DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME - EINE ZEITGEMÄSSE ENTOMOLOGISCHE ARCHITEKTUR - Brill
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Jussi Parikka DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME EINE ZEITGEMÄSSE ENTOMOLOGISCHE ARCHITEKTUR »Kein denkender Mensch betrachtet die Verwicke- lung und dabey die Regelmäßigkeit und Thätigkeit einer großen Anstalt, wie z. B. der Bank von England oder des Postwesens, ohne sich zu wundern, daß selbst die menschliche Vernunft im Stande ist, mit so wenig Reibung und so geringen Abweichungen vom richtigen Gange, Maschinen zusammenzu- setzen, deren Räder nicht aus Holz und Eisen, sondern aus hinfälligen Sterblichen und Tausend verschiedenen Neigungen, Kräften und Fähigkeiten bestehen. Wenn aber solche Anstalten, welche doch die Vernunft in Bewegung setzt, überraschen; wie viel mehr muß dieses ein Bienenstock thun, in dem alle Geschäfte nur von Instincten geleitet werden!« William Kirby und William Spence1 Schwärme, Emergenz und verteilte Netzwerke sind Schlag- worte, die wir in erster Linie mit der jüngeren Netz(werk)kultur in 1 William Kirby und William Spence, Einleitung in die Entomologie oder Elemente der Naturgeschichte der Insecten [1815], aus dem Engli- schen von Lorenz Oken, Bd. 2, Stuttgart 1823, S. 367 f. Fremdsprachige Zitate werden im Folgenden durchgängig in deutscher Übersetzung gegeben. Soweit wie möglich wird dabei auf bereits vorliegende Übertragungen ins Deutsche zurückgegriffen. Wo sich keine einschlä- gigen deutschen Ausgaben ermitteln ließen, erfolgt die Übersetzung unmittelbar aus dem jeweiligen Ausgangstext [A. d. Ü.]. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
162 JUSSI PARIKKA Verbindung bringen.2 Von Gehirnen zu Computersystemen, von der Welt der Insekten bis zur Philosophie wimmelt es von ihnen – sie überschreiten Disziplingrenzen. In diesem Beitrag möchte ich die Rolle beleuchten, die soziale Insekten und ihre architektoni- schen Schöpfungen in Diskursen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts gespielt haben. Wie sich zeigen wird, wurden die Kräfte der Natur in diesen Diskursen als immanente Instan- zen begriffen, die sich nach Maßgabe bestimmter Singularitäten organisierten und denen häufig ein intrinsisch mathematischer Charakter attestiert wurde. Insekten und Natur wurden als Geo- meter und Mathematiker angesehen – und manchmal auch als eine Art technische Zeichner. Damit ist ein interessanter Hinter- grund gegeben, der nicht zuletzt für die laufenden Debatten über Evolution, Schwärme und die Biopolitik der Gegenwartskultur aufschlussreich sein dürfte. Zwar diente die Einordnung und Kon- textualisierung von Insektenorganisation im fraglichen Zeitraum nicht selten zum Rückhalt von fordistischen Vorstellungen einer entlang hierarchischer Beziehungen organisierten Gesellschaft. Zugleich allerdings war auch das Interesse an Schwärmen und emergenter Organisation bereits Bestandteil einer Reihe von Forschungsfeldern des frühen 20. Jahrhunderts. In dem Maße wie sich der Blickpunkt im Folgenden von der Darstellung der Insek- tenarchitektur als einer Naturkraft zu Schwärmen und verwandten Konzepten verlagert, wird sich daher zeigen, dass die Begeisterung der vergangenen Jahre für solche verteilten Kollektivitäten auf eine Zeit zurückgeht, die deutlich vor der technologischen Kultur der Gegenwart liegt. Mehr noch: Es wird sich zeigen, dass die Ver- kopplung der Natur mit dem Technokapitalismus der vergangenen Jahre in diskursiver Hinsicht auf einer deutlich früheren Phase der Entomologie beruht. Eine Kartierung dieser Schicht ermöglicht dabei ein tieferes Verständnis der Genealogie des aktuellen In- teresses an Schwärmen. Denn wenn man die zentrale politische und organisatorische Agenda der technologischen Kultur der Ge- genwart als ein Unternehmen begreift, das in erheblichem Ausmaß auf der Insektenfrage beruht, so gilt es in der Tat die Prozesse 2 Eine frühere Fassung dieses Textes erschien als Kapitel 2 von Jussi Parikka, Insect Media. An Archaeology of Animals and Technology, Minneapolis/London 2010. Für die Erlaubnis zur Publikation dieser überarbeiteten Version in deutscher Sprache möchten wir uns herz- lich bedanken. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 163 genauer unter die Lupe zu nehmen, durch die Insekten allmählich zu einem integralen Bestandteil der Medienkultur geworden sind, in Leitvorstellungen der Körperpolitik Eingang gefunden haben und zum Gegenstand diagrammatischer Vereinnahmungen von ›Animalität‹ als Affekt oder Intensität gemacht worden sind. I. EVOLUTIONÄRE MACHT In den vergangenen Jahrzehnten war die Netzwerkkultur in vielfältiger Form um eine Aneignung der im 19. Jahrhundert geführten Diskurse zur Evolution und den Kräften der Natur be- müht. Neben vielen anderen Kontexten, die selbstassemblierende Roboter und Schwarmkunst einschlossen, wurden Schwärme als Optimierungsmaschinen im Sinne einer Neuauflage des Botenpro- blems begriffen. Eine Reihe von Ansätzen, die auf die eine oder andere Art und Weise das Potential einkalkulierten, das in unge- steuertem, unkontrolliertem Verhalten liegen kann, ließ dieses nicht mehr als das Ur-Übel rationaler Systeme, sondern vielmehr als erfolgversprechendes Modell der Programmierung und Orga- nisation erscheinen.3 Der Gedanke, dass Tiere so etwas wie einen ›Speicher voller Erfindungen‹ verkörperten, wurde für eine Reihe von neodarwi- nistischen Autoren – wie etwa Kevin Kelly, den Hauptbefürworter einer neobiologischen Wende in der digitalen Kultur der 1990er Jahre – geradezu zur Leitvorstellung. Diese Autoren und Wissen- schaftler schlossen sich der Einsicht aus der Neuen KI und KL an, dass der Weg zum Verständnis – und zur Erzeugung – von komple- xem Verhalten notwendig über die einfachen Lebewesen und die 3 Für eine eingehendere Darstellung vgl. John Johnston, The Allure of Machinic Life. Cybernetics, Artificial Life, and the New AI, Cambridge, MA/London 2008, S. 375–384. Zu den Unterschieden zwischen na- türlichen und künstlich erzeugten Schwärmen und den Vorteilen, die erstere den letzteren voraus haben können, haben sich zeitgenössische Künstler wie Ralf Schreiber (mit Blick auf seine autonome audio- kinetische Installation Living Particles, version 45) dabei etwa wie folgt geäußert: »Allerdings sind die Schwarmgeräusche lebender Popula- tionen für gewöhnlich sehr viel intensiver, weil die Produktion von Geräuschen und insbesondere die Erzeugung maximaler Lautstärke und maximaler Intensität bereits über Millionen von Jahren der Evo- lution ausgesetzt gewesen sind.« (Alessandro Ludovico, »Interview with Ralf Schreiber«, in: Neural IT 32 [2009], S. 15–18, hier: S. 18) Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
