Die Indexierung der Familienbeihilfe - JKU ePUB

 
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Die Indexierung der Familienbeihilfe - JKU ePUB
Die Indexierung der
                                                                  Eingereicht von
                                                                  Ebner Tanja

Familienbeihilfe
                                                                  Angefertigt am
                                                                  Institut für Europarecht

                                                                  Beurteiler / Beurteilerin
                                                                  Assoz. Univ.-Prof. Dr. Franz
Politische Wunschvorstellungen und die juristische Wirklichkeit   Leidenmühler

                                                                  März 2020

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra der Rechtswissenschaften
im Diplomstudium
Rechtswissenschaften

                                                                  JOHANNES KEPLER
                                                                  UNIVERSITÄT LINZ
                                                                  Altenberger Straße 69
                                                                  4040 Linz, Österreich
                                                                  www.jku.at
                                                                  DVR 0093696
Die Indexierung der Familienbeihilfe - JKU ePUB
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne
fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt
bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht
habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument
identisch.

Graz, 26.03.2020

Unterschrift

                                                                                           2
Inhaltsverzeichnis

1.     Einleitung………………………………………………………………………………...4
2.     Familienbeihilfe nach österreichischen Recht – geltende Rechtslage……….6
2.1.   Innerstaatliche Rechtsgrundlagen……………………………………………………...7
2.1.1. System und Finanzierung der Familienbeihilfe……………………………………….7
2.1.2. Anspruchsvoraussetzungen…………………………………………………………….7
2.2.   Probleme Österreichs mit der Familienbeihilfe……………………………………….9
3.     Familienbeihilfe und Europarecht………………………………………………….11
3.1.   Primärrecht………………………………………………………………………………11
3.1.1. Sekundärrecht…………………………………………………………………………..13
3.1.2. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU…………………….13
3.2.   Koordinierung der Familienleistungen durch die VO Nr. 883/2004………………..15
3.2.1. Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004……………………………………………….16
3.2.2. Grundsätze der VO Nr. 883/2004……………………………………………………..16
3.3.   Diskriminierungsverbot und Gleichbehandlung……………………………………...17
3.3.1. Rechtsprechung des EuGH……………………………………………………………18
3.3.2. Export von Familienleistungen……………………………………………………….. 20
4.     Regierungspläne zur Indexierung der Familienbeihilfe………………………..22
4.1.   Exportleistungen Österreichs………………………………………………………….24
4.1.1. Prioritätsregeln und Differenzbeträge………………………………………………...25
4.1.2. Umsetzung im nationalen Recht und Auswirkungen………………………………..26
5.     Folgen des nationalen Alleinganges………………………………………………30
5.1.   Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art 258 AEUV gegen Österreich………….32
5.1.1. Vorabentscheidungsverfahren………………………………………………………...33
5.1.2. Staatshaftung……………………………………………………………………………34
5.2.   Lösungsansätze…………………………………………………………………………35
6.     Schlussbemerkungen………………………………………………………………...36
7.     Literaturverzeichnis………………………………………………………………......38
7.1.   Internetquellen…………………………………………………………………………..40
7.1.1. Abbildungsverzeichnis………………………………………………………………….43

                                                                              3
1. Einleitung

Die wiederkehrende politische Diskussion, welche maßgeblich durch die Flüchtlingskrise
der EU im Jahre 2015 ausgelöst wurde, um den Zugang von EU-Ausländern zu
Sozialleistungen rückten den Export der Familienbeihilfe in den Fokus.
Befeuert wurde dieser Diskurs auch durch den damals noch als Außen- und
Europaminister tätigen Sebastian Kurz, denn schon in dieser Funktion forcierte er eine
Änderung der europäischen Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheiten.1 Er fand jedoch nicht die nötigen Partner zur Umsetzung auf EU-Ebene,
zurückzuführen war dies auch auf den massiven Wiederstand der Rumänen, Ungarn
sowie der Slowaken.
Im Jahre 2017 färbte Kurz die Österreichische Volkspartei (ÖVP) zur türkisen Partei um,
errang den Wahlsieg und koalierte mit der Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ). Die
neue Regierung wurde am 18.12.2017 angelobt.2
Dem nunmehrigen Bundeskanzler wurde von den politischen Gegnern reines politisches
Kalkül und purer Populismus zur Gewinnung der Nationalratswahlen 2017 vorgeworfen,
nachdem er ankündigte, die Familienbeihilfe nicht mehr in voller Höhe an
FamilienbeihilfebezieherInnen auszuzahlen, sofern Kinder der ArbeitnehmerInnen nicht
ebenfalls den Wohnsitz im Beschäftigungsstaat haben.

Im Zuge des Brexit-Referendums am 23.06.2016 – zum Verbleib Großbritanniens in der
europäischen Union – legte die europäische Kommission der britischen Regierung ein
Paket von Reformmaßnahmen vor, welches Sonderrechte bezüglich der Einschränkung
von Sozialleistungen einräumen sollte, um die Briten in der EU halten zu können.3
Die      Deutschen           und       die     Dänen         ließen        daraufhin         von       juristischen         Experten
Rechtsgutachten erstellen, um einen EU-konformen Weg zu finden, die Sozialleistungen
nicht exportieren zu müssen. Beide Länder verwarfen ihre Pläne zur Kürzung der
Familienbeihilfe rasch, als deutlich wurde, dass anhand der geltenden Rechtslage eine
solche Regelung nicht mit EU-Recht vereinbar war.4

1
  Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (2015). Sozialmissbrauch – Kurz setzt seine Kampagne fort, www.bmeia.gv.at/das-
ministerium/presse/aussendungen/2015/06/sozialmissbrauch-kurz-setzt-seine-kampagne-fort/ (Stand 10.08.2019).
2
  Die neue schwarz-blaue Bundesregierung ist angelobt, www.sn.at/politik/innenpolitik/die-neue-schwarz-blaue-bundesregierung-ist-angelobt-
21868777 (Stand 10.08.2019).
3
  EU-Gipfel: Großbritannien darf Sozialleistungen für EU-Bürger kürzen, https://derstandard.at/2000031472998/EU-Gipfel-einigt-sich-auf-
Deal-mit-Grossbritannien (Stand 05.09.2019).
4 Deutscher Bundestag – Fachbereich Europa, Ausarbeitung „Kürzung des Kindergeldes und EU-Recht“, PE6-3000-08/14 (2016).
                                                                                                                                         4
Österreich reagierte auf die ablehnende Haltung aus Brüssel – geschuldet dem
Ausscheiden der Briten aus der Euro-Zone und der zeitnahen Änderung der VO (EG)
883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – mit der Ankündigung,
für eine innerstaatliche Lösung zu sorgen.
Die damalige Familien- und Jugendministerin Karmasin – noch unter schwarz-roter
Regierungsführung – ließ für das Bundesministerium für Finanzen ein Rechtsgutachten
anfertigen.5 Stimmen wurden laut, dass dieses Gutachten in keiner Weise als
Gesetzesinitiative heranzuziehen sei, da es grundlegende unionsrechtliche Aspekte
außer Acht lasse.6

