DESIGNORIENTIERTE FORSCHUNGSFRAGEN IN E-BUSINESS UND E-GOVERNMENT AUS DER SICHT DER ECADEMY

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DESIGNORIENTIERTE
FORSCHUNGSFRAGEN
IN E-BUSINESS UND
E-GOVERNMENT
AUS DER SICHT DER
ECADEMY

Dieter Spahni       97
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1    EINTAUCHEN IN DIE INFORMATIONSGESELLSCHAFT

Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts stehend, mutmassen wir noch immer über den
Zeitpunkt des defi nitiven Eintauchens unserer Gesellschaft in die so genannte Infor-
mationsgesellschaft. Letztlich – und spätestens im Rückblick – wird nicht irgendein
Zeitpunkt, sondern vielmehr der Prozess des Eintauchens relevant sein. Die spätere
Analyse dieses Prozesses wird möglicherweise aufzeigen, dass sich global ganz erheb-
liche Unterschiede bezüglich der Geschwindigkeit des Eintauchens und der erreichten
Tauchtiefe ausprägten und damit nachhaltige Veränderungen der jeweiligen gesell-
schaftlichen Entwicklung ausgelöst wurden. Es ist durchaus denkbar, dass dieses
Eintauchen dereinst einerseits als das Ende der Differenzierung zwischen der Ersten,
Zweiten und Dritten Welt gesehen werden muss, andererseits als Geburtsstunde
eines digitalen Grabens, des «digital divide», der diese Welten diagonal durchquert
und die Menschheit in zwei Gruppen spaltet: in die Gruppe der im Umgang mit den
Informations- und Kommunikationstechnologien [ICT] befähig ten Menschen und
in die Gruppe, welcher der Zugang und der Nutzen dieser Technologien verschlossen
bleibt.

      Aus heutiger Sicht erscheinen diese Mutmassungen oft noch als zu wenig relevant,
und die aktuelle Tauchtiefe wird gerne mit dem Begriff der «Wissensgesell schaft»
übersteigert. Für die folgenden Ausführungen stehen aber weder die Tauchtiefe noch
die Geschwindigkeit des Eintauchens im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage
nach der Fitness unserer Gesellschaft – in diesem Falle der Schweiz – und ihrer Fähig-
keit, sich in diesem sportlichen Tauchgang erfolgreich zu bewähren. Mit «erfolgreich»
meint dieser Beitrag insbesondere den wirtschaftlichen Erfolg, wohl wissend, dass auch
ganz andere Arten des Erfolgs für diese Gesellschaft als Ganzes von entscheidender
Bedeutung sind.

     Als Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Fitness einer Informationsgesell-
schaft gilt unbestritten die Verfügbarkeit der hierzu notwendigen Infrastruktur, eben
der ICT. In diesem Punkt erteilten im ersten Halbjahr 2005 mehrere Studien der
Schweiz herausragende Noten: Die Schweiz rangiert global regelmässig unter den
fünf bestausgerüsteten Ländern und erhält oftmals gar einen Platz auf dem Sieger-
podest.

      Analysieren derartige Studien aber nicht die blosse Verfügbarkeit dieser Basis-
technologien, sondern den damit effektiv erzielten Nutzen für die Gesellschaft,
dann erhält die Schweiz gerne den Platz des Tabellenletzten zugesprochen. Das gilt
ganz besonders für den öffentlichen Sektor, für das E-Government. Warum bleiben
erfolgreiche Anwendungen und richtungsweisende Geschäftsmodelle aus? Hochschu-
len, hauptsächlich Fachhochschulen mit ihren Aktivitäten in angewandter Forschung
und Entwicklung, sowie Dienstleistungen sind angehalten, sich am Markt und seinen

                                                                                    99
Bedürfnissen zu orientieren, um damit einen nachhaltigen Beitrag zur Marktentwick-
lung und dringend benötigten Steigerung der Innovationskraft zu leisten. Sie fördern
sich damit selbst, denn die für die Finanzierung von Bildung und Forschung notwendi-
gen Mittel gewinnt der Staat aus dem Steuersubstrat, also letztlich aus einem florieren-
den Markt.