164 JUSSI PARIKKA Macht der Evolution zu führen habe. In Folge der Begeisterung für den Cyborg sah man Natur und Evolution als Schlüsselmodelle der Innovation an: »Die Natur des Lebens ist es, auf allen möglichen Umwegen Freude zu bereiten. Sie verletzt alle Regeln, die sie aufstellt. Nehmen wir zum Beispiel folgende biologische Kuriositäten: ein Fischweibchen, das von einem Männchen befruchtet wird, das in ihr lebt. Organismen, die kleiner werden, wenn sie wachsen. Pflanzen, die nie sterben. Biologisches Leben ist ein Zauberladen, in dem die Regale nie leer sind. Tatsächlich ist der Katalog der natürlichen Seltsamkeiten fast so lang, wie die Liste aller Kreaturen; jedes Geschöpf kriegt das Leben auf irgendeine Art geregelt [hacking a living], indem es die Regeln neu auslegt.«4 Für Kelly, der sich hier auf KL-Forscher der 1990er Jahre wie Thomas Ray bezieht, liegt der Schlüssel zum Verständnis von kreativen Schüben in natürlichen und künstlichen Systemen in der Kraft der natürlichen Evolution (zufällige Variation plus Selektion). Menschliche Erfindungen erscheinen aus diesem Blickwinkel als etwas, das ausschließlich festgesetzten Zwecken dient und ein bloßer Reflex der Vorstellungen ihres Urhebers ist, wohingegen die Natur auf Zwecke und Formen hinarbeitet, an die vorher überhaupt nicht zu denken war. Natur ist, so legt das Zitat nahe, der ultimative ›Zauberladen‹ und ›reality hacker‹. Das klingt sehr nach Richard Dawkins’ Formulierung aus dem Jahre 1986, wonach natürliche Auslese einem blinden Uhrmacher gleicht, weil sie »nicht vorhersieht, weil sie keine Konsequenzen plant, keinen Zweck im Sinn hat« und dennoch in der Lage ist, die ausgeklügeltsten Entwürfe aus dem Ärmel zu schütteln.5 Für Kelly ist diese Naturkraft der Auslöser der Begeisterung für die unterschiedlichen Spielarten genetischer Algorithmen und Formen 4 Kevin Kelly, Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirt- schaft, Technik und Gesellschaft. Mit einem Nachwort des Autors zur deut- schen Ausgabe [1994], aus dem Amerikanischen von Martin Baltes, Fritz Böhler, Rainer Höltschl und Jürgen Reuß, Mannheim 1997, S. 477. 5 Richard Dawkins, Der blinde Uhrmacher. Ein neues Plädoyer für den Darwinismus [1986], aus dem Englischen von Karin de Sousa Ferreira, München 1987, S. 35. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 165 evolutionärer Programmierung, die sich auf die Kraft unendlicher Variation stützen. Und nimmt man wiederum Kelly als Index der Begeisterung für bioanaloge Programmierung, so »eignet sich Evolution für drei Dinge«: » – An einen Ort zu kommen, wohin man den Weg nicht findet – An einen Ort zu kommen, den man sich nicht vorstellen kann – Völlig neue Orte zu erschließen, zu denen man gelangen kann.«6 Evolution wird als ein Vorgang begriffen, der aufgrund seiner nicht-teleologischen Natur das im bewussten Entwurf gebundene Vorstellungsvermögen deterritorialisiert. Allerdings funktioniert Evolution für die Befürworter des Neobiologismus durchaus parallel zur Logik eines einfallsreichen Kapitalismus und der Produktion von Neuheit. Im Kapitalismus eine Naturkraft zu sehen, ist zwar keineswegs ein neuer Gedanke, doch gab ihm der Netzwerkkapi- talismus der Jahrtausendwende insofern eine neue Wendung, als er den Gedanken einer radikal ökologisch inspirierten Neuheit mit in sein Repertoire aufnahm. Wenn es darum geht, das wandelnde Gesicht des Kapitalismus abzubilden, so gilt es seine spezifische Be- ziehung zu Modi der Differenzierung, Evolution und Kreativität zu verstehen; in seiner gegenwärtigen Form funktioniert Kapitalismus genau durch diese Kreationen, Imaginationen und Zu- und Unfälle, die seiner algorithmischen Perfektionsmaschine als integrale Be- standteile inkorporiert sind.7 Insofern kann es nicht überraschen, dass ›Schwarmlogik‹ auch bei der Analyse von spekulativen Märk- ten im Zeitalter der globalen Geldströme zur Anwendung gekom- men ist, wo individuelle rationale Modelle zusehends dynamischen sozioökologischen Modellen Platz zu machen scheinen.8 Will man Aufschluss über die Genealogie von Schwärmen und insektoiden Organisationweisen erhalten, dann ist es unabdingbar, 6 Kelly, Das Ende der Kontrolle (wie Anm. 4), S. 480. 7 Über Zu- und Unfälle und »viralen Kapitalismus« vgl. Jussi Parikka, Digital Contagions. A Media Archaeology of Computer Viruses, New York 2007. 8 Christian Nottola, Frédéric Leroy und Franck Davalo, »Dynamics of Artificial Markets. Speculative Markets and Emerging ›Common Sense‹ Knowledge«, in: Francisco J. Varela und Paul Bourgine (Hg.), Toward a Practice of Autonomous Systems. Proceedings of the First European Con- ference on Artificial Life, Cambridge, MA/London 1992, S. 185–194. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
166 JUSSI PARIKKA nach früheren Stadien der Vorstellung zu graben, der zufolge die immanenten Kräfte der Natur eine Technik der Natur heran- zuzüchten vermögen, die die Technik des bewussten Entwurfs letztlich überflügelt. Mindestens genauso wichtig ist es allerdings, darauf hinzuweisen, dass in diesen Ideen das Potential liegt, weit mehr als bloße Weberknechte des Netzwerkkapitalismus zu sein. Nehmen wir zum Beispiel Darwin. Natur ist eine Art Perfektions- maschine, die (Organ-)Gebilde und (Lebens-)Gewohnheiten sukzessive in eine Resonanz hineinregelt.9 Natürliche Auslese vollzieht sich nicht auf Grundlage eines vor-ausgelesenen Ziels sondern über dem Abgrund einer Potentialität unbekannter Zu- künfte. Diese schwindelerregende Zukünftigkeit macht den Kern radikaler evolutionärer Gedanken aus. Natürlich geht es mir hier nicht darum, Darwins Theorien in ihrer vollen Komplexität zu thematisieren (weshalb etwa die Bedeutung der sexuellen Auslese außer Betracht bleibt, die für sich allein schon eine mächtige Ma- schine zur Produktion von Unterschieden in den Empfindungen, Fortbewegungsarten und Affekten darstellt), und ebenso wenig um ihre Inkonsistenzen und Unzulänglichkeiten, sondern um eine umfassendere zeitliche Sicht auf Evolution und Schöpfung, auf die Elizabeth Grosz vor einiger Zeit die Aufmerksamkeit ge- lenkt hat.10 Für Darwin besteht der entscheidende Unterschied zwischen künstlicher »Nachzucht« und natürlicher »Zuchtwahl« darin, dass der Mensch »nur auf äuszerliche und sichtbare Charactere wirken [kann]; die Natur (wenn es gestattet ist, so die natürliche Erhaltung 9 Dies impliziert etwa die folgende Aussage Darwins: »Wenn wir ein Organ vollkommen für eine besondere Gewohnheit ausgebildet sehen, wie eben die Flügel des Vogels für den Flug, so müssen wir be- denken, dasz Thiere, welche frühe Übergangsstufen solcher Bildun- gen zeigen, selten noch bis in die Jetztzeit erhalten sein werden; denn sie werden durch ihre Nachkommen verdrängt worden sein, welche mittelst natürlicher Zuchtwahl allmählich vollkommen geworden sind.« Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Da- sein, nach der 6. engl. Aufl. von 1872 aus dem Englischen von Heinrich Georg Bronn und Julius Victor Carus, 6. Aufl., Stuttgart 1876, S. 203 (Übersetzung leicht modifiziert). 10 Vgl. Elizabeth Grosz, The Nick of Time: Politics, Evolution and the Untimely, Durham/London 2004. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 167 oder das Überleben des Passendsten zu personificiren) fragt nicht nach dem Aussehen, auszer wo es irgend einem Wesen nützlich sein kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf jede Schattirung einer constitutionellen Verschiedenheit, auf die ganze Maschinerie des Lebens wirken.«11 Diese inwendig wirksame Kraft der Natur geht auf eine nicht- menschliche Weise vor und lässt sich auch als immanente Kraft begreifen: »Der Mensch wählt nur zu seinem eigenen Nutzen; die Natur nur zum Nutzen des Wesens, das sie erzieht. Jeder von ihr aus- gewählte Character wird daher in voller Thätigkeit erhalten, wie schon in der Thatsache seiner Auswahl liegt.«12 Für Henri Bergson hingegen erwies sich Darwins Begriff der Anpassung insofern als inadäquat als er letztlich die Passivität der lebenden Organismen voraussetzte. Organismen passen sich nicht etwa einseitig an eine Umwelt an, vielmehr sind beide beständig in einem Prozess wechselseitiger Aushandlungen oder einem Werden begriffen. Es gibt keine vorgestanzten Formen oder Model, in die das Leben hineinpassen würde oder denen es sich anpassen müss- te. Vielmehr besteht Evolution je in der Schöpfung von Welten.13 Leben kennt kein Ende, weiß Bergson – und gibt zu verstehen, dass Leben als ungerichtetes Streben und unvorhersehbare Differen- zierung zu denken ist.14 Ungeachtet der scheinbaren Harmonie im Ganzen stellt sich im Einzelnen fortlaufend ein Potential an neuen Organisationsweisen des Lebens und folglich für neue Modi der Affektion, Perzeption und Lokomotion ein.15 11 Darwin, Über die Entstehung der Arten (wie Anm. 9), S. 104. 12 Ebd. 13 Henri Bergson, Schöpferische Evolution [1907], aus dem Französi- schen von Margarethe Drewsen, Hamburg 2013, S. 74. 14 In diesem Sinne schreibt er etwa: »Das Leben in seiner Gesamt- heit, als eine schöpferische Evolution betrachtet, [...] transzendiert die Finalität, wenn man unter Finalität die Verwirklichung einer im voraus gedachten oder denkbaren Idee versteht. Der Rahmen der Finalität ist also für das Leben in seiner Gesamtheit zu eng.« (ebd., S. 256; vgl. auch die Parallelstelle ebd., S. 300) 15 Ebd., S. 56 f. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
168 JUSSI PARIKKA Bezeichnenderweise stand diese immanente Kraft der Natur, die mit jeweils unterschiedlichen Nuancierungen sowohl Darwin als auch Bergson identifiziert hatten, zugleich auch mit dem ins- gesamt älteren Motiv der Insektentechnik im Zusammenhang.16 Denn auch wenn der Akzent bislang vor allem auf der Emergenz von Konzepten von Evolution als seltsamen Arten immanenter Weltmaschinen gelegen hat, die vermittels fortlaufenden Son- dierens und Austestens beständig nach passenderen Formen des Lebens Ausschau halten, so sind die Ursprünge der Auffassung von einfachen Lebensformen als einer selbstorganisierenden Kraft tatsächlich bereits früher zu finden. So kommen etwa schon William Kirby und William Spence in ihrer zwischen 1815 und 1818 publizierten Introduction to Entomology auf die Innovativität bei der Anpassung an Umweltdrücke zu sprechen. Wie sie hervorheben, sind Instinkte weder das Resultat eines Systems von Maschinen noch eines dem Gehirn eingeprägten Modells, und auch nicht auf den Impuls einer Gottheit oder der Vernunft zurückzuführen – um nur einige der angeführten Alternativen zu nennen.17 Vielmehr sind sie für Kirby und Spence Vermögen, die der Schöpfer den Tieren eingepflanzt hat und die als solche dazu beitragen, die Art und das Individuum zu erhalten. Um diese Position von einer Reihe mechanisch oder automa- tisch ablaufender Handlungen abzugrenzen, betonen Kirby und Spence die Bedeutung von Abweichungen und der entsprechenden Anpassung an die Umstände.18 Ihrer Analyse zufolge sind die »grö- ßeren Thiere« relativ stark an ihre Gewohnheiten und körperlichen Appetenzen gebunden. Deshalb reagieren sie auf außergewöhnli- che Umstände zumeist ausgesprochen unflexibel: »Wenn einem Vogel das Nest vom Busch geworfen worden, so versucht er doch nicht es wieder an die alte Stelle zu bringen, wenn es auch gleich ganz unversehrt daneben liegt, sondern baut ganz geduldig wieder ein anderes.« 16 Vgl. hierzu ausführlicher Jussi Parikka, »Insect Technics. Intensi- ties of Animal Bodies«, in: Bernd Herzogenrath (Hg.), An (Un)Likely Alliance. Thinking Environment(s) with Deleuze/Guattari, Newcastle 2008, S. 339–362. 17 Kirby und Spence, Einleitung in die Entomologie (wie Anm. 1), S. 526 f. 18 Ebd., S. 530 f. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 169 Anders verhält es sich hingegen mit den Insekten: »Kerfe aber wissen bey gleichen Unglücksfällen sich auf die sinnreichste Art zu helfen, und ihre Instincte auf eine überraschende Art den neuen Umständen, in die sie versetzt worden, anzupassen, auf eine Art, welche wundervoller und unbegreiflicher ist, als das Daseyn dieser Instincte selbst.«19 Insekten waren für Kirby und Spence Maschinen, die auf- grund ihrer Fähigkeit, sich im Falle einer Störung selbst wiederher- zustellen, andere sinnreich erfundene Maschinen – wie etwa einen Webstuhl – klar in den Schatten stellten. Als innige Bestandteile einer veränderlichen Umwelt zu Abweichung und Anpassung in der Lage zu sein, war für die beiden Entomologen zweifellos der Insekten vornehmster Zug. II. NATÜRLICHE GEOMETER Eine Reihe von Autoren, die sich mit Insekten befassen, aber auch Mediendesigner und Raumgestalter, sehen in Insekten na- türliche Geometer. Wo Insekten ins Spiel kommen, ist die mathe- matische Präzision von Architektur, Planung und Anpassung nicht länger auf das Vermögen einer Intelligenz beschränkt, die der Ma- terie eine Form auferlegt. Vielmehr findet sie ihren eigentlichen Ort in einfachem Leben, das seine Umwelt zu einem Habitat (selbst-) organisiert. Bienen sind ein geeignetes Beispiel, das von einer Reihe von Autoren – darunter Kirby und Spence – bemüht wird, insofern sie von Natur aus geometrische Architektinnen zu sein scheinen. Wie Kirby und Spence darlegen, wird das Fundament der Waben stets am oberen Ende des Stocks gelegt und der Bau anschließend nach unten fortgesetzt. Das Muster wiederholt sich mit geradezu mathematischer Präzision. Die Waben befinden sich exakt in einem Abstand von einem Drittel Zoll zueinander. Entsprechend jahres- zeitlicher Schwankungen werden die Waben angepasst: »Wenn bey der Annäherung des Winters ihre Honigzellen nicht zahlreich genug sind um allen Vorrath zu fassen, so ver- längern sie dieselben beträchtlich und vermehren auf diese Art ihr Lichtes [sic!]: durch diese Ausdehnung werden die Räume 19 Ebd., S. 531. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
