"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist" (David Ben Gurion)
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„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“ (David Ben Gurion) (Vortrag von Schuldekan Dr. Heinz-Martin Döpp anlässlich der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in der Metropolregion Rhein-Neckar und der Übergabe der Abrahampokale 2008) Es gilt das gesprochene Wort. Liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Frau Marhöfer, sehr geehrte Frau Dr. Lohse, sehr geehrter Herr Dr. Kurz, sehr geehrte Gäste! „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Es ist ein Zitat von David Ben Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten Israels, das dieses Jahr zum Motto der Woche der Brüderlichkeit erklärt wurde. Ausgewählt, weil sich in diesem Jahr die Gründung des Staates Israel zum 60. Mal jährt. „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Dieser Ausspruch ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. Vielleicht, weil es zwei Dinge zusammen bindet, die eigentlich kaum vereinbar scheinen, und dennoch zwei Pole bezeichnet, zwischen denen sich das Leben abspielt. Wunder und Realismus – wie passt das zusammen? Können Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen, an Wunder glauben? Oder brauchen wir nicht gerade beides: Realismus und den festen Glauben an Wunder? Wer ein wenig weiß oder nachliest über die Entstehung des Staates Israel, der mag nachvollziehen, in welchem konkreten Zusammenhang das Zitat von Ben Gurion seinen Ursprung hat. Als am 14. Mai 1948 der Staat Israel seine Unabhängigkeit erklärte, grenzte es tatsächlich an ein Wunder, dass das möglich war: • nach 2000 Jahren der Zerstreuung und zahlenmäßig nur geringen Präsenz von Juden in Israel wieder ein Staat mit dem Namen Israel, anerkannt von der Vollversammlung der Vereinten Nationen • ein lebens- und überlebensfähiger Staat in scheinbar unbewohnbaren Gebieten. Denn das waren weitgehend die Territorien, die die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1947 der jüdischen Bevölkerung im Mandatsgebiet Palästina zugestand • und schließlich das Wiedererstehen der hebräische Sprache, des Ivrit, als Umgangssprache in einem eigenen Staat. Aber: Was aus Sicht von David Ben Gurion als Wunder schien, hatte viel mit Realitätssinn zu tun, nämlich mit diplomatischem Geschick, mit schwerer Aufbauarbeit, mit viel Einsatz. Und das alles geschah zu einem Zeitpunkt als die religiöse Sehnsucht nach Zion, das Aufkommen des modernen Nationalismus und die Erfahrung des Antisemitismus zusammen kamen. 1
Der moderne demokratische Staat, der 1948 in der alt-neuen Heimat proklamiert wurde, nennt sich Israel (hebräisch medinat jisrael = Staat Israel) und erwählte bewusst diesen Namen im Hinblick auf das religiös-politische Erbe. Israel, der Ehrenname, den Gott selber nach biblischem Zeugnis dem Erzvater Jakob verliehen hat (Gen 32,29). Der Name verpflichtet. Israel ist der Ruf, für Gott zu streiten, und das meint nach jüdischer Tradition für die Werte einer rechten Menschlichkeit gemäß der Tora, der Weisung wie sie Gott dem Volk Israel vorgelegt hat. Diese Verbundenheit zur Geschichte und religiösen Tradition drückt sich auch aus in den ersten Worten der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vom 14. Mai 1948 (5. Ijar 5708): „Im Lande Israel bestand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es seine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher (...) Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit. Beseelt von der Kraft der Geschichte und Überlieferung, suchten Juden aller Generationen in ihrem alten Lande wieder Fuß zu fassen.“ Und heute: 60 Jahre Israel – ein wenig älter als die Bundesrepublik Deutschland! 