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ANTHROPOS 106.2011: 87 – 97 Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum Spuren einer kolonialzeitlichen Heilserwartungsbewegung im Hochland Guatemalas Lars Frühsorge Abstract. – During an insurrection in the community of Toton- rende Machtvakuum in Spanien entstanden. Wäh- icapán in 1820 Atanasio Tzul was crowned to be King of the rend man in Guatemala noch die Treue zum ab- K’iche‘. In this article it is argued that his coronation was not a gesetzten König bekundete, wurde im spanischen spontaneous event. In fact, it can be related to a complex of cer- emonial dances and oral histories. Through an analysis of eth- Cadíz ein Parlament gegründet, bestehend aus Ab- nohistorical sources from the 16th century it is shown how the geordneten des Mutterlandes und der Kolonien. heirs of the pre-Hispanic elite developed the idea of an indige- Dieses Gremium erließ eine Verfassung, die 1812 nous kingship. These ideas influenced the development of ritual in Kraft trat und auch der indigenen Bevölkerung dance dramas re-enacting the Spanish Conquest. Various sources confirm that beside these dances oral traditions about pre-His- der Kolonien Bürgerrechte einräumte und – was von panic history survived well into the 18th century and that there besonderer Bedeutung für die Maya war – eine Ab- was a belief in a return of the ancestors and the rebirth of the in- schaffung der Tributzahlungen beinhaltete, welche digenous kingship. This belief, which culminated at the end of die Indigenen zu leisten hatten. 1814 kehrte Ferdi- the colonial period, outlasted the events in Totonicapán and even nand VII. jedoch auf den Thron zurück und setz- today traces of it can be observed. te noch im selben Jahr die Verfassung von Cadíz Lars Frühsorge, Dr. phil. (Hamburg 2010) im Fach Mesoame- wieder außer Kraft. Auf Druck vonseiten des spa- rikanistik über die Entwicklung indigenen Geschichtsdenkens nischen Heeres wurde sie dann aber 1820 doch an- in Guatemala von der vorspanischen Zeit bis heute. – Aktuell erkannt. Während die Administration in Guatemala ist er als wissenschaftlicher Berater am Museum für Völkerkun- die Umsetzung der Verfassung zunächst verzögerte, de Hamburg tätig. – Forschungsschwerpunkt sind seit 2003 die Hochlandmaya. – Er hat Beiträge zur Ethnografie, Ethnohistorie hatten Nachrichten über die Abschaffung und er und Archäologie publiziert. neute Einführung der Tributzahlungen, die zum Teil erst verspätet die indigenen Gemeinden erreichten, eine Verwirrung ausgelöst, die zu Protesten führten und schließlich in der Rebellion von Totonicapán Einleitung gipfelten (Jones 1994: 231 – 238). Dort und in eini- gen benachbarten Orten hatte sich die Bevölkerung Die letzten Jahre der spanischen Herrschaft in Gu- gegen die Wiedereinführung des zuvor abgeschaff- atemala waren eine Zeit der Verunsicherung und ten Tributes erhoben. Während dieses kurzlebigen kommunikativer Missverständnisse, die sich auf das Aufstandes, der nach nur einem Monat endete, ließ Verhältnis zwischen der Regierung und den Maya- sich einer der Anführer namens Atanasio Tzul zum Gemeinden auswirkten. Diese Situation war durch König der K’iche‘ krönen. den Sturz Ferdinand VII. und das daraus resultie Dieses Ereignis ist in unterschiedlicher Weise https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
88 Lars Frühsorge interpretiert worden. Beispielsweise versuchte der guatemaltekische Historiker Contreras Reynoso (1968), in wenig überzeugender Weise den Aufstand im Kontext der späteren Unabhängigkeit Guatema- las zu verorten.1 Deutlich ausgewogener ist hinge- gen die Darstellung von David McCreery (1989), der stärker den historischen und lokalen Kontext der Rebellion berücksichtigt. Auch Victoria R. Bricker beschäftigte sich mit dem Fall Totonicapán, wobei sie aber die Schilderungen der Krönung des Atana- sio Tzul für eine Erfindung der nichtindigenen Zeit- zeugen hält, die darauf abzielte, den Aufstand nach- träglich zu dramatisieren. Zur Unterstützung dieser These verweist sie auf die Protokolle der späteren Gerichtsverhandlung, in der Tzul seine Krönung be- stritt (Bricker 1981: 168). Darin sehe ich aber kein schlüssiges Argument, denn unabhängig davon, ob die Krönung wirklich stattgefunden hat, konn- te es kaum in Tzuls Sinne sein, diesen Tatbestand vor einem Gericht auch noch zu bestätigen. Hinzu kommt die Tatsache, dass offenbar nicht Tzul selbst, sondern ein Mann namens Lucas Aguilar, der sich neben Tzul zum Präsidenten ernennen ließ, die ei- gentlich treibende Kraft hinter dem Aufstand war (McCreery 1989: 51f.) Das eigentlich Erstaunliche Abb. 1: Denkmal für Atanasio Tzul in Totonicapán (Foto: Lars an diesem Ereignis – so bemerkte Robert Carmack Frühsorge). (1979: 243) treffend – ist aber die Tatsache, dass die Idee eines autochthonen politischen Systems damals überhaupt noch kursierte. Tatsächlich weist das Kö- wir auf verschiedene Hinweise, die nahelegen, dass nigtum des Tzul keine vordergründig erkennbaren die Ereignisse in Totonicapán durchaus in einer his- vorspanischen Elemente auf. So kamen bei der Krö- torischen Kontinuität zu begreifen sind, die Züge ei- nung bezeichnenderweise die Krone einer Heiligen- ner Heilserwartungsbewegung