170 JUSSI PARIKKA zwischen den Waben unvermeidlich enger; aber im Winter sind wohlversehene Magazine nothwendig, während geräumi- ge Gänge wegen ihrer verhältnismäßig geringeren Thätigkeit es weniger sind. Bey der Wiederkehr des Frühlings, wo die Zellen zur Aufnahme der Eyer nöthig werden, machen die Bienen ihre verlängerten Zellen wieder so kurz, wie sie vorher gewesen, und stellen so zwischen den Waben den Raum wie- der her, welchen die Sorge für ihre Brut erfordert.«20 Die Waben und die Beute atmen, leben mit dem, was sie um- gibt, und bilden eine transduktive Membran und nicht etwa einen geschlossenen Raum. Die Analyse der Bienenarchitektur macht deutlich, dass das Leben der Insekten als ein Leben vorgestellt wird, das das Außen (materielle Elemente, die zum Nestbau be- nutzt werden, jahreszeitliche Temperaturschwankungen etc.) als integralen Bestandteil in das architektonische Innen hineinfaltet. Der Ethologe Jacob von Uexküll kam 1940 in seiner Bedeutungs- lehre, die die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Arbeit in ge- drängter Form zusammenfasste, zu einem ähnlichen Schluss, als er zeigte, dass Tiere und Pflanzen sich aus ihren Körpern »lebendige Häuser« bauen, die in ein Kontinuum mit ihrer Umgebung einge- bunden sind.21 Später, in den 1960ern, erinnerte Lewis Mumford daran, dass Tiere von Insekten über Vögel bis hin zu Säugern 20 Ebd., S. 539. Hier gilt es freilich auf einen wichtigen Unterschied zu Bergson hinweisen, der betont, dass die Natur sich der Präzisi- on der Mathematik und Geometrie nähert, sich aber nicht auf sie reduzieren lässt. Vielmehr handelt es sich bei diesen um bloße wis- senschaftliche Nachvollzüge der der Natur innewohnenden schöp- ferischen Evolution, die nicht durch irgendwelche (von Menschen aufgestellte) Gesetze, wie etwa die der Physik, beschränkt wird. Dies hängt mit dem Gedanken zusammen, dass schöpferische Evolution ›Finalität transzendiert‹ (vgl. Anmerkung 14). Es handelt sich um das Vitale, das der Differenzmaschine der Natur innewohnt, ein Muster, das genauso ausgeklügelt wie ein mathematisches zu sein scheint, es als schöpferisches Unternehmen in Wirklichkeit aber überschreitet. Vgl. Bergson, Schöpferische Evolution (wie Anm. 13), S. 248–256. 21 Jacob von Uexküll, »Bedeutungslehre« (1940), in: ders., Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Hamburg 1956, S. 103–161, hier: S. 110–112. Vgl. auch das Beispiel eines Rebenwicklers aus La Nature, der ein Blatt mit solcher Präzision zu einer zigarrenförmigen Behausung umarbeitet, dass er als natürlicher Geometer anzusehen ist. Lucien Iches, »Un Insecte Géomètre«, in: La Nature 30.2 (1902), Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 171 »mit ihren Nestern und Lauben, ihren geometrischen Bienen- waben, ihren stadtähnlichen Ameisen- und Termitenhügeln und ihren Biberbauten weit radikalere Neuerungen in der Herstellung von Behältern geschaffen haben als die Vorfah- ren des Menschen vor dem Auftreten des Homo sapiens in der Werkzeugherstellung.«22 Mumford allerdings kam sehr wohl zu dem Schluss, dass der Homo sapiens aufgrund seiner synthetischen Fähigkeiten zur Re- Organisation, zum Gebrauch von Symbolen und zur Lösung aus seiner unmittelbaren Umwelt dem Tier überlegen war. Anderer- seits verschwieg er in keiner Weise die schöpferischen Kräfte der Tierwelt. Technik als »Biotechnik« wurde von Mumford als expe- rimentelle Öffnung der organischen Fähigkeiten des Menschen für neue Rollen und neue Umweltbeziehungen begriffen, und auch wenn er das Thema tierischer Sondierungen selbst nicht eingehen- der entwickelte, so lässt sich sein Ansatz doch als eine verwandte ethologische Suche danach verstehen, was der organische Körper alles vermag, was er tun und was er nicht tun kann, und wie er in der Lage ist, sich seiner Umwelt gegenüber zu öffnen. Für Kirby und Spence war eine der besonders bemerkens- werten Eigenschaften der Bienenarchitektur auch ihre Fähigkeit, sich an ungewöhnliche Umstände anzupassen, ihre Toleranz gegenüber Anomalien. Im Anschluss an die vielzitierten Untersu- chungen des schweizerischen Entomologen François Huber aus dem frühen 19. Jahrhundert brachten sie den Gedanken ins Spiel, dass Irregularitäten im Falle der Bienenarchitektur womöglich gar nicht zufällig sind, sondern vielmehr – wenn man so will – ein handgreiflicher Beleg für die geschmeidige Faltung von Außen- und Innenseite. Entsprechend bedienten sie sich eines paradoxen Denkmanövers, das nach ihrem eigenen Bekunden eine Reihe von S. 180–182. Vgl. auch die anekdotische Notiz zu einem »Insekt, das zählt«: die Beschreibung eines Kreiselkäfers, der sich mit gerade- zu tänzerischer Präzision zu bewegen schien, indem er die Zahl seiner abwechselnd mit und gegen den Uhrzeigersinn erfolgenden Umdrehungen im Rahmen einer spezifischen Bewegungsfolge suk- zessive um jeweils genau eine Umdrehung verminderte. Julien Félix Delauney, »Un Insecte qui compte«, in: La Nature 27.2 (1899), S. 90. 22 Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht [1967], aus dem Amerikanischen von Liesl Nürenberger und Arpad Hälbig, Wien 1974, S. 15. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
