Die Inflation hat viele Verlierer - Der Chefökonom - 6. August 2021 - Handelsblatt

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Die Inflation hat viele Verlierer - Der Chefökonom - 6. August 2021 - Handelsblatt
Der Chefökonom – 6. August 2021

Die Inflation hat viele Verlierer
Höhere Teuerungsraten haben für staatliche Schuldner auch Nachteile. Die
Regierungen sollten vorbereitet sein.
von Bert Rürup und Axel Schrinner

Die Schuldner gelten gemeinhin als die großen Gewinner einer Inflation. Und der größte Schuldner
ist nahezu überall auf der Welt der Staat. Die Geschichte ist voll mit Beispielen, in denen Herrscher
oder Regierungen die Geldpresse anwarfen, um sich so - scheinbar bequem - ihrer Schuldenlasten
zumindest teilweise zu entledigen.

Auch gegenwärtig scheint der deutsche Staat der große Gewinner des spürbar steigenden
Preisniveaus zu sein. Dank einer im Juli bei 3,8 Prozent liegenden Inflationsrate schrumpften jene
gut 2,1 Billionen Euro, die das Statische Bundesamt im Sommer 2020 als Staatsschuld ausgewiesen
hatte, binnen eines Jahres real um 77 Milliarden Euro. Rechnerisch löste sich damit der Gegenwert
von fast zwei Jahren Energiesteueraufkommen scheinbar in Luft auf.
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Doch in der Wirklichkeit ist die Rechnung für den Staat keineswegs so einfach, wie es den
Anschein hat. Reale Größen sind für die Planung und Aufstellung des Haushalts und damit für die
Tagespolitik unerheblich. Die im Maastricht-Vertrag verankerten Ziele für Schulden- und
Defizitquote beruhen wie die Schuldenbremse auf nominalen Größen, also auf den tatsächlichen
Ausgaben und Einnahmen des Staates innerhalb eines Jahres in Relation zum jeweiligen
Bruttoinlandsprodukt.

Hinzu kommt, dass angesichts von Null- oder gar Negativzinsen die öffentlichen Hände durch neu
aufgenommene Schulden erst einmal nicht belastet werden, sondern sogar Zinseinnahmen
verbuchen können. Bei der Umfinanzierung ersetzen Zinseinnahmen auf die neuen Schulden sogar
Zinsausgaben auf die fällig gewordenen Altschulden. Gleichzeitig belastet der Preisanstieg den
Staatshaushalt. Steigende Energiepreise verteuern die Heizkosten für öffentliche Gebäude,
steigende Baustoffpreise die Kosten von Bauinvestitionen, und steigende Löhne erhöhen sowohl die
Rechnungen für Handwerker und Dienstleister des Staates wie die Ausgaben für eigene
Bedienstete. Zudem muss der Staat Sozialhilfe- und Grundsicherungsleistungen regelmäßig an den
Preisanstieg anpassen.

Kaum Beachtung wird dagegen den Problemen auf der Einnahmeseite geschenkt, also bei den
Steuereinnahmen. So sind die großen, allein dem Bund zustehenden Verbrauchsteuern etwa auf
Mineralöl, Strom, Tabak oder Alkohol durchweg Mengensteuern. Die Steuer beträgt einen
bestimmten Cent-Betrag pro Liter, Kilowattstunde oder Zigarette. Das Steueraufkommen steigt
daher nicht, wenn sich die Nettopreise dieser Waren verteuern. Deshalb degenerierten historische
Mengensteuern etwa auf Salz, Zucker, Spielkarten oder Leuchtmittel allmählich zu Bagatellsteuern,
die schließlich abgeschafft wurden.

Ein zweites, mutmaßlich größeres Problem zeigt sich bei der Einkommensteuer. So muss der Staat
regelmäßig den nominal festgelegten Grundfreibetrag erhöhen, damit - wie vom
Bundesverfassungsgericht vorgegeben - das reale Existenzminimum steuerfrei bleibt. Weil ein
steigender Grundfreibetrag alle Steuerzahler entlastet, ist dessen Anhebung für die öffentlichen
Haushalte stets teuer.

