Die Ertrunkenen im Mittelmeer - Migration Control

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Die Ertrunkenen im Mittelmeer - Migration Control
Die Ertrunkenen im Mittelmeer
Anmerkungen zum Buch von Paolo Cuttitta und Tamara Last (Eds): Border
Deaths. Causes, Dynamics and Consequences of Migration-related Mortality.
Amsterdam University Press, 2020

von Eberhard Jungfer, FFM. Bei FFM arbeiten wir seit 1994 über
Migrationsbewegungen und europäische Ausgrenzungspolitik.

Die Ertrunkenen im Mittelmeer. Wie sich diesem Thema nähern von einem
trockenen und warmen Plätzchen aus? Aktiv und angerührt sein bei einer
Commemoraction – aber es bleibt dieses ständige und lähmende Gefühl einer
Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, das sich aktivistisch nicht aufheben lässt.1Eine
Commemoraction ist eine aktivistisch organisierte Gedenkveranstaltung Die
große Migrationsbewegung von 2015/16 ist eingebrochen, um einen hohen Preis
an Menschlichkeit und Menschenleben. Aber das Buch von Paolo Cuttitta und
Tamara Last ist kein Nachruf. Weiterhin versuchen zahllose Menschen, die
Grenzen der Festung Europa zu überwinden und ein Ende der grausamen Politik
des Ertrinken-Lassens ist nicht in Sicht. Druck aufzubauen gegen die Todespolitik
an den Grenzen und in ihrem Vorfeld war schon vor Corona schwierig. Wer im
relativen Luxus lebt und leben will, arrangiert sich in tiefen psychischen
Mechanismen mit den grausamen Bildern und den Todesziffern. Dokumentieren,
was geschieht, ist wichtig – und wäre es nur für die Nachwelt. Was vor den Toren
Europas geschieht, ist unverzeihlich.

Sterben an den Grenzen – Bestandsaufnahmen
Bevor wir über den Sammelband sprechen, der einer Tagung aus dem Jahr 2018
entstammt, soll an die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer erinnert werden.
Vor einem Jahr, am 09.02.2020, sind 91 Boat People, die in Libyen auf ein
schwarzes Gummiboot gestiegen waren, unter den Augen der italienischen und
maltesischen Rettungsstellen ihrem Schicksal überlassen worden. Einmal mehr.
Seit 2014 wurden 21.500 Ertrunkene gezählt, im Januar und Februar 2021 waren
es 261 Tote, nicht inbegriffen die anonymen Körper, die an den tunesischen
Küsten angeschwemmt wurden oder die auf dem Mittelmeer verschollen sind.
Die Ertrunkenen im Mittelmeer - Migration Control
Alarmphone ist ein transnationaler Zusammenschluss von Aktivist*innen, die
einen unabhängigen Notruf für die Boat People organisieren und versuchen, die
Fälle von Nicht-Rettung und die Todesfälle auf See so gut es geht zu
dokumentieren. Im Aufruf für die Commemoraction schreibt das Alarmphone:

  The 91 people who went missing on 9 February are not accounted for in official
  statistics, which only count those shipwrecks confirmed by survivors. In
  absence of witnesses, dozens of shipwrecks are not recorded and acknowledged
  by international organisations.
  We reject the logic of reducing Black/Migrant people, their lives and their
  deaths to numbers and statistics. This racist dehumanisation does not account
  for the loss of Abdul, of Aboubacar, of Adnan, of Afdel. It does not account for
  the pain inflicted to their mothers, their sisters, their friends. It does not
  account for the White supremacist violence, by action and by inaction, historical
  and present, that keeps murdering Black/Migrant lives or lets them die at sea.
  The silence and lack of acknowledgement denies entire communities the right
  to know about what happened to the people who went missing. It denies entire
  communities the right to bury their loved ones, to mourn them, and to find
  closure after painful searches.
Die Amsterdamer NGO UNITED for Intercultural Action sammelt seit 1993 die
Namen der Toten an den Grenzen Europas. Bis zum 11. Juni 2020 wurden 40.555
Namen erfasst. UNITED sucht die Informationen bei NGOs, Forschungsinstituten,
Journalist*innen, Regierungsorganisationen und in anderen Quellen. Die Liste ist
mit Sicherheit nicht vollständig. In Spanien brachten Migrant*innen- und
Menschenrechtsorganisationen den massenhaften Tod vor Gibraltar an die
Öffentlichkeit: Zwischen 1991 und 1996 sind wahrscheinlich allein in der
Meerenge von Gibraltar zwischen 2.000 und 4.000 Menschen