172 JUSSI PARIKKA älteren Entomologen wie René-Antoine Ferchault de Réaumur und Charles Bonnet aller Wahrscheinlichkeit nach in ziemliches Erstaunen versetzt haben würde: »Wie würden sie aber erstaunt seyn, wenn sie gewußt hätten, daß ein Theil dieser Anomalien berechnet ist; daß hier so zu sagen eine bewegliche Harmonie in dem Mechanismus, durch welchen die Zellen mit einander verbunden werden, besteht! Wenn wegen Unvollkommenheit ihrer Organe oder Werkzeu- ge die Bienen manchmal einige ihrer Zellen ungleich machen oder zum Theil schlecht zusammenfügen; so zeigen sie doch dabey einiges Talent in der Verbesserung dieser Mängel und in der Ausgleichung einer Unregelmäßigkeit durch die ande- re: es ist aber bey weitem erstaunenswürdiger, daß sie ihre gewöhnliche Verfahrungsart zu verlassen wissen, wenn die Umstände den Bau von männlichen Zellen erfordern; daß sie die Größe und Gestalt eines jeden Stückes so abändern können, daß alles wieder zur regelmäßigen Ordnung zurück- kehrt; und daß sie, nachdem dreyßig oder vierzig männliche Zellenreihen erbaut sind, die regelmäßige Ordnung wieder verlassen und durch allmähliche Verkleinerung an dem Punct ankommen, von dem sie ausgegangen sind.«23 23 Kirby und Spence, Einleitung in die Entomologie (wie Anm. 1), S. 550 f. Auch Louis Figuier begreift Bienen in Les Insectes (1867) als Verkörperungen einer idealen Harmonie, hält dies jedoch nicht für einen Effekt mechanischer (instinktartiger) Gewohnheiten. Seiner Auffassung nach gehen Bienen mit einer Vorbedachtsamkeit zu Werk, die bereits auf Intelligenz schließen lässt. Wir könnten diese Vorbedachtsamkeit vielleicht als Sensitivität für Umwelttendenzen und als Singularität des Stockorganismus als emergentem Phänomen interpretieren. Figuier schreibt: »Der stets gleichförmige Bau ihrer Zellen ist, so sagt man, das Werk des Instinkts. Unter bestimmten Umständen wissen diese kleinen Architekten die ausgetretenen Pfade des Alltagstrotts allerdings durchaus zu verlassen, wobei sie sich freilich das Recht vorbehalten, zu gegebener Zeit wieder zu ihren angestammten Grundprinzipien zurückzukehren, durch die die Schönheit und Regelmäßigkeit ihrer Bauten sichergestellt wird. Und in der Tat hat man Bienen beobachtet, die von ihren üblichen Gewohnheiten abgewichen sind, um bestimmte Unregelmäßigkeiten zu bereinigen, die sich infolge eines Unglücks eingestellt hatten oder durch den Eingriff des Menschen herbeigeführt worden waren, der ihr Werk absichtlich in Unordnung versetzt hatte.« Louis Figuier, Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 173 Was Kirby und Spence in Erstaunen versetzte, war diese Fä- higkeit zwischen verschiedenen Formen und Modi der Konstrukti- on hin- und herzuwechseln. Bienenarchitektur wurde von ihnen als komplexes System begriffen, in das sowohl Regularitäten als auch Irregularitäten eingingen und in dem gleichwohl alles zu einem kohärenten und stabilen Ganzen verwoben war. An diesem Punkt schienen Insekten mit einem Mal mehr als bloße Rechenmaschi- nen zu sein. Tatsächlich nämlich wurde Rechnen, wie Lorraine Daston gezeigt hat, im frühen 19. Jahrhundert nicht länger als Zeichen der Intelligenz betrachtet.24 Vielmehr sah es sich in die Sphäre mechanischer Handlungen und folglich in das Regime von Automaten verwiesen. Rechnen, das machten die neuen Rechen- maschinen von Babbage deutlich, konnte man getrost der Technik überlassen, und das Gleiche galt für Instinkttiere wie Insekten. Der Mensch hingegen war zu weit mehr als zu reinem Zahlenfressen in der Lage. Insekten und Automaten nahmen als stupide Maschinen in den zeitgenössischen Bio- und Technikdiskursen also mehr oder minder die gleiche Position ein. Und doch zielten Kirby und Spence mit ihrer Betonung des anomalen Potentials tierischer Geometrie offenkundig darauf ab, einen neuen Sinn von tierischer Intelligenz zu vermitteln.25 Zumindest in Bezug auf ihre problemlösenden Qualitäten wur- de mathematische Präzision allerdings durchaus bewundert. In die- sem Sinne sollte sich schließlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch Darwin selbst in The Origin of Species zur bewunderungswür- digen Mathematik der Honigbienen äußern. Gleichfalls von Hubers Untersuchungen beeinflusst wandte er sich dem »ausgezeichneten Baue« der Waben und ihrem raffinierten Sinn für Ordnung zu. Wie er darlegt, haben selbst Mathematiker bestätigt, dass die Formen, die die Honigbienen in ihrer Architektur schaffen, vollkommene Lösungen des Problems darstellen, wie man die Gestalt der Zel- len optimieren kann, um die maximale Menge an Honig in einem Minimum von Bauwachs aufzubewahren. Allerdings belässt es Les Insectes. Ouvrage illustré de 605 figures dessinées d’après nature par Mesnel, E. Blanchard et Delahaye et douze grandes compositions par E. Bayard, Paris 1867, S. 422. 24 Vgl. Lorraine Daston, »Enlightenment Calculations«, in: Critical Inquiry 21 (1994), S. 182–202. 25 Vgl. Jessica Riskin, »The Defecating Duck, or, the Ambiguous Origins of Articial Life«, in: Critical Inquiry 29 (2003), S. 599–633, hier: S. 628–630. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
174 JUSSI PARIKKA Darwin nicht beim bloßen Staunen über diese »anfangs ganz unbegreiflich[e]« Problemlösungskompetenz, sondern versucht sie einer Erklärung zuzuführen, die deutlich macht, dass das Rätsel in Wirklichkeit gar »nicht so grosz [ist], wie es anfangs scheint«.26 Zu diesem Zweck beschreibt er zunächst die unterschiedlichen Modelle der Konstruktion bei verschiedenen Bienenarten und zeigt die zunehmende Regelmäßigkeit, Arbeitsökonomie und Wachser- sparnis auf, die festzustellen ist, wenn man nacheinander die Zellen der Hummel, der mexikanischen Melipona domestica und der Euro- päischen Honigbiene in den Blick nimmt. Entsprechend lässt sich – so Darwins daran anschließende Schlussfolgerung – die Tatsache, dass die Waben der Letzteren in der Tat von einer Präzision sind, die sich in mathematischen Formeln ausdrücken lässt, als das Werk natürlicher Auslese im Sinne der Perfektionsmaschine verstehen, die die Fitness der lebenden Formen garantiert: »So kann nach meiner Meinung der wunderbarste aller be- kannten Instincte, der der Honigbiene, durch die Annahme erklärt werden, natürliche Zuchtwahl habe allmählich eine Menge aufeinanderfolgender kleiner Abänderungen einfa- cherer Instincte benützt; sie habe auf langsamen Stufen die Bienen allmählich immer vollkommener dazu angeleitet, in einer doppelten Schicht gleiche Sphären in gegebenen Ent- fernungen von einander zu ziehen und das Wachs längs ihrer Durchschnittsebenen aufzuschichten und auszuhöhlen.«27 Treibende Ursache dieser Entwicklung war nach Darwins Auffassung der effizientere Einsatz des Wachses, den er für ei- nen entscheidenden Faktor bei der Evolution der Bienen hielt.28 Wachs war der vollendet weiche und formbare Stoff, der es der 26 Darwin, Über die Entstehung der Arten (wie Anm. 9), S. 306 f. 27 Ebd., S. 316. 