Die Indexierung der Familienbeihilfe - JKU ePUB
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Die Indexierung der Eingereicht von Ebner Tanja Familienbeihilfe Angefertigt am Institut für Europarecht Beurteiler / Beurteilerin Assoz. Univ.-Prof. Dr. Franz Politische Wunschvorstellungen und die juristische Wirklichkeit Leidenmühler März 2020 Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich www.jku.at DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Graz, 26.03.2020 Unterschrift 2
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung………………………………………………………………………………...4 2. Familienbeihilfe nach österreichischen Recht – geltende Rechtslage……….6 2.1. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen……………………………………………………...7 2.1.1. System und Finanzierung der Familienbeihilfe……………………………………….7 2.1.2. Anspruchsvoraussetzungen…………………………………………………………….7 2.2. Probleme Österreichs mit der Familienbeihilfe……………………………………….9 3. Familienbeihilfe und Europarecht………………………………………………….11 3.1. Primärrecht………………………………………………………………………………11 3.1.1. Sekundärrecht…………………………………………………………………………..13 3.1.2. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU…………………….13 3.2. Koordinierung der Familienleistungen durch die VO Nr. 883/2004………………..15 3.2.1. Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004……………………………………………….16 3.2.2. Grundsätze der VO Nr. 883/2004……………………………………………………..16 3.3. Diskriminierungsverbot und Gleichbehandlung……………………………………...17 3.3.1. Rechtsprechung des EuGH……………………………………………………………18 3.3.2. Export von Familienleistungen……………………………………………………….. 20 4. Regierungspläne zur Indexierung der Familienbeihilfe………………………..22 4.1. Exportleistungen Österreichs………………………………………………………….24 4.1.1. Prioritätsregeln und Differenzbeträge………………………………………………...25 4.1.2. Umsetzung im nationalen Recht und Auswirkungen………………………………..26 5. Folgen des nationalen Alleinganges………………………………………………30 5.1. Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art 258 AEUV gegen Österreich………….32 5.1.1. Vorabentscheidungsverfahren………………………………………………………...33 5.1.2. Staatshaftung……………………………………………………………………………34 5.2. Lösungsansätze…………………………………………………………………………35 6. Schlussbemerkungen………………………………………………………………...36 7. Literaturverzeichnis………………………………………………………………......38 7.1. Internetquellen…………………………………………………………………………..40 7.1.1. Abbildungsverzeichnis………………………………………………………………….43 3
1. Einleitung Die wiederkehrende politische Diskussion, welche maßgeblich durch die Flüchtlingskrise der EU im Jahre 2015 ausgelöst wurde, um den Zugang von EU-Ausländern zu Sozialleistungen rückten den Export der Familienbeihilfe in den Fokus. Befeuert wurde dieser Diskurs auch durch den damals noch als Außen- und Europaminister tätigen Sebastian Kurz, denn schon in dieser Funktion forcierte er eine Änderung der europäischen Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheiten.1 Er fand jedoch nicht die nötigen Partner zur Umsetzung auf EU-Ebene, zurückzuführen war dies auch auf den massiven Wiederstand der Rumänen, Ungarn sowie der Slowaken. Im Jahre 2017 färbte Kurz die Österreichische Volkspartei (ÖVP) zur türkisen Partei um, errang den Wahlsieg und koalierte mit der Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ). Die neue Regierung wurde am 18.12.2017 angelobt.2 Dem nunmehrigen Bundeskanzler wurde von den politischen Gegnern reines politisches Kalkül und purer Populismus zur Gewinnung der Nationalratswahlen 2017 vorgeworfen, nachdem er ankündigte, die Familienbeihilfe nicht mehr in voller Höhe an FamilienbeihilfebezieherInnen auszuzahlen, sofern Kinder der ArbeitnehmerInnen nicht ebenfalls den Wohnsitz im Beschäftigungsstaat haben. Im Zuge des Brexit-Referendums am 23.06.2016 – zum Verbleib Großbritanniens in der europäischen Union – legte die europäische Kommission der britischen Regierung ein Paket von Reformmaßnahmen vor, welches Sonderrechte bezüglich der Einschränkung von Sozialleistungen einräumen sollte, um die Briten in der EU halten zu können.3 Die Deutschen und die Dänen ließen daraufhin von juristischen Experten Rechtsgutachten erstellen, um einen EU-konformen Weg zu finden, die Sozialleistungen nicht exportieren zu müssen. Beide Länder verwarfen ihre Pläne zur Kürzung der Familienbeihilfe rasch, als deutlich wurde, dass anhand der geltenden Rechtslage eine solche Regelung nicht mit EU-Recht vereinbar war.4 1 Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (2015). Sozialmissbrauch – Kurz setzt seine Kampagne fort, www.bmeia.gv.at/das- ministerium/presse/aussendungen/2015/06/sozialmissbrauch-kurz-setzt-seine-kampagne-fort/ (Stand 10.08.2019). 2 Die neue schwarz-blaue Bundesregierung ist angelobt, www.sn.at/politik/innenpolitik/die-neue-schwarz-blaue-bundesregierung-ist-angelobt- 21868777 (Stand 10.08.2019). 3 EU-Gipfel: Großbritannien darf Sozialleistungen für EU-Bürger kürzen, https://derstandard.at/2000031472998/EU-Gipfel-einigt-sich-auf- Deal-mit-Grossbritannien (Stand 05.09.2019). 4 Deutscher Bundestag – Fachbereich Europa, Ausarbeitung „Kürzung des Kindergeldes und EU-Recht“, PE6-3000-08/14 (2016). 4