umgekommen.2https://ffm-online.org/wp-
content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf, S. 35 In den späten 1990er Jahren
widmeten sich Forensik- und Migrationswissenschaftler*innen den Toten an der
US-mexikanischen Grenze, deren Zahl infolge einer Verschärfung der
Grenzkontrollen angestiegen war. Später befassten sich auch in Europa
Wissenschaftler*innen mit dem Thema. Tamara Last, die Mitautorin des hier
besprochenen Buchs, hat eine Datenbank angelegt, die auf offiziellen Daten
beruht – den „death management systems“ von Spanien, Gibraltar, Italien, Malta
und Griechenland. Auf der Homepage werden die Sterbefälle im Mittelmeer und
auf der Kanarenroute für die Jahre 1990 bis 2013 auf einer Landkarte visualisiert.
Für die Jahre 2013 bis 2015 gibt es eine Aufstellung auf dem Blog von Gabriele
Del Grande, Fortress Europe. Maël Galisson hat seit 1999 die Toten im
Ärmelkanal dokumentiert und mehr als 290 Tote ermittelt. Sie hat eine Zeitleiste
erstellt, die im letzen Jahr auch auf Englisch publiziert wurde. Seit 2014
dokumentiert Alarmphone die Katastrophen in der Ägäis, auf der zentralen
Mittelmeerroute und im westlichen Mittelmeer. Seit 2017 gibt es die von der IOM
gestützte Missing Migrants Website, die in Kapitel 4 des vorliegenden Buchs
vorgestellt wird.
Das Ertrinken-Lassen hat Helmut Dietrich als „Europäische Lösung“ bezeichnet,
in Analogie zur „Pacific Solution“, wie die von der australischen Regierung
praktizierte Verbannung der Geflüchteten auf ferne Inseln bezeichnet wurde. Zur
„Europäischen Lösung“ gehören auch das Verdursten-Lassen in der Wüste, das
auch an der Grenze zwischen Mexiko und den USA von Bedeutung ist, die
Hotspots und die Lager. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA sterben
jährlich            zwischen             250           und           500

Menschen.3https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/grenze-mexiko-usa-grenzs
chutz-einwanderer-opfer/komplettansicht/,                   siehe        auch
https://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_den_Vereinigten_Staaten_und_Mex
iko Die Zahl der Toten an der Grenze zu Australien betrug seit dem Jahr 2000
wahrscheinlich 2.000 Menschen, mit einem Höhepunkt im Jahr 2012 mit mehr als
400 Toten. Die Monash University erstellte eine Australian Border Death
Database, auf der diese Schätzungen beruhen. Das Buch von Leanne Weber und

Sharon Pickering, Death at the Global Frontier, 4 Leanne Weber and Sharon
Pickering (2011): Globalization and Borders: Death at the Global Frontier,
London, vgl. https://enigmur.hypotheses.org/2989 verglich die Situation an den
Grenzen zwischen dem globalen Süden und Norden in Europa, Australien und
Nordamerika. Die Europäische Lösung, das Ertrinken-Lassen zu Zehntausenden,
ist allerdings einzigartig auf der Welt.

In den Jahren 1949 bis 1989 wurden an der innerdeutschen Grenze 327
Menschen getötet. An die Opfer erinnern zahlreiche Mahnmale und
Gedenkstätten. Die kleinen Gesten des Gedenkens an die im Mittelmeer
Ertrunkenen – Schuhe, Blumen, Schwimmwesten – werden dagegen in der Regel
umgehend von der Müllabfuhr entsorgt. Die Politik argumentiert, dass die
Sperrung der Migrationswege Menschenleben rette. Müssten wir also im
Umkehrschluss das DDR-Regime kritisieren, weil die Mauern nicht hoch genug
waren, so dass Menschen gar nicht erst in Versuchung kamen, sie zu
überwinden?