     Da die meisten Institutionen der Forschungsförderung nach wie vor praktisch nur
direkte Lohnkosten abgelten, müssen die Hochschulen zur Deckung der real anfallen-
den Vollkosten eine substanzielle Querfinanzierung der Forschungsaktivitäten
sicherstellen. Dienstleistungen sind dazu besonders geeignet und liefern zugleich den
berechtigterweise geforderten Praxisbezug.

2     ECADEMY: GESCHÄFTSMODELLE IN DER
      INFORMATIONSGESELLSCHAFT
                                                                                                 01 ]
Die Ecademy, das nationale Kompetenznetz für E-Business und E-Government , hat
sich der Entwicklung erfolgreicher Geschäftsmodelle in der Informationsgesellschaft
verschrieben. Als Bausteine erfolgreicher Geschäftsmodelle kommen Geschäftsprozesse
zum Einsatz, also koordinierte Abläufe und aufeinander abgestimmte Arbeitsschritte
zur Erreichung der Geschäftsziele. Geschäftsmodelle in einer Informationsgesellschaft
stützen sich systematisch auf verfügbare Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien und fördern deren wirkungsvollen Einsatz.

     In der Fokussierung auf relevante Forschungsfragen konzentriert sich die Ecademy
auf folgende Themen:
                                                                                                        02 ]
             Entwickeln von Geschäftsprozessen und der dabei relevanten Standards
             Herstellen und Anbieten individualisierter Informationsgüter und
                                                           03 ]
             Personalisieren virtueller Leistungen
             Konzipieren der fi rmen- bzw. behördenübergreifenden Zusammen-
                    04 ]
             arbeit

      01 ]
             Wie der Name des Kompetenznetzes zum Ausdruck bringt, stehen die beiden Sektoren
             Wirtschaft [E-Business] und öffentliche Hand [E-Government] für die primäre Zielgruppe.
      02 ]
             Business Process Design & Standards
      03 ]
             Mass Customization and Personalization
      04 ]
             Collaborative Business

100
3    GESTALTUNGSPHASEN

Sowohl das Entwickeln von Geschäftsprozessen, das Herstellen von Informations-
gütern und virtuellen Leistungen als auch das Konzipieren von Zusammenarbeits-
formen sind analytische und gestalterische Tätigkeiten. Übliche Vorgehensmodelle
unterscheiden auf dem Weg von einem Problem hin zu seiner Lösung mindestens
zwei Gestaltungsphasen, wie sie Abbildung 1 zeigt.

     In der ersten Gestaltungsphase entsteht das Modell der Lösungen. Dieser Model-
lierungsprozess erschliesst in der Regel nicht nur die Problemsituation im engeren
Sinn, sondern stellt diese in einen übergeordneten Kontext. Modellieren heisst deshalb
immer auch Abstrahieren, wobei stets subjektiv relevante Objekte und deren Eigen-
schaft ausgewählt und dargestellt werden.

     Soll beispielsweise das Abrechnen von Spesen in einer Unternehmung durch ein
Programm unterstützt werden, dann sind nicht nur dieser Abrechnungsprozess im
engeren Sinne zu analysieren und zu modellieren, sondern zumindest auch die
Schnittstellen zu angrenzenden Geschäftsprozessen wie dem Projektcontrolling
oder der Lohnbuchhaltung.

    Bei der zweiten Gestaltungsphase steht die Implementierung des Modells im
Vordergrund. Aus dem Lösungsmodell entsteht die gewünschte Lösung, aus dem
Modell der Spesenabrechnung wird eine Anwendung für Endbenutzer zur Bearbei-
tung von Spesenrechnungen programmiert.
     Abb. 1]
               Zwei Gestaltungsphasen

                                                                                   101
Die Entwicklung solcher und ähnlicher Lösungen für E-Business und E-Govern-
ment erfolgt heute zumeist nach weit gehend standardisierten und erprobten Vorgehens-
modellen. Darin werden die einzelnen Entwicklungsschritte im Sinne einer Steuerung
und Kontrolle des Gestaltungsprozesses mit den zur Durchführung geeigneten Metho-
den und Instrumenten festgehalten, und es wird aufgezeigt, wer in welchen Rollen
an welchen Entwicklungsschritten mitwirken soll.

