Liebes tun, Freund mit Euch sein, die Schmach vergessen,

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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die Ihr mir angetan. Keinen Heller Zins. Der Preis der Freundschaft.
        Meine Gelder umsonst. Mein Antrag ist doch liebreich.
ANTONIO                  Ja. Das ist er.
SHYLOCK                  Und diese Liebe will ich Euch erweisen. Zeit ist Geld. Da
        zeichnet Eure Schuldverschreibung. Nur zum Spass: Wenn Ihr mir nicht
        bis zu Börsenschluss hier an Ort und Stelle die Dreitausend wieder zahlt,
        dann lasst … Wartet! Ich will nicht herzlos sein, wie Ihr zu behaupten
        pflegt. Dann lasst mir ein volles Pfund von Eurem Fleisch zur Busse und
        Tilgung ansetzen. Dass ich dann eigenhändig und unübertragbar, aus
        welchem Teil ich auch will, aus Eurem Leib schneiden darf.
ANTONIO                  Das unterschreib ich gern. Mit Tinte oder Blut, ganz wie es
        Euch gefällt. Und ich will sagen, dass der Jude liebreich ist.
BASSANIO                 Nein, unterzeichne es nicht. So gross kann keine Liebe sein.
ANTONIO                  Ich werde nicht verfallen. Schon vor dem Schluss werd ich
        weit mehr als flüssig sein.
SHYLOCK                  Vom ihm kannst du dir eine Scheibe abschneiden. Wie
        sentimental Ihr seid. Was hätt ich schon von süssem Menschenfleisch, das
        sauer aufstösst. Ein gut abgehangener Ochse, ein Lämmchen, ein Stier,
        das schöne Horn, ja, aber ein Mensch? Was ist die blosse Materie im
        Augenblick? Der zukünftige Tauschwert transzendiert sie. Das ist
        Erlösung. Ohne Schulden keine Erlösung, das ist die Formel Eures
        Glücks, auch wenn Ihr es nicht aussprecht. Ich verhelf Euch gerne dazu.
        Kränkt mich nicht für diese Liebe.
BASSANIO                 Nehmt mein Herz.
SHYLOCK                  Das gehört mir doch längst.
ANTONIO                  Ich zeichne diesen Schein. Unterzeichnet.
SHYLOCK                  Tubal gibt Euch die Münzen. Ich hoff, sie wiegen nicht zu
        schwer. Ich geb Euch einen Diener mit.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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ANTONIO im Abgehen mit Bassanio Der Hebräer wird noch ein Christ. Er
        wendet sich zur Güte.
BASSANIO                 Er wendet nur den Mantel, nicht die Brust, die er verhüllt. Ich
        mag seine Freundlichkeit nicht. Ich trau ihm nicht. Doch trau ich ihm alles
        zu.
ANTONIO                  Sei ohne Sorge, er geht leer aus. Er hat recht, das Geld muss
        in Bewegung sein, damit der Kreis sich schliesst.
BASSANIO                 Oder die Schlinge.
ANTONIO                  Nein. In ein paar Stunden bin ich reicher, als ich je war, und
        er hat nichts verdient daran.
BASSANIO                 Aber du verdienst meinen Dank, meine Liebe.
ANTONIO                  Ist sie nicht Portias Pfand? Eile! Nur wer genügend Schulden
        hat, bleibt der Welt im Gedächtnis.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Bild 8: Keine Bank mehr

Gratiano vor Antonio und Bassanio, Hütchen spielend.