aufweist. figur2 aus der Kirche von Totonicapán und das Kos- Um dies zu veranschaulichen, werden im Fol- tüm eines Spaniers aus dem “Baile de la Conquista” genden die Darstellungen der vorspanischen Herr- (ein bekanntes rituelles Tanzdrama, s. u.) zum Ein- schaft in den Schriftquellen der Maya aus der frühen satz. Zudem stand seine Herrschaft aus Sicht der Kolonialzeit und in dem zuvor erwähnten “Baile Maya nicht im Widerspruch zur Regierung des spa- de la Conquista”, sowie in den damit assoziierten nischen Monarchen, dessen Bild im “Thronsaal” mündlichen Überlieferungen untersucht. Ich werde von Totonicapán an der Wand hing und sogar wäh- dabei aufzeigen, wie die Maya mit der ursprüng- rend des Aufstandes repariert wurde (Bricker 1981: lich aus Europa stammenden Idee des Königtums 82, Mc Creery 1989: 52). Das Königtum an sich, konfrontiert wurden und sie diese im Laufe der Ko- als ein europäisches Konzept, fand erst nach An- lonialzeit schließlich so weit akzeptieren, dass sie kunft der Spanier in Guatemala Verbreitung. Wenn zu einem integralen Bestandteil ihres historischen wir uns jedoch mit der Erinnerungskultur der kolo- Selbstverständnisses wurde. nialen Maya detaillierter auseinandersetzen, stoßen Indigene Herrschaft im Spiegel der títulos: 1 Seine Deutung ist insofern zu kritisieren, da die Maya keines spanische und aztekische Einflüsse falls die Erschaffung einer eigenen Nation zum Ziel hatten. So wirkt Contreras Interpretation wie ein misslungener Ver- such, die Unabhängigkeit Guatemalas, die aber im Gegensatz Bei den bis heute erhaltenen Geschichtswerken in- etwa zu Mexiko ein parlamentarischer Akt war und nicht das digener Autoren handelt es sich um die sogenann- Resultat einer bewaffneten Auseinandersetzung, nachträglich ten títulos, ein Genre von Texten in europäischer zu heroisieren. 2 Auch Tzuls Frau wurde mit der Krone einer weiblichen Hei- Schrift, die in Spanisch oder Mayasprache verfasst ligenfigur gekrönt. Ansonsten schweigen die Quellen aber wurden. Diese Dokumente beschreiben in der Re- über ihre Rolle. gel die Geschichte einer bestimmten Familie oder Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum 89 Gemeinde, wobei genealogische Daten und Land- Ein solcher direkter Bezug auf den spanischen Kö- besitz einen wichtigen Stellenwert haben. Bei der nig zur Legitimation der Nachfahren vorspanischer Entstehung dieser Texte dienten neben mündlichen Eliten drückt sich auch in der Abbildung spanischer Überlieferungen wohl auch vorspanische Bilder- Wappen in den títulos aus. Eine Untersuchung die- handschriften als Vorlage. Diese Dokumente soll- ser Zeichnungen hat ergeben, dass es sich um Dar- ten primär dazu dienen, Landbesitz oder Adelsprivi- stellungen des persönlichen Wappens von Karl V. legien aus vorspanischer Zeit zu belegen, um diese handelt und nicht etwa um Embleme, die den indi- von spanischen Gerichten bestätigen zu lassen (Car- genen Adligen möglicherweise zugesprochen wer- mack 1973). Um dieses Ziel zu erreichen, wurden den konnten (Ridder 1993). bisweilen Dokumente vordatiert, bevorzugt auf das Neben diesem europäischen Konzept von Herr- Jahr 1524, als die Spanier in Guatemala ankamen schaft ist in den títulos zudem ein aztekischer Ein- (z. B. Maxwell and Hill 2006: 592). Auch Zeugen- fluss erkennbar. Bereits vor Ankunft der Spani- aussagen oder Unterschriften von prominenten Zeit- er war im Hochland Guatemalas eine Übernahme zeugen, wie dem spanischen Eroberer Pedro de Al- zentralmexikanischer Kulturelemente (etwa in der varado, tauchen bisweilen in Dokumenten auf, die Architektur und Götterwelt) zu beobachten, mit de- ihrem Inhalt zufolge mehrere Jahrzehnte nach deren nen sich die Maya – offenbar freiwillig – als Teil- Tod entstanden. haber der damals dominanten aztekischen Kultur zu Was die Frage nach den Ursprüngen der Idee ei- verorten suchten (Braswell 2003). In verschiedenen nes indigenen Königtums angeht, so erscheint der títulos wird von einer Herkunft der Maya-Elite aus Begriff rey als Bezeichnung für vorspanische Herr- Tulan berichtet, einem Ort, der – zusammen mit der scher in den frühen titulos nur äußerst selten und Figur des Herrschers Quetzalcoatl – auch in azteki- auch dort nur in spanischer Übersetzung. Beispiels- schen Quellen auftaucht, und der als ein Ursprungs- weise enthält eine Zeichnung eines Palastgebäudes ort von Herrschern, Gottheiten und wichtigen kul- im “Título C’oyoi” (Carmack 1973: 290, 313) die turellen Institutionen gilt (vgl. Hill Boone 2000; spanische Inschrift “castillo del secundo rey qiche Nicholson 2001). Neben der Herkunft der Ahnen utlatlecat ”. In den mayasprachlichen Originaltexten aus Tulan berichten die Quellen zudem von einer hingegen herrschen indigene Bezeichnungen wie Rückkehr ihrer Erben an jenen Ort, wo sie sich von ajpop (Hüter der Matte) oder ajaw (Herrscher/Herr) dem dortigen Herrscher Nacxit (ein anderer Name vor und der Titel rey bleibt für den spanischen Kö- für Quetzalcoatl) mit Insignien ihrer Macht ausstat- nig reserviert.3 Eine Ausnahme stellt der “Título Ni- ten ließen (z. B. Christenson 2003: 242f., Maxwell jaib II” dar, in dem sich einer der Autoren als “Don and Hill 2006: 67f.). In den späteren títulos wird Juan Cortés reyes caballero” bezeichnet, einen