60 Jahre Israel – jenseits aller Tagespolitik ein Grund zur Freude. Denn: • Israel ist eben nicht nur verbunden mit Konflikten, Gewalt, Bomben, Raketen und Krieg. Israel ist mehr als Nahostkonflikt, Sperrmauer, besetzte Gebiete, fanatische Siedler und Selbstmordattentäter. • Israel, das ist eine funktionierende Demokratie. • Israel ist eine wirtschaftlich starke Kraft mit einer führenden Rolle in den modernen Technologien. • Israel, das ist eine bunte Gesellschaft, in der Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländer zusammen leben. • Israel, das ist eine kulturell blühende und lebendige Gesellschaft, voller Kreativität in Musik, Tanz, Literatur und Film. • Israel, ein Staat, unter dessen Dach sich die breite Vielfalt jüdischen Lebens wieder findet und entfaltet und Menschen mit unterschiedlichen Religionen leben. Ja, wenn ich mir diese Entwicklung und diese Lebendigkeit in Israel vor Augen führe, dann ist das schon ein Grund zum Staunen. Israel hat in nur 60 Jahren seine Bevölkerung verzwölffacht. Was da an Aufbauleistung geleistet wurde, ist enorm. 2
Der Staat bzw. die Menschen in dem Staat mussten zugleich eine ungeheure Integrationsarbeit leisten: Aus einer Mischung aus Jekkes aus Deutschland, Jemeniten, Marokkanern, Amerikanern, Franzosen, Südamerikanern, Irakern, Osteuropäern usw. sollte und soll die neue israelische Gesellschaft und eine gemeinsame Identität entstehen. Was für eine Aufgabe! Ganz sicher ist man der Verwirklichung dieses Zieles in den ersten 60 Jahren ein Stück näher gekommen, doch der Traum vom Schmelztiegel bleibt nach wie vor ein Traum. Es gibt Benachteiligungen und nicht alles ist glatt gelaufen bei der Integration. Und vielleicht stimmt es auch, was manche sagen: Die Integration von Juden aus aller Welt ist so aufreibend, dass die Integration von Arabern (noch) eine Überforderung darstellt. Wichtig und unbestritten ist: Die Gründung des Staates Israel hat eines der großen Probleme im modernen jüdischen Leben gelöst: Eine Heimstatt zu bieten für jüdische Menschen – gerade auch angesichts der Jahrhunderte langen weltweiten antisemitischen Politik und der Schoa, für die wir als Deutsche die Verantwortung tragen. Im selben Augenblick jedoch hat die Gründung des Staates neue Probleme geschaffen und neue Fragen aufgeworfen: Innerhalb der jüdischen Gesellschaft bei der Frage nach der Gestaltung eines jüdischen Staates, zwischen Juden in Israel und Juden in der Diaspora über die Bedeutung eines Lebens in Israel und schließlich auch zwischen Juden und Nichtjuden im Land selber. Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl von Problemen, vor die sich die israelische Gesellschaft gestellt sieht. Da gibt es das Problem des Wassers und das der Demographie. Da gibt es das Problem Jerusalems und die Frage sicherer Grenzen. Wahrlich kein Traumjob, Politiker oder Politikerin in Israel zu sein – zumal eben eines fehlt: nämlich Frieden. Aber es gibt sie, die Bemühung um den Frieden. Seit Jahrzehnten eine nicht verstummende Friedensbewegung. Seit Jahrzehnten Friedensprojekte jenseits aller Tagespolitik. Sicher: Die Geschichte Israels und des Nahen Ostens ist bei aller Anerkennung der Leistung leider auch eine Geschichte der verpassten Möglichkeiten. Dabei scheint mir das Hauptproblem der Mangel an gegenseitigem Vertrauen und das Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit der anderen Seite zu sein. Aber es wäre fatal, die vielen kleinen Schritte hin zur Verständigung und Versöhnung nicht wahrzunehmen und zu unterstützen. Wichtig ist es, vor lauter großen Problemen nicht die Chancen zu übersehen, die in Bildung, Begegnung und Dialog stecken. Wer miteinander redet, schießt nicht aufeinander. 3
60 Jahre Israel: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Was können wir heute daraus lernen? Ich meine: • Wir Menschen brauchen Ziele vor Augen. Die mögen hoch gesteckt sein. Aber ohne Visionen von einem anderen, von einem besseren, von einem selbstbestimmten Leben in Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit fehlt uns etwas Entscheidendes zum Leben. • Hat man aber eine Vision vor Augen, dann reicht es nicht, die Hände in den Schoß zu legen und auf das Wunder zu hoffen, dass sich alles von selbst einstellt. • Man muss sich dafür einsetzen, mit Leib und Seele – und gute Politik machen, selber kleine Schritte überlegen und auch gehen auf das große Ziel zu. Unerschütterlich. Unbeirrt. • Und: Man muss die Gunst der Stunde nutzen. • Aber das Beispiel Israel zeigt: auch mit