Österreich reagierte auf die ablehnende Haltung aus Brüssel – geschuldet dem Ausscheiden der Briten aus der Euro-Zone und der zeitnahen Änderung der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – mit der Ankündigung, für eine innerstaatliche Lösung zu sorgen. Die damalige Familien- und Jugendministerin Karmasin – noch unter schwarz-roter Regierungsführung – ließ für das Bundesministerium für Finanzen ein Rechtsgutachten anfertigen.5 Stimmen wurden laut, dass dieses Gutachten in keiner Weise als Gesetzesinitiative heranzuziehen sei, da es grundlegende unionsrechtliche Aspekte außer Acht lasse.6 Die Kommission (KOM) – allen voran die aus Belgien stammende EU- Sozialkommissarin Thyssen – warnte Österreich vor einem nationalen Alleingang.7 Die türkisblaue Koalition schlug jedoch alle Warnungen in den Wind und erließ am 02.05.2018 die Regierungsvorlage zur Änderung des EStG und des FLAG.8 Die Beantwortung der parlamentarischen Anfrage, die daraufhin von Europa- Abgeordneten aus neun Ländern an die KOM gerichtet wurde, übernahm Thyssen und wies erneut darauf hin: „Was die von Österreich geplanten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Indexierung der Familienbeihilfe anbelangt, so wird die Kommission die betreffenden Rechtsvorschriften unverzüglich auf ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht prüfen, falls sie verabschiedet werden. Es sei daran erinnert, dass gemäß dem Vertrag kein Arbeitnehmer (direkt oder indirekt) aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert werden darf.“9 Diese Arbeit wird darauf eingehen, inwieweit politische Wunschvorstellungen und juristische Wirklichkeiten auseinanderliegen. Ebenso werden die Szenarien aufgezeigt, die auf Österreich ab 01.01.2019 zukommen, sobald die Indexierung der Familienbeihilfe in Kraft tritt. 5 Mazal: "Glasklare Argumente" für Kürzung der Familienbeihilfe, https://derstandard.at/2000052656202/Mazal-Glasklare-Argumente-fuer- Kuerzung-der-Familienbeihilfe (Stand 10.08.2019). 6 Vgl. Mazal, Rechtsgutachten zur Neugestaltung der Familienbeihilfe für Kinder, die im EU-Ausland leben (2017). 7 ÖVP setzt auf Alleingang bei Familienbeihilfe im Ausland, https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5169913/Neuer-Vorstoss_OeVP- setzt-auf-Alleingang-bei-Familienbeihilfe-im (Stand 10.08.2019). 8 ErläutRV 111 BlgNR 26. GP 1. 9 Antwort von Marianne Thyssen im Namen der Kommission, Bezugsdokument: E-000191/2018, 20.03.2018, www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E-2018-000191&language=DE (Stand 10.08.2019). 5
2. Familienbeihilfe nach österreichischem Recht – geltende Rechtslage 2.1. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen StaatsbürgerInnen, die Kinder betreuen und erziehen haben erhöhte Aufwendungen für diese Aufgabe zu tragen und mit Einkommensverlusten zu kämpfen. Um den Lebensstandard der Familien zu schützen und um Armut zu bekämpfen, trat 1967 in Österreich das Familienlastenausgleichsgesetz in Kraft.10 Zur Finanzierung wurde der Ausgleichsfond für Familienbeihilfe (FLAF) gegründet. Aus diesem werden alle Geld- und Sachleistungen sowie Kostenerstattungen geleistet. Das Gesetz und der Fond sollen für eine Umverteilung der Lasten von Eltern sorgen. Dies geschieht durch einen horizontalen sowie vertikalen Lastenausgleich. Mit diesem Grundprinzip des horizontalen Lastenausgleichs wird die soziale Gerechtigkeit für Familien hergestellt und die Symmetrie im Generationenvertrag aufrechterhalten. Mit dem FLAF wird aber auch eine vertikale Bewegung von einkommensstärkeren zu einkommensschwächeren Haushalten erzielt.11 Der FLAF wird vom Bundesministerium für Familien und Jugend verwaltet. Gesetzliche Regelungen, um Familien zu entlasten, finden sich innerstaatlich auch im Sozialrecht, im Steuerrecht und im Arbeitsrecht. In dieser Arbeit soll auf das Einkommenssteuergesetz und das FLAG eingegangen werden, dass im Zuge der Regierungsvorlage einer Änderung unterworfen wird.12 2.1.1. System und Finanzierung der Familienbeihilfe Die Familienbeihilfe wurde von ihrem Grundgedanken her als Ausgleich, der zu viel bezahlten Einkommenssteuer konzipiert. Sie ist als direkte Transferleistung dafür gedacht, den Aufwand der Kinderbetreuung auszugleichen. Daher sind auch die Eltern anspruchsberechtigt, vorrangig deshalb, weil Unterhaltsleistungen nicht als außergewöhnliche Belastungen von der Einkommenssteuerbemessung abgezogen werden können.13 Auch der Verfassungsgerichtshof untermauert das in seinem Urteil mit der Erkenntnis: „Der Gesetzgeber bringt mit der in § 34 Abs 7 Z1 EstG 1988 idF BGBl I 79/1988 10 FLAG BGBl 1967/376 idF BGBl I 2019/104. 11 Vgl. Österreichisches Institut für Familienforschung in der Zeitschrift „beziehungsweise“, 50 Jahre Leistungen für Familien, Ausgabe 9/2005,(Stand 10.08.2019). 12 ME FLAG 1967 und EStG 1988, 36/SN-1/ME. 13 Vgl. § 34 (7) Z 1 EStG BGBl 1988/400 idF BGBl I 2019/104. 6
getroffenen Anordnung die steuerliche Berücksichtigung des Kindesunterhaltes in Verbindung mit dem Kinderabsetzbetrag und der Familienbeihilfe (in der Folge Transferleistungen). Wenn es dabei heißt, dass Unterhaltsleistungen für ein Kind durch die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag »abgegolten« sind, so versteht der Gerichtshof dies so, dass die von der Verfassung geforderte steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen für den Regelfall durch die genannten Transferleistungen erfolgt bzw. erfolgen soll.“14 Der Großteil der familienpolitischen Maßnahmen wird vom Ausgleichsfond für Familienbeihilfen (Familienlastenausgleichsfond) mit über 6,9 Mrd EUR (Wert 2016) finanziert.15 Dieser Fond wird gespeist durch Beiträge der Dienstgeber, denn alle privaten Dienstgeber haben 3,9 % der Bruttolohnsumme ihrer Dienstnehmer als Dienstgeberbeitrag an ihr Betriebsfinanzamt zugunsten des FLAF zu leisten. Die übrigen Summen werden vom Bund aus der Einkommenssteuer sowie durch Beiträge von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben finanziert. Genauer dazu § 39 (2) FLAG 1967. Um die Lohnnebenkosten zu senken wurde die Beitragsgrundlage sukzessive von 4,5 % auf 4,1 % im Jahr 2017 gesenkt. Seit 01.01.2018 sind nunmehr 3,9 % Dienstgeberbeitrag zum FLAF abzuführen.16 4,770 Mrd EUR Familienbeihilfe (zuzüglich Kinderabsetzbetrag) zahlte der Bund 2016 für zwei Millionen Kinder aus.17 2.1.2. Anspruchsvoraussetzungen „Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, die in Österreich ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, für ihre minderjährigen Kinder. Auch Ausländer erhalten Familienbeihilfe. Nach § 5 Abs 3 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 besteht jedoch kein Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sich das Kind ständig im Ausland aufhält. Dieser rein nationalen Bestimmung gehen europarechtliche Bestimmungen und zwischenstaatliche Vereinbarungen vor.“18 § 3 FLAG regelt, dass nicht-österreichische StaatsbürgerInnen zur Antragstellung berechtigt sind, wenn sie und ihre Kinder sich 14 Vgl. VfGH 30.11.2000, B 1340/00 = VfSlg 16026/2000. 15 Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 277. Vgl. § 2a (1) FLAG 1967. 16 Vgl. § 41 (5) des Artikel 7 im Budgetbegleitgesetz 2016 BGBl I 2015/144. 17 Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018) 12, abrufbar unter: www.rechnungshof.gv.at (Stand 04.09.2019). 18 Szücs, Grundzüge des Sozialrechts2 (2014) 121. 7