Ti- diese Episode durch eine Integration biblischer Ge- tel, mit dem er die Bestätigung seiner Machtansprü- schichte ersetzt und anstelle von Tulan erscheint che durch den spanischen König zu unterstreichen Babylon als Herkunftsland der vorspanischen Elite suchte:4 (z. B. Carmack and Mondloch 1983: 174; Maxwell and Hill 2006: 592f.). Mit dieser Idee knüpften die “El Señor Don Juan Cortés, rey cabaliero, reconoce el se- Autoren an eine damals populäre Theorie an, laut ñorío por el Señor Emperador, el Señor de Castillia, Señor der die indigene Bevölkerung Amerikas von einem de todas las tierras, el Señor Emperador que está en Casti- verlorenen Stamm Israels abstammte. Im “Título lla, reconoce el señorío Don Juan Cortés, rey caballero”. Yax” wird sogar die Rückkehr der Ahnen nach Tu- “Ahau Don Juº Cordes reyes caballero ganauinakim r‘a lan durch eine Reise nach Spanien ersetzt und an- hauarem cumal ahau Emperador, r‘ahaual Castilla, rono- stelle von Nacxit ist es der spanische König, der die hel uleuh r‘ahaual ahau Emperador qo chu pa Castillan Amtseinführung des indigenen Adels überwachte: ganauinakiy r‘ahauarem Don Juº Cortes reyes caballero” (Recinos 1957: 98f.). “Llegaron a España delante de Don Carlos el Quinto, em- perador de Alemania”. 3 Der Titel ajaw wird aber auch für Könige aus dem west- “Xeopan catillia chwan don Carlos quinto enperador alle- lichen Kulturraum verwendet, etwa in der Bezeichnung xi- mania” (Carmack and Mondloch 1989: 49, 80). wïr öq kiq’ij oxi‘ chi ajawa‘, für den Tag nach dem Tag der Heiligen Drei Könige (Maxwell and Hill 2006: 540). Hinge- gen werden andere spanische Titel, wie capitan und don in Neben dieser anachronistischen Bezugnahme auf den indigenen Schriften sehr wohl vorspanischen Herrschern den spanischen König bot sich aber noch eine an- posthum zugesprochen (Carmack 1973: 278, 354). dere Persönlichkeit als externe Machtquelle an, auf 4 Tatsächlich existieren Aufzeichnungen über einen Don Juan Cortés, der eine Reise nach Spanien unternahm, um die An- die sich der K’iche‘-Adel berufen konnte, und zwar erkennung bestimmter Adelsprivilegien für seine Familie zu der Herrscher Moctezuma, der bei Ankunft der Eu- erwirken (Carrasco 1967). ropäer über das Gebiet der Azteken herrschte. Da er Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
90 Lars Frühsorge auch in der spanischen Historiografie der Kolonial- dro, y los muy reverendos padres, y los soldados” (Car- zeit immer wieder auftaucht, muss Moctezuma als mack 1973: 364). eine Art Prototyp vorspanischer Herrscher erschie- nen sein, auf den sich auch die Maya problemlos be- Verwirrend ist dabei, dass sich der Verfasser des rufen konnten.5 Beispielsweise erwähnt der “Título Dokumentes selbst als monarca Montesuma oder Nijaib I” (Recinos 1957: 84) explizit, dem besagten rey Quiché bezeichnet. An anderer Stelle nennt er aztekischen Herrscher wäre Tribut gezahlt worden. sich aber auch Zeuge (testigo) oder Bruder (her- Darüber hinaus zeigen die sogenannten Buenabaj- mano menor) Moctezumas und es ist von seinem Zeichnungen laut Carmack (1973: 63) eine Hoch- Wohnsitz (casa de montesuama) die Rede. All dies zeit Moctezumas mit zwei K’iche‘-Frauen.6 Die legt nahe, dass der Name hier als eine Art Titel fun- Kaqchikel-Annalen berichten von einer diplomati- gierte (Carmack 1973: 53). Dies wiederum unter- schen Begegnung des lokalen Adels mit Abgesand- streicht, wie schnell sich die historische Persönlich- ten des Herrschers: keit des Aztekenherrschers in ein allgemeingültiges Symbol indigener Herrschaft verwandelt hatte, das “The lords Jun Iq‘ [and] Lajuj No‘j received the Yaki‘, die Verfasser (oder Übersetzter) durchaus mit dem those of Culhuacan, as guests. On one Toj the Yakis ar- spanischen Königtum gleichzusetzen bereit waren. rived, the ambassadors of the lord Mocteczumatzin [II], Schließlich ist auch die Erwähnung eines K’iche‘- the lord of those of Mexico. And this truely we saw, when, Königs bemerkenswert, weil auch hier eine Über- indeed, the Yaki‘, those of Culhuacan, arrived. There were tragung des europäischen Konzeptes deutlich wird, many Yaki‘ who arrived long ago, you, my sons, while und weil sich der namenlose “Rey Quiché” in der our grandfathers, Jun Iq‘ [and] Lajuj No‘j, were ruling”. späteren Kolonialzeit auch in mündlichen Überlie- “Je k’a xe‘ula‘an Yaki‘, aj Kuluwakan, ri ajaw Jun Iq’, ferungen und einem rituellen Tanzdrama wieder Lajuj No‘j. Chi Jun Toj xe‘ul Yaki‘, rusamajel ajaw Mo- findet. teksumatzin, rajawal aj Mexiku. K’a ja k’a qi xqatz’ët ri‘ oqi xe‘ul ri Yaki‘, aj Kuluwakan. Je k’iya Yaki‘ xe‘ul ojer, ïx nuk’ajol, tan tajawär qamama‘ Jun Iq’, Lajuj No‘j” Mündliche Überlieferungen (Maxwell and Hill 2006: 237f.). und der “Baile de la Conquista” Auch im “Título Chuachiituj” (Carmack 1973: 363 – Dass die Figur des Moctezuma nicht nur den Nach- 366), der erst 1592, also deutlich später als die zu- fahren des vorspanischen Adels lange Zeit in Erin- vor diskutierten Beispiele verfasst wurde (und von nerung blieb, sondern auch Gegenstand mündlicher dem nur noch eine spanische Übersetzung existiert), Überlieferungen der sonstigen Bevölkerung gewe- erscheinen in der Einleitung des Dokumentes auch sen sein muss, verdeutlicht ein Vermerk in einem “König Moctezuma” und ein namenloser “K’iche‘- Reisebericht des guatemaltekischen Bischofs Cor- König” als Zeugen für die Richtigkeit des Doku- tés y Larraz aus dem 18. Jahrhundert. Dieser fand ments: nahe Totonicapán Markierungen auf einem Felsen, auf dem, wie man ihm sagte, Moctezuma einen “Nosotros los naturales y principales de Santa Cruz del Fußabdruck hinterlassen haben soll, als er von Me- Quiché, y el rey Montesuma, y el rey Quiché, conquista- xiko an jenen Ort flog, um dann in einem zweiten dor que vino en la Nueva España; el rey Cortés y Don Pe- Schritt bis in das K’iche‘-Gebiet zu kommen: 5 Yamase (2002: 169) zufolge ist die Präsenz von Moctezuma “Al fin de la primera cuesta, como a tres leguas de la ha- in den Quellen der K’iche‘ als ein Versuch zu verstehen, die cienda de Carrascoso, hay una laja de piedra en el camino, eigene Herrschaft schon in vorspanischer Zeit durch eine ex- terne Machtquelle zu stützen. Diese Option gewann nach que sale sobre la tierra, redonda, y que tendrá de diáme- Ankunft der Spanier sogar noch an Bedeutung, da nicht die tro como ocho o diez varas. Los indios creen ciertemente, K’iche‘, sondern ihre Erbfeinde die Kaqchikel von den Spa- que Moctezuma voló desde México a dicha piedra, en la niern zur “nationalen” indigenen Kultur erhoben wurden, que dejó estampadas sus huellas y de aquí dio otro vuelo wobei der Name Quauhtemallan (der aztekische Name des a Kiché. Sobre esta fábula, en llegando los indios a esta Kaqchikel-Gebietes) Namensgeber für die Provinz Guatema- la war, und die Kaqchikel-Sprache als lengua metropolitana pareja, si se sienten cansados, se azotan los pies, porque an der Universität in der Hauptstadt gelehrt wurde. se han cansado del camino y poniéndolos sobre la piedra, 6 Nach einer anderen Übersetzung des begleitenden Textes con su machete los estampan, de suerte que toda está lle- könnte es sich aber auch um Eheschließungen zwischen den na de tales estampaduras y con esta superstición y vana Eroberern Cortés und Alvarado und Töchtern Moctezumas handeln (Ridder 1993). Nichtsdestotrotz wird durch die blo- observanvica creen y dicen, quedar descansados” (Cortés ße Erwähnung des Herrschers in einem Maya-Dokument sei- y Larraz 1958/II: 99). ne Bedeutung hervorgehoben. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum 91 Ein Grund für den langen Erhalt der Erinnerung an (Carmack 1973: 287 – 306) sowie in dem “Títulos Moctezuma ist die Tatsache, dass er auch Akteur in Nijaib I” (Recinos 1957: 87) vorkommen. Demnach einem rituellen Tanzdrama jener Zeit war. Tänze- ist der Tanz also als eine von indigener Seite durch- rische Darstellungen historischen Inhalts existier- aus akzeptierte (wenn nicht sogar wesentlich mit- ten schon in vorspanischer Zeit. Es entstanden in gestaltete) historische Darstellung zu begreifen. Mit der Kolonialzeit auch neue Stücke, die häufig von der Verbreitung des Tanzes im Hochland entwickel- der katholischen Kirche als Mittel zur Missionie- ten sich auch mündliche Überlieferungen, in denen rung genutzt wurden. Einer dieser Tänze ist der die während des Tanzes dargestellten Ereignisse je- “Baile de la Conquista” (Tanz der Eroberung), der weils als Teil der Geschichte der eigenen Gemein- bis heute als der populärste Tanz in den Maya-Ge- de verortet wurden (Bode 1961). So hörte ich wäh- meinden des Hochlandes von Guatemala gilt. Das rend meiner eigenen ethnografischen Forschung in Thema dieses Tanzes ist die spanische Invasion in Gemeinden der K’iche‘, Kaqchikel, Tz’utujil und Guatemala. Für die Entstehung dieses Tanzes exis- Mam Erzählungen, laut dener Tecún jeweils als tieren zwei Vorbilder: Als direktes Vorbild ist der König und Gründer lokaler Ruinenstätten benannt “Baile de Cortés” anzusehen, in dem es um die spa- wurde. Zudem bietet der Tanz mit der Figur des nische Eroberung Zentralmexikos geht, und in dem ungetauften indigenen Priesters ein Symbol des Wi- Moctezuma eine zentrale Rolle spielt. Eine noch derstandes indigener Religion (Tedlock 1983). Was ältere Vorlage stellt ein mittelalterlicher Tanz von die religiöse Dimension des Tanzes selbst angeht, der iberischen Halbinsel dar, der “Baile de Moros so belegen ethnografische Beobachtungen jüngeren y Cristianos”, der den dortigen Sieg der Christen Datums, dass die Tänzer teilweise schon Wochen über die Mauren thematisiert. In den verschiedenen vorher zu fasten beginnen, eine sexuelle Abstinenz Akten des “Baile de la Conquista” wird gezeigt, einzuhalten und schließlich Rituale in den umlie- wie die Nachricht von der Ankunft der Spanier am genden Bergen zu zelebrieren, in denen sie Ahnen, Hof des K’iche‘-Königs eintrifft, der als Rey Qui- Heilige und Berggötter um die Erlaubnis bitten, den ché bezeichnet wird. Es wird sodann beschlossen, Tanz durchführen zu können. Sofern Ahnen selbst ein Heer unter dem Kommando von Tecún Umán in dem Tanz dargestellt werden, soll sogar die Vor- aufstellen. Letzterer stellt sich zum Höhepunkt des stellung bestehen, dass der Geist jenes Vorfahren Stückes dem spanischen Eroberer Pedro de Alvara- von der Figur Besitz ergreift und sich der betrof- do im Zweikampf und wird getötet. Anschließend fene Darsteller während des Tanzes tatsächlich in lassen sich alle K’iche‘ taufen, bis auf