4     GESTALTUNGSPROZESSE

Die zahlreichen Gestaltungsprozesse innerhalb dieser Gestaltungsphasen er zeu-
gen – und das ist eine Besonderheit der ICT-Branche – letztlich kaum je materielle Pro-
dukte. Ob Modelle von Lösungen oder ausprogrammierte Applikationen: Letztlich
lassen sich all diese Ergebnisse der menschlichen Denkarbeit auf Unmengen von Bits
und Bytes reduzieren. Einzig die Hersteller von Hardware liefern tangible Objekte.
Für den Benutzer liegt deren Nutzen heute aber kaum mehr in der Hardware selbst,
sondern in den damit erschlossenen Informationsgütern und virtuellen Leistungen.
Beispiel: Das Mobiltelefon an sich ist für Benutzer von geringem Wert. Erst die durch das
Gerät erschlossenen Informationsgüter [z. B. Wetterprognose, Fahr plan] bzw. virtu-
ellen Leistungen [z. B. ein Ferngespräch führen zu können] geben dem Gerät seinen
                                                                                                      05 ]
Wert. Käufer bezahlen für diesen Wert, kaum für den Materialwert der Hardware.

     Im E-Business und E-Government funktioniert Hardware als Vermittler am
Übergangspunkt zwischen der virtuellen und der realen Welt. An diesem Punkt durch-
laufen Produkte und Leistungen stets einen Gestaltungsprozess [Implementierungs-
prozess], der mit Designfragen hinterlegt ist, denn hier verschmilzt die zumeist
medienbedingte Erscheinungsform mit dem Inhalt des Produkts bzw. der Leistung.
Deshalb sind Forschungsfragen im E-Business und E-Government in Kombination
mit Designfragen von zentraler Bedeutung, auch wenn leider in der Praxis dieses
Bedürfnis oftmals nicht erkannt, ignoriert oder gar negiert wird.

      05 ]
             Unsere Gesellschaft geht auch in der Bewertung von realen Produkten immer öfter einen
             Schritt weiter. Auch deren Wert steht nämlich zusehends in einem geringeren Bezug zum
             Materialwert, sondern reflektiert ausgelöste Emotionen [z. B. über Schönheit, Sportlichkeit]
             und die mit ihnen verbundenen Fantasien [z. B. Abenteuer- oder Liebesgeschichten]. Die
             Bedeutung dieser virtuellen Welt nimmt stetig zu. Auf die Frage: Was kommt nach der Informa-
             tionsgesellschaft?, erhält man denn auch Antworten wie «Ideengesellschaft» oder
             «Gesellschaft der Geschichtenerzähler».

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5    OBJEKTE DER GESTALTUNGSPROZESSE

     Das Entwickeln erfolgreicher Geschäftsmodelle sowie der notwendigen Anwen-
dungen zur Unterstützung der Geschäftsprozesse orientiert sich sowohl im öffentlichen
wie im privaten Bereich an denselben Gestaltungsobjekten, allenfalls mit unterschied-
lichen Prioritäten. Bei ausgeprägter Prozessorientierung gelten die Geschäftsprozesse
als Ausgangspunkt, und die Gestaltung der Organisation [Auf bau struk tur] sowie
deren Verteilung auf Standorte sind nachgelagerte Fragen. Diese Priorität ist besonders
im privaten Bereich anzutreffen, die öffentliche Hand durchläuft zurzeit einen Ver-
änderungsprozess hin zu ähnlichen Prioritäten.

      Aus der Sicht der Informationstechnologie stehen andere Gestaltungsobjekte
im Vordergrund. Hier gilt es, Daten zu strukturieren und die dazu passenden Anwen-
dungen mit geeigneter Technologie zu realisieren. Abbildung 2 zeigt diese beiden
Sichtweisen mit den dazugehörenden Gestaltungsobjekten. Anwendungen bündeln
letztlich die für die Anwender [Organisation] an einem Standort relevanten Geschäfts-
prozesse und der hierzu nötigen Daten.
     Abb. 2]
               Gestaltungsobjekte aus Geschäfts- und IT-Sicht

                                                                                    103
6     DESIGNORIENTIERTE FORSCHUNGSFRAGEN

Designorientierte Forschungsfragen lassen sich einerseits in allen auf die konkrete
Systemgestaltung abzielenden Gestaltungsphasen und Gestaltungsprozessen orten,
andererseits auch in der Erforschung der dabei angewandten Methoden, eingesetzten
Instrumente und Vorgehensmodelle. Es stellen sich in beiden Fällen grundsätzlich
ana loge Fragen, allerdings vor dem Hintergrund anderer Methoden, Instrumente und
Vorgehensmodelle sowie unterschiedlicher Zielgruppen der zu gestaltenden Ergeb-
nisse.

