Clima-pro - Interkulturelle Kompetenz Algerien - Handreichungen

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Clima-pro - Interkulturelle Kompetenz Algerien - Handreichungen
clima-pro - Interkulturelle Kompetenz
               Algerien

                  Handreichungen:
Interkulturelle Kompetenzen und interkulturelles Training für
                      Algerien

             Dr. Dorothee Obermaier, Marita Schnepf-Orth

                                                           Algier, Place des Martyrs © L. Nuphaus 2010

                                         Juni 2011

 Sofia - Hochschule Darmstadt                        I.E.S.A.R - Fachhochschule Bingen
 Prof. Dr. M. Führ, Prof. Dr. D. Obermaier           Prof. Dr. G. Roller
 Haardtring 100                                      Berlinstraße 109
 D – 64295 Darmstadt                                 D - 55411 Bingen am Rhein
 Fon +49 (0)6151 168 735                             Fon +49 (0)6721 919 337
 Fax +49 (0)6151 168 925                             Fax +49 (0)6721 919 331
 www.sofia–darmstadt.de                              www.fh-bingen.de/Institut-IESAR.118.0.html

   clima-pro - ein Forschungsvorhaben im Rahmen des FH-profUnd-Programms,
      finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
Clima-pro - Interkulturelle Kompetenz Algerien - Handreichungen
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

Inhalt

1.         Kulturspezifische und sozioökonomische Besonderheiten für eine
           geschäftliche Tätigkeit in Algerien ........................................................................2
     1.1   Bedeutung der nationalen Souveränität und der arabisch-islamischen Identität .......2
          Sensibilität gegenüber externer Einmischung ...........................................................2
          Privilegien und Lobbying der Befreiungskämpfer......................................................3
          Kulturrevolution: Arabisierung und Antiimperialismus ...............................................4
          Sprachenkonflikte.....................................................................................................6
          Regionale und berberische Identitäten - das Beispiel der Kabylen ...........................7
     1.2   Islam in Algerien.......................................................................................................9
           Infokasten: Politischer Islam in Algerien..................................................................11
     1.3   Sozialpolitische Problemfelder ...............................................................................14
          Niedrige Einkommen ..............................................................................................14
          Arbeitslosigkeit junger Erwachsener und prekäre Arbeitsbedingungen ..................15
          Perspektivlosigkeit junger Erwachsener .................................................................16
          Wohnraummangel ..................................................................................................17
          Regionale Disparitäten - die inneralgerische Nord-Süd-Kluft ..................................18
     1.4   Frauen in Politik und Erwerbsleben ........................................................................19
          Frauen und Erwerbstätigkeit...................................................................................19
          Frauen auf dem Vormarsch - in der Bildung ...........................................................20
          Rechtliche Gleichstellung .......................................................................................21
     1.5   Stabilität und Sicherheit ..........................................................................................21
          Terrorismus ............................................................................................................22
          Sicherheitsmaßnahmen .........................................................................................23
          Soziale Proteste und die Demokratiebewegung 2011 ............................................24
2.         Erwartungen an deutsche Unternehmen ............................................................26
          "Zuverlässig und vorsichtig" - Das Bild der Deutschen ...........................................26
          "Sie sollen herkommen!" - Präsenz vor Ort ............................................................27
          "Gemeinsamkeiten ausloten" - Eine persönliche Ebene finden ..............................28
          "Man braucht einen zuverlässigen Partner vor Ort" - Partnersuche ........................28
          "Alles wird hinterfragt" - Flexibilität und Geduld mitbringen .....................................29
          Respektvolles Auftreten .........................................................................................29
          Mit Frauen als Verhandlungspartner rechnen .........................................................30
          Französischkenntnisse optimieren .........................................................................31
          Intransparente Behördenkulturen einkalkulieren.....................................................31
          Mit Klientelismus und Begünstigungen umgehen ...................................................32
          Feiertage in Algerien 2011 .....................................................................................33
3.         Weiterführende Literatur zur Geschäftskultur ....................................................34
          Downloads .............................................................................................................34
          Bücher....................................................................................................................34
4.         Interkulturelles Training für Algerien ..................................................................36
     4.1   Länderübergreifende Hinweise zu interkulturellen Kompetenztrainings ..................36
          Vorteile interkultureller Trainings - warum Do’s und Don’ts nicht ausreichen ..........36
          Spektrum interkultureller Trainings- oder Beratungsleistungen...............................38
          Feststellung des Trainings- oder Beratungsbedarfs seitens der KMU ....................40
          Internetportale mit Hinweisen auf interkulturelle Trainingsanbieter .........................41
     4.2   Algerienspezifische Handreichungen .....................................................................42
          Relevanz interkultureller Trainings für ein geschäftliches Engagement in Algerien .42
          Anbieterliste interkultureller Trainings für Algerien ..................................................45
          Checkliste zur Auswahl interkultureller Kompetenztrainings für Algerien ................45

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Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

1. Kulturspezifische und sozioökonomische Besonderheiten für
   eine geschäftliche Tätigkeit in Algerien
Landeskundliche Kenntnisse sind für die interkulturelle Kommunikation in geschäftlichen
Begegnungen hilfreich, weil sie Erklärungen für Wertvorstellungen und Verhaltensweisen
bereitstellen können. Neben dem wirtschaftlichen Hintergrundwissen eröffnet beispielsweise
die Auseinandersetzung mit der algerischen Geschichte der Unterdrückungserfahrungen und
Unabhängigkeitsbestrebungen sowie mit der heiklen politischen Situation, mit den
spezifischen Ausprägungen des Islams oder mit der Vielfalt gesellschaftlicher Orientierungen
größere Spielräume, um Verhaltensweisen in interkulturellen Begegnungen besser
interpretieren und verstehen zu können.

1.1     Bedeutung der nationalen Souveränität und der arabisch-islamischen
        Identität
Die Bemühungen der algerischen Regierungen,
die nationale Identität auf die arabische
Komponente zu reduzieren, stehen seit Jahren
in Kontrast zur gelebten Realität eines
regionalen, kulturellen und sprachlichen Plura-
lismus.1 Algerien ist geografisch, historisch,
kulturell und religiös mit dem arabischen Raum,
den afrikanischen Nachbarländern und auch
den europäischen Mittelmeerländern verbun-
den.

         Sensibilität gegenüber externer
          Einmischung
Algerier reagieren mitunter sensibel auf externe
Interventionen, die das Gefühl von Souveränität
und Selbstbestimmung verletzten. Angesichts
der algerischen Erdgas- und Erdölvorkommen
und der Attraktivität für ausländische Investoren                      Algier © L. Nuphaus 2010

können sich algerische Entscheidungsträger die Empfindlichkeit gegenüber äußerer
Einmischung leisten. Sie entziehen sich dabei weitgehend dem Druck internationaler Finanz-
und Entwicklungsinstitutionen und ihrer Auflagen. Die Souveränität ist in Algerien einerseits
politische Überzeugung und generiert andererseits die Empfindsamkeit gegenüber externer
Einmischung. Beides wurzelt in der französischen Kolonialzeit und dem algerischen
Befreiungskampf gegen diese Fremdherrschaft.2 Die französische Kolonisierung und der