einen indi- die dargestellte Person verwandelt (Bode 1961). Ob genen Priester, der in die Berge flieht (Bode 1961).7 entsprechende Glaubensvorstellungen bereits in der Auf den ersten Blick scheint dieser Tanz eine Per- Kolonialzeit bestanden, ist nicht nachzuweisen, es spektive der Sieger zu zeigen und tatsächlich wird finden sich aber zumindest Indizien dafür. So be- angenommen, dass das Stück von einem Missionar richtet schon der englische Mönch Thomas Gage, geschrieben wurde, der aber Hilfe von indigenen der Guatemala im 17. Jahrhundert bereiste, von der Informanten hatte (Carmack 1973: 168 – 171). Der Hingabe mit der die Maya ihre Tänze vorbereiteten. historische Wert des Stückes ist umstritten, zumal Er bemerkt auch, dass die Tänzer sich so stark mit die Historizität der Figur des Tecún Umán Gegen- ihren Rollen identifizierten, dass sie vor der Darbie- stand einer bis heute andauernden Kontroverse ist tung sogar die gespielten Taten ihrer Charaktere in (vgl. Paz Cárcamo 2006; Akkeren 2007).8 Tatsache der Kirche beichteten (Gage 1958: 227). ist aber, dass Figuren aus dem Stück auch in frühen indigenen Dokumenten, wie dem “Título de Hui- tzitzil Tzunún” (Gall 1963), dem “Título C’oyoi” Hoffnung auf die Wiedergeburt des vorspanischen Königtums 7 Neben diesem Tanz wurden und werden in Guatemala aber auch Versionen des “Baile de Cortés” oder “Moros y Cris- Einige Jahrzehnte nach Thomas Gage berichtet der tianos” aufgeführt. Es sind auch Mischformen entstanden Chronist Fuentes y Guzmán, dass die Maya seiner (Bode 1961; Bricker 1981: 150f.). 8 Eine Ursache dieser Debatte ist die Tatsache, dass Tecún im Zeit an eine “universelle Auferstehung” ihrer Ah- 20. Jh. von den Militärregierungen Guatemalas zu einem Na- nen glaubten, weshalb sie sich weigerten, ihre al- tionalhelden erhoben wurde. Die ambivalente Darstellung ten Häuser zu erneuern oder vererbten Besitz auf- seiner Figur in Schulbüchern und die ihm zugeschriebene zugeben: Rolle als “erster Verteidiger des Vaterlandes” und Ikone des Heers wird von vielen Maya heute als ein Missbrauch indi- gener Geschichte kritisiert, speziell angesichts der Massaker “Creían, con la certeza de la imortalidad del alma, que während des Bürgerkrieges, die von der Armee in zahlreichen después en la resurreción universal, habían de volver a ob- indigenen Gemeinden verübt wurden (CEH 1999). tener las proprias posesiones en que puedan no enmendar Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
92 Lars Frühsorge loy yerros y malos repartimientos de sus casas, diciendo mala, Atitán [sic] y Quetzaltenango, ha querido que estos que así las dejaron sus antepasados, y dicen han de volve- fuesen la cabecera de aquese imperio y reino de Guate- ra poseer las proprias tierras que poseen al tiempo de su mala, dejando entre las sombras del olvido lo que es tan muerte; y por esta razón las minas de plata y los lavaderos público y claro en todo este reino, que la cabeza y monar- ricos de oro que tienen ocultos, no hay con ellos promesa quía y corte de sus reyes fue el Quiché, donde hasta el día ni amenaza que sea suficiente a reducirlos a que manifies- de hoy se conserva la descendencia de sus reyes que todos tan: y viéndose apretados responden que ellos bien saben los indios conocen” (Ximénez 1977: 57f.) donde están, pero no siendo suyos los tesoros, sino de su pasados que lo dejaron, que como se han de disculpar con Auch der Bischof Cortés y Larraz vermerkte in sei- ellos ni qué cuenta les han de dar cuando vuelvan al mun- nem Reisebericht, dass die Indigenen des 18. Jahr- do” (Fuentes y Guzmán 1971/III: 273). hunderts noch historische Aufzeichnungen über ih- ren K’iche‘-König besaßen, und dass sie häufig und Es ist denkbar, dass dieser Glaube an eine Rück- sehr hingebungsvoll von jener Person redeten, da kehr der Ahnen und der mutmaßlich damals schon sie hofften, in Zukunft wieder einmal einen König bestehende Glaube an ihre temporäre Wiederaufer- zu haben: stehung im Rahmen der rituellen Tänze in einem Sinnzusammenhang standen. Somit könnte die wei- “Entiendo que entre sus papeles se encontrarían en estos te Verbreitung des “Baile de la Conquista” bis in das pueblos raras historias del rey de Kiché; porque estos in- 19. Jahrhundert (vgl. Bode 1961) dadurch erklärt dios tienen (a mi parecer) muy vivas esperanzas de vol- werden, dass er Bestandteil einer Heilserwartungs- ver a tenerlo, y yo mismo al descuido, o con algún cuida- bewegung war, die durch die Magie des Tanzes do, los he puesto con varios pretextos en que me dijeran, eine Wiederherstellung der vorspanischen Lebens- cómo era el rey de Kiché y hablan de esto con mucha welt zu erreichen suchte. Vergleichbare Phänomene individualidad y afición” (Cortés y Larraz 1958/II: 58). sind aus anderen Teilen Amerikas bekannt, etwa die “Taqui Onqoy”-Bewegung Ende des 16. Jahrhun- Interessant ist dabei, dass Cortés y Larraz nicht von derts in Peru, oder der Geistertanz, der sich Ende mehreren vorspanischen Herrschern oder Königen des 19. Jahrhunderts unter diversen indigenen Grup- spricht, an die sich die Maya erinnerten, sondern pen in Nordamerika verbreitete. nur von einem einzigen König. Ich sehe darin ei- Um auf die Erinnerungskultur in Guatemala zu- nen Hinweis, dass zu jener