Die      Kommission             (KOM)          –    allen       voran        die     aus       Belgien         stammende              EU-
Sozialkommissarin Thyssen – warnte Österreich vor einem nationalen Alleingang.7 Die
türkisblaue Koalition schlug jedoch alle Warnungen in den Wind und erließ am
02.05.2018 die Regierungsvorlage zur Änderung des EStG und des FLAG.8 Die
Beantwortung              der       parlamentarischen                 Anfrage,          die      daraufhin           von      Europa-
Abgeordneten aus neun Ländern an die KOM gerichtet wurde, übernahm Thyssen
und wies erneut darauf hin: „Was die von Österreich geplanten Maßnahmen im
Zusammenhang mit der Indexierung der Familienbeihilfe anbelangt, so wird die
Kommission die betreffenden Rechtsvorschriften unverzüglich auf ihre Vereinbarkeit
mit dem EU-Recht prüfen, falls sie verabschiedet werden. Es sei daran erinnert,
dass gemäß dem Vertrag kein Arbeitnehmer (direkt oder indirekt) aufgrund seiner
Staatsangehörigkeit diskriminiert werden darf.“9

Diese Arbeit wird darauf eingehen, inwieweit politische Wunschvorstellungen und
juristische Wirklichkeiten auseinanderliegen. Ebenso werden die Szenarien aufgezeigt,
die     auf      Österreich          ab      01.01.2019            zukommen,             sobald        die      Indexierung            der
Familienbeihilfe in Kraft tritt.

5
  Mazal: "Glasklare Argumente" für Kürzung der Familienbeihilfe, https://derstandard.at/2000052656202/Mazal-Glasklare-Argumente-fuer-
Kuerzung-der-Familienbeihilfe (Stand 10.08.2019).
6
  Vgl. Mazal, Rechtsgutachten zur Neugestaltung der Familienbeihilfe für Kinder, die im EU-Ausland leben (2017).
7 ÖVP setzt auf Alleingang bei Familienbeihilfe im Ausland, https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5169913/Neuer-Vorstoss_OeVP-

setzt-auf-Alleingang-bei-Familienbeihilfe-im (Stand 10.08.2019).
8
  ErläutRV 111 BlgNR 26. GP 1.
9 Antwort von Marianne Thyssen im Namen der Kommission, Bezugsdokument: E-000191/2018, 20.03.2018,

www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E-2018-000191&language=DE (Stand 10.08.2019).

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2. Familienbeihilfe nach österreichischem Recht – geltende Rechtslage

2.1. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen

StaatsbürgerInnen, die Kinder betreuen und erziehen haben erhöhte Aufwendungen für
diese Aufgabe zu tragen und mit Einkommensverlusten zu kämpfen.
Um den Lebensstandard der Familien zu schützen und um Armut zu bekämpfen, trat
1967 in Österreich das Familienlastenausgleichsgesetz in Kraft.10 Zur Finanzierung
wurde der Ausgleichsfond für Familienbeihilfe (FLAF) gegründet. Aus diesem werden
alle Geld- und Sachleistungen sowie Kostenerstattungen geleistet.
Das Gesetz und der Fond sollen für eine Umverteilung der Lasten von Eltern sorgen.
Dies geschieht durch einen horizontalen sowie vertikalen Lastenausgleich. Mit diesem
Grundprinzip des horizontalen Lastenausgleichs wird die soziale Gerechtigkeit für
Familien hergestellt und die Symmetrie im Generationenvertrag aufrechterhalten. Mit
dem FLAF wird aber auch eine vertikale Bewegung von einkommensstärkeren zu
einkommensschwächeren Haushalten erzielt.11
Der FLAF wird vom Bundesministerium für Familien und Jugend verwaltet. Gesetzliche
Regelungen, um Familien zu entlasten, finden sich innerstaatlich auch im Sozialrecht, im
Steuerrecht und im Arbeitsrecht. In dieser Arbeit soll auf das Einkommenssteuergesetz
und das FLAG eingegangen werden, dass im Zuge der Regierungsvorlage einer
Änderung unterworfen wird.12

2.1.1. System und Finanzierung der Familienbeihilfe

Die Familienbeihilfe wurde von ihrem Grundgedanken her als Ausgleich, der zu viel
bezahlten Einkommenssteuer konzipiert. Sie ist als direkte Transferleistung dafür
gedacht, den Aufwand der Kinderbetreuung auszugleichen. Daher sind auch die Eltern
anspruchsberechtigt,                  vorrangig           deshalb,           weil       Unterhaltsleistungen                  nicht       als
außergewöhnliche Belastungen von der Einkommenssteuerbemessung abgezogen
werden können.13
Auch der Verfassungsgerichtshof untermauert das in seinem Urteil mit der Erkenntnis:
„Der Gesetzgeber bringt mit der in § 34 Abs 7 Z1 EstG 1988 idF BGBl I 79/1988

10
   FLAG BGBl 1967/376 idF BGBl I 2019/104.
11
   Vgl. Österreichisches Institut für Familienforschung in der Zeitschrift „beziehungsweise“, 50 Jahre Leistungen für Familien, Ausgabe
9/2005,(Stand 10.08.2019).
12
   ME FLAG 1967 und EStG 1988, 36/SN-1/ME.
13
   Vgl. § 34 (7) Z 1 EStG BGBl 1988/400 idF BGBl I 2019/104.
                                                                                                                                            6
getroffenen Anordnung die steuerliche Berücksichtigung des Kindesunterhaltes in
Verbindung mit dem Kinderabsetzbetrag und der Familienbeihilfe (in der Folge
Transferleistungen). Wenn es dabei heißt, dass Unterhaltsleistungen für ein Kind durch
die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag »abgegolten« sind, so versteht der
Gerichtshof           dies      so,      dass        die     von       der      Verfassung            geforderte           steuerliche
Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen für den Regelfall durch die genannten
Transferleistungen erfolgt bzw. erfolgen soll.“14

Der Großteil der familienpolitischen Maßnahmen wird vom Ausgleichsfond für
Familienbeihilfen (Familienlastenausgleichsfond) mit über 6,9 Mrd EUR (Wert 2016)
finanziert.15 Dieser Fond wird gespeist durch Beiträge der Dienstgeber, denn alle
privaten Dienstgeber haben 3,9 % der Bruttolohnsumme ihrer Dienstnehmer als
Dienstgeberbeitrag an ihr Betriebsfinanzamt zugunsten des FLAF zu leisten.
Die übrigen Summen werden vom Bund aus der Einkommenssteuer sowie durch
Beiträge von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben finanziert. Genauer dazu
§ 39 (2) FLAG 1967. Um die Lohnnebenkosten zu senken wurde die Beitragsgrundlage
sukzessive von 4,5 % auf 4,1 % im Jahr 2017 gesenkt. Seit 01.01.2018 sind nunmehr
3,9 % Dienstgeberbeitrag zum FLAF abzuführen.16 4,770 Mrd EUR Familienbeihilfe
(zuzüglich Kinderabsetzbetrag) zahlte der Bund 2016 für zwei Millionen Kinder aus.17