einer Staatsgründung ist es nicht getan. Eine Staatsgründung ist Verantwortung und fortwährende Herausforderung. Da gibt es jeden Tag neu viel zu tun, um dem Ziel nachzukommen gute Nachbarschaft zu pflegen und in Frieden nach innen und außen zu leben. Mit der Staatsgründung fängt die Arbeit eigentlich erst richtig an. Nun ist es aber nicht unsere Aufgabe, Politik in Israel zu machen und zu bewerten. Wie sollte das auch gehen? Da wird schon innerhalb der israelischen Gesellschaft wie auch in der palästinensischen Gesellschaft heftig gestritten und gerungen. Aber in Solidarität mit den Menschen meine ich, haben wir hier eine doppelte Aufgabe: A) Zunächst haben wir hier eine Aufgabe im Blick auf Israel und den Nahen Osten, nämlich: • uns um angemessene Berichterstattung zu kümmern • Partnerschaften und Jugendaustausch zu fördern und zu pflegen • unser Augenmerk zu richten auf all die kleinen Schritte hin zu einem Frieden, davon zu reden und die Menschen vor Ort durch Interesse und Anerkennung zu unterstützen in ihrer unendlich wichtigen Arbeit • Vorurteilen etwas entgegen zu setzen und uns selber genau zu überlegen, was dem Frieden dient • und schließlich das Existenzrecht Israels in der Völkergemeinschaft ebenso als selbstverständlich zu nehmen wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. 4
B) Noch wichtiger aber scheint mir unsere Aufgabe hier, in unserem Land, im Blick auf das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen. Da gibt es viel zu tun. Und da wird zum Glück auch viel getan. Wir stehen alle zusammen vor der bleibenden Aufgabe: • für gute Nachbarschaft zwischen Juden, Christen und Muslimen hier zu sorgen • uns hier für Integration und ein friedvolles Zusammenleben einzusetzen. Mit Wort und Tat. • und nicht die Chancen zu übersehen, die in Bildung, Begegnung und Dialog stecken. Der Abraham-Pokal ist eine solche Gelegenheit, • sich Gedanken zu machen über unser Zusammenleben, • über unsere Möglichkeiten, Integration zu fördern, • über unsere Verantwortung, ein friedvolles Miteinander zu gestalten – in Respekt voreinander und in Anerkennung der je verschiedenen Traditionen. Für mich ist es immer wieder neu beeindruckend, auf welche Ideen Jugendliche und junge Erwachsene an den Schulen der Metropolregion im Rahmen des Abraham- Pokals kommen. Das ist ein Weg, den es zu beschreiten lohnt. So kann auf Dauer etwas wachsen. Und dafür gebührt all denjenigen, die sich dies Konzept ausgedacht, und all denjenigen, die dies Konzept an den Schulen umgesetzt haben, aufrichtiger Dank! Was uns alle – Juden, Christen und Muslime – verbindet, ist die Vision von Frieden und Gerechtigkeit. Mit dieser Vision im Kopf höre ich die Worte David Ben Gurions als Ermutigung, voranzuschreiten und nicht nachzulassen: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Das heißt also: Mit dem Wünschenswerten vor Augen das Mögliche tun. Viel hängt von uns selber und unserer Einstellung ab. Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Auch nicht das tatenlose Warten auf Wunder. So hat es die jüdische Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988) in einem Gedicht mahnend festgehalten: Wir warten auf Wunder Sprechen uns frei von Schuld Sprechen die anderen schuldig Wir lassen uns treiben vom Wind Er lässt uns fallen Das Wunder wartet auf uns. Rose Ausländer Das Wunder wartet, in: Dies., Hinter allen Worten. Gedichte 1980-1981 (Gesammelte Werke in sieben Bänden), hrsg. von Helmut Braun, Frankfurt am Main 1992, S. 9 5
Das Wunder wartet auf uns und unser Tun! „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Das heißt also: Mit dem Wünschenswerten vor Augen das Mögliche tun. Und sich gut biblisch beschenken lassen von dem Segen Gottes. Tun wir, was wir können, und freuen uns in diesen Tagen mit den Menschen in Israel über die Chancen, die sich mit der Staatsgründung vor 60 Jahren ergeben haben. Masel Tov LeMedinat Jisrael – und uns allen viel Erfolg bei unseren Bemühungen um Frieden, Gerechtigkeit und Integration hier in der Metropolregion. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 6
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