Perspektiven des Sammelbandes
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um dem Kreislauf von
Flüchtlingsabwehr und noch mehr Toten zu entkommen? Das Nachwort von
Border Deaths, „Vom Eisernen Vorhang bis Lampedusa“ von Thomas Spijkenboer,
geht dieser Frage nach:

       Zuerst müsse demnach anerkannt werden, dass die rassistisch als „die
       Anderen“ ausgegrenzten Toten an den Grenzen von Bedeutung sind. Dazu
       gehöre, dass sie wenigstens gezählt werden und die Todesursache
       festgehalten wird.
       Zweites müsse der Einfluss der Sicherheitsindustrie auf die Politik
       geschwächt werden und zivile Akteur*innen sollten von vornherein über
       Mitspracherechte verfügen und
       drittens müsse die Politik aus dem Tunnelblick der Alternativlosigkeit
       befreit werden.

  1989 gelang es in Europa, eine Situation zu beenden, in der Menschen starben,
  wenn sie versuchten, die Grenzen irregulär zu überqueren. Seitdem sterben
  Menschen an anderen Grenzen. Wie die Todesfälle am Eisernen Vorhang sind
  auch diese Todesfälle die Folgen menschlicher Entscheidungen. Deshalb kann
  auch diese Situation beendet werden. Diese Veränderungen müssen vielleicht

  genauso tiefgreifend sein wie jene von vor 30 Jahren. (S. 168)5Übersetzungen
  aus dem Englischen durch den Autor

Exceptionalization and Normalization

Im Vorwort beschreibt Paolo Cuttitta die Situation auf dem zentralen Mittelmeer
im Jahr 2018 als Wechselspiel zwischen der Konzeptualisierung der Migration als
Ausnahmezustand und der Gewöhnung an die angeschwemmten Leichen
(Exceptionalization and Normalization). Implizit wird Migration zum
Ausnahmezustand erklärt, so Cuttitta, wenn der Fokus auf die Toten gerichtet
wird:

  Durch Prozesse der räumlichen Distanzierung und symbolischen
  Dehumanisierung von Menschen „on the move“ führen restriktive Migrations-
  und Grenzpolitiken zu einer wachsenden kollektiven Gleichgültigkeit gegenüber
  Grenztoten, die als „Norm“ zunehmend akzeptiert werden. Wichtig ist, dass
  eine solche Normalisierung in einem Kontext der Exzeptionalisierung von
  Migration als solcher stattfindet: Migration, die durchaus als normales soziales
  Phänomen gesehen werden könnte, wird in etwas Außergewöhnliches
  verwandelt. Die Normalisierung des Todes und die A-Normalisierung der
  Migration erscheinen dann als Spiegelprozesse. Aus dieser Perspektive scheint
  es keine andere Lösung zu geben, als irreguläre Migration und Schleusung zu
  bekämpfen. […]
  Die Gefahr besteht darin, dass man den Zusammenhang zwischen Grenzpolitik
  und Grenztod und dem Unterschied zwischen dem, was normal und natürlich
  ist (oder sein sollte) – Migration –, und dem, was außergewöhnlich und
  unnatürlich ist (oder sein sollte) – Sterben durch Migration –, aus den Augen
  verliert. (S. 11)

Die Toten sind Resultat einer strukturellen Gewalt des Migrationsregimes. Aber
auch das Zählen der Toten kann Teil dieser strukturellen Gewalt sein – sei es aus
Gründen der Abschreckung oder der Legitimierung zusätzlicher
Sicherheitstechnik. Cuttitta beschreibt die Gleichzeitigkeit der Aufrüstung an den
Grenzen und der Humanitarisierung des Grenzregimes (Securitarization and
Humanitarization), also die Verschränkung der NGOs mit der Sicherheitslogistik
und ihren Praktiken als Bestandteile ein und desselben Regimes. Und:

  Aggregationen von Zahlen sollten nicht die Bedeutung jedes einzelnen
  Todesfalls und die Prozesse, die zu Todesfällen an der Grenze führen,
  verdecken. „Das Problem liegt in der Verwendung von Todeszahlen als
  zentralem Weg, sich mit dem Tod zu beschäftigen und damit diese Toten aus
  der Geographie und der Verantwortlichkeit zu entfernen“. (S. 12)

Zählen, trauern, gedenken. Dieses Buch hilft uns, die Beschäftigung mit den
Toten in mehreren Dimensionen kritisch zu reflektieren. Wer stirbt wo und wie?
Natürlich müssen Staaten zur Dokumentation verpflichtet sein. Trauerfeiern, die
als Staatsritual inszeniert werden, dienen indes nur der Reinwaschung der
Verantwortlichen und sind den Hinterbliebenen keine Hilfe, sofern keine
Konsequenzen gezogen werden und Schmerzensgeldansprüche nicht zugelassen
werden. Es stellt sich nicht nur die Frage nach einem respektvollen Umgang mit
den Toten, sondern auch nach Solidarität mit den Hinterbliebenen, nach
Reparationen und letztlich nach dem grundsätzlichen Umgang mit globaler
Ungerechtigkeit.