2.1.2. Anspruchsvoraussetzungen

„Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, die in Österreich ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt haben, für ihre minderjährigen Kinder. Auch Ausländer erhalten
Familienbeihilfe. Nach § 5 Abs 3 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 besteht jedoch
kein Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sich das Kind ständig im Ausland aufhält.
Dieser rein nationalen Bestimmung gehen europarechtliche Bestimmungen und
zwischenstaatliche Vereinbarungen vor.“18 § 3 FLAG regelt, dass nicht-österreichische
StaatsbürgerInnen zur Antragstellung berechtigt sind, wenn sie und ihre Kinder sich

14
   Vgl. VfGH 30.11.2000, B 1340/00 = VfSlg 16026/2000.
15
   Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 277. Vgl. § 2a (1) FLAG 1967.
16
   Vgl. § 41 (5) des Artikel 7 im Budgetbegleitgesetz 2016 BGBl I 2015/144.
17
   Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018) 12, abrufbar unter:
www.rechnungshof.gv.at (Stand 04.09.2019).
18
   Szücs, Grundzüge des Sozialrechts2 (2014) 121.
                                                                                                                                     7
gem. §§ 8 und 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes bzw. gem. § 54 Asylgesetz
2005 rechtmäßig in Österreich aufhalten.19
Von dieser Anknüpfung an den Wohnsitz weicht das unionsrechtliche Modell ab. Es
knüpft den Anspruch der Familienbeihilfe an das Beschäftigungsland.

Die Familienbeihilfe ist eine Geldleistung deren Höhe von der Anzahl und dem Alter der
Kinder abhängt und keinen Bezug zum Einkommen der Eltern aufweist.20 Die
nachfolgende Abbildung21 weist die Anspruchshöhe der Familienbeihilfe und ihre
Veränderung über die Jahre 2000 bis 2018 wie folgt aus:

Abbildung 1: Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung,
Kosten und Kontrollsystem (2018).

19
   In Österreich aufenthaltsberechtigt sind somit anerkannte Flüchtlinge, subsidiär Schutzberechtigte, EU-/EWR-Staatsangehörige und die
sich rechtmäßig aufhaltenden Drittstaatsangehörigen.
20
   Genauer dazu § 8 FLAG.
21
   Tabelle entnommen aus dem Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018).
                                                                                                                                          8
Anspruchsberechtigt ist die Personen, zu dessen Haushalt das Kind gehört. Ist das Kind
im gemeinsamen Haushalt beider Elternteile wohnhaft, so geht der Anspruch des
Elternteils vor, der den Haushalt überwiegend führt.22
Seit 01.07.2011 gebührt die Familienbeihilfe für volljährige Kinder nur mehr dann bis
zum 24. Lebensjahr, wenn sich diese in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden.23
Studierenden wird die Familienbeihilfe nur für die gesetzliche Mindeststudiendauer
gewährt. Bei Studien mit Abschnittsgliederung wird pro Abschnitt ein Toleranzsemester
eingeräumt. Für das erste Studienjahr ist ein Studienerfolgsnachweis über 16 ECTS-
Punkte zu erbringen. Für Lehrlinge besteht Anspruch auf Familienbeihilfe solange die
Lehrzeit andauert. Die Familienbeihilfe wird auf Antrag für höchstens fünf Jahre
rückwirkend gewährt und monatlich ausgezahlt. Zuständig ist das Finanzamt des
Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes.

Seit 01.05.2015 gibt es die antragslose Familienbeihilfe. Dabei werden die Daten des im
Inland geborenen Kindes sowie die Personenstandsdaten der Eltern durch das
Standesamt im Zentralen Personenstandsregister erfasst. Anschließend werden diese
Daten       der     Finanzverwaltung             übermittelt.        Die     Finanzverwaltung              prüft,     ob     alle
Voraussetzungen und Informationen für die Gewährung und Auszahlung der
Familienbeihilfe vorliegen. Danach erhalten die Eltern von der Finanzverwaltung ein
Informationsschreiben, das sie über den Familienbeihilfenanspruch für ihr Kind
informiert. Zeitgleich mit diesem Schreiben wird der Familienbeihilfenbetrag auf ihr
Konto überwiesen.24

2.2. Probleme Österreichs mit der Familienbeihilfe

Im Juli 2018 – rechtzeitig zum Höhepunkt der Debatte um die Indexierung der
Familienbeihilfe – veröffentlichte der Rechnungshof gem. Art 126d B-VG25 den Bericht
über die Gebarung des Bundesministeriums für Familien und Jugend sowie des
Bundesministeriums für Finanzen, die als administrative Behörde zuständig ist für die
Auszahlung der Familienbeihilfe. Die Prüfung erfolgte im Zeitraum Dezember 2016 bis
Mai 2017. Der Rechnungshof stellte nicht nur fest, dass es fraglich sei, ob eine

22
   Vgl. Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 281.
23
   Der Bezug kann unter gewissen Voraussetzungen bis zum 25. Lebensjahr ausgedehnt werden. Dazu zählen etwa Schwangerschaft und
Geburt, Zivil oder Präsenzdienst oder für Studierende mit einer Behinderung von mindestens 50 %.
24
   § 10a (1) FLAG Anlässlich der Geburt eines Kindes kann das Finanzamt die Familienbeihilfe automationsunterstützt ohne Antrag
gewähren, wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Familienbeihilfe sowie die maßgeblichen Personenstandsdaten –
gemäß § 48 Abs 2 des Personenstandsgesetzes 2013 (PStG 2013), BGBl I 2013/16 idF BGBl I 2018/104 – vorliegen. www.bmfj.gv.at.
25
   Art 126d B-VG BGBl 1930/1 idF BGBl I 2019/57.
                                                                                                                                  9
Indexierung der Familienbeihilfe unter derzeit geltendem Recht überhaupt zulässig sei,
er rückte ganz andere elementare Probleme in den Vordergrund. Österreich sei nicht in
der Lage, überhaupt die Höhe und die Bezieher der ausbezahlten Beihilfen (im In- und
Ausland) zu kontrollieren.26
Kontrollen bei österreichischen Staatsangehörigen betreffend des Weiterbestehens der
Anspruchsvoraussetzungen für Familienbeihilfe erfolgten 18 Jahre lang nicht. Das galt
auch für die in Österreich lebenden EU-/EWR27-Staatsangehörigen. Auch diese wurden
in der Regel 13 Jahre bzw. 18 Jahre nicht kontrolliert. Somit war es möglich, dass
Finanzämter Familienbeihilfe ungerechtfertigt für einen langen Zeitraum ausbezahlten.
Aufgrund der fünfjährigen Verjährungsfrist bestand auch keine Möglichkeit mehr, den
vollen Betrag zurückzufordern.28
Dieses Problem führte der Rechnungshof auf, die nicht vorhandenen automatisierten
Datenabgleiche mit anderen Datenbanken und den nicht vorhanden Datenaustausch mit
dem EU-/EWR – Ausland zurück. Auch hätten die zuständigen Behörden Wechsel der
vorrangigen Behördenzuständigkeit nicht erkannt und so Überzahlungen getätigt.
Ein weiteres Problem sah der RH in der Tatsache, dass sich der Leistungsexport ins
Ausland um ein Vielfaches erhöht hatte und bei Fällen einer nachrangigen
unionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs – für die Auszahlung der Familienbeihilfe –
hat es darüber hinaus administrativ aufwendig zu berechnende Differenzzahlungen29 zu
tätigen. Geschuldet der EU-Osterweiterung und der damit verbundenen Öffnung des
österreichischen Arbeitsmarktes.30 „Im Jahr 2016 leistete Österreich Zahlungen in der
Größenordnung von 290 Mio. EUR für im Ausland lebende Kinder von EU-/EWR-
Staatsangehörigen (rd. 6 % der Zahlungen). Im Zeitraum von 2002 bis 2016 war die
Anzahl der im Ausland lebenden anspruchsberechtigten Kinder von etwa 1.500 auf die
Größenordnung von etwa 130.000 Kindern gestiegen.“31