28 Der optimale Einsatz des Wachses als Charakteristikum der Bie- nenarchitektur war auch schon im frühen 18. Jahrhundert vermerkt und als besonders eindrückliches ›Schauspiel der Natur‹ heraus- gestellt worden, so etwa vom Abbé Noël-Antoine de la Pluche in seinem zuerst 1732 publizierten Spectacle de la nature, ou Entretiens sur les particularités de l’Histoire naturelle qui ont paru les plus propres à rendre les jeunes-gens curieux et à leur former l’esprit, Bd. 1, Paris 1754, S. 175 f.: »Beim Gebrauch des Wachses gehen sie mit einer erstaunli- chen Sparsamkeit zu Werke. Man spürt förmlich, dass das Benehmen Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 175 Einbildungskraft gleichsam unausgesprochen herauszuarbeiten erlaubte, welche Gestalt Architektur inmitten der aufkommenden starren Stahlbauten der Moderne annehmen könnte. A1 dieser ganzen Familie von Klugheit geleitet ist und alles hier durch eine gute Regierung geregelt ist. Alles gesteht man der Notwendigkeit zu, nichts hingegen dem Überflüssigen. Nicht ein Körnchen Wachs bleibt ungenutzt. Würden sie verschwenderisch damit umgehen, so müssten sie häufig Zeit auf die Suche nach Wachs verwenden, die sie zur Bereitstellung des Honigs brauchen. Wenn sie zum Beispiel die Honigzellen öffnen, so entfernen sie das Wachs, mit dem die Zellen verschlossen waren, und bringen es ins Lager zurück.« Auf die angeborenen mathematischen und rechnerischen Fähigkeiten der Bienen und Wespen hat nicht zuletzt auch George Romanes in seiner Studie Animal Intelligence von 1882 hingewiesen. Romanes hebt ihre bemerkenswerten Orientierungsfähigkeiten hervor und zeigt auf, in welchem Maße sie dazu in der Lage sind, sich auf Verände- rungen in ihrer Umwelt einzustellen (zum Beispiel, wenn ihr Stock an einen anderen Standort verlegt wird). Darüber hinaus impliziert ihr angeborenes Koordinatensystem für Romanes, der hier auf Be- obachtungen John Lubbocks zurückgreift, dass Bienen und Wespen in der Lage sind, die kürzeste Strecke für ihre Bewegung von einem Ort zum anderen zu finden. Dies wird von Romanes – der wiederholt seine Bewunderung für die Wahrnehmungsfähigkeiten der Bienen bekundet – zum Teil mit ihren Instinkten, vor allem aber mit ihrem ausgezeichneten Orientierungssinn erklärt. Angesichts einer Be- schreibungssprache, in der sich bereits die Methoden mathematischer Modellierung anzukündigen scheinen, die heutzutage etwa im Rah- men der Graphentheorie und bei der Behandlung des Botenproblems Verwendung finden, zu dessen Lösung man sich unter anderem Amei- sen als Berechnungsmodellen bedient hat, könnte man also sagen, dass Bienen und Wespen schon hier implizit als Rechenmaschinen imaginiert werden, die in der Lage sind, den effizientesten Singulär- vektor zu finden und zugleich als Teil ihrer Umwelt einzufalten. Vgl. George J. Romanes, Animal Intelligence, London 1882, S. 144–151. In ähnlicher Weise Gegenstand der Bewunderung ist das fleißige Leben der Bienen auch in einem kurzen Abschnitt eines literarischen Kuri- ositätenkabinetts aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das die Schönheit und den schöpferischen Erfindungsreichtum in der Natur und in den Künsten anhand einer Reihe von alphabetisch geordneten Beispielen preist und dabei zugleich die gemeinschaftliche Abkunft von natürlichen und künstlichen Schöpfungen bzw. Erfindungen betont. Vgl. Éliçagaray, Beautés et merveilles de la nature et des arts, 3. Aufl., Paris o. J., S. 3 f. Dass dabei im Übrigen nicht immer allein die mathematische Genauigkeit und die geometrischen Strukturen als solche im Zentrum des Interesses stehen mussten, zeigt das Beispiel James Rennies, der in seiner monumentalen Insect Architecture stets Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
176 JUSSI PARIKKA 1 Eine Abbildung des Zellenbaus der Bienen aus Louis Figuiers Les Insectes (1867). Figuier bezeichnete Bienenarchitekten als intelligente Geometer. III. INSEKTENSTÄDTE Die Vollkommenheit, die man an den Insekten wahrzuneh- men glaubte, erstreckte sich auf alle Ebenen. Die Anatomie der Insekten, etwa der Bienen, wurde immer wieder als perfekt auf ihre Zwecke zugeschnitten dargestellt – ein Verfahren, das sowohl in der naturtheologischen Tradition als auch in den eher mate- rialistischen Ansätzen des Darwinismus gerne zur Einführung schöpferischer Kräfte genutzt wurde. Für Autoren, die wie James Rennie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieben, schien sich die Gemeinschaft der Bienen durch vollendete Harmonie auszu- zeichnen – von der sozialen Organisation bis hin zu den einzelnen Gliedern, wie etwa dem Bienenbein, das für den Transport von Propolis und Pollen einfach wie gemacht war. Rennie griff auch auf theologische Argumente zurück, um die Instinkte der Tiere zu erklären. So verglich er die Arbeit der auch der Behandlung der Werkstoffe besondere Aufmerksamkeit schenkte. So waren Wespen etwa lange vor den Menschen höchst geschickte Papiermacher. Vgl. James Rennie, Insect Architecture, erw. Aufl., London 1869, S. 117. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 177 Holzbiene mit der eines menschlichen Handwerkers, um seine These von den überlegenen, ja beinahe schon übernatürlich an- mutenden Fähigkeiten zu belegen, durch die Bienen in die Lage versetzt werden, ihren Wohnungen eine absolut vollkommene Gestalt zu verleihen, ohne über jegliche Übung oder die komplexen Werkzeuge eines erfahrenen Handwerkers zu verfügen. Allerdings ist es keineswegs so, dass die Bienen aus eigenem Antrieb heraus Baumeister und Architekten wären. Vielmehr hat der Große Archi- tekt und Weltenbauer ihnen einen Plan zur Befolgung an die Hand gegeben, der sie allererst zur mathematisch akkuraten Ausführung ihrer Arbeiten befähigt.29 Für Rennie waren die säuberlich und makellos angelegten Tunnel der Insektenbehausungen ein Teil der göttlichen Architek- tur der Natur. Zugleich allerdings kamen auch urbane Referenzen mit ins Spiel. Bienen schienen in »Miniaturstädten« von »bewun- derungswürdiger Architektur« zu leben, in denen sich offenbar die industrielle Urbanisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts spiegelte.30 Die geometrischen Eigenschaften der neuesten städte- baulichen Entwicklungen waren, etwa im Rahmen der Weltausstel- lungen, auch bei den breiteren Massen auf Faszination gestoßen – so der außerordentlich beeindruckende Crystal Palace, der 1851 auf der Londoner Weltausstellung vorgestellt wurde. Neben den Materialien Stahl und Glas war es vor allem die mathematische Präzision der eingesetzten Ingenieurstechniken, die als Zeichen des Fortschritts gewertet wurden. Und doch erstreckte sich diese Faszination nicht nur auf die Kunstfertigkeit, sondern umfasste auch die Schöpfungen der Natur und ihre mathematische Schöp- fungsmaschinerie. Selbst der Petersdom in Rom schien angesichts der kolossalen Kuppelbauten der Insekten, die hinsichtlich »ihrer kühnen Bauart, ihrer Genauigkeit und Riesenhaftigkeit« weit über das von menschlichen Bauwerken bekannte Maß hinausgingen, auf den zweiten Platz verwiesen zu werden.31 Bienenarchitektur wurde von einer Reihe von Architekten der klassischen Moderne ziemlich unmittelbar in materielle Strukturen umgesetzt. Wie Juan Antonio Ramírez in The Beehive Metaphor. From Gaudí to Le Corbusier zeigt, wimmelte es in der Architektur 29 Ebd., S. 59. 30 Ebd., S. 113. 31 Maurice Maeterlinck, Das Leben der Bienen [1901], aus dem Französi- schen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, 4. Aufl., Jena 1906, S. 29. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