1
 Werenfels, I. (2009): Bouteflika zum Dritten. Stabilitätsgarantie oder Stabilitätsrisiko. SWP-Aktuell
2009/A 19: 7, http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=5916, http://www.swp-
berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2009A19_wrf_ks.pdf (10.01.2011).
2
    Bertelsmann Stiftung (2009): BTI 2010 — Algeria Country Report. Gütersloh: 41,
http://www.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/Gutachten_BTI2010/MENA/Algeria.pdf
(19.12.2010).
                                                                                                            2
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Befreiungskrieg resultierte in einer weitverbreiteten Entschlossenheit der Algerier, niemals
mehr gegenüber irgendjemand "untertänig" zu sein.3
Will man sich den kulturellen Prägungen Algeriens annähern, müssen deshalb die
Wirkungen des Imperialismus mitgedacht werden. Im Unterschied zu anderen kolonisierten
Ländern war Algerien während der 130jährigen französischen Kolonialherrschaft Teil des
französischen Territoriums. Muslime waren zwar offiziell als französische Bürger anerkannt,
die vollen Bürgerrechte wurden ihnen indessen verweigert. So konnten Muslime keine
Grundstücke erwerben, solange sie nicht zum christlichen Glauben übergetreten waren. Die
koloniale Inbesitznahme bedeutete zugleich die massive Zuwanderung französischer Siedler
und eine damit einhergehende Verelendung der einheimischen Bevölkerung durch
Enteignung und Besteuerung. Die Zahl der algerischen Bevölkerung ging zeitweise um die
Hälfte zurück. Weiterhin löschte die Kolonialherrschaft soziale und traditionelle administrative
Strukturen der Gesellschaft aus, indem ein nach europäischem Muster errichtetes
Verwaltungs- und Bildungssystem eingeführt wurde.4 Dieses führte u.a. auch zu negativen
Bildungseffekten: die Analphabetenrate am Ende der Kolonialzeit überstieg die zu Beginn
der Kolonialzeit und lag bei ca. 90%.5
Planvolle Demütigungen seitens der Kolonialherren und nicht zuletzt das Massaker von Sétif
mit über 10.000 getöteten Algeriern gingen dem 1954 beginnenden Unabhängigkeitskrieg
unter Führung der Front de Libération Nationale (FLN) voraus. Der achtjährige Unabhängig-
keitskampf wurde von beiden Seiten äußerst brutal geführt. Die algerische Seite gedenkt
offiziell einer Million Märtyrer, manchmal ist auch von eineinhalb Millionen die Rede. 6 Ein
Jahr vor der Unabhängigkeit, führte Frankreich 1960 die ersten nuklearen Tests im Süden
Algeriens durch, mit nachhaltigen Folgen für die ansässige Bevölkerung.

         Privilegien und Lobbying der Befreiungskämpfer
Das algerische Nationalbewusstsein und der Machtanspruch der algerischen Führung
legitimieren sich bis heute aus dem Sieg über die ehemalige Kolonialmacht. "Der
Dekolonialismus ist eine Kriegsbeute." Demnach konstruiert die Befreiung einerseits
Identitäten und andererseits definiert man sich durch die Befreiung auch negativ: durch den
Kampf gegen etwas.7 Die politischen Eliten bringen seit 50 Jahren der Unabhängigkeit ihre
Vergangenheit im Widerstandskampf ins Spiel, um sich Legitimität und Anerkennung zu
verschaffen. So stellen sich die Kandidaten im Wahlkampf immer noch als die wahren Erben
der Revolutionäre dar. Die Zugehörigkeit zur "famille révolutionnaire" oder auch zur
Gewerkschaftsdachorganisation sind darüber hinaus wichtiges Sprungbrett für Kader-
funktionen im Staatsapparat.8

3
 Chimelli, R. (2002): Das Abendland Arabiens – Maghrebinische Verknüpfungen. Wien: 69.
4
 Chimelli, R. (2007): Algerien. In: Weiss, W.M. (Hg.): Die arabischen Staaten. Geschichte, Politik,
Religion, Gesellschaft, Wirtschaft. Heidelberg: 32-45; Courdouen, P.-M. (2006): Zwischen zwei
Kolonialreichen: Algerien im 19. Jahrhundert , http://www.lwg.uni-
hannover.de/wiki/Zwischen_zwei_Kolonialreichen:_Algerien_im_19._Jahrhundert (29.01.2011).
5
 Mouhleb, N. (2005): Language and Conflict: Kabylia and the Algerian State. Institute for Culture
Studies & Oriental Languages, University of Oslo & Centre for the Study of Civil War: 32,
http://www.prio.no/sptrans/910488093/file47288_naima_final_16_december_ii.pdf (12.01.2011).
6
    Chimelli, R. (2007): a.a.O. (Anm. 4): 35.
7
    Stora, B. (2011): Französisch-algerische Altlasten. In: Qantara online,
http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-1327/i.html (02.04.2011).
8
  Werenfels, I. (2009): a.a.O. (Anm. 1): 5-6.
                                                                                                           3
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Nicht nur die direkt beteiligten Befreiungskämpfer, sondern auch ihre Nachfahren erhalten
Vergünstigungen, wie Renten, Gewerbelizenzen, reservierte Arbeitsplätze in Unternehmen
oder Ausbildungsvergünstigungen.9 Als Kriegsveteran oder Sohn eines schahid10 erhält man
auch Steuerbefreiungen oder Sonderangebote im Reisebüro. Die Regierungsparteien Front
de Libération Nationale (FLN) und Rassemblement National Démocratique (RND) verteilen
diese Privilegien, um Wähler zu gewinnen und zu binden. Folglich kann man
"Kriegsveteranen" begegnen, die viel zu jung sind, um im Befreiungskrieg gekämpft zu
haben.11 Es ist jedoch eine schwindende Bereitschaft der jungen Algerier zu verzeichnen,
diese positive Diskriminierung auf der Basis revolutionärer Legitimität weiter hinzunehmen.12

       Kulturrevolution: Arabisierung und Antiimperialismus
Von allen Ländern des Maghreb verfolgt Algerien seit 1962 die weitestgehende
Arabisierungspolitik zur Auslöschung der französischen Prägung und zielt auf die
Wiederherstellung und Stärkung der arabischen Komponente der algerischen Identität.13
Nach dem Unabhängigkeitskrieg betrachtete die Mehrheit der Nationalen Befreiungsfront
(FLN) den Islam und das Arabertum als die beiden wesentlichen Gemeinsamkeiten der
algerischen Bevölkerung und als Grundlage einer neuen, die koloniale Diskriminierung
kompensierenden Identitätsvorstellung.14
Der Prozess der Arabisierung wurde de facto fast gleichbedeutend mit der Wiedereinführung
der arabischen Sprache in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Lebens. Allerdings konkurrierten in der Arabisierungspolitik zeitweise unterschiedlich
progressive oder islamisch orientierte politische Kräfte. 1968 wurde per Dekret die
Arabisierung im öffentlichen Dienst angeordnet; ab 1970 unterlag das Bildungswesen einer
zunehmenden Arabisierung, die sich an den Hochschulen bis in die achtziger Jahre
fortsetzte.15 Während der Kolonialzeit bestand nur für wenige Algerier die Möglichkeit einer
Schulbildung - wenn doch, fast ausschließlich französisch:

9
 Faath, S. (2008): Reziprokes Mißtrauen: Zum Verhältnis von Staat, Bevölkerung und Opposition in
Algerien. In: Faath, S. (Hrsg.): Kontrolle und Anpassungsdruck - Zum Umgang des Staates mit
Opposition in Nordafrika/Nahost. GIGA Institut für Nahost-Studien, Hamburg, 121-166: 143,
http://www.giga-
hamburg.de/dl/download.php?d=/content/imes/menastabilisierung/pdf/faath_studieKontrolle_2008_volltext.pdf .
13.10.2010).
10
  Schahid ("Zeuge") bezeichnet die "Märtyrer", die im Befreiungskampf gestorben sind. Etwa 250.000
Männer sind als "ehemalige Mudschaheddin" registriert oder haben Anspruch auf diesen Titel.
Chibani, A. (2009): Algerien - ein Staat steht still, in: Le Monde diplomatique Nr. 8810 vom 13.2.2009,
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/02/13/a0042.text.name,askinB3pJ.n,29 (10.01.2011).
11
   Chibani, A. (2009): Algerien - ein Staat steht still, in: Le Monde diplomatique Nr. 8810 vom
13.2.2009, http://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/02/13/a0042.text.name,askinB3pJ.n,29 (10.01.2011).
12
   Werenfels, I. (2009): a.a.O. (Anm. 1): 5.
13
   Werenfels, I. (2009): a.a.O. (Anm. 1): 7.
14
   Ruf, W. (2002): Identität und Integration - islamische Staatsbürgerschaft in Frankreich. In: Blätter für
deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2002: 594-601, http://www.werner-
ruf.net/pdf/Migr_F_Bl%8Atter030302.pdf (03.02.2011).
15
  Grandguillaume, G. (1997): Der Maghreb entdeckt eine Sprache, Algerien - Mund halten oder
arabisch reden. In: Le Monde diplomatique 14.2.1997, http://www.monde-
diplomatique.de/pm/1997/02/14/a0266.text.name,askeD6Na7.n,41 (03.04.2011).
                                                                                                              4
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         "Zur Zeit meiner Kindheit, im kolonialen Algerien, wurde ich als muslimische
         Französin bezeichnet. In der Schule lernten wir, dass die Gallier unsere Vorfahren
         waren."16
Die Umsetzung der Arabisierung des Bildungssystems stieß indessen auf einige Hürden. Da
nicht genügend ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung standen, wurden muslimische
Gelehrte aus dem Nahen Osten und Ägypten eingesetzt. Diese stärkten den zunehmenden
Einfluss konservativer und religiöser Gruppen auf die algerische Arabisierungspolitik.17
Gleichzeitig fanden jedoch auch Aspekte französischer Wertvorstellungen Verbreitung, wie
das Ideal der Revolution und die Forderungen nach politischer Demokratie im Zuge der
antiimperialistischen Befreiungsbewegung und Beteiligung an der internationalen Bewegung
der blockfreien Staaten.18 "Pieds-rouges" hießen die linken Franzosen, die sich leiden-
schaftlich für die Unabhängigkeit Algeriens engagierten und 1962 beim Aufbau des
sozialistischen Algeriens mitgeholfen hatten, in Anlehnung an die Bezeichnung "Pieds-noirs"
für Algerier europäischer Abstammung. Algerien zählte in den 1960er und 1970er Jahren zur
Avantgarde der internationalen Emanzipationsbewegung der "Dritten Welt". Zeitweise lebten
in Algerien einige der großen Denker und Vorkämpfer der antiimperialistischen Revolution:
Frantz Fanon, Ernesto Che Guevara, Eldridge Cleaver19 und die Führer der Unabhängig-
keitsbewegungen aus Angola, Guinea und Mosambik.
         "Also meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten,
         Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind."20
Zwei große Bauprojekte in Algier symbolisieren aktuell Algeriens Verbundenheit einerseits
mit der antikolonialen Befreiungsbewegung und andererseits mit der islamischen Welt:
     -   die "Bibliothèque Arabo-Sud Américaine", entworfen von dem brasilianischen
         Architekten Oskar Niemeyer. Sie soll die Zusammenarbeit und den kulturellen
         Austausch der G15 Länder fördern,

         (Quelle: http://www.skyscrapercity.com/showthread.php?t=1049241)

16
  Djebar, A. (2008): Narben in meinem Gedächtnis. Über Algeriens literarische Ahnen und die Wahl
der Sprache. In: Le Monde diplomatique 8.2.2008, http://www.monde-
diplomatique.de/pm/2008/02/08/a0014.text.name,askinB3pJ.n,47 (12.01.2011).
17
   Ouaissa, R. (2008): Islamistische Parteien im Maghreb – Der Maghreb
zwischen moderatem und radikalem Islam. In: GTZ (Hrsg.): Politischer Islam in arabischen Ländern,
55-73: 61, http://cdc.giz.de/de/dokumente/de-gtz-programmbuero-politischer-islam.pdf (29.01.2011).
18
   Harbi, M. (2005): Nachwirkungen des Algerienkriegs. Ungleichzeitige Erinnerungen bei Siegern und
Besiegten. In: Le Monde diplomatique 9.12.2005, http://www.monde-
diplomatique.de/pm/2005/12/09/a0070.text.name,askIZzd2q.n,84 (12.01.2011).
19
  Mitbegründer der Black Panther Party.
20
  Fanon, F. (1981): Die Verdammten dieser Erde (Dt. Übersetzung des 1961 erschienenen Originals
"Les damnés de la terre"). Frankfurt: 264.
                                                                                                                5
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     -   die große Moschee, die bis 2013 in der Innenstadt errichtet wird. Es ist das
         Lieblingsprojekt von Präsident Bouteflicka und soll Algier zum (staatlich kontrollierten)
         religiösen Zentrum des Maghreb aufsteigen lassen.21

         Das Frankfurter Architekten Büro KSP Engel und Zimmermann baut in Algier die drittgrößte Moschee der Welt.
         Foto: dpa http://www.fr-online.de/home/wie-aus-1001-nacht/-/1472778/3411908/-/index.html

        Sprachenkonflikte
Im Rahmen der Arabisierung erfolgte die Vereinheitlichung der Landessprache. Dabei sollte
der Gebrauch des modernen klassischen Standard-Arabisch (al-arabiyya al-fua) die
"authentische Identität" der Algerier befördern. Die Sprache sollte dabei mehrere Funktionen
übernehmen: die arabische Hochkultur zu vermitteln sowie in standardisierter Form
international verstanden zu werden und deshalb mit dem Französischen konkurrieren zu
können.22 Die Verfassung von 1976 verwarf unmissverständlich jegliche Form des kulturellen
Pluralismus, und in Artikel 3 erklärte der Staat seine Verantwortung, die Vereinheitlichung
und Verbreitung des Arabischen sicherzustellen. In den 1970er Jahren traute man sich nicht
mehr, in der Öffentlichkeit eine Berbersprache zu benutzen.23
Allerdings entspricht das klassische Standard-Arabisch nicht dem gesprochenen algerischen
Arabisch und war zu Beginn der Arabisierungsprogramme nicht in allen Bevölkerungs-
gruppen verbreitet. Deshalb ging die Verordnung der arabischen Schriftsprache als
einheitliche Muttersprache mit der Minderbewertung des algerischen Arabisch und dem
Ignorieren der Berbersprachen einher, und frankophone Algerier wurden als hisb Franca, als
"Parteigänger Frankreichs" stigmatisiert.24
Trotz Arabisierung blieb der kulturelle, insbesondere wissenschaftlich-technische Einfluss
Frankreichs jedoch ungebrochen: Französisch ist eine verbreitete Landes- und Geschäfts-
sprache. Viele, insbesondere technische Lehrbücher gibt es nur in französischer Ausgabe.
Frankreich ist Algeriens Haupthandelspartner, und ca. 4 Millionen Algerier oder Franzosen