  Die Todesfälle an den Grenzen sind nur die Spitze eines Eisbergs von Gewalt
  und Diskriminierung, die das gegenwärtige globale Migrationsregime
  durchdringen. Leid und Ungerechtigkeit materialisieren sich nicht nur im Tod;
  sie können sich auch auf viele andere Arten ausdrücken. Die ungerechte und
  gewalttätige Migrations- und Grenzpolitik wäre auch dann noch ungerecht und
  gewalttätig, wenn die Zahl der Todesfälle an den Grenzen abnehmen oder auf
  Null sinken würde. (S. 15)

Die Herausforderung für diejenigen, schließt Cuttitta, die im Zusammenhang
dieser Ungerechtigkeit über den Tod und mit dem Tod an der Grenze arbeiten –
Forscher*innen, Praktiker*innen und politische Entscheidungsträger*innen
gleichermaßen – besteht darin, einem Prozess entgegenzuwirken, der „den Akt
der Migration von einem Ort zum anderen von etwas Natürlichem zu etwas
Außergewöhnlichem“ macht und „individuelle und kollektive Tragödien […] von
der Ausnahme zur Norm“. (S. 15)

Die Beiträge

Das Buch verdankt sich einer Konferenz, die im Juni 2018 an der Universität
Amsterdam stattfand. Mehrere der mehr als 100 Teilnehmer*innen sind (Ko-
)Autor*innen der 8 Kapitel. Eine Reihe von Aktivist*innen hatte abgesagt, weil sie
mit den Lagerverwaltern der IOM nicht an einem Tisch sitzen wollten. Trotzdem
hatte die Konferenz Ergebnisse, die festzuhalten wichtig sind. Vorausgegangen
war ein fünf Jahre dauerndes Forschungsprojekt der Juristischen Fakultät, an

dem Paolo Cuttitta und Tamara Last beteiligt waren.6Beteiligt waren außerdem
Theodore Baird, Orçun Ulusoy, Lisa Komp sowie 12 Feldforscher*innen In ihrer
Einleitung formuliert Tamara Last die grundlegenden Fragen des
Forschungsfelds, mit denen sich die folgenden acht Beiträge beschäftigen:
Wer ist in das Grenztodesregime involviert?
Wie viele sterben und wie werden diese Informationen gesammelt?
Wie werden Grenztodesfälle repräsentiert?
Auf welche Weise beschäftigen sich Menschen mit den Toten?
Wie sind die Familien betroffen?
Was sind die politischen Aspekte von Grenztodesfällen?
Warum geschehen sie?
Wie reagieren die Akteure und wie sollten sie reagieren? (S. 24)

Das 1. Kapitel beschreibt die Akteur*innen, die mit den Grenztoten zu tun haben,
sowohl was die Verursachung der Todesfälle betrifft als auch ihre Verarbeitung.
Zu diesen Akteur*innen gehören nicht nur die Staatsorgane, die
Sicherheitsindustrie, die internationalen Organisationen, die Migrant*innen und
die Transporteure und Schleuser, sondern auch die Medien, die NGOs, die
Forscher*innen, die Religionsvertreter*innen, Künstler*innen und nicht zuletzt
die Angehörigen, ihre Anwält*innen und die Überlebenden. Die vielfältigen
Interaktionen auf diesem Feld werden als ein „Border Death Regime“
beschrieben. Dieser hier generierte Begriff ist sicherlich hilfreich, um die
verschiedenen Interaktionsfelder und bestehende Interdepenzenden im Blick zu
behalten.