178 JUSSI PARIKKA der Moderne von Figuren, Ornamenten und Bauplänen, die ihre Anregungen aus Bienenzucht und Entomologie bezogen. Hier ins- pirierten die Mathematiker der Natur den Einsatz bestimmter Bau- formen, die als optimal angesehen wurden. Die Bienen besorgten das Rechnen, die Architekten das Zeichnen. In Gaudís organischen Bauformen sahen sich die Welt, die Wahrnehmungen und Berech- nungen der Insekten geradezu mit denen von Engeln gleichgesetzt. Wie Ramírez mit Blick auf die Krypta der Colònia Güell (begonnen 1908) und die Sagrada Familia bemerkt hat, waren die unendli- chen barockartigen Variationen Ausdruck von Gaudís Zweifeln am menschlichen Verstand und seiner Fähigkeit, auf mehr als einer Ebene der Wirklichkeit wahrzunehmen.32 In der Tat schreibt Gaudí: »Der menschliche Verstand vermag nur auf einer Ebene zu wirken, er ist zweidimensional. Er löst allein Gleichungen mit einer einzigen Unbekannten. Der Verstand der Engel ist dreidimensional und wirkt unmittelbar auf den Raum ein. Der Mensch kann in ihm nichts bewirken, solange er nicht das Gewirkte gesehen hat. Er folgt von vorneherein nur Kurven und Linien in einer Ebene.«33 Bei Gaudí haben wir es mit Räumen und Wahrnehmungen zu tun, die die beschränkten Fähigkeiten des Menschen außer Kraft setzen und auf die Komplexität hindeuten, die sowohl Engeln als auch Insektenarchitektur zukommt. Neben Gaudí hat noch eine Reihe weiterer Architekten die hexagonale Form oder andere Referenzen auf Honigwaben als zentrale Elemente einer modernen Methode rationalisierter Planung eingesetzt. So trug etwa Mies van der Rohes Modell für einen Ideenwettbewerb für ein Berliner Bürohochhaus im Jahre 1922 den Titel »Wabe« und setzte hexagonale Elemente im Innen- raum ein. Hans Soeders für denselben Wettbewerb eingeschickter Entwurf für ein Turmhaus am Bahnhof Friedrichstraße wies eine »zentrale hexagonale Eingangshalle auf, über der in sternförmiger 32 Vgl. Juan Antonio Ramírez, The Beehive Metaphor. From Gaudí to Le Corbusier [1998], aus dem Spanischen von Alexander R. Tulloch, London 2000, S. 67. 33 Antoni Gaudí, »La intel·ligència«, in: ders., El pensament de Gaudí. Compilació de textos i comentaris, hg. von Isidre Puig Boada, Barcelona 1981, S. 164, Nr. 221. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 179 Anordnung sechs polygonale Baukörper aufragten; drei weitere kleinere Türme, gleichfalls von hexagonalem Grundriss, waren an den Ecken des Dreiecks platziert.« Insgesamt entstand dadurch der Eindruck eines gigantischen bienenarchitektonischen Gebildes – wenn auch aus Glas.34 Von ähnlicher Natur waren etwa auch Le Corbusiers allererste Entwürfe für Hochhaussiedlungen von 1914/1915, deren einzelne Wohnblöcke zum Teil hexagonale Grundrisse aufwiesen. In einer modernen Variante barocker Regelmäßigkeit sollte die »zeitgemä- ße Stadt« in Le Corbusiers Vorstellung zu einer vollkommenen so- zialen Lebensform funktionalisiert werden – Ideen, die sich für Le Corbusier auch mit den kollektivistischen Experimenten Sowjet- russlands verbanden, wo er ebenfalls arbeitete.35 Ganz allgemein war man der Auffassung, dass die in der Renaissance etablierte zentralperspektivische Ansicht von Raum und Architektur im Begriff sei, zugunsten einer dezentrierten vielseitigen und vielfäl- tigen kubistischen Räumlichkeit aufgebrochen zu werden, wobei bei der Diskussion dieser Veränderungen wohl nicht ganz zufällig immer wieder auch Analogien zur Insektenwelt bemüht wurden.36 Im Übrigen war das Loblied, das Architekten, und nicht nur sie, auf die Organisationsweisen der Insekten sangen, ein zentraler 34 Ramírez, The Beehive Metaphor (wie Anm. 32), S. 97. 35 Ebd., S. 93–98 u. S. 131–147. Le Corbusier war überzeugt, dass zwi- schen Maschinenästhetik und Funktionalismus der Raumgestaltung und der vollendeten Ordnung, die stets schon in der Natur vorzufin- den ist, eine Verbindung besteht. Kunstschaffen unterscheidet sich also nicht von natürlicher Schöpfung, sondern folgt den optimalen Punkten, die stets schon im Material angelegt sind: »Siehe da, der Ruf nach der Natur im vernünftigen Frankreich! Analysis. Fabre, der Entomologe, stöbert uns auf. Man bemerkt, dass die Natur eine organisierte Erscheinung ist, man öffnet die Augen. 1900. Überfluss des Herzens. Ein schöner Augenblick – in der Tat!« Charles-Édouard Jeanneret (dit Le Corbusier), »L’Heure de l’architecture«, in: L’Esprit nouveau. Revue internationale d’esthétique 28 (1925), S. 2386–2391, hier: S. 2391. Vgl. dazu Ramírez, The Beehive Metaphor (wie Anm. 32), S. 128. 36 So brachte der französische Regisseur und Filmtheoretiker Jean Epstein den Wandel in Sehgewohnheiten und Raumauffassung etwa mit dem »tausendfach facettierten Auge des Insekts« in Zusam- menhang. Vgl. Jean Epstein, »Fernand Léger«, in: ders., Écrits sur le cinéma (1921–1953). Édition chronologique en deux volumes, hg. von Henri Langlois und Pierre Leprohon, Bd. 1, Paris 1974/1975, S. 115–138, hier: S. 115. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