gem. §§ 8 und 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes bzw. gem. § 54 Asylgesetz 2005 rechtmäßig in Österreich aufhalten.19 Von dieser Anknüpfung an den Wohnsitz weicht das unionsrechtliche Modell ab. Es knüpft den Anspruch der Familienbeihilfe an das Beschäftigungsland. Die Familienbeihilfe ist eine Geldleistung deren Höhe von der Anzahl und dem Alter der Kinder abhängt und keinen Bezug zum Einkommen der Eltern aufweist.20 Die nachfolgende Abbildung21 weist die Anspruchshöhe der Familienbeihilfe und ihre Veränderung über die Jahre 2000 bis 2018 wie folgt aus: Abbildung 1: Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018). 19 In Österreich aufenthaltsberechtigt sind somit anerkannte Flüchtlinge, subsidiär Schutzberechtigte, EU-/EWR-Staatsangehörige und die sich rechtmäßig aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. 20 Genauer dazu § 8 FLAG. 21 Tabelle entnommen aus dem Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018). 8
Anspruchsberechtigt ist die Personen, zu dessen Haushalt das Kind gehört. Ist das Kind im gemeinsamen Haushalt beider Elternteile wohnhaft, so geht der Anspruch des Elternteils vor, der den Haushalt überwiegend führt.22 Seit 01.07.2011 gebührt die Familienbeihilfe für volljährige Kinder nur mehr dann bis zum 24. Lebensjahr, wenn sich diese in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden.23 Studierenden wird die Familienbeihilfe nur für die gesetzliche Mindeststudiendauer gewährt. Bei Studien mit Abschnittsgliederung wird pro Abschnitt ein Toleranzsemester eingeräumt. Für das erste Studienjahr ist ein Studienerfolgsnachweis über 16 ECTS- Punkte zu erbringen. Für Lehrlinge besteht Anspruch auf Familienbeihilfe solange die Lehrzeit andauert. Die Familienbeihilfe wird auf Antrag für höchstens fünf Jahre rückwirkend gewährt und monatlich ausgezahlt. Zuständig ist das Finanzamt des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes. Seit 01.05.2015 gibt es die antragslose Familienbeihilfe. Dabei werden die Daten des im Inland geborenen Kindes sowie die Personenstandsdaten der Eltern durch das Standesamt im Zentralen Personenstandsregister erfasst. Anschließend werden diese Daten der Finanzverwaltung übermittelt. Die Finanzverwaltung prüft, ob alle Voraussetzungen und Informationen für die Gewährung und Auszahlung der Familienbeihilfe vorliegen. Danach erhalten die Eltern von der Finanzverwaltung ein Informationsschreiben, das sie über den Familienbeihilfenanspruch für ihr Kind informiert. Zeitgleich mit diesem Schreiben wird der Familienbeihilfenbetrag auf ihr Konto überwiesen.24 2.2. Probleme Österreichs mit der Familienbeihilfe Im Juli 2018 – rechtzeitig zum Höhepunkt der Debatte um die Indexierung der Familienbeihilfe – veröffentlichte der Rechnungshof gem. Art 126d B-VG25 den Bericht über die Gebarung des Bundesministeriums für Familien und Jugend sowie des Bundesministeriums für Finanzen, die als administrative Behörde zuständig ist für die Auszahlung der Familienbeihilfe. Die Prüfung erfolgte im Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017. Der Rechnungshof stellte nicht nur fest, dass es fraglich sei, ob eine 22 Vgl. Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 281. 23 Der Bezug kann unter gewissen Voraussetzungen bis zum 25. Lebensjahr ausgedehnt werden. Dazu zählen etwa Schwangerschaft und Geburt, Zivil oder Präsenzdienst oder für Studierende mit einer Behinderung von mindestens 50 %. 24 § 10a (1) FLAG Anlässlich der Geburt eines Kindes kann das Finanzamt die Familienbeihilfe automationsunterstützt ohne Antrag gewähren, wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Familienbeihilfe sowie die maßgeblichen Personenstandsdaten – gemäß § 48 Abs 2 des Personenstandsgesetzes 2013 (PStG 2013), BGBl I 2013/16 idF BGBl I 2018/104 – vorliegen. www.bmfj.gv.at. 25 Art 126d B-VG BGBl 1930/1 idF BGBl I 2019/57. 9
Indexierung der Familienbeihilfe unter derzeit geltendem Recht überhaupt zulässig sei, er rückte ganz andere elementare Probleme in den Vordergrund. Österreich sei nicht in der Lage, überhaupt die Höhe und die Bezieher der ausbezahlten Beihilfen (im In- und Ausland) zu kontrollieren.26 Kontrollen bei österreichischen Staatsangehörigen betreffend des Weiterbestehens der Anspruchsvoraussetzungen für Familienbeihilfe erfolgten 18 Jahre lang nicht. Das galt auch für die in Österreich lebenden EU-/EWR27-Staatsangehörigen. Auch diese wurden in der Regel 13 Jahre bzw. 18 Jahre nicht kontrolliert. Somit war es möglich, dass Finanzämter Familienbeihilfe ungerechtfertigt für einen langen Zeitraum ausbezahlten. Aufgrund der fünfjährigen Verjährungsfrist bestand auch keine Möglichkeit mehr, den vollen Betrag zurückzufordern.28 Dieses Problem führte der Rechnungshof auf, die nicht vorhandenen automatisierten Datenabgleiche mit anderen Datenbanken und den nicht vorhanden Datenaustausch mit dem EU-/EWR – Ausland zurück. Auch hätten die zuständigen Behörden Wechsel der vorrangigen Behördenzuständigkeit nicht erkannt und so Überzahlungen getätigt. Ein weiteres Problem sah der RH in der Tatsache, dass sich der Leistungsexport ins Ausland um ein Vielfaches erhöht hatte und bei Fällen einer nachrangigen unionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs – für die Auszahlung der Familienbeihilfe – hat es darüber hinaus administrativ aufwendig zu berechnende Differenzzahlungen29 zu tätigen. Geschuldet der EU-Osterweiterung und der damit verbundenen Öffnung des österreichischen Arbeitsmarktes.30 „Im Jahr 2016 leistete Österreich Zahlungen in der Größenordnung von 290 Mio. EUR für im Ausland lebende Kinder von EU-/EWR- Staatsangehörigen (rd. 6 % der Zahlungen). Im Zeitraum von 2002 bis 2016 war die Anzahl der im Ausland lebenden anspruchsberechtigten Kinder von etwa 1.500 auf die Größenordnung von etwa 130.000 Kindern gestiegen.