Im 2. Kapitel geht es um die Daten, um Fallgruben und Grenzen der Statistik,
aber natürlich auch um die Verwendung der Daten durch Regierungsstellen oder
Medien. Im Kapitel 3 wird dies genauer untersucht: Wer benutzt welche Daten
und für welchen Zweck? Was wird wann, wie und warum präsentiert, für wen und
mit welchen Effekten? Es geht hier um „Positionality“ – um die Stellung der
Beteiligen im Border Death Regime. In Kapitel 4 geht es um die Identifikation der
Toten, in Kapitel 5 um das Trauern. Tatsächlich gelten die meisten Toten im
Mittelmeer als „vermisst“, ihre Körper werden nicht gefunden, es gibt keinen Ort
des Gedenkens, wenn ein solcher Ort nicht durch Commemoraction aktivistisch
geschaffen wird. Tamara Last entwickelt hinsichtlich dieser Gedenkarbeit einige
konkrete Empfehlungen für Forschende und Aktivist*innen:

  Die Initiativen nicht-staatlicher Akteure zur Identifizierung vermisster
  Migranten folgen eher einem familien-zentrierten Ansatz (Kapitel 4 und 5). Sie
  beharren auf der Notwendigkeit, die Betroffenen als Akteur*innen und
  Personen mit Rechten anzuerkennen und sie zu ermächtigen. Ihre heterogenen
  Anliegen und Interessen sollten in jede „Lösung“ für die Todesfälle an den
Grenzen einfließen (Kapitel 3 und 5). „Die Sorge um die Toten (ist) eine
  vielschichtige Aktivität – eine humanitäre Praxis, die sowohl die Toten als auch
  ihre Angehörigen einbezieht, aber auch eine politische Praxis, die sich um die
  Rechte der Toten kümmert – und sie zielt darauf ab, die Betroffenen als Zeugen
  zu engagieren“ (Kapitel 4). Ein Familien-zentrierter oder Betroffenen-
  zentrierter Ansatz zwingt alle Beteiligten dazu, innovativ und rücksichtsvoll zu
  sein in ihrer nicht-zufälligen Rolle im Grenztodesregime, und irreguläre
  Migration und Grenztodesfälle zu (re)humanisieren. (S. 31)

Das Verschwinden-Lassen

Das 6. Kapitel von Emilio Distretti setzt einen besonderen Akzent. Ausgehend von
der Karawane durch Zentralamerika an die Südgrenze der USA 2018 wird das aus
den lateinamerikanischen Militärdiktaturen bekannte Verschwinden-Lassen
(Enforced Disappearances) mit den Toten an der Grenze in Beziehung gebracht:

  Wie unterschiedliche Verwendungen und Kontexte zeigen, ist das Konzept des
  „Verschwinden-Lassens“ mit staatlicher Gewalt gleichzusetzen. Er geht um
  Menschen, die „verschwunden“ sind, nachdem sie vertrieben, verhaftet,
  willkürlich inhaftiert, gefoltert oder getötet wurden (oder anderen
  unrechtmäßigen Handlungen unterworfen), und zwar durch Staatsbeamte oder
  Dritte im Namen des Staates oder mit dessen Stillschweigen. Die staatlichen
  Behörden legen keine Rechenschaft ab, weigern sich, ein „Verschwinden“
  anzuerkennen und verweigern absichtlich Informationen über das Schicksal der
  „Verschwundenen“ gegenüber den Familien und Gemeinden.
  Kurz gesagt, „Verschwinden-Lassen“ sagt uns etwas über den Zustand der
  Opfer und die Menschenrechtsverletzungen, aber auch darüber, wie staatliche
  Gewalt ungestraft ausgeübt wird, und wie dies als als Strategie der Macht,
  Abschreckung und Kontrolle über Einzelpersonen und ganze
  Bevölkerungsgruppen ausgeübt wird – weit über die direkt Betroffenen, die
  Verschwundenen, hinaus.

Distretti besschreibt eine „Genealogie des Verschwinden-Lassens“ und stellt diese
in den Kontext der Postkolonialität: Es führt ein direkter Weg von den
desapericidos in Lateinamerika bis zu den Folterlagern in Libyen.