                           FORSCHUNG ÜBER                  FORSCHUNG DURCH
                           SYSTEMGESTALTUNG                SYSTEMGESTALTUNG

      ZIELE                Gestaltungsprozessinnovation    Geschäftsprozessinnovation

                                                           Produktinnovation

      ERGEBNISSE DES       Methoden und Instrumente        Modelle, Konzepte
      MODELLIERENS         der Modellierung

                           Vorgehensmodelle für
                           die Modellierung

      ERGEBNISSE DES       Methoden und Instrumente        Systeme, Produkte,
      IMPLEMENTIERENS      der Implementierung             Anwendungen

                           Vorgehensmodelle für
                           die Implementierung

      In Anlehnung an den Beitrag von Beat Schneider in diesem Band:

              Das neue Wissen, das Forschung durch Systemgestaltung hervorbringt, ist
              dann wissenschaftlich, wenn der Prozess der Systemgestaltung und seine
              Ergebnisse sowie die neuen Erkenntnisse in einem Bericht nachprüf bar
              formuliert und allenfalls visualisiert und einer allgemeinen Öffentlichkeit
              zugänglich gemacht sind.
              In den einzelnen Gestaltungsphasen der Forschung durch Systemgestaltung
              werden nach Bedarf Wissen und Forschungsergebnisse aus den Ingenieur -
              und Sozialwissenschaften, der Ergonomie, der kognitiven Psychologie, der
              Semiotik, der Politologie usw. verwertet und angewendet. Forschung durch
              Systemgestaltung ist deshalb interdisziplinär.

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Beispiele designorientierter Forschungsfragen aus E-Business und E-Government:

         Wie werden komplexe Produkte den Kunden von E-Shops
         verkaufsfördernd präsentiert?
         Wie werden Kunden durch komplexe Produktesortimente von
         E-Shops geführt?
         Wie können komplexe Informationsräume für Kunden individuell
         optimal erschlossen werden?
         Wie wird dem Kunden eines E-Shops der Geschäftsprozess «Einkaufen»
         vermittelt, und wie wird der Kunde durch diesen Prozess begleitet?
         Wie kann durch gestalterische Massnahmen das Vertrauen in
         Geschäftsprozesse mit persönlichen Daten gefördert werden?

     Da sich Anwendungen aus E-Business und E-Government zumeist an ein sehr
breites Publikum wenden, müssen entsprechende Designfragen stets mit einem Blick
auf eine diesem breiten Publikum zugeschriebenen Kultur und Ästhetik beantwortet
werden. Dabei besteht kaum Raum für autorenzentrierte Ausprägungen.

7   FAZIT

Das Feld an Forschungsthemen zwischen den Kompetenzbereichen der Ecademy
und dem Swiss Design Network ist beachtlich! Und möglicherweise sind bereits
deutlich mehr Fragen aus Anwendungen in E-Business und E-Government aktiv
behandelt worden, als dies den Forschenden und Praktizierenden der Ecademy be-
wusst ist. Genauso ist es denkbar, dass sich noch neue Designfragen aus E-Business
und E-Government der Beantwortung ergeben. Erkenntnisse aus der Design for-
schung könnten möglicherweise auf dem Weg in den Markt von den Kompetenzen
der Ecademy in der Ausgestaltung von Geschäftsmodellen und Geschäftsprozessen
profitieren. Die erfolgreiche Begegnung der beiden Disziplinen setzt gegenseitig das
Verständnis für die unterschiedlichen Gestaltungsprozesse voraus.

     Die zunehmende Bedeutung intangibler Güter, der verbreitete Einsatz der
Infor mations- und Kommunikationstechnologien in unserer Gesellschaft werden mit
Sicherheit die Relevanz der Kombination von Design mit E-Business und E-Govern-
ment anheben.

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