21
   Große Pläne. In: Le Monde diplomatique 10.12.2010, http://www.monde-
diplomatique.de/pm/2010/12/10/a0060.text.name,askinB3pJ.n,10 (17.02.2011).
22
   Mouhleb, N. (2005): a.a.O. (Anm. 5): 10.
23
   Mouhleb, N. (2005): a.a.O. (Anm. 5): 34.
24
   Grandguillaume, G. (1997): a.a.O. (Anm. 15).
                                                                                                                      6
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Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

algerischer Abstammung leben in Frankreich.25 Die algerisch-französische kulturelle
Annäherung, z.B. die Anpassung an und die Übernahme von Wertvorstellungen der
Kolonialmacht, äußert sich in vielen Lebensbereichen und kollidiert dabei unweigerlich mit
der propagierten arabisch-islamischen Identität. In der intellektuellen städtischen Gesell-
schaft sind die frankophon orientierten Anhänger eines säkularen Gesellschaftsmodells
tonangebend. Wegen ihrer Artikulationsfähigkeit erscheinen sie überrepräsentiert in den
internationalen Medien und haben einen besseren Zugang zu Berufschancen als der
Großteil der arabisch-islamisch empfindenden Mehrheit.26

       Regionale und berberische Identitäten - das Beispiel der Kabylen
Nicht alle Algerier definieren sich als Araber. So fühlen sich etwa 30% der Algerier der
Berberbevölkerung zugehörig. Die Berberbewegung und der algerische Staat bezeichnen die
berberische Bevölkerung als Amazigh (Plural: Imazighen). Der Begriff Berber ist jedoch
ebenfalls gebräuchlich und wird nicht abwertend verstanden. Die Berber Algeriens sind
Bevölkerungsgruppen mit ausgeprägten kulturellen und sprachlichen Eigenheiten. Die
Sprache ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, dennoch betrachten sich auch Teile der
Bevölkerung, die keinen Berber-Dialekt mehr beherrschen, als Berber. Im Zuge der
arabischen Eroberungen Nordafrikas hatte sich - je nach Abgelegenheit der Region und
Intensität des kulturellen Austauschs - ein Mosaik aus arabischen, arabisierten und
berberischen Identitäten entwickelt und resultierte in verschiedenen Berberstämmen mit
unterschiedlichen Kulturen und Sprachen.
90% der berberischen Bevölkerung konzentrieren sich im heutigen Algerien im Gebiet der
Kabylei, einer gebirgigen Region, die sich im Nordosten Algeriens über mehrere
Verwaltungsbezirke ausdehnt, u.a. Tizi Ouzou und Béjaia. Andere Gruppen, wie die
nomadischen Tuareg, die Mozabiten und die Shawiyya, leben im Gebiet der Zentralsahara,
in der Region Mzab (nördliche Sahara) und um Aurès im Südosten.27
Trotz Arabisierung bestehen regionale, ethnische und sprachliche Gegensätze weiter - bis
zur Staatsspitze, z.B. besetzt jeder Präsident Schlüsselpositionen mit Personen aus seiner
Region.28
Diskriminierungen der Berber sind im Allgemeinen schwer nachzuweisen, und Kabylen
haben hochrangige Regierungsposten erreicht. Indessen fühlen sich Kabylen u.a. im Zuge
der staatlich verordneten Arabisierungsprozesse benachteiligt. Ihre Muttersprache ist
Kabylisch (Thashawit) und ihre Verkehrssprache häufig das Französische, wohingegen
Arabisch in der Kabylei nur wenig verbreitet war. Deshalb stellte Arabisch als Zugangs-
voraussetzung für Positionen in der Administration eine Hürde für die berberophonen und
französischsprachigen Kabylen dar. Viele Kabylen erhielten während der Kolonialzeit eine
französische Schulbildung, und die erste Generation postkolonialer algerischer Intellektueller
bestand vornehmlich aus Berbern.29

25
   Migdalovitz, C. (2010): Algeria: current issues. Congressional Research Service, Washington/D.C.:
11, http://fpc.state.gov/documents/organization/152624.pdf (04.03.2011).
26
   Chimelli, R. (2007): a.a.O. (Anm. 4): 41.
27
   Mouhleb, N. (2005): a.a.O. (Anm. 5): 27-30.
28
   Werenfels, I. (2009): a.a.O. (Anm. 1): 6.
29
   Gray, D.H. (2009): Women in Algeria today and the debate over family law.
In: Middle East Review of International Affairs (Herzliya), 13/March 2009, 45-56: 47, http://www.gloria-
center.org/files/20090526172701.pdf (02.02.2011).
                                                                                                           7
Clima-pro - Interkulturelle Kompetenz Algerien - Handreichungen
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

          "Araber? Nicht 100prozentig, weil ich kabylisch aufgewachsen bin, arabisch [Dialekt =
          Derdscha] habe ich erst auf der Straße und Hocharabisch (=Fosha) erst mit 6 in der
          Schule gelernt. Wohlgemerkt besteht ein großer Unterschied zwischen dem
          algerischen Dialekt und Hocharabisch. Franzose? Auf keinen Fall, obwohl ich der
          französischen Sprache mächtiger bin als kabylisch meiner Muttersprache. So fühlt
          man eine große Sprachlücke in sich und so dramatisch empfinde ich's! Aber eins ist
          sicher, ich bin kein Araber!"30
Durch den Bildungsvorsprung der Kabylen hatte sich in der Wahrnehmung der arabophonen
Bevölkerung der Eindruck einer kolonialen Bevorzugung der Kabylen festgesetzt.31 In der
Folge entstanden Zweifel an der nationalen Loyalität der sich entwickelnden Berber-
bewegung. Auf berberischer Seite hingegen trug die Nichtberücksichtigung der berberischen
Sprachen im Zuge der Arabisierungsprogramme und auch der sozialen und politischen
Organisationsformen der Berber wesentlich zum Aufleben der Berberbewegung bei. Die
Kabylei ist seit jeher stark politisiert, und die Kabylen sind in traditionellen Vereinen und
Parteien organisiert. Aber erst im Zuge des Demokratisierungsprozesses ab 1989 konnten
sich diese Organisationsformen festigen und legal agieren.32
Von der Kabylei gingen mehrmals massive Protestbewegungen aus, die politische, identitäre
sowie sozioökonomische Aspekte vereinten und sich zu landesweiten Bürgerbewegungen
ausweiteten. Dabei standen Parolen gegen den Staat, die Willkür der Sicherheitskräfte,
Vernachlässigung der Region und gegen die Hogra (die verachtende Haltung der staatlichen
Funktionäre gegenüber der Bevölkerung und die damit einhergehende Demütigung und
Erniedrigung des Bürgers33) im Vordergrund. Den Protestbewegungen schlossen sich auch
deshalb so viele Algerier außerhalb der Kabylei an, weil sie eine Fortsetzung der repressiven
Strukturen jahrelanger Terrorismusbekämpfung in den 1990er Jahren nicht mehr länger
hinnehmen wollten und sich gegen Praktiken der Entführungen, Folterungen und
Liquidierungen seitens der Sicherheitskräfte wehrten.34
Heute ist in der Kabylei eine hohe Kriminalitätsrate zu verzeichnen, mit zahlreichen
Entführungs- und Erpressungsfällen sowie zunehmendem Bandenunwesen und Drogen-
handel, zum Teil vernetzt mit terroristischen Aktivitäten.35 Viele Kabylen unterstellen dabei
der Regierung, diese Entwicklung zugelassen zu haben, um die Zustimmung der
Bevölkerung zur Rückkehr der Gendarmerie zu erwirken. Die Gendarmerie war nach den