Zudem         wird       sich      die     finanzielle         Situation        des       FLAF        durch        Senkung           der
Dienstgeberbeiträge in den Jahren 2016 bis 2018 und die gleichzeitige Erhöhung der
Familienbeihilfe im Jahre 2018 um 1,8 % andererseits verschärfen.

26 Nachzulesen im Bericht des Rechnungshofes, Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem (2018).
27
   Der Europäische Wirtschaftsraum ist 1994 durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und den
sogenannten EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen entstanden. Die EWR-Mitglieder bilden einen gemeinsamen Markt. Die
Schweiz ist weder EU- noch EWR-Mitglied, sie ist aber durch eine Reihe von bilateralen Verträgen mit der EU verbunden. In vielen Bereichen
sind Schweizer Staatsangehörige daher EU-BürgerInnen gleichgestellt.
28
   Bericht des Rechnungshofes (2018) 59.
29
   Gem. Art. 68 (2) VO 883/2004: Eine Differenzzahlung ist die Differenz zwischen dem Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich und dem
niedrigerem Anspruch in einem anderen EU-/EWR- Land. Dafür muss das Kind den Wohnsitz im EU-/EWR-Land haben und ein Elternteil
muss in Österreich erwerbstätig sein.
30 Bericht des Rechnungshofes (2018) 44.
31
   Daten entnommen aus dem Bericht des Rechnungshofes (2018) 14; https://www.rechnungshof.gv.at/rh/home/home/Familienbeihilfe.pdf
(Stand 14.02.2020).
                                                                                                                                        10
3. Familienbeihilfe und Europarecht

Im Europarecht beschreibt der Begriff Anwendungsvorrang des Unionsrechts das
Verhältnis zwischen nationalem (mitgliedsstaatlichem) Recht und dem Unionsrecht.32
Nach dem Grundsatz des Anwendungsvorranges des Unionsrechts haben „die Verträge
und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht […] Vorrang vor
dem       Recht       der      Mitgliedsstaaten“.33            Auch       die     nationalen      Regelungen    der
österreichischen Familienbeihilfe unterfallen diesem Grundsatz. Unionsrechtlich ist die
Familienbeihilfe eine Familienleistung, welcher der sozialen Sicherheit zugeordnet ist.
Gemäß Art 3 (1) lit j der VO 883/2004 ist sie auf alle Rechtsverhältnisse die
Familienleistungen betreffen anzuwenden. Der EuGH statuiert zwei Merkmale für das
Vorliegen einer Familienleistung. Einerseits muss die Leistung zum Ausgleich von
Familienlasten gezahlt werden, andererseits muss sie ohne Ermessen aufgrund
objektiver Voraussetzungen gewährt werden.34

3.1. Primärrecht

In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist festgehalten, dass die Union
„das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen
Diensten, die in den Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit
oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe
des      Gemeinschaftsrechts                und       der     einzelstaatlichen            Rechtsvorschriften   und
Gepflogenheiten anerkennt und achtet“ und dass „jede Person, die in der Union ihren
rechtmäßigen Wohnsitz hat und ihren Aufenthalt rechtmäßig wechselt, […] Anspruch auf
die Leistungen der sozialen Sicherheit und der sozialen Vergünstigungen nach dem
Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten
hat.“35 Die Union und die Mitgliedsstaaten verfolgen eingedenk der sozialen
Grundrechte – hier wird auf die Charta der Grundrechte der europäischen Union
verwiesen – das Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes.36

32
   Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht11 (2018) 86 ff.
33
   Vertrag von Lissabon im Anhang, ABl 2008/ C115, 344.
34
   Vgl. EuGH C-245/94 und C-312/94, Verbundene Rs Hoever und Zachow, ECLI:EU:C:1996:379, Rn 33.
35
   Art 34 (1) (2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC).
36
   Art 151 AEUV BGBl III 2009/132.
                                                                                                                 11
Im Stufenbau der Rechtsordnung sind die Charta der Grundrechte der Europäischen
Union und die Verträge (EUV und AEUV – in Zweiterem sind zB die Grundfreiheiten
enthalten) rechtlich gleichrangig.37
„Die Union erlässt die erforderlichen Maßnahmen, um nach Maßgabe der einschlägigen
Bestimmungen der Verträge den Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen
Funktionieren zu gewährleisten. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne
Binnengrenzen in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und
Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“38

Von         besonderer             Bedeutung              im        europäischen   Sozialrecht      ist      die
Arbeitnehmerfreizügigkeit, welche in Art 45 ff AEUV erfasst ist. Normiert wird die
Abschaffung           jeder       auf      der     Staatsangehörigkeit        beruhender    unterschiedlicher
Behandlung der ArbeitnehmerInnen der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung,
Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.39 Im Kern enthalten alle Grundfreiheiten
ein Diskriminierungsverbot. Dieses ist in Art 18 (1) AEUV festgehalten. Grundfreiheiten
sind nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden.

Selbstverständlich ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit dann nicht gewährleistet, wenn
ArbeitnehmerInnen                   bei          der        Ausübung        derselben      Gefahr         laufen,
Sozialversicherungsansprüche zu verlieren oder Leistungen nicht zu erhalten.40
Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nur aufgrund der geschriebenen
Rechtfertigungsgründe,                    eines        sogenannten        Ordre-Public-Vorbehaltes,        nach
Art 45 (3) AEUV möglich. Sie darf nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit
und Gesundheit beschränkt werden. Der EuGH legt den Ordre-Public-Vorbehalt eng und
gemeinschaftsautonom aus. Der Begriff der öffentlichen Ordnung darf von den MS auch
nicht einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Gemeinschaft erfolgen.41
Eine Rechtfertigung für Staaten, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Gründen der
öffentlichen Ordnung beschränken zu können, setzt eine tatsächliche und hinreichend
schwere Gefährdung voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.42
Wirtschaftliche Interessen genügen den Anforderungen nicht.43 Anerkannt hingegen