Zeit die Figur des Rey rückzukommen, so liefern Quellen aus dem 18. Jahr- K’iche‘ aus dem “Baile de la Conquista”, so be- hundert Hinweise darauf, dass sich die dem Tanz kannt war, dass sie bereits Vorstellungen der vorspa- zugrunde liegende Geschichte und speziell der Cha- nischen Zeit nachhaltig prägte und so die schwin- rakter des K’iche‘-Königs schon soweit etabliert dende Erinnerung an weitere Herrscher ersetzte. hatten, dass sie das Geschichtsbild der kolonialen Hierbei gilt es zu bedenken, dass im 18. Jahrhun- Maya nachhaltig prägten. Generell berichtet der dert noch ein weiterer Tanz im K’iche‘-Gebiet auf- Dominikanermönch Francisco Ximénez (1977: 5) geführt wurde, der den Namen “Quiché Winak” von einer sehr aktiven Erinnerung vorspanischer trägt, in dem der besagte K’iche‘-König eine Rolle Überlieferungen in den Familien, die, wie er es for- spielte.9 Dieser Tanz berichtet von der Gefangen- muliert, von den Kindern bereits mit der Mutter- nahme eines Kaqchikel-Kriegers, der am Hofe von milch aufgenommen wurden. Speziell die Gegend Utatlán vorgeführt und später geopfert wurde. Zu- von Santa Cruz del Quiché, wo sich die Ruinen vor sprach er jedoch noch eine Prophezeiung aus, in der K’iche‘-Hauptstadt Utatlán befinden, blieben der er den Tod des Königs und die Ankunft beklei- der indigenen Bevölkerung offenbar als ein altes deter, grausamer und schwer bewaffneter Menschen Machtzentrum und Sitz verschiedener Herrscher in (Spanier) ankündigte. Die Hauptstadt Utatlán selbst Erinnerung, und sie wurde auch in der spanischen würde verfallen und Heimstatt für Berglöwen und Historiographie jener Zeit (wenn auch in Konkur- Eulen werden: renz zu anderen Zentren) zur vorspanischen Haupt- stadt des ganzen Gebietes des kolonialen Guatema- “… y sabed que unos hombres vestidos, no desnudos las erhoben: como nosotros, de pies y cabeza y amardos, estos han de “No hay duda que a algunos los llevó el afecto, o el de- 9 Von diesem Tanz existierten in der Kolonialzeit verschiede- seo de agrandecer su parte, queriéndola levantar a mayour ne Varianten in diversen Orten. Aufgrund der expliziten Dar- stellung eines Menschenopfers wurde das Stück jedoch in der grandeza, como le acontece a cierto historiador moderno, Kolonialzeit wiederholt verboten (Chinchila 1963). Mit dem porque les han tocado en la parte de su administración berühmten “Rabinal Achi” ist aber zumindest eine Version algunos pueblos sobresalientes, como es Tecpán Guate- bis zur heutigen Zeit erhalten geblieben. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum 93 ser unos hombres muy terribles y crueles hijos de la teja; Atanasio Tzul als indigener König quizás será esto mañana o pasado mañana (esto es breve o cerca), y destruirán todos estos edificios y quedarán he- Wenn wir nun zum Fall Totonicapán zurückkehren, chos habitación de lechuzas y de gatos de monte; y ce- so wird deutlich, dass die Vorstellung der Wieder- sará toda aquesta grandeza de aquesta corte!” (Ximénez errichtung eines vorspanischen Königtums in der 1977: 85.). damaligen Zeit keinesfalls abwegig erschienen sein muss. So konnte gezeigt werden, dass bis Ende des Was die andauernde Hoffnung auf eine Revitali- 18. Jahrhunderts eine aktive Erinnerung an die vor- sierung dieses indianischen Königtums angeht, sei spanische Herrschaft bestand, die im Laufe der spa- noch auf die “Revolte” von 1773 verwiesen. Nach- nischen Herrschaft aber durch europäische Vorstel- dem es zu einem Erdbeben gekommen war, und der lungen geprägt wurde, so dass die Maya schließlich damalige Präsident der Audiencia von Guatema- fest von einer erneuten Errichtung “ihres” indigenen la, Martín de Mayorga, eine Verlegung der zerstör- Königtums ausgingen. Tzul, der einer alteingeses- ten Hauptstadt vorantrieb, kam es in verschiedenen senen indigenen Adelsfamilie des Ortes entstammte Teilen des Landes zu spontanen Bevölkerungsbewe- und bereits den Status eines principal (eines angese- gungen. Laut der Aussagen von Zeitzeugen kursier- henen Gemeindeältesten) hatte, war als potentieller ten verschiedene Gerüchte: Es sei ein König namens König die logische Wahl. Lucas Aguilar hingegen Martín nach Guatemala gekommen, der selbst indi- konnte zwar auf keine vergleichbare Abstammung gener Abstammung sei, aber von den Franziskanern verweisen, hatte dafür aber eine führende Rolle in als Kind nach Spanien gebracht worden wäre, von den cofradías (Bruderschaft) der Gemeinde (Mc- wo er jetzt zurückgekehrt sei. Er sei gekommen, um Creery 1989: 52), die damals auch als “Hüter der den Indigenen all das wiederzugeben, was ihnen die Tradition” die religiösen Feste und Tänze der Ge- Spanier genommen hatten, und um sie vom Tribut meinde organisierten. Es ist also anzunehmen, dass und anderen Verpflichtungen zu befreien. Einer an- wenn nicht Tzul selbst, so doch zumindest Aguilar deren Aussage zufolge sei König Martín von Gott mit den Überlieferungen über den K’iche‘-König selbst geschickt worden und er sei es auch gewe- und der symbolischen Bedeutung des “Baile de la sen, der die Hauptstadt zerstört habe. Andere mein- Conquista” in diesem Zusammenhang vertraut war. ten, dass in vorspanischer Zeit ein Prophet namens In diesem Sinne konnte sich Atansio Tzul also Martum gelebt habe, der