30
  Forumbeitrag in www.algerientreffpunkt.de zur Fragestellung: Sind Algerier tatsächlich Araber oder
etwa nicht?
http://www.algerien-treffpunkt.de/t314f14-Sind-Algerier-tatsaechlich-Araber-oder-etwa-nicht-2.html (04.01.2011).
31
   Die Kolonialherren tendierten zur Höherbewertung der berberischen Kultur gegenüber der
arabischen und glaubten, Berber seien kompatibler hinsichtlich europäischer Sitten und
Wertvorstellungen als die arabische Bevölkerung. Die Existenz einer spezifisch kolonialen
Berberpolitik ist jedoch umstritten und Kabylen litten ebenso wie andere Algerier unter der
Kolonialpolitik (Mouhleb, N. (2005): a.a.O. (Anm. 5): 31).
32
   Mellah, S./ Yacine, N. (2001): "Ein Gendarm spuckte auf den Toten", gekürzte Fassung des in der
Frankfurter Rundschau am 5. Juli 2001 erschienen Artikels,
http://www.algeria-watch.org/artikel/unruhen/Aufruhr.htm (12.01.2011).
33
   Faath, S. (2008): a.a.O. (Anm. 9): 155.
34
     Mellah, S./ Yacine, N. (2001): a.a.O. (Anm. 32).
35
     Bertelsmann Stiftung (2009): BTI 2010 — Algeria Country Report. Gütersloh: 32,
http://www.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/Gutachten_BTI2010/MENA/Algeria.pdf
(19.12.2010).
                                                                                                                   8
Clima-pro - Interkulturelle Kompetenz Algerien - Handreichungen
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

schweren Unruhen des "Schwarzen Frühlings" von 2001 aus der Kabylei abgezogen
worden.36
Neben verschiedenen politischen Parteien, die Berberinteressen vertreten, ist seit dem
Frühjahr 2001 die Bewegung für die Autonomie der Kabylei aktiv (Mouvement pour
l'Autonomie de la Kabylie, MAK). Weitere Ansätze zur militanten Durchsetzung von Lokal-
bzw. Regionalinteressen hat es auch im Süden Algeriens gegeben: seit 2004 in Form des
Mouvement des Enfants du Sud pur la Justice (MSJ) (Bewegung der Kinder des Südens für
Gerechtigkeit) und des Mouvement Citoyen de Ouargla (Bewegung der Bürger Ouarglas).37

1.2    Islam in Algerien

Entwurf: Gebetsraum der projektierten Neuen Moschee in Algier, http://www.lemonconsult.ch/projekte/neubau-moschee-algier/

Die Religion spielt für viele Algerier auch im Alltag eine leitende Rolle. Der Islam ist gemäß
Artikel 2 der Verfassung Staatsreligion, während Artikel 36 der Verfassung die
Religionsfreiheit garantiert.38 Die große Mehrheit der Algerier sind sunnitische Muslime, die
mehrheitlich der mâlikitischen Rechtsschule angehören. Eine Ausnahme bilden die
Minderheiten der Hanafiten - sie sind osmanischen Ursprungs und waren Teil der Herrscher-

36
  Chibani, A. (2009): a.a.O. (Anm. 11).
37
  Mattes, H. (2009): Algerien: Die schwierige Beseitigung regionaler Disparitäten. In: Faath, S.
(Hrsg.): „Sozio-regionale― Entwicklungsansätze in Nordafrika/Nahost. Ein erfolgversprechender Weg
zur Stabilisierung der Staaten? GIGA Institut für Nahost-Studien, 51-76: 55, http://www.giga-
hamburg.de/dl/download.php?d=/content/imes/menastabilisierung/pdf/faath_studieEntwicklungsansatz_2009_voll
text.pdf (10.08.2010).
38
 ENPI-European Neighbourhood and Partnership Instrument: Algeria Strategy Paper 2007-2013 &
National Indicative Programme 2007-2010: 13,
http://ec.europa.eu/world/enp/pdf/country/enpi_csp_nip_algeria_en.pdf (04.12.2010).
                                                                                                                        9
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

elite - sowie die ibâditischen Muslime (Ibâditen) in den Oasen des Mzab. Die ehemals große
jüdische Gemeinde Algeriens (1950: ca. 140.000 Mitglieder) ist infolge von Auswanderung
stark zurückgegangen. Mit dem Ende der Kolonialzeit (1962) sank der einst hohe
Bevölkerungsanteil europäischer Christen (1948: ca. 10%).39
Neben der klassisch-islamischen Orientierung ist die mystische Richtung des volkstümlichen
Islams verbreitet. Dabei übernehmen Bruderschaften und Zawijas (traditionelle Gebetsorte,
Heiligengräber, religiöse Bildungsstätten) eine wichtige soziale Funktion.40
Nach der Zeit der bewaffneten Kämpfe zwischen radikalen Islamisten und Sicherheitskräften
in den 1990er Jahren verfolgt der seit 1999 amtierende Präsident Abdelaziz Bouteflika einen
Ausgleich mit den Islamisten. Das staatliche Vorgehen äußert sich dabei in verschiedenen
Formen der Kontrolle und der Einbeziehung. So sind moderate islamistische Parteien in die
Regierung und das parlamentarische System eingebunden, die Aktivitäten der Moscheen
unterliegen dabei staatlichen Vorgaben und der Aufsicht des Religionsministeriums. Vor Ort
übernehmen die Walis diese Funktion. Weiterhin kommt die Regierung den islamistischen
und religiös konservativen Strömungen in der Gesellschaft mit der Aufwertung religiöser
Symbole, Institutionen und Handlungen entgegen. So wird seit 2006 im algerischen Fern-
sehen zum Gebet aufgerufen und dabei auch Nachrichtensendungen unterbrochen.41
Insbesondere in den großen Städten ist der schleichende Wandel des öffentlichen Lebens
zugunsten konservativer Verhaltensmuster spürbar.42 Zwischen 2006 und 2008 mussten in
Algerien 1.200 Getränkeläden mit Alkoholverkauf auf offizielle Anordnung schließen. Die
Algerier verbringen ihre Freizeit abends vorwiegend in den eigenen vier Wänden. In Algier
findet dennoch ein Nachtleben, zumindest in den schicken Stadtteilen statt, mit exklusiven
Rückzugsräumen für die Angehörigen der Oberschicht.43 Nicht nur hier wird offensichtlich,
dass neben dem Islam die Einflüsse der Modernität die algerische Gesellschaft prägen.
Junge Frauen tragen eher Kopftuch als den Gesichtsschleier und in den Großstädten und im
Berufsleben mitunter auch gar keine Kopfbedeckung. Die meisten jungen Leute sind keine
Anhänger der Islamisten und empfinden die religiösen Verhaltensregeln als Korsett.44 Trotz
zunehmendem Einfluss des Informationsaustauschs über die sozialen Netzwerke des
Internets bleiben die Moscheen einflussreiche Institutionen der Meinungsbildung. Die
Verankerung der Imame in der algerischen Gesellschaft, der Kontakt zu breiten
Bevölkerungsschichten und ihre Glaubwürdigkeit werden beispielsweise in der Umwelt-
erziehung genutzt, wie ein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit zur Reform der Abfall-
wirtschaft in der Stadt Annaba zeigt.45