GRATIANO                 Banken gibt es nicht mehr. Sie waren nur ein Drainagesystem
        für Geldflüsse. Die Banker haben grosszügig Profit gemacht. Wodurch?
        Durch blosse Berührung. Wie Midas. Sie haben nur angefasst. Sie fasst
        Bassanio an. Ohne adäquate Leistung. Nur leere Versprechungen von
        Gewinnen.
ANTONIO zu Bassani Wo hast du den aufgegabelt?
BASSANIO                 Er ist mir zugelaufen.
ANTONIO                  Ein läufiger Hund.
BASSANIO                 Ein Terrier, du wirst sehen. Er verbeisst sich.
GRATIANO                 Mit dieser Art Midaskunst sind die Banken schliesslich
        abgeschafft worden.
ANTONIO                  Wer würde je die Banken abschaffen. Genauso gut könntest
        du die Juden abschaffen oder dem Meer das Wasser verbieten.
BASSANIO                 Hör ihm zu. Wir müssen immer der Zeit voraus sein. Wir
        müssen schneller sein, unser Geld muss schneller fliessen. Schau nur, wie
        flink seine Hände sind. Weisst du noch, unter welchem Kästchen der
        Diamant liegt?
ANTONIO                  Wenn du es nicht mehr weisst, gehört er ihm. War das nicht
        der Einsatz des Spiels?
BASSANIO                 Er wird uns mehr bringen als eine Mine voll Diamanten.
GRATIANO                 Hört ihr mir noch zu? Also, keine Banken. Die alten
        Serviceleistungen sind in Universal Payment System Knots (UPSK)
        virtueller Art ausgelagert worden. Geldverkehr, Versicherung, Pensionen
        sind dort implementiert und werden zu geringen Operationskosten ohne
        Menschen exekutiert. Die Bankenwelt ist obsolet.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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BASSANIO                 Was hast du?
ANTONIO                  Es ist nur das Herz.
BASSANIO                 Hast du deine Tabletten.
ANTONIO                  Es ist ein Phantomschmerz. Ich habe es ja verpfändet.
BASSANIO                 Hättest du nur die Schmerzen mit verpfändet.
GRATIANO                 An den UPSKs hängen soziale Netze, die sichere
        Transaktionen in ihrer Cloud ausführen. In diesem Netz können sich
        direkt Leute verlinken, die sich gegenseitig Geld leihen. Es braucht
        allerdings Teilnehmer, euch, dich, mich, uns, trusted friends –
ANTONIO zu Bassanio                  Warum fasst er dich immer an?
GRATIANO                 Freunde, die für das Risiko der privaten Transaktion
        einstehen. So gibt es Rollen als freelance risk assessor (FRA) und loss
        adjusters (LA). Der FRA und der LA erzeugen eine Vertrauensidentität
        für den Geldnehmer. Geld gibt es nur noch als virtuelle Money Tokens.
        Es kann sogar auch in Social-Gaming Extensions erspielt werden. Die
        Währung heisst MT. MTs hängen vom sozialen Ranking im sozialen
        UPSN Netz ab. Soziales Ranking entsteht durch Projektjobs. Oder durch
        Geschäfte, durch Kontakte, durch Bewertungen anderer. MTs lassen sich
        auch erspielen in virtuellen sozialen Spielen. Dazu kann man auch
        professionelle Spieler gegen MTs anheuern, um den eigenen Status zu
        erhöhen und so mehr MTs wert zu werden.
ANTONIO                  Ich verstehe kein Wort.
BASSANIO                 Du musst ihn nicht verstehen. Du wirst seine Gewinne
        verstehen. Ich habe auch nie verstanden, mit was wir alles handeln.
ANTONIO                  Mit was wir handeln, verstehe ich seit langem nicht mehr. Ich
        habe die Schiffe verstanden, die übers Meer segeln. Ich habe die Winde
        verstanden, die Klippen, die Riffe, den Sturm, die Wolken.

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BASSANIO                 Aber dann verstehst du es doch. Wir handeln mit Wolken.
        Wir kaufen und verkaufen Wolken. Wolken am Himmel und Wolken in
        unseren Köpfen. Wir buchen die Luft.
ANTONIO                  Ich kann ohne dich nicht atmen. Ich sterbe.
GRATIANO                 Wer viele gute Geschäfte gemacht hat, der hat Anspruch auf
        Unsterblichkeit: Das Gehirn wird komplett gescannt und als Avatar ins
        Web gespielt. Ihr wisst, was ein Avatar ist?
ANTONIO                  Shylock?
GRATIANO                 Ein Avatar ist ein virtueller Stellvertreter einer realen Person.
        Er ist für dich im Web. Und dieser Avatar, der kann auch im grossen
        politischen Gremium Politik, Gesetze usw. machen.
ANTONIO zu Bassanio                   Wenn dein Avatar und mein Avatar…? Du
        sagtest, das Web ist frei, alles wäre möglich?
GRATIANO                 Ebenso wird die DNA total gespeichert, und man ist auf
        Warteliste für Wiederinkorporation inklusive der Gehirninformation. Die
        Inkorporation ist noch kritisch bezüglich der Organherstellung, so dass
        diese bisweilen schief geht. Ein Beispiel: S ist ein grosser anonymer MT-
        Geber im UPSK-Netz, hat viele Rankings und Anspruch auf ein virtuelles
        Weiterleben erworben. A ist der MT-Nehmer. Er gibt die MTs an B, der
        P, die er liebt, durch den MT-Segen gewinnen kann. B/P ist der FRA.
        Wenn S den FRA ausschalten kann, platzt das MT-Geschäft, und A ist
        lebenslang aus dem UPS draussen und kann keinen Job mehr bekommen,
        ist MT-los und kann nie in die Ruhmeshalle des Gremiums, er ist ein
        Paria. A hat Schwierigkeiten, sich MTs zu verschaffen. Er hat ausserdem
        durch Recherche herausbekommen, dass S schon öfter den FRA
        ausgeschaltet hat und so den MT-Nehmer beliebig erpressen kann. S
        weiss nicht, dass der FRA Portia ist. A in Panik kontaktiert und schlägt S
        über das EXT als Pfand seine Organe als zusätzliche Sicherheit vor. Der
        schwarze Organhandel blüht ausserhalb des UPSK-Netz, da die