erklärt habe, er würde zu- durchaus auf eine bestehende Tradierung berufen, rückkehren, um die Spanier zu vernichten. Aus dem die sowohl europäische als auch vorspanische Wur- K’iche‘-Gebiet wurde sogar berichtet, man würde zeln aufwies. Daher ist es auch nicht verwunder- den dortigen Palast des K’iche‘-Königs (die Rui- lich, dass sich Tzul letztlich einer weitgehend eu- nen von Utatlán) für die baldige Ankunft von Mar- ropäischen Symbolik bei seiner Krönung bediente. tum reinigen (Wortman 1982: 182f.; Brennwald Es mag aber kein Zufall sein, dass er sich neben 2001: 126). der religiös bedeutsamen Krone einer Heiligenfigur ausgerechnet ein Kostüm aus dem “Baile de la Con- quista” aussuchte. Aufgrund des rituellen Charak- ters dieses Tanzes könnte die Wahl eines solchen Kostüms durchaus als Versuch gewertet werden, sei- ne Herrschaft auch in Anlehnung an indigene religi- Abb. 2: Kolonialzeitliche Darstel- lung eines rituellen Tanzdramas im Haus einer cofradía aus Cha- jul (vermutlich 18. Jh.) (Foto: Lars Frühsorge). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
94 Lars Frühsorge Abb. 3: Ruinen des Tojil-Tempels in Utatlán. An dem Gebäude und auf dem Platz sind Spuren rituel- ler Feuer erkennbar (Foto: Lars Frühsorge). öse Vorstellungen zu legitimieren. Zumindest aber ders als seine Vorgänger gelangte Carrera durch ei- stellte das Kostüm eine für die breite Bevölkerung nen wesentlich von der indigenen Bevölkerung un- verständliche Bezugnahme auf diesen Tanz dar, der terstützen Aufstand an die Macht, was ihm den Titel die Grundlage ihres historischen Wissens über die “König der Indios” einbrachte (Lynch 1992). Die vorspanische Zeit war. Auch die Präsenz eines Bil- moderne Historiografie beurteilt seine Politik nega- des des spanischen Königs im “Thronsaal” und die tiv, Tatsache ist aber, dass er im Gegensatz zu seinen Ernennung von Lucas Aguilar zu einem Präsidenten liberalen Vorgängern unmittelbar nach der Unab- sowie die Ernennung von Machthabern benachbar- hängigkeit keine Intervention in die relative Auto- ter Orte zu weiteren Königen (McCreery 1989: 52), nomie der indigenen Gemeinden, sondern vielmehr machte in Bezugnahme auf die vorspanische Zeit den Erhalt des kolonialen Status quo anstrebte. Das durchaus Sinn. So wie sich vorspanische Maya auf ist vermutlich die Erklärung dafür, dass Oliver La- mächtige Herrscher im fernen Tulan beriefen, deren Farge (1947: 16), der 1940 in Santa Eulalia forschte, Macht mehr Legende als tatsächlich spürbar war, bemerkte, dass man sich dort noch immer an Car- muss auch der spanische König in der Vorstellung rera erinnere, als den einzigen indigenen Präsiden- der kolonialen Maya wie ein machtvolles aber von ten des Landes, obwohl er niemals einen nennens- ihrer Lebenswelt entrücktes Individuum gewirkt ha- werten Einfluss auf jene Gemeinde hatte. Im Gebiet ben. In diesem Sinne ist die Rebellion von Totoni- der K’iche‘ selbst blieb der Traum von einem indi- capán auch eher als eine Revolte gegen die regio- anischen Königtum noch länger erhalten. Nicht nur nale Administration zu verstehen, keinesfalls aber dass sich ladino 10-Intellektuelle aus Quetzaltenango als eine Revolution, welche die Autorität der Krone auf die vorspanische Zeit bezogen, um eine eigene selbst in Frage gestellt hätte. Und auch wenn Tzul Identität des westlichen Hochlandes zu generieren, schon nach wenigen Wochen abgesetzt und inhaf- die sie für die Erschaffung ihres kurzlebigen Staates tiert wurde, war der Traum einer Rückkehr zum in- Los Altos brauchten (Taracena Arriola 1999: 189), digenen Königtum noch lange nicht ausgeträumt. auch die K’iche‘ selbst blieben sich ihrer vorspani- schen Wurzeln bewusst und integrierten die Ruinen von Utatlán in ihr religiöses Leben. Bereits Mitte Ausblick des 19. Jahrhunderts bemerkte John Llloyd Ste- phens (1969/II: 187, 230), dass die Höhlen in der Knapp 20 Jahre nach den Ereignissen in Totoni- Umgebung der Stätte für die K’iche‘ eine überna- capán sollte in dem inzwischen unabhängigen Gua- temala mit José Carrera ein Mann europäischer und 10 Unter einem ladino versteht man einen spanischsprachigen indigener Abstammung an die Macht kommen. An- Mestizen. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum 95 Abb. 4: Altar der Ahnenverehrung vor einer Vitrine mit den Überres- ten einer Bestattung im Muse- um von Utatlán (Foto: Lars Früh sorge). türliche Bedeutung hatten. Weiter berichtet Robert Zitierte Literatur Carmack (1981: 356) von einer indigenen Miliz, die sich noch Ende des 19. Jahrhunderts vorspanischer Akkeren, Ruud van Insignien und Musik bediente und eine Versamm- 2007 La visión indígena de la conquista. Guatemala: Servi- prensa. lung in den Ruinen von Utatlán abhielt, bevor sie in den Kampf zog. In den 1920er Jahren, bemerkte der Bode, Barbara 1961 The Dance of the Conquest of Guatemala. New Orleans: Archäologe Samuel Lothrop (1929: 10) dort auch Middle American Research Institute, Tulane University. rezente Spuren ritueller Feuer, die von der indige- nen Bevölkerung aber unter dem Schutt der zerstör- Braswell, Geoffrey E. 2003 K’iche’an Origins, Symbolic Emulation, and Ethnogen- ten Gebäude verborgen wurden, offenbar um ihre esis in the Maya Highlands, A.D. 1450 – 1524. In: M. E. rituelle Nutzung dieses vorspanischen Zentrums ge- Smith and F. F. Berdan (eds.), The Postclassic Meso- heim zu halten. So finden bis heute Rituale in den american World; pp. 297 – 303. Salt Lake City: Univer- Ruinen von Utatlán statt, bei denen religiöse Spezi- sity of Utah Press. < http://www.anthro.ucsd.edu/anthfac/ alisten die Geister ihrer vorspanischen Ahnen anru- braswell-2003f.pdf > [10. 