“31 Zudem wird sich die finanzielle Situation des FLAF durch Senkung der Dienstgeberbeiträge in den Jahren 2016 bis 2018 und die gleichzeitige Erhöhung der Familienbeihilfe im Jahre 2018 um 1,8 % andererseits verschärfen. 26 Nachzulesen im Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018). 27 Der Europäische Wirtschaftsraum ist 1994 durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und den sogenannten EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen entstanden. Die EWR-Mitglieder bilden einen gemeinsamen Markt. Die Schweiz ist weder EU- noch EWR-Mitglied, sie ist aber durch eine Reihe von bilateralen Verträgen mit der EU verbunden. In vielen Bereichen sind Schweizer Staatsangehörige daher EU-BürgerInnen gleichgestellt. 28 Bericht des Rechnungshofes (2018) 59. 29 Gem. Art. 68 (2) VO 883/2004: Eine Differenzzahlung ist die Differenz zwischen dem Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich und dem niedrigerem Anspruch in einem anderen EU-/EWR- Land. Dafür muss das Kind den Wohnsitz im EU-/EWR-Land haben und ein Elternteil muss in Österreich erwerbstätig sein. 30 Bericht des Rechnungshofes (2018) 44. 31 Daten entnommen aus dem Bericht des Rechnungshofes (2018) 14; https://www.rechnungshof.gv.at/rh/home/home/Familienbeihilfe.pdf (Stand 14.02.2020). 10
3. Familienbeihilfe und Europarecht Im Europarecht beschreibt der Begriff Anwendungsvorrang des Unionsrechts das Verhältnis zwischen nationalem (mitgliedsstaatlichem) Recht und dem Unionsrecht.32 Nach dem Grundsatz des Anwendungsvorranges des Unionsrechts haben „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht […] Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten“.33 Auch die nationalen Regelungen der österreichischen Familienbeihilfe unterfallen diesem Grundsatz. Unionsrechtlich ist die Familienbeihilfe eine Familienleistung, welcher der sozialen Sicherheit zugeordnet ist. Gemäß Art 3 (1) lit j der VO 883/2004 ist sie auf alle Rechtsverhältnisse die Familienleistungen betreffen anzuwenden. Der EuGH statuiert zwei Merkmale für das Vorliegen einer Familienleistung. Einerseits muss die Leistung zum Ausgleich von Familienlasten gezahlt werden, andererseits muss sie ohne Ermessen aufgrund objektiver Voraussetzungen gewährt werden.34 3.1. Primärrecht In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist festgehalten, dass die Union „das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in den Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt und achtet“ und dass „jede Person, die in der Union ihren rechtmäßigen Wohnsitz hat und ihren Aufenthalt rechtmäßig wechselt, […] Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und der sozialen Vergünstigungen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten hat.“35 Die Union und die Mitgliedsstaaten verfolgen eingedenk der sozialen Grundrechte – hier wird auf die Charta der Grundrechte der europäischen Union verwiesen – das Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes.36 32 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht11 (2018) 86 ff. 33 Vertrag von Lissabon im Anhang, ABl 2008/ C115, 344. 34 Vgl. EuGH C-245/94 und C-312/94, Verbundene Rs Hoever und Zachow, ECLI:EU:C:1996:379, Rn 33. 35 Art 34 (1) (2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). 36 Art 151 AEUV BGBl III 2009/132. 11
Im Stufenbau der Rechtsordnung sind die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Verträge (EUV und AEUV – in Zweiterem sind zB die Grundfreiheiten enthalten) rechtlich gleichrangig.37 „Die Union erlässt die erforderlichen Maßnahmen, um nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der Verträge den Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen Funktionieren zu gewährleisten. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“38 Von besonderer Bedeutung im europäischen Sozialrecht ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit, welche in Art 45 ff AEUV erfasst ist. Normiert wird die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhender unterschiedlicher Behandlung der ArbeitnehmerInnen der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.39 Im Kern enthalten alle Grundfreiheiten ein Diskriminierungsverbot. Dieses ist in Art 18 (1) AEUV festgehalten. Grundfreiheiten sind nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden. Selbstverständlich ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit dann nicht gewährleistet, wenn ArbeitnehmerInnen bei der Ausübung derselben Gefahr laufen, Sozialversicherungsansprüche zu verlieren oder Leistungen nicht zu erhalten.40 Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nur aufgrund der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, eines sogenannten Ordre-Public-Vorbehaltes, nach Art 45 (3) AEUV möglich. Sie darf nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt werden. Der EuGH legt den Ordre-Public-Vorbehalt eng und gemeinschaftsautonom aus. Der Begriff der öffentlichen Ordnung darf von den MS auch nicht einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Gemeinschaft erfolgen.41 Eine Rechtfertigung für Staaten, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung beschränken zu können, setzt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.42 Wirtschaftliche Interessen genügen den Anforderungen nicht.43 Anerkannt hingegen 37 Art 6 (1) l. Satz EUV, BGBl III 1999/85 idF BGBl III 2009/132. 38 Art 26 (1) und (2) AEUV. 39 Vgl. Art 45 (2) AEUV. 40 Streinz, Europarecht11 (2019) 544 Rn 1194. 41 Vgl. EuGH C-30/77, Bouchereau, ECLI:EU:C:1977:172, Rn 33 (35). 42 Vgl. EuGH C-165/14, Rendón Marín, ECLI:EU:C:2016:675, Rn 83. 43 Vgl. EuGH C-185/04, Öberg, ECLI:EU:C:2006:107, Rn 21. 12