39
     Kogelmann, F. (o.Jg.): Algerien. In: Lexikon Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.de
http://www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=V0TA1O (10.01.2011).
40
  Séréni, J.-P. (2010): Viele Baustellen in Tlemcen. Eine algerische Provinzstadt zwischen Moschee
und Business. In: Le Monde diplomatique 12.2.2010,
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/02/12.mondeText.artikel,a0063.idx,13 (03.04.2011).
41
  Werenfels, I. (2009): Bouteflika zum Dritten. Stabilitätsgarantie oder Stabilitätsrisiko. SWP-Aktuell
2009/A 19: 5, http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=5916, http://www.swp-
berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2009A19_wrf_ks.pdf (10.01.2011).
42
     Hasemann, A. (2009): Algerien nach der Wahl: Politische Implikationen der Kontinuität, FES Algier,
http://library.fes.de/pdf-files/iez/06307.pdf (04.01.2011).
43
 Popelard, A./ Vannier, P. (2010): Algier, Place des Martyrs. ein vergessenes Welterbe, halbfertige
Museen und viel Gekungel im öffentlichen Bauwesen. In: Le Monde diplomatique 10.12.2010,
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/12/10/a0059.text.name,askinB3pJ.n,9 (12.01.2011).
44
     Hackensberger, A. (2011): Domino am Mittelmeer? Kommentar. In: taz, 04.02.2011,
http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/domino-am-mittelmeer/ (16.02.2011).
45
  Altmann, C., Karpe, H.J. (2007): Algerien: Handbuch für den Imam. In der algerischen Stadt Annaba
prägen die Imame den Umweltschutz. In: gtz Akzente 3/07: 8-10,
                                                                                                             10
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

Infokasten: Politischer Islam in Algerien
Algerien leidet noch heute unter dem Trauma und den damit einhergehenden
gesellschaftlichen Verunsicherungen der jahrelangen schweren militärischen Auseinander-
setzungen zwischen gewaltbereiten Islamisten und den staatlichen Sicherheitskräften in den
1990er Jahren. Die folgenden Ausführungen geben einen Überblick über den Entstehungs-
kontext und die Folgen dieser Auseinandersetzungen.

Bedeutungszuwachs islamistischer Gruppen im Kontext wirtschaftspolitischer und
konjunktureller Umbrüche in den 1980er Jahren
Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges entfaltete sich die salafitische Strömung des Islams in
Nordafrika, stark beeinflusst durch den saudi-arabischen Wahhabismus und durch die
Muslimbrüder in Ägypten. In Algerien integrierten sich die Salafisten in den 1950er Jahren in
die antikoloniale Befreiungsbewegung. Nach der Unabhängigkeit galt der Islam als Staats-
religion, jedoch verfolgte der Staat zunächst eine Säkularisierungspolitik unter dem Einfluss
einer marxistisch orientierten Elite. Ab 1965 überließ die Regierung Boumediène dem
islamistischen Flügel in der herrschenden Partei FLN einige politische Felder, wie Bildung,
Erziehung und Kultur, um die Marxisten zu schwächen und Unterstützung für die veränderte
Regierungspolitik unter den Konservativen zu erhalten. Im Zuge des weiteren Abrückens
vom sozialistischen Regierungskurs wurden in den 1970er und 1980er Jahren militante
Islamisten in den Universitäten gegen kommunistische Studenten und die Berberbewegung
instrumentalisiert. Die Arabisierungspolitik unterstützte gleichfalls den zunehmenden Einfluss
konservativer und religiöser Gruppen durch den Einsatz von muslimischen Gelehrten aus
dem Nahen Osten und Ägypten. Dennoch war in dieser Zeit der "staatliche Islam" vor-
herrschend. Das Gleiche traf für die Sprache und das kulturelle Leben zu. Politische
Aktivitäten waren in dieser Zeit nur in der FLN oder in den ihr nahestehenden Organisationen
möglich.
Mit dem Rückgang der Erdölpreise in den 1980er Jahren nahmen die sozialen Probleme und
Unruhen zu. Die vom Internationalen Währungsfond auferlegten marktliberalen Struktur-
reformen stießen auf breiten Widerstand, was zur Propagierung eines stärkeren Markt-
interventionismus unter nationalistischen und staatsorientierten Vorzeichen führte. Die
Erdölkrise begünstigte die Entstehung einer Vielfalt islamistischer Gruppen, die zur
Etablierung der 'Front Islamique du Salut' (FIS) führte, der einflussreichsten gesellschaft-
lichen Kraft und stärksten Stimme der Opposition. Die FIS forderte einerseits einen größeren
Spielraum des Privatsektors, wies aber dem Staat weiterhin eine wichtige Rolle zu. 46

Radikalisierung und "Bürgerkrieg" in den 1990er Jahren
Die politische und soziale Heterogenität der FIS-Anhängerschaft und ihre verschiedenen
Erwartungshaltungen spiegelten sich in Fraktionen der FIS wieder. Die Mittelschichten
erhofften sich von der islamistischen Bewegung die positive Einflussnahme auf die Reform-

http://www2.gtz.de/dokumente/AKZ/deu/AKZ_2007_3/akzente_3-07_Algerien.pdf (12.01.2011).
46
   Ouaissa, R. (2008): Islamistische Parteien im Maghreb – Der Maghreb zwischen moderatem und
radikalem Islam. In: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) (Hrsg.): Politischer
Islam in arabischen Ländern, 55-73: 55, 60-62,
http://cdc.giz.de/de/dokumente/de-gtz-programmbuero-politischer-islam.pdf (29.01.2011).
                                                                                                          11
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

willigkeit der Regierung, während sich die unteren Einkommensgruppen mit der Beseitigung
der als korrupt bewerteten Herrschenden identifizierten.
Nachdem die islamistische FIS 1990 die ersten demokratischen Kommunalwahlen
gewonnen hatte, setzte sich ihr Siegeszug im Dezember 1991 im ersten Wahlgang der
Parlamentswahlen fort. Vor dem zweiten Wahlgang wurde auf Druck der Armee das
Parlament aufgelöst. Eine Junta der einflussreichsten Generäle verübte einen unblutigen
Staatstreich um den FIS-Wahlsieg zu verhindern, mit der Begründung, den Politikwechsel
von der Demokratie zur Theokratie zu verhindern.47 Der Wahlabbruch stärkte die radikalen
Kräfte der FIS. Dies führte zur Spaltung der Partei und zum Beginn des Djihads unter der
Führung terroristischer Gruppen. Terroristische Gewalt und Gegengewalt seitens des Militärs
und der Sicherheitsdienste forderten während acht Jahren "Bürgerkrieg" nach offiziellen
Schätzungen 200.000 Tote.48 Erst nachdem sich der algerische Staat wirtschaftlich erholt
hatte (erhöhte Ölpreise, westliche Kredite) konnte die Armee den Krieg Ende der 1990er
Jahre beenden.