37
   Art 6 (1) l. Satz EUV, BGBl III 1999/85 idF BGBl III 2009/132.
38
   Art 26 (1) und (2) AEUV.
39
   Vgl. Art 45 (2) AEUV.
40
   Streinz, Europarecht11 (2019) 544 Rn 1194.
41
   Vgl. EuGH C-30/77, Bouchereau, ECLI:EU:C:1977:172, Rn 33 (35).
42
   Vgl. EuGH C-165/14, Rendón Marín, ECLI:EU:C:2016:675, Rn 83.
43
   Vgl. EuGH C-185/04, Öberg, ECLI:EU:C:2006:107, Rn 21.
                                                                                                               12
wurden beispielsweise Verbraucherschutz, Umweltschutz, Erhaltung des finanziellen
Gleichgewichtes der sozialen Sicherung, Sicherung einer geordneten Rechtspflege.44
„Darüber              hinaus         überträgt      der    EuGH      auch        seine   Rechtsprechung     zu    den
ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.“45 Und
zwar             mit        seiner            Cassis-de-Dijon-Entscheidung46,            die   im     Bereich     der
Warenverkehrsfreiheit ergangen ist, und mit der sogenannten ‚Gebhard-Formel‘ auf die
Arbeitnehmerfreizügigkeit übertragen wurde.
Grundfreiheiten, die durch nationale Regelungen beschränkt, behindert oder weniger
attraktiv           gemacht           werden,       müssen     vier Voraussetzungen            erfüllen,   um    diese
Beschränkung zu rechtfertigen. „Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt
werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt
sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu
gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses
Zieles erforderlich ist.“47 Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe können nicht für
direkte Diskriminierungen herangezogen werden.

3.1.1. Sekundärrecht

Als sekundäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet, man das von den Organen der Union
nach Maßgabe der Gründungsverträge erlassene Recht.48
Als Rechtsquellen dafür vorgesehen sind Verordnungen und Richtlinien. 49 Auf
Beschlüsse, Erlässe und Stellungnahmen soll hier nicht eingegangen werden.
Verordnungen sind in allen ihren Teilen für alle Mitgliedstaaten verbindlich, unmittelbar
anwendbar                   und          genießen         Anwendungsvorrang              vor   entgegenstehendem
mitgliedstaatlichen Recht. Richtlinien hingegen sind nur für jene Mitgliedsstaaten
hinsichtlich der Zielerreichung verbindlich, an die sie gerichtet sind. Dem Staat werden
die Wahl und die Form der Mittel überlassen. Sie dient der Harmonisierung der
nationalen Rechtsvorschriften. Erst nach ihrer innerstaatlichen Rechtsetzung kann sich
auf sie berufen werden. Durch die Harmonisierung kann in der gesamten europäischen
Union ein gewisser Standard etabliert werden.50

44
   Vgl. ABl, 09.07.2018, L 173/27, Rn 17.
45
   Leidenmühler, Europarecht, Die Rechtsordnung der europäischen Union3 (2017) 199.
46
   EuGH C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42.
47
   EuGH C-55/94, Gebhard, ECLI:EU:C:1995:411, Rn 37.
48
   Waltermann, Sozialrecht13 (2018) 68 Rn 94.
49
   Art 288 AEUV.
50
     Vgl. Leidenmühler, Europarecht, 49 ff.
                                                                                                                    13
3.1.2. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU

Die Sozialsysteme aller EU-Mitgliedstaaten sind äußerst unterschiedlich ausgestaltet
und fußen auf dem Territorialprinzip. Diesen Umständen ist es auch geschuldet, dass
eine europaweit einheitliche Harmonisierung – eine inhaltliche Angleichung von Rechts-
und Verwaltungsvorschriften aller MS – nicht durchsetzbar war. Im Primärrecht gibt es
auf dem Gebiet des Sozialrechts keine speziellen Regelungen. Des Weiteren fehlt eine
umfassende Zuständigkeit der EU zur Rechtsdurchsetzung. Im Sozialrecht wird daher
koordiniert da im Primärrecht dafür keine Harmonisierung vorgesehen ist. Der Begriff
der Koordinierung ist im EU-Recht aber nicht näher definiert.
In seiner allgemeinen Ausrichtung zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit erkennt der Rat der europäischen Union dazu, das jeder einzelne
Mitgliedstaat entscheiden kann, wer gemäß seinen Rechtsvorschriften versichert ist, auf
welche Leistungen eine Person Anspruch hat und welche Voraussetzungen dafür
gegeben sein müssen. Um jedoch zu gewährleisten, dass der freie Personenverkehr in
der Praxis möglich ist, müssen die einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit
koordiniert werden.51
Dadurch soll die Ausübung von Grundfreiheiten – insb. die Freizügigkeit der
ArbeitnehmerInnen – erleichtert werden (Art 48 AEUV). Die EU hat auf dieser Grundlage
die unmittelbar anwendbare VO (EG) 883/200452 beschlossen, die durch eine
Durchführungs-VO (EG) 987/200953 ergänzt wird. Diese Regelungen sollen – ähnlich
wie (teilweise auch schon früher) völkerrechtliche Abkommen mit Drittstaaten –
gewährleisten, dass die Erwerbstätigkeit als ArbeitnehmerInn oder Selbstständiger in
einem anderen EU-Staat nicht zu Nachteilen bei sozialrechtlichen Leistungen führt.54

51
  Rat der europäischen Union, www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/06/21/coordination-of-social-security-systems-council-agrees-
general-approach/. (Stand 28.8.2019).
52
   Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit, ABl L 166/1.
53
   Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der
Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl 2009/284, 1.
54
   Vgl. Pfeil, Österreichisches Sozialrecht12 (2018) 6.
                                                                                                                                               14
3.2. Koordinierung der Familienleistungen durch die VO Nr. 883/2004

Früh erließ die EU Sekundärrechtsakte, um die Arbeitsmigration für ArbeitnehmerInnen
und ihre Familien zu erleichtern. Den Anfang der Kodifizierung machten die
Verordnungen (EWG) 355 und 456 aus dem Jahre 1959.
Bemerkenswert ist das bereits Art 40 der VO (EWG) 3 einen Export der Familienbeihilfe
für Kinder vorsah, die in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen.
Mit den VO (EWG) 1408/7157 und 574/7258 wurden die oben genannten Verordnungen
ersetzt. Der Rechtsprechung des EuGH ist es geschuldet, dass die VO 1408/71
mehrmals überarbeitet wurde.