10. 2005] fen. Auch in anderen Gemeinden hat sich bis zum Brennwald, Silvia heutigen Tag eine Erinnerung an vorspanische Herr- 2001 Die Kirche und der Maya-Katholizismus. Die katholische Kirche und die indianischen Dorfgemeinschaften in Gu- scher erhalten. Diese Individuen sind nach traditio- atemala 1750 – 1821 und 1945 – 1970. Stuttgart: Steiner. neller Auffassung niemals gestorben, sondern ruhen (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, 81) in den umliegenden Bergen, von wo sie eines Tages Bricker, Victoria Reifler zurückkehren werden, um den Gemeinden in Not- 1981 The Indian Christ, the Indian King. The Historical Sub- zeiten beizustehen.11 strate of Maya Myth and Ritual. Austin: University of Texas Press. 11 Beispielsweise besteht in Santiago Atitlán die Vorstellung, Carmack, Robert M. dass der König Tepeul in einem Hügel unter den Ruinen 1973 Quichean Civilization. The Ethnohistoric, Ethnographic, von Chuitinamit ruht, wo er bisweilen Besucher empfängt and Archaeological Sources. Berkeley: University of Cal- und arme aber rechtschaffene Bauern mit seinen Schätzen ifornia Press. beschenkt. In Rabinal glaubt man, dass die vorspanischen 1979 Historia social de los Quiches. Guatemala: José de Pine- Charaktere des Tanzdramas “Rabinal Achi” im Innern des da Ibarra. (Seminario de integración social guatemalteca, Kavub‘ ruhen. Sie sollen während des Bürgerkrieges in den 38) 1980er Jahren mit übernatürlichen Vorzeichen versucht ha- ben, die Bevölkerung vor drohendem Unheil zu warnen. Ebenso wird eine Intervention übernatürlicher Kräfte dafür verantwortlich gemacht, dass die Gemeinde (im Gegensatz Vernichtung durch die guatemaltekische Armee verschont zu anderen Orten in der Umgebung) vor einer gänzlichen geblieben war (Frühsorge 2010: 316). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
96 Lars Frühsorge 1981 The Quiché Mayas of Utatlán. The Evolution of a High- Gall, Francis (comp.) land Guatemala Kingdom. Norman: University of Okla- 1963 Título de Ajpop Huitzitzil Tzunún. Probanza de méritos homa Press. (The Civilization of the American Indian Se- de los de León y Cardona. Guatemala: Centro Editorial ries, 155) “José de Pineda Ibarra”, Ministerio de Educatión Públi- ca. (Sociedad de Geografía e Historia, 11; Ministerio de Carmack, Robert M., y James L. Mondloch (eds.) Educatión Pública, 25) 1983 Título de Totonicapán. Texto, traducción y comentario. (Edición facsimilar, transcripción y traducción.) México: Hill Boone, Elizabeth Universidad Nacional Autónoma de México, Instituto de 2000 Venerable Place of Beginnings. The Aztec Understand- Investigaciones Filológicas, Centro de Estudios Mayas. ing of Teotihuacan. In: D. Carrasco, L. Jones, and S. Ses- 1989 El título de Yax y otros documentos quichés de Totonica- sions (eds.), Mesoamerica’s Classic Heritage. 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Méxicon 15 (1): 12 – 17. Eine historische und ethnographische Untersuchung indi- Stephens, John Lloyd gener Interpretationen der vorspanischen Zeit, der spani- 1969 Incidents of Travel in Central America, Chiapas and Yu- schen Invasion und des Bürgerkriegs in Guatemala. Ham- catán. 2 Vols. New York: Dover Publications. burg: Kovač. Taracena Arriola, Arturo Fuentes y Guzmán, Francisco Antonio de 1999 Invención criolla, sueño ladino, pesadilla indígena. Los 1969 – 1972 Obras históricas de don Francisco Antonio de Fuen- Altos de Guatemala. De región a Estado, 1740– 1850. An- tes y Guzmán. (Edición y estudio preliminar de Carme- tigua: Centro de Investigaciones Regionales de Meso- lo Sáenz de Santa María.) 3 tomos. Madrid: Ediciones américa. Atlas. (Biblioteca de autores españoles, 230, 251, 259) Tedlock, Barbara Gage, Thomas 1983 El C’oxol. Un símbolo de la resistencia quiché a la 1958 Thomas Gage’s Travels in the New World. (Ed. and with conquista spiritual. In: R. M. Carmack y F. 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Getanzte Erinnerung und der Traum von einem indianischen Königtum 97 Wortman, Miles L. 1977 Historia de la Provincia de San Vincente de Chiapa y 1982 Government and Society in Central America, 1680 – 1840. Guatemala de la Orden de Predicadores. (Ed. de Carme- New York: Columbia University Press. lo Saénz de Santa Maria.) Guatemala: Sociedad de Geo- grafía e Historia de Guatemala. Ximénez, Francisco 1967 Escolios a las historias del origen de los indios. Guate- Yamase, Shinji mala: Sociedad de Geografía e Historia de Guatemala. 2002 History and Legend of the Colonial Maya of Guatemala. (Sociedad de Geografía e Historia, Guatemala, 13) Lewiston: E. Mellen Press. (Latin American Studies, 20) Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-87 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 28.10.2021, 00:54:58. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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