Versöhnungspolitik und Verunsicherung - Nachwirkungen des "Schwarzen Jahrzehnts"49
Die nationale Versöhnungspolitik (réconciliation nationale), ist eines der wichtigsten Projekte
der Regierungszeiten Bouteflikas. Im Rahmen der drei aufeinanderfolgenden, durch Volks-
abstimmungen legitimierten Amnestien wurde die Reintegration von islamistischen
Extremisten geregelt. Allerdings weisen nationale und internationale Kritiken darauf hin, dass
die Rolle der Staatsgewalt in Gewaltakten und das Schicksal der - nach offiziellen Angaben -
6.146 verschwundenen Zivilisten unaufgearbeitet blieben.50 Die "Nationale Versöhnung" ist
zudem auch deshalb fragil, weil große Teile der Bevölkerung die großzügige Auslegung der
"Charte pour la Paix et la Réconciliation Nationale" ablehnen, da sie zu einer Vielzahl von
intransparenten Amnestien führte, von denen auch islamistische Gewalttäter51 profitierten,
die eigentlich von der Amnestie ausgenommen sein sollten. Das Misstrauen gegenüber den
Amnestierten ist deshalb ausgeprägt.52

47
 Horst, J. / Werenfels, I. (2009): Algerien. In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 302/2009:
Nordafrika: Scharnier zwischen Afrika und Europa,
http://www.bpb.de/publikationen/ZYMCQZ,2,0,Nordafrika%3A_Scharnier_zwischen_Afrika_und_Europa.html
(07.01.2011).
48
  Shabafrouz, M. (2010): Fuel for Conflict or Balm for Peace? Assessing the Effects of Hydrocarbons
on Peace Efforts in Algeria. GIGA German Institute of Global and Area Studies, GIGA Working Papers
132/2010: 10, http://www.giga-
hamburg.de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/wp132_shabafrouz.pdf (08.02.2011).
49
   Die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten islamistischen Gruppen und
den algerischen Sicherheitsdiensten in den 1990er Jahren wird als "déciennie noire" bezeichnet.
50
   Dutour, N. (2007): Algérie : De la concorde civile à la Charte pour la Paix et la Réconciliation
Nationale : Amnistie, amnésie, impunité. http://lipietz.net/spip.php?article2139 (18.04.2011); Migdalovitz, C.
(2010): Algeria: current issues. Congressional Research Service, Washington/D.C.: 5,
http://fpc.state.gov/documents/organization/152624.pdf (04.03.2011).
51
   Den Amnestiebestimmungen zufolge muss jede Auslieferung an die Behörden veröffentlicht werden
und hat nur dann Aussicht auf Erfolg, solange die ehemaligen Militanten beweisen können, sich nicht
an schweren Straftaten, wie Massakern oder Vergewaltigungen, beteiligt zu haben. Aus Angst vor
Stigmatisierung behaupten deshalb viele Amnestieersuchende, sie seien nur Koch oder Helfer in den
Lagern der bewaffneten Islamisten gewesen. (Bertelsmann Stiftung (2009): BTI 2010 - Algeria
Country Report. Gütersloh: 38, http://www.bertelsmann-transformation-
index.de/fileadmin/pdf/Gutachten_BTI2010/MENA/Algeria.pdf (19.12.2010)).
52
  Faath, S. (2008): Reziprokes Mißtrauen: Zum Verhältnis von Staat, Bevölkerung und Opposition in
Algerien. In: Faath, S. (Hrsg.): Kontrolle und Anpassungsdruck - Zum Umgang des Staates mit
Opposition in Nordafrika/Nahost. GIGA Institut für Nahost-Studien, Hamburg, 121-166: 152f,
http://www.giga-
                                                                                                           12
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

Moderate islamistische Parteien
Die FIS bleibt weiterhin verboten, ihre politischen Aktivitäten werden weitgehend
unterdrückt53, während moderate Parteien des islamistischen Spektrums seit 1997 zu den
Wahlen zugelassen wurden, wie die
-      MSP (Mouvement de la Société pour la Paix),
       gehört seit 1996 der Regierungskoalition an und pflegt als Ableger der inter-
       nationalen Muslimbruderschaft gute Kontakte mit der türkischen Regierungspartei
       AKP. Die MSP kontrolliert die größte studentische Vereinigung Algeriens und einen
       der mächtigsten karitativen Vereine.
-      El Islah (Bewegung für Nationale Reformen),
       ist seit 2002 drittstärkste Kraft in der Nationalversammlung und gilt als weniger
       pragmatisch als die MSP. Sie ist als Protestpartei zum Sammelbecken der ehe-
       maligen Mitglieder der aufgelösten FIS geworden. Sie regiert in vielen Kommunen
       an Algiers Peripherie mit, die als soziale Brennpunkte gelten.54

Radikale Islamisten
Nach dem Verbot der FIS im März 1992 hatten sich viele der enttäuschten jugendlichen FIS-
Anhänger radikalisiert und bewaffneten islamistischen Untergrundbewegungen ange-
schlossen. Sie organisierten sich in bis zu 12 verschiedenen terroristischen Gruppen.
2008 wurde die noch aktive GSPC (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat) in
den Reihen von Al-Qaida aufgenommen und hat sich in Al-Qaida im Maghreb umbenannt (s.
auch die Informationen zu Terrorismus in Kapitel 1.5). Ziel der terroristischen Anschläge ist
der Staat, der Sicherheitsapparat, die Armee und die Polizei. Das algerische Innen-
ministerium gibt die Anzahl der Terroristen mit 500 - 800 an. Die Mitglieder und Attentäter
rekrutieren sich vorwiegend aus den Bidonvilles, den informellen Siedlungen der
Großstädte.55
Von den im Rahmen des nationalen Versöhnungsprojektes amnestierten Islamisten geht in
Gemeinden und Wohnvierteln, in denen sie stärker präsent sind, immer noch Druck auf ihre
Umgebung aus, sich den islamistischen sittlich-moralisch-religiösen Vorstellungen
anzupassen.56

hamburg.de/dl/download.php?d=/content/imes/menastabilisierung/pdf/faath_studieKontrolle_2008_volltext.pdf
(13.10.2010).
53
   Werenfels, I. (2009): a.a.O. (Anm. 41): 4.
54
   Ouaissa, R. (2008): a.a.O., (Anm. 46): 64-65.
55
   Ouaissa, R. (2008): a.a.O. (Anm. 46): 68-69.
56
   Faath, S. (2008): a.a.O. (Anm. 52): 164.
                                                                                                            13
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

1.3    Sozialpolitische Problemfelder
Der Reichtum Algeriens an Erdgasvorräten und
die günstige makroökonomische Situation des
Landes übersetzt sich nicht in ausreichendem
Maße in die Verbesserung des Lebensstandards
weiter Teile der Bevölkerung. Die Regierung
weist explizit auf Entwicklungsdefizite hin und
reagierte in den letzten Jahren mit Investitionen
in Infrastrukturmaßnahmen, Wohnungsversor-
gung, Beschäftigungsförderung und die Entwick-
lung strukturschwacher Regionen. Weiterhin
werden Reformen des Bildungssektors und die
UN-Milleniumsziele zur Armutsbekämpfung um-
gesetzt. 2010 rückte Algerien um 20 Plätze auf
den 84. Rang des UN-Human Development
Index (HDI) vor.57
Der neue 5-Jahres Entwicklungsplan 2010-2014
sieht 286 Milliarden US-Dollar zur Generierung      Straßenhandel in Algier              © L. Nuphaus 2010
von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung vor,
vorwiegend in den nicht kohlenwasserstoff-basierten Sektoren.58
Dennoch bestehen zentrale soziale und ökonomische Probleme fort, so dass die soziale
Lage weiter Bevölkerungsschichten als angespannt bewertet wird59 (s.a. Soziale Proteste
und die Demokratiebewegung 2011 in Kapitel 1.5).