wurden beispielsweise Verbraucherschutz, Umweltschutz, Erhaltung des finanziellen Gleichgewichtes der sozialen Sicherung, Sicherung einer geordneten Rechtspflege.44 „Darüber hinaus überträgt der EuGH auch seine Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.“45 Und zwar mit seiner Cassis-de-Dijon-Entscheidung46, die im Bereich der Warenverkehrsfreiheit ergangen ist, und mit der sogenannten ‚Gebhard-Formel‘ auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit übertragen wurde. Grundfreiheiten, die durch nationale Regelungen beschränkt, behindert oder weniger attraktiv gemacht werden, müssen vier Voraussetzungen erfüllen, um diese Beschränkung zu rechtfertigen. „Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“47 Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe können nicht für direkte Diskriminierungen herangezogen werden. 3.1.1. Sekundärrecht Als sekundäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet, man das von den Organen der Union nach Maßgabe der Gründungsverträge erlassene Recht.48 Als Rechtsquellen dafür vorgesehen sind Verordnungen und Richtlinien. 49 Auf Beschlüsse, Erlässe und Stellungnahmen soll hier nicht eingegangen werden. Verordnungen sind in allen ihren Teilen für alle Mitgliedstaaten verbindlich, unmittelbar anwendbar und genießen Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem mitgliedstaatlichen Recht. Richtlinien hingegen sind nur für jene Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Zielerreichung verbindlich, an die sie gerichtet sind. Dem Staat werden die Wahl und die Form der Mittel überlassen. Sie dient der Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften. Erst nach ihrer innerstaatlichen Rechtsetzung kann sich auf sie berufen werden. Durch die Harmonisierung kann in der gesamten europäischen Union ein gewisser Standard etabliert werden.50 44 Vgl. ABl, 09.07.2018, L 173/27, Rn 17. 45 Leidenmühler, Europarecht, Die Rechtsordnung der europäischen Union3 (2017) 199. 46 EuGH C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42. 47 EuGH C-55/94, Gebhard, ECLI:EU:C:1995:411, Rn 37. 48 Waltermann, Sozialrecht13 (2018) 68 Rn 94. 49 Art 288 AEUV. 50 Vgl. Leidenmühler, Europarecht, 49 ff. 13
3.1.2. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU Die Sozialsysteme aller EU-Mitgliedstaaten sind äußerst unterschiedlich ausgestaltet und fußen auf dem Territorialprinzip. Diesen Umständen ist es auch geschuldet, dass eine europaweit einheitliche Harmonisierung – eine inhaltliche Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften aller MS – nicht durchsetzbar war. Im Primärrecht gibt es auf dem Gebiet des Sozialrechts keine speziellen Regelungen. Des Weiteren fehlt eine umfassende Zuständigkeit der EU zur Rechtsdurchsetzung. Im Sozialrecht wird daher koordiniert da im Primärrecht dafür keine Harmonisierung vorgesehen ist. Der Begriff der Koordinierung ist im EU-Recht aber nicht näher definiert. In seiner allgemeinen Ausrichtung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erkennt der Rat der europäischen Union dazu, das jeder einzelne Mitgliedstaat entscheiden kann, wer gemäß seinen Rechtsvorschriften versichert ist, auf welche Leistungen eine Person Anspruch hat und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen. Um jedoch zu gewährleisten, dass der freie Personenverkehr in der Praxis möglich ist, müssen die einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert werden.51 Dadurch soll die Ausübung von Grundfreiheiten – insb. die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen – erleichtert werden (Art 48 AEUV). Die EU hat auf dieser Grundlage die unmittelbar anwendbare VO (EG) 883/200452 beschlossen, die durch eine Durchführungs-VO (EG) 987/200953 ergänzt wird. Diese Regelungen sollen – ähnlich wie (teilweise auch schon früher) völkerrechtliche Abkommen mit Drittstaaten – gewährleisten, dass die Erwerbstätigkeit als ArbeitnehmerInn oder Selbstständiger in einem anderen EU-Staat nicht zu Nachteilen bei sozialrechtlichen Leistungen führt.54 51 Rat der europäischen Union, www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/06/21/coordination-of-social-security-systems-council-agrees- general-approach/. (Stand 28.8.2019). 52 Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166/1. 53 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl 2009/284, 1. 54 Vgl. Pfeil, Österreichisches Sozialrecht12 (2018) 6. 14
3.2. Koordinierung der Familienleistungen durch die VO Nr. 883/2004 Früh erließ die EU Sekundärrechtsakte, um die Arbeitsmigration für ArbeitnehmerInnen und ihre Familien zu erleichtern. Den Anfang der Kodifizierung machten die Verordnungen (EWG) 355 und 456 aus dem Jahre 1959. Bemerkenswert ist das bereits Art 40 der VO (EWG) 3 einen Export der Familienbeihilfe für Kinder vorsah, die in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen. Mit den VO (EWG) 1408/7157 und 574/7258 wurden die oben genannten Verordnungen ersetzt. Der Rechtsprechung des EuGH ist es geschuldet, dass die VO 1408/71 mehrmals überarbeitet wurde. Seit 01.05.2010 sind die VO (EG) 883/2004 und die VO (EG) 987/2009 in Kraft. Die VO 883/2004 ist der Rechtsakt, mit dem die EU gemäß des Art 48 (1) AEUV die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen und der Selbständigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit garantiert. Mit dieser Koordinierungsverordnung wurden Regeln vereinfacht und an die aktuelle EuGH-Judikatur angepasst. Bemerkenswert war das Unterhaltsvorschüsse aus dem Anwendungsbereich der Verordnung herausreklamiert wurden. Und das obwohl der EuGH in zwei Verfahren59 gegen Österreich erkannt hatte, dass Unterhaltsvorschüsse Familienleistungen im Sinne der VO (EWG) 1408/71 sind und daher auch im Falle eines Wohnortes von Unterhaltsschuldnern oder Kindern in einem anderen Mitgliedsstaat zu gewähren sind. Da es aber sonst zu keinen grundlegenden Änderungen von der VO 1408/71 zur VO 883/2004 kam, kann die Judikatur des EuGH weiterhin zur Auslegung herangezogen werden. Vom Adressatenkreis her richtet sich die VO 883/2004 an die Sozialleistungsberechtigten und die VO 987/2009 an die Sozialverwaltungen, die für die Administration der Koordinierung verantwortlich sind.60 Die VO 883/2004 soll gewährleisten das nur ein einziges System der sozialen Sicherheit anwendbar ist, um zu verhindern, dass die ihr Rechtsunterworfenen mangels anderer Rechtsvorschriften schutzlos bleiben.61 55 VO (EWG) Nr. 3, ABl P 1958/030, 561. 