Seit 01.05.2010 sind die VO (EG) 883/2004 und die VO (EG) 987/2009 in Kraft. Die
VO 883/2004 ist der Rechtsakt, mit dem die EU gemäß des Art 48 (1) AEUV die
Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen und der Selbständigen auf dem Gebiet der
sozialen Sicherheit garantiert. Mit dieser Koordinierungsverordnung wurden Regeln
vereinfacht und an die aktuelle EuGH-Judikatur angepasst. Bemerkenswert war das
Unterhaltsvorschüsse aus dem Anwendungsbereich der Verordnung herausreklamiert
wurden. Und das obwohl der EuGH in zwei Verfahren59 gegen Österreich erkannt hatte,
dass Unterhaltsvorschüsse Familienleistungen im Sinne der VO (EWG) 1408/71 sind
und daher auch im Falle eines Wohnortes von Unterhaltsschuldnern oder Kindern in
einem anderen Mitgliedsstaat zu gewähren sind. Da es aber sonst zu keinen
grundlegenden Änderungen von der VO 1408/71 zur VO 883/2004 kam, kann die
Judikatur        des      EuGH         weiterhin        zur      Auslegung           herangezogen             werden.      Vom
Adressatenkreis her richtet sich die VO 883/2004 an die Sozialleistungsberechtigten und
die    VO 987/2009 an                 die Sozialverwaltungen, die für die Administration                                   der
Koordinierung verantwortlich sind.60
Die VO 883/2004 soll gewährleisten das nur ein einziges System der sozialen Sicherheit
anwendbar ist, um zu verhindern, dass die ihr Rechtsunterworfenen mangels anderer
Rechtsvorschriften schutzlos bleiben.61

55
   VO (EWG) Nr. 3, ABl P 1958/030, 561.
56
   VO (EWG) Nr. 4, ABl P 1958/030, 597.
57
   VO (EWG) Nr. 1408/71, ABl L 1971/149, 2, konsolidierte Fassung ABl L 1997/28, 1.
58
   VO (EWG) Nr. 574/72, ABl L 1972/074, 1, konsolidierte Fassung ABl L 1997/28, 1.
59
   Vgl. EuGH C-85/99, Offermanns, ECLI:EU:C:2001:166; EuGH C-255/99, Humer, ECLI:EU:C:2002:73.
60
   Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union6 (2015) Rn 81.
61
   Vgl. EuGH C-308/14, Kommission gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, ECLI:EU:C:2016:436, Rn 32.
                                                                                                                             15
3.2.1. Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004

Die Verordnung ist nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden. Ein solcher
liegt vor, wenn eine EU-BürgerInn anhand seines Rechtes auf Freizügigkeit einer
Erwerbstätigkeit in einem anderen Staat nachgeht und Leistungen aus den Systemen
der sozialen Sicherheit bezieht.

Gemäß Art 3 der VO 883/2004 sind im System der sozialen Sicherheit Leistungen bei
Krankheit, Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft, Invalidität, im
Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, bei
Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen sowie Familienleistungen erfasst.
Eine Familienleistung ist nach der Definition des EuGH eine Leistung, die unabhängig
von       jeder       Ermessensausübung,                    nur       anhand          von       bestimmten             objektiven
Voraussetzungen erfüllt wird und dem Ausgleich von Familienlasten dient.62
Nach Art 2 (1) VO 883/2004 gilt sie „[…] für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates,
Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die
Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für
ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“
Sie erfasst in ihrem persönlichen Geltungsbereich demnach alle Versicherten oder sonst
geschützten Personen, unabhängig von deren Erwerbstätigkeit.

3.2.2. Grundsätze der VO Nr. 883/2004

Die Erwägungsgründe der VO 883/2004 enthalten Grundprinzipien der Koordinierung,
die auch für Familienleistungen gelten.63
Die sechs wichtigsten Grundsätze sind daher das Prinzip der Gleichbehandlung aller
Staatsangehöriger              (Art 4),      die     Gleichstellung           von      Leistungen,           Einkünften         und
Sachverhalten              –     auch         als      Äquivalenzgrundsatz                  bezeichnet            (Art 5),           die
Zusammenrechnung von Versicherungszeiten (Art 6), das Exportprinzip von Leistungen
sowie die Aufhebung von Wohnortklauseln (Art 7), das Verbot des Zusammentreffens
von Leistungen (Art 10) und das Beschäftigungslandprinzip (Art 11).64

62
   Vgl. EuGH C-245/94 und C-312/94, Verbundene Rs Hoever und Zachow, ECLI:EU:C:1996:379, Rn 27.
63
   Vgl. Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016) 27.
64
   Vgl. Pletzenauer, Die neue Koordinierung der sozialen Sicherheit in der EU – VO(EG)883/2004, VO(EG)987/2009, DRdA, 5/2010, 440.
                                                                                                                                      16
Im Verhältnis zu anderen Koordinierungsregeln legt die VO fest, dass sie an die Stelle
aller zwischen den MS geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt und einzelne
Bestimmungen aus diesen Abkommen nur dann weiterhin geltend wenn sie vor Erlass
der VO 883/2004 ergangen sind sowie für die Berechtigten günstiger sind oder sie sich
aus historischen Gründen ergeben.65

3.3. Diskriminierungsverbot und Gleichbehandlung

Die VO 883/2004 enthält also Grundsätze, die auch auf die Familienleistungen
angewendet werden. In Art 4 der VO findet sich das Diskriminierungsverbot von EU-
Ausländern. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verbietet Art 4 nicht nur eine
unmittelbare          Diskriminierung,             sondern          auch    alle   Formen     der     mittelbaren
Diskriminierung.66 Eine unmittelbare (direkten/offene) Diskriminierung stellt auf die
Staatsangehörigkeit ab. Die mittelbare (indirekte/verdeckte) Diskriminierung hingegen
knüpft an ein scheinbar neutrales Kriterium an, durch das aber im Ergebnis Inländer
faktisch bevorzugt bzw. Ausländer benachteiligt werden.67
Schon 1986 erkannte der EuGH, dass auch diese verschleierten Formen der
Diskriminierung, welche mit Hilfe der Anwendung anderer Unterschiedsmerkmale
tatsächlich zu demselben Ergebnis führen und somit mittelbar benachteiligen,
unzulässig sind.68 Direkte Diskriminierungen können zudem nicht gerechtfertigt
werden.69         Leistungen          der      sozialen        Sicherheit     dürfen   also   nicht    von   der
Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden. Alle Normadressaten, welche von der
VO erfasst werden, sind gleich zu behandeln.
Das allgemeine Diskriminierungsverbot von EU-BürgerInnen aus Gründen der
Staatsangehörigkeit folgt aus der primärrechtlichen Bestimmung des Art 18 (1) AEUV.
Art 18 (1) AEUV wird also durch den Sekundärrechtsakt VO 883/2004 in Art 4
konkretisiert und ist daher lex specialis.70
Im Falle des österreichischen Modells der Indexierung der Familienbeihilfe kann eine
mittelbare Diskriminierung erkannt werden. Hier entsteht eine Ungleichbehandlung
durch das Anknüpfen der Indexierung an den Wohnort der Kinder. Ein scheinbar
neutrales Kriterium wie der Wohnort benachteiligt Ausländer und bevorzugt Inländer.