        Niedrige Einkommen
Der staatliche Mindestlohn ist seit Januar 2010 auf 15.000 algerische Dinar (DZD) (etwa
143,- Euro) im Monat festgesetzt worden60, nachdem die Löhne und Gehälter im formellen
Wirtschaftssektor in den Jahren seit 2000 kräftig gestiegen sind. Durchschnittliche
Bruttomonatslöhne sind durch eine scharfe Fragmentierung nach Branchen gekennzeichnet.
So verdienen Industriearbeiter im Kohlenwasserstoffsektor mit 400 Euro (Stand 2006) etwa
das Doppelte wie der Durchschnitt der Industriebeschäftigten und etwa das 2,5 fache wie
Beschäftigte in der Bauwirtschaft. Diese Zahlen geben jedoch nur ein begrenztes Bild der
Entlohnungspraxis, weil sich die Einkommen im informellen Sektor nur schwer erfassen
lassen61 und sich den staatlich vorgegebenen Standards entziehen. Dies erklärt auch,
weshalb das algerische Durchschnittseinkommen mit 12.000 bis 15.000 DZD pro Monat
(Stand 2008)62 in etwa dem staatlichen Mindestlohn entspricht. Junge Akademiker beziehen

57
  UNDP (2010): Human Development Report 2010 - The Real Wealth of Nations:
Pathways to Human Development, New York: 144,
http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf (03.03.2011).
58
   Migdalovitz, C. (2010): Algeria: current issues. Congressional Research Service, Washington/D.C.:
8-10, http://fpc.state.gov/documents/organization/152624.pdf (04.03.2011).
59
   Faath, S. (2010): Algerien im neuen Jahrzehnt. Symposium 21. Juni 2010 in Wien, Österreichisches
Institut für Internationale Politik, http://www.orient-gesellschaft.at/data/files/Algerien_Bericht.pdf (12.03.2011).
60
   Centre des Liaisons Européennes et Internationales de Sécurité Sociale (2010): Le régime algérien
de sécurité sociale, http://www.cleiss.fr/docs/regimes/regime_algerie.html (26.04.2011).
61
   bfai/AHK (2008): Wirtschaftsführer Algerien, Köln, Algier: 41.
62
   Bertelsmann Stiftung (2009): BTI 2010 — Algeria Country Report. Gütersloh: 33,
                                                                                                                 14
Handreichungen Interkulturelle Kompetenz: Algerien

Anfangsgehälter von 9.000 DZD (ca. 91 Euro) und einfache Arbeiter von nur 3.000 DZD (ca.
30 Euro).63 Das Einkommensniveau des Bevölkerungsdurchschnitts ist den Lebenshaltungs-
kosten und Preissteigerungen der jüngsten Zeit nicht angemessen. So beträgt die Miete für
eine durchschnittliche Zweizimmerwohnung in Vororten Algiers etwa dem Betrag des
monatlichen staatlichen Mindestlohnes.64
Gemäß den Kriterien des UNDP Human Poverty Index leben in Algerien 17,5% der Bevöl-
kerung unter der Armutsgrenze65, 2004 waren es noch 21,5%66. Der Zugang zu sozialen
Unterstützungsleistungen ist an die formale Erwerbstätigkeit gekoppelt. Arbeitnehmer und
Rentner und ihre Familienangehörigen sind demnach Begünstigte der staatlich geförderten
Gesundheitsversorgung und erhalten kostenfreien Zugang zu Krankenhäusern. Rentner
beziehen ein Minimum von 75% des nationalen Mindestlohns nach 15 Jahren Erwerbs-
tätigkeit.67

         Arbeitslosigkeit junger Erwachsener und prekäre Arbeitsbedingungen
Im Februar 2011 verkündete der algerische Arbeitsminister Tayeb Louh, bis zum Jahr 2014
müssten drei Millionen Jobs geschaffen und den beschäftigungswirksamen Investitionen
Vorrang verschafft werden.68 Die offizielle Arbeitslosenrate ist zwar seit 2000 deutlich
gefallen (auf 10%)69, jedoch liegt die Arbeitslosigkeit junger Erwachsener weiterhin bei 30%
(2001 waren es noch 48%). Damit gehören 72% der arbeitslosen Bevölkerung der
Generation der unter 30jährigen an. Zudem kommen auf dem Arbeitsmarkt jährlich ca.
300.000 neue Jobanwärter hinzu.70 Die Wahrscheinlichkeit, keine Stelle zu finden, steigt
dabei tendenziell mit zunehmendem Bildungsabschluss, insbesondere bei jungen Frauen.71
Weiterhin sind die Arbeitsbedingungen junger Erwerbstätiger häufig prekär. So sind ca. 70%
der jungen Erwerbstätigen nicht sozialversichert, nur etwa ein Viertel besetzt unbefristete
Stellen, und die meisten jungen Selbstständigen werden steuerlich nicht erfasst.72

http://www.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/Gutachten_BTI2010/MENA/Algeria.pdf
(19.12.2010).
63
   Tamani, D. (2011): Le démenti. In: El Watan.com, 6 février 2011, http://www.elwatan.com/edito/le-
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64
   Popelard, A./ Vannier, P. (2010): Algier, Place des Martyrs - Ein vergessenes Welterbe, halbfertige
Museen und viel Gekungel im öffentlichen Bauwesen. In: Le Monde diplomatique Nr. 9366 vom
10.12.2010, http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/12/10/a0059.text.name,askinB3pJ.n,9 (16.02.2011).
65
   African Economic Outlook: Algeria - Social Context and Human Resource Development,
http://www.africaneconomicoutlook.org/en/countries/north-africa/algeria/ (24.03.2011)
66
   Bertelsmann Stiftung (2009): a.a.O. (Anm. 62): 18.
67
   Bertelsmann Stiftung (2009): a.a.O. (Anm. 62): 24.
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   Algeria prioritises job creation. In: magharebia com 08.02.2011,
http://www.magharebia.com/cocoon/awi/xhtml1/en_GB/features/awi/newsbriefs/general/2011/02/08/newsbrief-03.
69
     African Economic Outlook: Algeria - Social Context and Human Resource Development,
http://www.africaneconomicoutlook.org/en/countries/north-africa/algeria/ (24.03.2011).
70
 Bertelsmann Stiftung (2009): a.a.O. (Anm. 62): 18.
71
 Kpodar, K. (2007): Why Has Unemployment in Algeria Been Higher than in MENA and Transition
Countries? IMF Working Paper WP/07/210: 8, http://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2007/wp07210.pdf
(6.01.2011).
72
  Musette, M. S. (2009): Die neue soziale Frage in Algerien: Jung und arbeitslos - eine unauflösliche
Verbindung? In: Faath, S. (Hrsg.): „Sozio-regionale― Entwicklungsansätze in Nordafrika/Nahost. GIGA
Institut für Nahost-Studien, 77-92: 87, http://www.giga-
hamburg.de/dl/download.php?d=/content/imes/menastabilisierung/pdf/faath_studieEntwicklungsansatz_2009_voll
text.pdf (12.03.2011).
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