180 JUSSI PARIKKA Bestandteil des Optimierungsdiskurses. Während die Urbani- sierung der menschlichen Welt nicht nur Ruhm und Fortschritt, sondern auch Verschmutzung, soziale Probleme und Entfremdung mit sich brachte, wie Gesellschaftskritiker im 19. Jahrhundert immer wieder betonten, schien die Welt der Insekten das vollen- dete Bild einer in sich geschlossenen und sauberen Gesellschaft abzugeben. Die Organisation von Räumen und Massen stellte ein zentrales politisches und städtebauliches Problem dar, das auch einen diagrammatischen Ansatz zuließ: Wie sollte man die Mili- eus der modernen städtischen Welt effizient, sauber und rational organisieren? Eine Option bestand darin, sich der Tierwelt selbst zuzuwenden. Bienen und andere soziale Insekten, wie zum Beispiel Ameisen, arbeiteten hart, waren gut organisiert und effektiv. Alles in diesem Kollektiv aus individuellen Insekten, die gleichwohl hochkonzentriertes soziales Verhalten erkennen ließen, schien in Einklang miteinander zu stehen.37 Ein ähnliches Bild wurde in Bezug auf Ameisen präsentiert, die sich für eine Diagrammatik der Arbeit und Optimierung einfach perfekt zu eignen schienen. William Morton Wheeler, der später für seine Forschung über Ameisen berühmt und ein wichtiger Vordenker der Schwärme und der Emergenz werden sollte, hatte Ameisengesellschaften bereits früh als eine bestimmte Art von Maschinen beschrieben. Dabei zeichnet er das Bild einer auto- poetischen, einer postindustriellen Maschine avant la lettre. Die Ameisenmaschine zeigt sich bei der Aufgabenverteilung flexibel und weist keineswegs ein rigides Kastensystem auf, wie so häufig der Befund lautete, wenn soziale Insekten analysiert wurden. Charakteristisches Merkmal dieser flexiblen Verbände ist der Polymorphismus: 37 Ein gutes Beispiel hierfür ist die Darstellung des Zellenbaus bei Rennie: »Wenn Bienen mit dem Bau ihres Stocks beginnen, so teilen sie sich zunächst in Arbeitstrupps ein, von denen einer den Baustoff produziert, derweil ein anderer diesen weiterbearbeitet und ihn so formt, dass ein grober Umriss von den Dimensionen und Untertei- lungen der Zellen entsteht. All dies wird durch den zweiten Trupp vollendet, der die Winkel überprüft und anpasst, das überflüssige Wachs entfernt und dem Werk seine nötige Vollkommenheit verleiht. Ein dritter Trupp schließlich versorgt diejenigen Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz nicht verlassen können, mit Nahrung.« Rennie, Insect Architecture (wie Anm. 28), S. 131 f. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
DIE BIOPOLITIK DER SCHWÄRME 181 »Die Soldatinnen werden von Art zu Art unterschiedlich eingesetzt. Bei den samensammelnden Arten fungieren sie als die offiziellen Samenquetscherinnen der Gemeinschaft. Die winzigen Arbeiterinnen tragen die Samen zusammen und lagern sie und bewegen sie zwischen den Kammern des Nests hin und her. Sie sind allerdings so gut wie außerstande, die harten Samenschalen aufzubrechen, die nur den kräftigen Kiefern der Soldatinnen nachgeben. Bei den fleischfressen- den Arten sorgen die Arbeiterinnen für den entsprechenden Nachschub an Insektenteilen, während die Soldatinnen sich als Fräserinnen betätigen und die harten Chitingelenke durchtrennen. Was die oben genannte amerikanische Art mit polymorphen Arbeiterinnen betrifft, so vermute ich, dass die Übergangsformen der Kolonie ebenfalls als Samenquetsche- rinnen und Fräserinnen von Nutzen sind, weil pflanzliche und tierische Nahrung unterschiedliche Härtegrade aufweisen, und die Aufgabe ihrer Erschließung anders als bei den streng dimorphen Formen nicht einer einzigen Kaste aufgebürdet wird. Bei einigen Arten verdienen die Soldatinnen ohne Frage ihren Namen, rennen sie doch mit weit geöffneten Mandibeln herum und greifen jeden Eindringling mit größter Heftigkeit an. Bei anderen Arten sind sie ausgesprochen scheu und ziehen sich, sobald das Nest gestört wird, sofort in die tiefer gelegenen Kammern zurück. Sie lassen also einen Instinkt erkennen, der bei den Geschlechtstieren hoch entwickelt ist, vor allem bei den Königinnen, denen die Soldatinnen auch hinsichtlich bestimmter morphologischer Merkmale sehr viel stärker als den Arbeiterinnen ähneln.«38 Wheelers Analyse zufolge ist der Ausgangspunkt einer jeden Insektenkolonie stets Heterogenität, die sich erst im Nachhinein allmählich zu einem festgefügten kollektiven Organismus mit differenzierten Aufgabenbereichen entfaltet. In der Regel dürf- ten solcherlei aus der Tier- und Insektenwelt übertragene Bilder freilich unmittelbar mit den Schwärmen von Fabrik- und Bauar- beitern in Verbindung gebracht worden sein und so den Idealen des Fortschritts einen materiellen Ausdruck gegeben haben. Bei den Ameisen allerdings ging alles glatt, ohne soziale Spannungen. 38 William Morton Wheeler, »A Neglected Factor in Evolution«, in: Science 15.385 (1902), S. 766–774, hier: S. 770. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
182 JUSSI PARIKKA Wie bei der Differenzierung des Bienenstocks in Arbeiterinnen, Drohnen und Königin schien alles durchrationalisiert zu sein. Der viktorianischen Gesellschaft dienten soziale Insekten als hübsches Bild einer säuberlich geordneten hierarchischen Struktur, in der jeder seine eigene Nische hatte. Die Gemeinschaft hatte eindeutig Vorrang, wie ein Kommentator in Bezug auf die Biene anmerkte: »Sie scheint zu wissen, dass sie für die Gesellschaft geboren ist, und nicht, um selbstsüchtig ihre eigenen Interessen zu verfolgen – und so stellt sie sich und ihre Arbeitskraft unbe- irrbar in den Dienst des Nutzens der Gemeinschaft, der sie angehört.«39 IV. BIOPOLITIK DER ORGANISATION Wie die Kulturhistorikerin der Entomologie, Charlotte Sleigh, gezeigt hat, erstreckten sich soziale Insekten weit über die Gren- zen der Entomologie hinaus und berührten soziale, politische und sogar ökonomische Fragen der Organisation. Neben der Struktu- rierung der viktorianischen Ordnung schien die soziale Gliederung und arbeitsteilige Organisation der Bienen auch im Einklang mit Adam Smiths unsichtbarer Hand zu stehen. Genauso wie die Natur war auch die technologisierte Gesellschaft der Moderne nach der Maßgabe rationaler Steuerung zu strukturieren. Jeder hatte seine ihm zukommenden Pflichten zu erfüllen, und Glück bedeutete, sei- nen Platz im Ganzen verstanden zu haben. Verschwendung sollte der Vergangenheit angehören und das Studium der Ökonomie der Zeit und der Organisation wurde als säkulare Form eines religiösen Akts betrachtet.40 Architektur spielte dabei eine zentrale Rolle, wo- bei die Lehren der Entomologie und des Imkereiwesens Ramírez zufolge einen nicht unerheblichen Anteil an der Rationalisierung des menschlichen Lebens hatten. Ganz so wie Innovationen bei der Konstruktion künstlicher Bienenstöcke unverkennbar deutliche 39 Charles Tomlinson und Sarah Windsor-Tomlinson, Lessons Derived from the Animal World, hg. von der Society for Promoting Christian Knowledge, Bd. 2, London 1847, S. 34. Vgl. dazu Charlotte Sleigh, Ant, London 2004, S. 73. 40 Ebd., S. 66. Sleigh bezieht sich hier vor allem auf Tomlinson und Windsor-Tomlinson, Lessons Derived from the Animal World (wie Anm. 39), S. 4 f. Jussi Parikka - 9783846761106 Downloaded from Brill.com10/19/2021 08:12:45PM via free access
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