65
   Vgl. Weißenböck, Europäisches Sozialrecht (2018) 30.
66
   Vgl. EuGH C-131/96, Romero, ECLI:EU:C:1997:317, Rn 32.
67
   Vgl. Leidenmühler, Europarecht, 136.
68
   EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1, Rn 23.
69
   EuGH C-388/01, Kommission gegen Italien, ECLI:EU:C:2003:30, Rn 19.
70
   EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:2014:2358, Rn 61.
                                                                                                               17
3.3.1. Rechtsprechung des EuGH

Es obliegt den MS, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten und die
Zugangsvoraussetzungen zu diesen Systemen zu bestimmen; dabei haben sie das
Gemeinschaftsrecht zu beachten.71 Soll die Rechtsprechung des EuGH zu den
Systemen der sozialen Sicherheit überprüft werden, so gilt zu beachten das viele
Entscheidungen nicht nur zur VO 883/2004 ergangen sind, sondern auch unter der
Vorgänger-VO 1408/71.
Da der Wortlaut des § 73 (2) der VO 1408/71 fast ident in Art 67 S.1 VO 883/2004
übernommen wurde, ist davon auszugehen, dass Urteile die zu dieser VO ergangen
sind, unangefochtene Gültigkeit besitzen. Auszugsweiße folgend daher der Tenor und
die     Richtung           der      wichtigsten          Entscheidungen                zur      Koordinierungsverordnung
insbesondere zu Familienleistungen.

Als Grundsatzentscheidung gilt die Rechtssache Pinna72. Vor 30 Jahren verfügte
Frankreich über eine Sonderregelung die es erlaubte, die Familienbeihilfe für
Wanderarbeiter anzupassen. In der Rechtssache ging es um einen Italiener, der in
Frankreich arbeitete und dessen Kinder in Italien lebten, wo die Lebenserhaltungskosten
deutlich niedriger waren. Diese Konstellation wurde aber durch den EuGH aufgehoben,
der in dieser Sonderregelung einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
feststellte. Frankreich knüpfte dafür an den Wohnort des Kindes an. Es handelte sich
somit um eine mittelbare Diskriminierung, die überwiegend Staatsangehörige anderer
MS betrifft und daher Inländer begünstigt.
Inwiefern           die    Pinna-Entscheidung                 aber      Präjudizien-Wirkung                entfaltet        für        den
Indexierungsmechanismus der Familienbeihilfe bleibt fraglich. Einerseits gibt es in
Österreich keine rechtliche Bindung an Präjudizien. Andererseits ist sie fraglich, weil
durch die Indexierung die Grundfreiheit der Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen verletzt
wird. Verletzungen von Grundfreiheiten unterliegen stets einer Einzelfallprüfung des
EuGH           in         Zusammenschau                 mit       den         von        den         Staaten           angeführten
Rechtfertigungsgründen.73

71
   Vgl. Meißner, Familienarbeit in der Alterssicherung nach europäischem Sozialrecht (2005) 95; Vgl. auch stRsp EuGH C-28/00, Kauer,
ECLI:EU:C:2002:82, Rn 39; EuGH C-120/95, Decker, ECLI:EU:C:1998:167, Rn 17 ff.
72
   Vgl. EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1.
73
   Vgl. Marhold, Ludvik: Dürfen die Behörden die Indexierung der Familienbeihilfe anwenden? ASoK 6/2018, 209.
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Allerdings sind nationale Regelungen die Leistungen an den Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt knüpfen unzulässig wie auch die Entscheidungen Stöber und
Pereira74 zeigten. In beiden Fällen wurde versucht, das Kindergeld an einen Wohnsitz
im Inland zu knüpfen, was dem Gleichbehandlungsgebot wiedersprach.
Ebenso in ständiger Rechtsprechung zu Art 73 VO 1408/71: „Die Gewährung oder die
Höhe von Familienleistungen können nicht davon abhängig gemacht werden, dass die
Familienangehörigen im leistungszuständigen Mitgliedstaat wohnen.“75
In Imbernon Martínez erkennt der EuGH: „Auf diese Weise soll verhindert werden, dass
der EG-Erwerbstätige davon abgehalten wird von seinem Recht auf Freizügigkeit
Gebrauch zu machen.“76

Erstaunlich auch das Urteil in der Rechtssache Bogatu das 2019 erging. Ein
rumänischer Staatsbürger, welcher in Irland seinen Wohnsitz hatte und dessen Kinder in
Rumänien leben, arbeitete in Irland bis er arbeitslos wurde. Irland versagte ihm
daraufhin das Kindergeld, da dieses an das Erfordernis einer Erwerbstätigkeit geknüpft
sei. Das koordinierende Sozialrecht, so der EuGH, verlange nicht, dass die
anspruchsberechtigte Person über eine besondere Position, also etwa über den
Arbeitnehmerstatus oder die Leistungsberechtigung in der Sozialversicherung, verfügen
muss. Die Kindergeldzahlung kann vielmehr auch durch den Wohnsitz ausgelöst
werden.77 Der Gerichtshof folgt damit einer großzügigen Auslegung der VO 833/2004,
die für alle Bürger gelten soll, die dem Sozialrecht eines Staates unterfallen. Mit diesem
Urteil manifestiert der EuGH erneut die Verpflichtung zur Zahlung von Familienbeihilfe
von im EU-Ausland lebenden Kindern.

Der vielzitierte Vorwurf der EuGH hätte anhand dieser Rechtsauslegung in den Urteilen
dem ‚Sozialtourismus‘ und der ‚Armutsmigration‘ Tür und Tor geöffnet, kann nicht gefolgt
werden. Gerade durch sein Urteil im Fall Dano und der Folgerechtsprechung Alimanovic
sowie Garcia-Nieto78 hat er die Möglichkeit der Mitgliedstaaten bestätigt, den Zugang zu
Sozialleistungen zu beschränken.

74
   Vgl. EuGH C-4/95 und C-5/95, Verbundene Rs Stöber und Pereira, ECLI:EU:C:1997:44, Rn 37 ff.
75
   Vgl. EuGH C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, ECLI:EU:C:2005:364.
76
   Vgl. EuGH C-321/93, Imbernon Martínez, ECLI:EU:C:1995:306, Rn 21.
77
   Vgl. EuGH C-322/177, Bogatu, ECLI:EU:C:2019:102.
78
   Vgl. EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:1995:306; UnionsbürgerInnen, die nur mit dem Ziel in einen anderen MS reisen, um
Sozialleistungen zu beziehen, dürfen legitimerweise von diesen ausgeschlossen werden. Vgl. EuGH C-67/14, Alimanovic,
ECLI:EU:C:2015:597, Rn 56; der EuGH hat nun entschieden, dass die Mitgliedstaaten UnionsbürgerInnen auch dann von
beitragsunabhängigen Sozialleistungen ausschließen dürfen, wenn sie arbeitssuchend sind und aufgrund der Arbeitssuche ein
Aufenthaltsrecht haben. Vgl. EuGH C-299/14, Garcia-Nieto, ECLI:EU:C:2016:114; EU-Ausländern dürfen während der ersten drei Monate
ihres Aufenthaltes bestimmte Sozialleistungen vom Aufnahmemitgliedstaat versagt werden, auch ohne individuelle Prüfung.
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Eine unterschiedliche Behandlung von EU-BürgerInnen – sohin auch eine Indexierung
der Familienbeihilfenhöhe – muss stets objektiv gerechtfertigt werden, ansonsten ist sie
als diskriminierend einzustufen.