  Im Zusammenhang mit der sogenannten „Migrationskrise“ verweist die
Zunahme des Verschwinden-Lassens direkt auf die Unfähigkeit der ehemaligen
  kolonisierenden Gesellschaften, mit der jahrhundertelangen Kolonialgeschichte
  umzugehen: mit der globalen Mobilität und der Autonomie der Migration, die
  mit dem Zusammenbruch der Imperien begann, bis hin zur heutigen globalen
  wirtschaftlichen Ungleichheit und den anhaltenden Vertreibungen, die durch
  regionale Konflikte und den langen Arm des globalen Kriegs gegen den Terror
  verursacht werden. (S. 125)

Die Kategorie der Verschwundenen legt eine Beziehung frei zwischen Tod,
staatlicher Gewalt und Straflosigkeit. Migrant*innen wurden als „necro-figures“
bezeichnet, die ungestraft verletzt oder getötet werden können. Disretti zieht die
Verbindung zu Achille Mbembes Begriff von Necropolitics: Die Verschwundenen
sind wie kolonisierte Subjekte der Macht jenseits des Rechts ausgesetzt.

Im 7. Kapitel geht es um eine Analyse der Faktoren, die zu Todesfällen an der
Grenze führen. Die Autor*innen des 8. Kapitels denken über einen
„pragmatischen Humanitarismus“ nach – über humanitäre Korridore oder offene
Grenzen. Das sind schöne Gedanken in einer Welt, die eher lamentiert und
mordet statt über Alternativen nachzudenken. Warum dann nicht gleich Ferries
No Frontex? Allzu tief steckt den politischen Klassen Europas noch der Schock
von 2015 in den Knochen und der Druck von rechts hat bedrohliche Formen
angenommen. Veränderungen sind zur Zeit nur durch starken Druck von unten
und durch die Selbstorganisation der Migrant*innen denkbar.
History Matters
Das Buch Border Deaths stellt überzeugend dar, dass und wie die Toten und die
Daten, die sie betreffen, an der Grenze vom Norden her unablässig produziert
werden – in den Mechanismen eines „Border Death Regimes“. Und auch die
Forschung zu den Grenzen und den Toten wird allermeist von Forscher*innen aus
dem globalen Norden betrieben und von Einrichtungen aus dem Norden
finanziert. Die Toten werden zum Rohstoff einer Debatte, die entscheidende
Leerstellen aufweist, solange Schuld und Reparationen nicht verhandelt werden.
Vielleicht wird eine spätere Generation darüber richten. Die Beiträge im Buch
sind ein guter Ausgangspunkt für daran anschließende Überlegungen.

Ein erster wichtiger Punkt betrifft die antikoloniale und antirassistische
Perspektive, die im Buch vor allem von Emilio Distretti präsentiert wird. Die
Diskussion unter dem Stichwort Necropolitics wurde durch Achille Mbembes

jüngstes Buch7Achille Mbembe (2019): Necropolitics. Durham (Duke University
Press) noch einmal bereichert. Besonders das 4. Kapitel, in dem es bei Mbembe
u.a. um mobile Grenzen und den Ausschluss zunehmend größerer
Bevölkerungssegmente im globalen Kapitalismus geht, ist eine gute Folie für die
Analyse der globalen Ungleichheit. Die Auseinandersetzung mit den Todesfällen
an den Grenzen des globalen Nordens, und insbesondere an den Grenzen
zwischen Afrika und Europa, braucht eine solche Fundierung – die Prämisse des
Existenzrechts aller Menschen und ihres Rechts auf Bewegungsfreiheit. Black
Life Matters ist eine Universalie und Necropolitics ist ein Begriff, den wir präsent
halten müssen – nicht nur mit Blick auf die Grenztoten, sondern auch in Bezug auf
die Killing Fields, die Vertreibungen und die Bevölkerungspolitik in vielen

Regionen Afrikas.8Allerdings verkommt die Auseinandersetzung mit Mbembes
Positionen inzwischen mancherorts zu einer assimilierten Form von Neo-
Scholastik, auch weil sich Mbembe selbst mehr und mehr auf die in der
politischen Philosophie gängigen Topoi einlässt. Black Life Matters aber ist
zuallererst ein praktisches Projekt. Zwischen dem Büchermarkt einerseits und der
radikalen Opposition gegen das Todesregime andererseits klafft zur Zeit eine
breite Lücke.