56 VO (EWG) Nr. 4, ABl P 1958/030, 597. 57 VO (EWG) Nr. 1408/71, ABl L 1971/149, 2, konsolidierte Fassung ABl L 1997/28, 1. 58 VO (EWG) Nr. 574/72, ABl L 1972/074, 1, konsolidierte Fassung ABl L 1997/28, 1. 59 Vgl. EuGH C-85/99, Offermanns, ECLI:EU:C:2001:166; EuGH C-255/99, Humer, ECLI:EU:C:2002:73. 60 Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union6 (2015) Rn 81. 61 Vgl. EuGH C-308/14, Kommission gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, ECLI:EU:C:2016:436, Rn 32. 15
3.2.1. Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 Die Verordnung ist nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden. Ein solcher liegt vor, wenn eine EU-BürgerInn anhand seines Rechtes auf Freizügigkeit einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Staat nachgeht und Leistungen aus den Systemen der sozialen Sicherheit bezieht. Gemäß Art 3 der VO 883/2004 sind im System der sozialen Sicherheit Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft, Invalidität, im Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, bei Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen sowie Familienleistungen erfasst. Eine Familienleistung ist nach der Definition des EuGH eine Leistung, die unabhängig von jeder Ermessensausübung, nur anhand von bestimmten objektiven Voraussetzungen erfüllt wird und dem Ausgleich von Familienlasten dient.62 Nach Art 2 (1) VO 883/2004 gilt sie „[…] für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“ Sie erfasst in ihrem persönlichen Geltungsbereich demnach alle Versicherten oder sonst geschützten Personen, unabhängig von deren Erwerbstätigkeit. 3.2.2. Grundsätze der VO Nr. 883/2004 Die Erwägungsgründe der VO 883/2004 enthalten Grundprinzipien der Koordinierung, die auch für Familienleistungen gelten.63 Die sechs wichtigsten Grundsätze sind daher das Prinzip der Gleichbehandlung aller Staatsangehöriger (Art 4), die Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten – auch als Äquivalenzgrundsatz bezeichnet (Art 5), die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten (Art 6), das Exportprinzip von Leistungen sowie die Aufhebung von Wohnortklauseln (Art 7), das Verbot des Zusammentreffens von Leistungen (Art 10) und das Beschäftigungslandprinzip (Art 11).64 62 Vgl. EuGH C-245/94 und C-312/94, Verbundene Rs Hoever und Zachow, ECLI:EU:C:1996:379, Rn 27. 63 Vgl. Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016) 27. 64 Vgl. Pletzenauer, Die neue Koordinierung der sozialen Sicherheit in der EU – VO(EG)883/2004, VO(EG)987/2009, DRdA, 5/2010, 440. 16
Im Verhältnis zu anderen Koordinierungsregeln legt die VO fest, dass sie an die Stelle aller zwischen den MS geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt und einzelne Bestimmungen aus diesen Abkommen nur dann weiterhin geltend wenn sie vor Erlass der VO 883/2004 ergangen sind sowie für die Berechtigten günstiger sind oder sie sich aus historischen Gründen ergeben.65 3.3. Diskriminierungsverbot und Gleichbehandlung Die VO 883/2004 enthält also Grundsätze, die auch auf die Familienleistungen angewendet werden. In Art 4 der VO findet sich das Diskriminierungsverbot von EU- Ausländern. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verbietet Art 4 nicht nur eine unmittelbare Diskriminierung, sondern auch alle Formen der mittelbaren Diskriminierung.66 Eine unmittelbare (direkten/offene) Diskriminierung stellt auf die Staatsangehörigkeit ab. Die mittelbare (indirekte/verdeckte) Diskriminierung hingegen knüpft an ein scheinbar neutrales Kriterium an, durch das aber im Ergebnis Inländer faktisch bevorzugt bzw. Ausländer benachteiligt werden.67 Schon 1986 erkannte der EuGH, dass auch diese verschleierten Formen der Diskriminierung, welche mit Hilfe der Anwendung anderer Unterschiedsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen und somit mittelbar benachteiligen, unzulässig sind.68 Direkte Diskriminierungen können zudem nicht gerechtfertigt werden.69 Leistungen der sozialen Sicherheit dürfen also nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden. Alle Normadressaten, welche von der VO erfasst werden, sind gleich zu behandeln. Das allgemeine Diskriminierungsverbot von EU-BürgerInnen aus Gründen der Staatsangehörigkeit folgt aus der primärrechtlichen Bestimmung des Art 18 (1) AEUV. Art 18 (1) AEUV wird also durch den Sekundärrechtsakt VO 883/2004 in Art 4 konkretisiert und ist daher lex specialis.70 Im Falle des österreichischen Modells der Indexierung der Familienbeihilfe kann eine mittelbare Diskriminierung erkannt werden. Hier entsteht eine Ungleichbehandlung durch das Anknüpfen der Indexierung an den Wohnort der Kinder. Ein scheinbar neutrales Kriterium wie der Wohnort benachteiligt Ausländer und bevorzugt Inländer. 65 Vgl. Weißenböck, Europäisches Sozialrecht (2018) 30. 66 Vgl. EuGH C-131/96, Romero, ECLI:EU:C:1997:317, Rn 32. 67 Vgl. Leidenmühler, Europarecht, 136. 68 EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1, Rn 23. 69 EuGH C-388/01, Kommission gegen Italien, ECLI:EU:C:2003:30, Rn 19. 70 EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:2014:2358, Rn 61. 17