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
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Inkorporation daran hängt. Aber A hat die Verhandlungen mit S
        aufgezeichnet und gibt sie einem bezahlten Whistleblower zur Sicherheit
        weiter, der das Material veröffentlicht, wenn A oder dem FRA etwas
        zustösst. Würde das Material unter Offenlegung der Identität von S
        publiziert werden, wäre auch der ein Paria und ohne Existenz. T soll den
        Whistleblower auffinden, über Spuren im Web töten. P lässt T auffliegen,
        und S muss sich beugen. A kann währenddessen seinen MT-Status mit
        Hilfe bezahlter Bangalore-Spieler höher spielen, und S wird angeklagt, da
        T aufgeflogen ist. Er muss der Inkorporation abschwören und kommt so
        in die Realität zurück. B und P bleiben zusammen. Es gibt in dieser
        Gesellschaft nur noch Werte, die dem totalen Netz entspringen.
        Ausserhalb ist man nichts. Religion ist weg. Nur der Glaube an das ewige
        virtuelle Weiterleben bzw. die Inkorporation ist die Religion. S und A
        spielen ums eigene Weiterleben. Der eine um das nach dem Tod. Der
        andere um das Konkrete. Das Netz ist das Zentrum, das Gehirn, das
        Jenseits und Diesseits. Die Errettung des Menschen kann nur seine
        Rückführung in die Realität sein und den echten Tod als Erlösung. A
        errettet S aus dem virtuellen Irrtum. Die moralische Tat besteht darin, ihn
        in das reale Leben zurückgeführt zu haben. Die eisernen Webregeln lösen
        aus, dass S scheitern muss. P gibt den Anstoss.
ANTONIO                  Ich verstehe noch viel weniger als zuvor, aber du hast mich
        auf eine Idee gebracht.
BASSANIO                 Hab ich nicht gesagt, er ist genial!
ANTONIO                  Lasst mich bitte kurz alleine. Zeig ihm alles, was er wissen
        muss. Stelle ihn ein.
BASSANIO                 Ich habe ihm meine dreitausend Dukaten gegeben. Er macht
        hundertausend daraus, hat er mir versprochen. Er will nur einen Bonus. Er
        spricht immer von Bonus und schaut mich dabei immer ganz seltsam an.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                               37
Aber, hey, er ist ein Genie. Seine Algorithmen machen mich reich, und
        noch eh dieser Tag zu Ende ist, zahl ich alles zurück.
GRATIANO                 Unter welchem Kästchen ist der Diamant? Habt ihr zugehört?
ANTONIO                  Er ist zwischen deinen Beinen.
BASSANIO                 Er will sich die Zunge für ihn stechen lassen, gewinnt er.
ANTONIO                  Sag, was ist dein Preis, wenn du verlierst? Es sind drei
        Kästchen. Bassanio und ich sind zwei. Deine Chancen stehen schlecht.
        Was ist dein Einsatz?
GRATIANO                 Ihr bekommt mich. Mit Haut und Haar.
ANTONIO                  Geht. Wir sehen später, was unter den Kästchen steckt. Und
        ist der Diamant unter keinem, lass ich dich durch drei teilen.
        Bassanio und Gratiano ab.
        Antonio über Freisprechanlage.
        Hör zu! Ich brauche ein Herz. Ja, ein Herz. Long. Bei Börsenschluss.
        Egal, vorher. Es gibt doch die Organbörse. Wie? Ich weiss, dass sie illegal
        ist. Ich bezahl dich nicht für deine Moral. Mir ist egal, wem sie es aus der
        Brust reissen. Wenn du keines bekommst, dann finde einen, der das
        besorgt. Nein. Es soll nicht implantiert werden. Es kann kalt sein. Ein
        kaltes Herz. Aber ich brauche es. Egal, was es kostet.

OSTERMAIER, Ein Pfund Fleisch
© S. Fischer Verlag                                                                   38
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