3.3.2. Export von Familienleistungen

Von Exportleistungen wird gesprochen, wenn der Berechtigte, der in einem anderen
Mitgliedsstaat als dem zuständigen Beschäftigungsstaat wohnt, in seinem Wohnortstaat
Leistungen erhält.79
Das Territorialprinzip – das auch Beschäftigungslandprinzip genannt wird und in der
VO 883/2004 in Art 11 (3) geregelt ist – ist jene Norm, die besagt, dass
UnionsbürgerInnen Sozialleistungen am Ort ihrer Erwerbstätigkeit konsumieren können.
Also auch dann, wenn diese in einem anderen MS wohnen. Der aus dem
Wohnsitzerfordernis resultierende Leistungsverlust könnte nämlich ArbeitnehmerInnen
davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen und würde
somit diese Freiheit beeinträchtigen.80

Art 67 S. 1 der VO 883/2004 regelt den Export der Familienleistung wie folgt: „Eine
Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen,
Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen
Mitgliedstaates, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen
würden.“
Zudem unterliegen die Familienleistungen einer Spezialregelung: Geldleistungen sind zu
exportieren. Wohnortklauseln sind daher gem. Art 7 VO 883/2004 unzulässig.
Erstaunlicherweise hebt Art 70 (2) lit c VO 883/2004 das Leistungsexportprinzip bei
besonders beitragsunabhängigen Geldleistungen auf. Die Leistung wird somit nur am
Wohnort81 des Leistungsempfängers gewährt. Möglich ist das allerdings nur dann, wenn
ein MS eine bestimmte Leistung in den Anhang X der VO hineinreklamiert hat.
Österreich hat das mit Ausgleichszulage und der Sozialrente so gemacht. Diese können
also nur mit einem Wohnsitz im Inland konsumiert werden. Das gilt folglich nicht für die
Familienbeihilfe.

79
   Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten (2011) 590 Rn 1820.
80
   Vgl. Karl, Sozialversicherung und Auslandsbezug: positive und negative Entwicklungen; DRdA 5/2018, 374 Rn 2.1.
81
   Art 1 lit j VO 883/2004.
                                                                                                                    20
Art 70 VO 883/2004 torpediert auf den ersten Blick also die Grundfreiheiten und den
allgemeinen Grundsatz des Leistungsexports nach Art 48 lit b AEUV. Diese Ausnahmen
vom Exporten der Leistungen sozialer Sicherheit sind nach der Rechtsprechung des
EuGH        daher       eng      auszulegen.82           Der      EuGH        rechtfertigt       die     Ausnahme            vom
Leistungsexport damit, dass die im Anhang X genannten Leistungen eng an das soziale
Umfeld und den Wohnort des jeweiligen MS angebunden sind.83 Die Ausgleichszulage
zur Pension und die Sozialrente sollen ihrem Sinn nach ein Mindesteinkommen für
Bürger mit Inlandswohnsitz in Österreich sichern.

Wesentlich ist auch, dass die VO 883/2004 für besonders beitragsunabhängige
Leistungen gilt. „Der Begriff, der das Ergebnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist,
ist also nicht neu, und seine Definition ist nunmehr beständig. Eine besondere
beitragsunabhängige Geldleistung wird durch ihren Zweck definiert. Sie muss erstens
eine Leistung der sozialen Sicherheit ersetzen oder ergänzen, sich zugleich aber von
dieser unterscheiden, sie muss zweitens den Charakter einer Sozialhilfeleistung haben,
die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gerechtfertigt ist, und es muss drittens
nach einer Regelung, die objektive Kriterien festlegt, über sie entschieden werden.
Zudem muss sie viertens in dem Sinne beitragsunabhängig sein, dass die fragliche
Leistung nicht unmittelbar oder mittelbar durch Sozialbeiträge sichergestellt werden darf,
sondern durch öffentliche Mittel sichergestellt werden muss, und fünftens muss sie
gemäß Art. 70 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 883/2004 in deren Anhang X
genannt werden.“84
Die österreichische Familienbeihilfe ist also per Definition der VO 883/2004 eine
besonders beitragsunabhängige Geldleistung, welche nicht im Anhang X genannt wird.
Daher ist sie an BezieherInnen im Ausland zu exportieren.

82
   Vgl. EuGH C-43/99, Leclerc und Deaconescu, ECLI:EU:C:2001:303; noch ergangen unter VO 1408/71. Siehe auch Erwägungsgrund 37
der VO 883/2004.
83
   Vgl. EuGH C-20/96, Snares, ECLI:EU:C:1997:518, Rn 38 ff und EuGH C-318/86, Lenoir, ECLI:EU:C:1988:452 Rn 16, noch ergangen unter
VO 1408/71.
84
   Vgl. Schlussanträge GA Wathelet 20.05.2014, EuGH C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:1995:306.
                                                                                                                                 21
4. Regierungspläne zur Indexierung der Familienbeihilfe

Die Kürzung der Familienbeihilfe ist kein grundsätzlich neues Thema, sondern war
schon einmal Bestandteil des Europäischen Sozialrechts.
In der alten Fassung gewährte § 73 (2) VO 1408/71 – die Vorgängerregelung der
VO 883/2004 – diese Möglichkeit für Frankreich. Diese Norm war Teil einer
Sonderregelung, die es Frankreich erlaubte, die Familienbeihilfe anzupassen. Doch
schon 1986, in der Rechtssache Pinna                             85   hatte der EuGH festgestellt, dass diese Norm
mit EU-Recht unvereinbar ist, da sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigt und
gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt. Wohnsitze oder Staatsangehörigkeit
seien unzulässige Differenzkriterien.86

Die Indexierung spießt sich nicht nur an drei sekundärrechtlichen Normen der
Koordinierungsverordnung. Einerseits wiederspricht sie dem Diskriminierungsverbot des
Art 4        und        der        allgemeinen               Beseitigung              von           Wohnortklauseln    in    den
Art 7 und 67 S. 1 VO 883/2004. Andererseits können auch primärrechtliche Hürden wie
der      Grundsatz            des       Leistungsexports                gem.        Art      48       lit   b   AEUV   und   das
Diskriminierungsverbot normiert in der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des
Art 45 (2) AEUV nicht mit der österreichischen Neuregelung überwunden werden.

Gemäß Art 67 S. 1 VO 883/2004 haben Personen auch für Familienangehörige, die in
einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den
Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaates, als ob die Familienangehörigen in
diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Die Wortwahl „als ob“ suggeriert somit, dass eine
soziale Leistung nicht an den Wohnsitz des Kindes geknüpft werden kann so wie es
Österreich versucht.
Die dahingeschiedene Regierung hat zwar händeringend versucht mit dem Gutachten
des Arbeits- und Sozialrechtlers Mazal87 die Rechtmäßigkeit der Gesetzesänderung zu
rechtfertigen, stieß damit aber in der Öffentlichkeit und in den Medien auf wenig
Verständnis und ließ viele europarechtliche Zusammenhänge unbeleuchtet.
Führende österreichische und internationale Rechtsgelehrte zerpflückten das Gutachten
von Mazal bei der Veröffentlichung.

85
   Vgl. EuGH C-41/84, Pinna, ECLI:EU:C:1986:1.
86
   Siehe dazu Abschnitt 3.2.2.
87 Dr. Mazal Wolfgang ist Institutsvorstand für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien.

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