3.3.1. Rechtsprechung des EuGH Es obliegt den MS, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten und die Zugangsvoraussetzungen zu diesen Systemen zu bestimmen; dabei haben sie das Gemeinschaftsrecht zu beachten.71 Soll die Rechtsprechung des EuGH zu den Systemen der sozialen Sicherheit überprüft werden, so gilt zu beachten das viele Entscheidungen nicht nur zur VO 883/2004 ergangen sind, sondern auch unter der Vorgänger-VO 1408/71. Da der Wortlaut des § 73 (2) der VO 1408/71 fast ident in Art 67 S.1 VO 883/2004 übernommen wurde, ist davon auszugehen, dass Urteile die zu dieser VO ergangen sind, unangefochtene Gültigkeit besitzen. Auszugsweiße folgend daher der Tenor und die Richtung der wichtigsten Entscheidungen zur Koordinierungsverordnung insbesondere zu Familienleistungen. Als Grundsatzentscheidung gilt die Rechtssache Pinna72. Vor 30 Jahren verfügte Frankreich über eine Sonderregelung die es erlaubte, die Familienbeihilfe für Wanderarbeiter anzupassen. In der Rechtssache ging es um einen Italiener, der in Frankreich arbeitete und dessen Kinder in Italien lebten, wo die Lebenserhaltungskosten deutlich niedriger waren. Diese Konstellation wurde aber durch den EuGH aufgehoben, der in dieser Sonderregelung einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz feststellte. Frankreich knüpfte dafür an den Wohnort des Kindes an. Es handelte sich somit um eine mittelbare Diskriminierung, die überwiegend Staatsangehörige anderer MS betrifft und daher Inländer begünstigt. Inwiefern die Pinna-Entscheidung aber Präjudizien-Wirkung entfaltet für den Indexierungsmechanismus der Familienbeihilfe bleibt fraglich. Einerseits gibt es in Österreich keine rechtliche Bindung an Präjudizien. Andererseits ist sie fraglich, weil durch die Indexierung die Grundfreiheit der Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen verletzt wird. Verletzungen von Grundfreiheiten unterliegen stets einer Einzelfallprüfung des EuGH in Zusammenschau mit den von den Staaten angeführten Rechtfertigungsgründen.73 71 Vgl. Meißner, Familienarbeit in der Alterssicherung nach europäischem Sozialrecht (2005) 95; Vgl. auch stRsp EuGH C-28/00, Kauer, ECLI:EU:C:2002:82, Rn 39; EuGH C-120/95, Decker, ECLI:EU:C:1998:167, Rn 17 ff. 72 Vgl. EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1. 73 Vgl. Marhold, Ludvik: Dürfen die Behörden die Indexierung der Familienbeihilfe anwenden? ASoK 6/2018, 209. 18
Allerdings sind nationale Regelungen die Leistungen an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt knüpfen unzulässig wie auch die Entscheidungen Stöber und Pereira74 zeigten. In beiden Fällen wurde versucht, das Kindergeld an einen Wohnsitz im Inland zu knüpfen, was dem Gleichbehandlungsgebot wiedersprach. Ebenso in ständiger Rechtsprechung zu Art 73 VO 1408/71: „Die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen können nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Familienangehörigen im leistungszuständigen Mitgliedstaat wohnen.“75 In Imbernon Martínez erkennt der EuGH: „Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der EG-Erwerbstätige davon abgehalten wird von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen.“76 Erstaunlich auch das Urteil in der Rechtssache Bogatu das 2019 erging. Ein rumänischer Staatsbürger, welcher in Irland seinen Wohnsitz hatte und dessen Kinder in Rumänien leben, arbeitete in Irland bis er arbeitslos wurde. Irland versagte ihm daraufhin das Kindergeld, da dieses an das Erfordernis einer Erwerbstätigkeit geknüpft sei. Das koordinierende Sozialrecht, so der EuGH, verlange nicht, dass die anspruchsberechtigte Person über eine besondere Position, also etwa über den Arbeitnehmerstatus oder die Leistungsberechtigung in der Sozialversicherung, verfügen muss. Die Kindergeldzahlung kann vielmehr auch durch den Wohnsitz ausgelöst werden.77 Der Gerichtshof folgt damit einer großzügigen Auslegung der VO 833/2004, die für alle Bürger gelten soll, die dem Sozialrecht eines Staates unterfallen. Mit diesem Urteil manifestiert der EuGH erneut die Verpflichtung zur Zahlung von Familienbeihilfe von im EU-Ausland lebenden Kindern. Der vielzitierte Vorwurf der EuGH hätte anhand dieser Rechtsauslegung in den Urteilen dem ‚Sozialtourismus‘ und der ‚Armutsmigration‘ Tür und Tor geöffnet, kann nicht gefolgt werden. Gerade durch sein Urteil im Fall Dano und der Folgerechtsprechung Alimanovic sowie Garcia-Nieto78 hat er die Möglichkeit der Mitgliedstaaten bestätigt, den Zugang zu Sozialleistungen zu beschränken. 74 Vgl. EuGH C-4/95 und C-5/95, Verbundene Rs Stöber und Pereira, ECLI:EU:C:1997:44, Rn 37 ff. 75 Vgl. EuGH C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, ECLI:EU:C:2005:364. 76 Vgl. EuGH C-321/93, Imbernon Martínez, ECLI:EU:C:1995:306, Rn 21. 77 Vgl. EuGH C-322/177, Bogatu, ECLI:EU:C:2019:102. 78 Vgl. EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:1995:306; UnionsbürgerInnen, die nur mit dem Ziel in einen anderen MS reisen, um Sozialleistungen zu beziehen, dürfen legitimerweise von diesen ausgeschlossen werden. Vgl. EuGH C-67/14, Alimanovic, ECLI:EU:C:2015:597, Rn 56; der EuGH hat nun entschieden, dass die Mitgliedstaaten UnionsbürgerInnen auch dann von beitragsunabhängigen Sozialleistungen ausschließen dürfen, wenn sie arbeitssuchend sind und aufgrund der Arbeitssuche ein Aufenthaltsrecht haben. Vgl. EuGH C-299/14, Garcia-Nieto, ECLI:EU:C:2016:114; EU-Ausländern dürfen während der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes bestimmte Sozialleistungen vom Aufnahmemitgliedstaat versagt werden, auch ohne individuelle Prüfung. 19