      Bild von Chris Grodotzki, Sea Watch

Ein zweiter Punkt: Grenzregimes (und jetzt auch: Border Death Regimes) wirken
in manchen Publikationen zeitlos. Aber wie entstehen Situationen, in denen
Politik und Verwaltung Todesfälle geschehen lassen oder sich direkt schuldig
machen? Vor dem Hintergrund der Necropolitics: Aufgrund welcher
Arrangements und welcher Denkfiguren gibt es solche Enthumanisierungen? Wie
kommt es zu den dramatischen Stimmungsumschwüngen in der medialen
Öffentlichkeit Europas? Sicherlich spielen die großen Zahlen und der daraus
folgende Alarmismus eine Rolle. So war es in Italien 1997, als zwei große
Schiffsunglücke benutzt wurden, um der Bevölkerung die „Notwendigkeit“ einer

restriktiven Migrationspolitik zu vermitteln.9Vgl. hierzu und zum Folgenden
Helmut Dietrich (2004): Das Mittelmeer als neuer Raum der Abschreckung, in:
https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Ausgelagert.pdf Oder denken
wir an die die aufgrund der Arabischen Revolution verlorene EU-
Mittelmeerperspektive nach 2011, als der Kontrollverlust aufgrund der
Verknüpfungen von Revolten und Migrationsbewegungen die europäische
Festungspolitik radikalisierte. Auch das Border Death Regime unterliegt
historischem Wandel. Die Historiographie könnte hier wertvolle Beiträge leisten,
zum Beispiel in Hinsicht auf die Täterforschung, auf die Radikalisierung der
Flüchtlingsabwehr oder auf die Erforschung der Migration als sozialer Bewegung.

Der „EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen“ und die Genesis der
Europäischen Lösung müssten beschrieben werden im historischen
Zusammenhang der innereuropäischen Freizügigkeit mit der Abwehr der
Migrationsbewegungen. Dazu kommen eine Radikalisierung, aber auch das
gelegentliche Scheitern der Abwehrmaßnahmen unter dem Druck der sozialen
Bewegungen. Eine solche Darstellung könnte 1992 beginnen, als Spanien unter
dem Druck der EU die Visumpflicht für Marokkaner*innen einführte und die
Migrant*innen in kleine Boote zwang. Im Sommer 1992 überquerten etwa 30.000
Menschen die Straße von Gibraltar, die in den folgenden Jahren zum größten
Massengrab Nachkriegseuropas wurde. Die Darstellung könnte die europäische
Wunschperspektive nachzeichnen, die ab 1995 den Barcelona-Prozess prägte:
Stabilität und Freihandel, aber ohne Migration. Die EU zahlte Milliarden für
Rücknahmeabkommen mit den Anrainerstaaten.

All dies erwies sich nach 2011 als Makulatur. Der Jasminrevolution folgte auf dem
Fuß eine Welle der Überfahrten nach Lampedusa 10 Hassan Boubakri (2013):
Revolution       and      International      Migration       in    Tunisia:
https://cadmus.eui.eu/handle/1814/29454 – Vorboten einer wieder zunehmenden
Bedeutung der zentralen Mittelmeerroute. Und wiederum bewegten große
Schiffsunglücke die Gemüter und bewirkten Veränderungen der europäischen

Abwehrstrategien.11Thomas Schmid (2016): Die zentrale Mittelmeerroute: E-
Paper:                                               Heinrich-Böll-Stiftung:
https://www.boell.de/sites/default/files/2016-08-schmid_zentrale_mittelmeerroute.
pdf?dimension1=division_af 2015 brach das europäische Grenzregime ein, vor
allem auf den Migrationswegen über die Ägäis und die Balkanroute. Europa
schloss das Türkei-Abkommen, begann den Valletta-Prozess und verlegte sich seit
2017 verstärkt auf informelle Mechanismen: auf direkte Zahlungen an Warlords
und Milizen, auf die Militarisierung des Sahel und auf die Behinderung der
Seenotrettung. Leid und Tod wurden in die libyschen Lager und in die
Todeszonen des Sahel und der Sahara zurückverlagert. Müssen wir nicht auch die
Vertriebenen und Massakrierten in den Kriegszonen des Sahel zu den Grenztoten

Europas zählen? 1 2 FFM (2021): Aufstandsbekämpfung im Sahel, in:
https://www.imi-online.de/2021/03/12/ausdruck-das-imi-magazin-maerz-2021/

Die Festung wird zur Bricolage. Verantwortlichkeit wird suspendiert. Das
Arrangement der Todeszonen steht im Kontext der Postkolonialität – aber nur in
einer historischen Perspektive wird auch die Schwäche des globalen
Migrationsregimes deutlich erkennbar.
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