Eine unterschiedliche Behandlung von EU-BürgerInnen – sohin auch eine Indexierung der Familienbeihilfenhöhe – muss stets objektiv gerechtfertigt werden, ansonsten ist sie als diskriminierend einzustufen. 3.3.2. Export von Familienleistungen Von Exportleistungen wird gesprochen, wenn der Berechtigte, der in einem anderen Mitgliedsstaat als dem zuständigen Beschäftigungsstaat wohnt, in seinem Wohnortstaat Leistungen erhält.79 Das Territorialprinzip – das auch Beschäftigungslandprinzip genannt wird und in der VO 883/2004 in Art 11 (3) geregelt ist – ist jene Norm, die besagt, dass UnionsbürgerInnen Sozialleistungen am Ort ihrer Erwerbstätigkeit konsumieren können. Also auch dann, wenn diese in einem anderen MS wohnen. Der aus dem Wohnsitzerfordernis resultierende Leistungsverlust könnte nämlich ArbeitnehmerInnen davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen und würde somit diese Freiheit beeinträchtigen.80 Art 67 S. 1 der VO 883/2004 regelt den Export der Familienleistung wie folgt: „Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaates, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“ Zudem unterliegen die Familienleistungen einer Spezialregelung: Geldleistungen sind zu exportieren. Wohnortklauseln sind daher gem. Art 7 VO 883/2004 unzulässig. Erstaunlicherweise hebt Art 70 (2) lit c VO 883/2004 das Leistungsexportprinzip bei besonders beitragsunabhängigen Geldleistungen auf. Die Leistung wird somit nur am Wohnort81 des Leistungsempfängers gewährt. Möglich ist das allerdings nur dann, wenn ein MS eine bestimmte Leistung in den Anhang X der VO hineinreklamiert hat. Österreich hat das mit Ausgleichszulage und der Sozialrente so gemacht. Diese können also nur mit einem Wohnsitz im Inland konsumiert werden. Das gilt folglich nicht für die Familienbeihilfe. 79 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten (2011) 590 Rn 1820. 80 Vgl. Karl, Sozialversicherung und Auslandsbezug: positive und negative Entwicklungen; DRdA 5/2018, 374 Rn 2.1. 81 Art 1 lit j VO 883/2004. 20
Art 70 VO 883/2004 torpediert auf den ersten Blick also die Grundfreiheiten und den allgemeinen Grundsatz des Leistungsexports nach Art 48 lit b AEUV. Diese Ausnahmen vom Exporten der Leistungen sozialer Sicherheit sind nach der Rechtsprechung des EuGH daher eng auszulegen.82 Der EuGH rechtfertigt die Ausnahme vom Leistungsexport damit, dass die im Anhang X genannten Leistungen eng an das soziale Umfeld und den Wohnort des jeweiligen MS angebunden sind.83 Die Ausgleichszulage zur Pension und die Sozialrente sollen ihrem Sinn nach ein Mindesteinkommen für Bürger mit Inlandswohnsitz in Österreich sichern. Wesentlich ist auch, dass die VO 883/2004 für besonders beitragsunabhängige Leistungen gilt. „Der Begriff, der das Ergebnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist, ist also nicht neu, und seine Definition ist nunmehr beständig. Eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung wird durch ihren Zweck definiert. Sie muss erstens eine Leistung der sozialen Sicherheit ersetzen oder ergänzen, sich zugleich aber von dieser unterscheiden, sie muss zweitens den Charakter einer Sozialhilfeleistung haben, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gerechtfertigt ist, und es muss drittens nach einer Regelung, die objektive Kriterien festlegt, über sie entschieden werden. Zudem muss sie viertens in dem Sinne beitragsunabhängig sein, dass die fragliche Leistung nicht unmittelbar oder mittelbar durch Sozialbeiträge sichergestellt werden darf, sondern durch öffentliche Mittel sichergestellt werden muss, und fünftens muss sie gemäß Art. 70 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 883/2004 in deren Anhang X genannt werden.“84 Die österreichische Familienbeihilfe ist also per Definition der VO 883/2004 eine besonders beitragsunabhängige Geldleistung, welche nicht im Anhang X genannt wird. Daher ist sie an BezieherInnen im Ausland zu exportieren. 82 Vgl. EuGH C-43/99, Leclerc und Deaconescu, ECLI:EU:C:2001:303; noch ergangen unter VO 1408/71. Siehe auch Erwägungsgrund 37 der VO 883/2004. 83 Vgl. EuGH C-20/96, Snares, ECLI:EU:C:1997:518, Rn 38 ff und EuGH C-318/86, Lenoir, ECLI:EU:C:1988:452 Rn 16, noch ergangen unter VO 1408/71. 84 Vgl. Schlussanträge GA Wathelet 20.05.2014, EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:1995:306. 21
4. Regierungspläne zur Indexierung der Familienbeihilfe Die Kürzung der Familienbeihilfe ist kein grundsätzlich neues Thema, sondern war schon einmal Bestandteil des Europäischen Sozialrechts. In der alten Fassung gewährte § 73 (2) VO 1408/71 – die Vorgängerregelung der VO 883/2004 – diese Möglichkeit für Frankreich. Diese Norm war Teil einer Sonderregelung, die es Frankreich erlaubte, die Familienbeihilfe anzupassen. Doch schon 1986, in der Rechtssache Pinna 85 hatte der EuGH festgestellt, dass diese Norm mit EU-Recht unvereinbar ist, da sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigt und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt. Wohnsitze oder Staatsangehörigkeit seien unzulässige Differenzkriterien.86 Die Indexierung spießt sich nicht nur an drei sekundärrechtlichen Normen der Koordinierungsverordnung. Einerseits wiederspricht sie dem Diskriminierungsverbot des Art 4 und der allgemeinen Beseitigung von Wohnortklauseln in den Art 7 und 67 S. 1 VO 883/2004. Andererseits können auch primärrechtliche Hürden wie der Grundsatz des Leistungsexports gem. Art 48 lit b AEUV und das Diskriminierungsverbot normiert in der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art 45 (2) AEUV nicht mit der österreichischen Neuregelung überwunden werden. Gemäß Art 67 S. 1 VO 883/2004 haben Personen auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaates, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Die Wortwahl „als ob“ suggeriert somit, dass eine soziale Leistung nicht an den Wohnsitz des Kindes geknüpft werden kann so wie es Österreich versucht. Die dahingeschiedene Regierung hat zwar händeringend versucht mit dem Gutachten des Arbeits- und Sozialrechtlers Mazal87 die Rechtmäßigkeit der Gesetzesänderung zu rechtfertigen, stieß damit aber in der Öffentlichkeit und in den Medien auf wenig Verständnis und ließ viele europarechtliche Zusammenhänge unbeleuchtet. Führende österreichische und internationale Rechtsgelehrte zerpflückten das Gutachten von Mazal bei der Veröffentlichung. 85 Vgl. EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1. 86 Siehe dazu Abschnitt 3.2.2. 87 Dr. Mazal Wolfgang ist Institutsvorstand für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien. 22
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