Bescheidene Tarifkorrekturen für 2022

Darüber hinaus hat sich die Bundesregierung verpflichtet, die Steuerzahler regelmäßig von den
Belastungen durch die "kalte Progression" freizustellen. Unter "kalter Progression" versteht man
den Anstieg des durchschnittlichen Einkommensteuersatzes, der auf solche
Einkommenserhöhungen zurückzuführen ist, die lediglich die Inflation ausgleichen. Dem kann
durch eine geeignete Verschiebung des Steuertarifs begegnet werden. Nun ging die

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Bundesregierung im Herbst des Jahres 2020, als der Bundestag diese Tarifverschiebung
verabschiedete, von lediglich 1,17 Prozent Inflation in diesem Jahr aus. Dementsprechend fallen die
Tarifkorrekturen für 2022 bescheiden aus.

Mittlerweile erwarten Konjunkturexperten für dieses Jahr knapp drei Prozent Inflation im
Jahresdurchschnitt. Die neue Regierung müsste also im Herbst die Entlastung für 2022 eigentlich
um einen zweistelligen Milliardenbetrag nachbessern - oder diese Entlastung zumindest im
Folgejahr 2023 nachholen. Der zu einem großen Teil von der Politik selbst ausgelöste
Inflationsschub hat also das Zeug dazu, ein Milliardenloch in die mittelfristigen Finanzplanungen
zu reißen.

Besonders teuer wird es für den Staat dadurch, dass die Inflation nicht allein auf einer allgemein
aufwärtsgerichteten Wirtschaftsentwicklung mit dann auch steigenden Einkommen beruht, sondern
zum guten Teil staatlich administriert ist: durch den Wiederanstieg der Mehrwertsteuersätze und die
sich in den kommenden Jahren fortsetzenden höheren CO2-Abgaben.

In diesem Maße werden also keine ungerechtfertigten Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer
zurückgegeben, sondern ausschließlich diese Steuer gesenkt. Immer dann, wenn der Staat selbst die
Inflation über höhere Verbrauchsteuern anheizt, die Einkommen aber nicht entsprechend steigen,
geht ein Teil der dadurch verursachten Steuermehreinnahmen durch die Progressionskorrektur
wieder verloren.

Nun ist es erklärtes Ziel der meisten Industrieländer, der Erderwärmung durch höhere Preise für
Energie aus fossilen Trägern zu begegnen. Selbst wenn den Bürgern die Einnahmen aus CO2-
Steuern oder -Emissionshandel zurückgegeben werden, sind kräftige Preissteigerungen bei sehr
vielen Produkten infolge steigender Herstellungs- und Transportkosten zu erwarten.

Hinzu kommt, dass auf beiden Seiten des Pazifiks die Vorteile der weltwirtschaftlichen
Arbeitsteilung, also der Globalisierung, zunehmend in Zweifel gezogen und protektionistische
Maßnahmen ergriffen werden. Neue Handelshemmnisse würde nicht nur das Wachstum dämpfen,
sondern auch zu höheren Preisen führen.

Gerade auch vor dem Hintergrund des demografisch bedingt knapper werdenden Arbeitsangebots
wird es nicht ausbleiben, dass auch die Löhne und Gehälter steigen. Käme dann eine Lohn-Preis-
Spirale in Gang, würde auch die Europäische Zentralbank (EZB) nicht mehr umhinkönnen, etwas
zu unternehmen. Denn dies dürfte nicht nur Deutschland, sondern den gesamten Euro-Raum
betreffen. In der Folge ist mit geringeren Anleihekäufen oder sogar -verkäufen und letztlich wieder
steigenden Zinsen zu rechnen.

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In der Folge werden vor allem die hoch verschuldeten Euro-Staaten mehr Zinsen zahlen müssen.
Die im Niedrigzinsumfeld ausgeweiteten mittleren Laufzeiten der Staatsanleihen werden dabei
kurzfristig nicht viel helfen, weil die nationalen Notenbanken ihre Anleihekäufe vor allem
kurzfristig über höhere Einlagen refinanziert haben und dann mit wesentlich geringeren Gewinnen
oder gar Verlusten rechnen müssen. Die Staaten werden also rasch einen Rückgang der
Gewinnausschüttungen ihrer Notenbanken spüren.

Löhne in Asien steigen spürbar

Die Ära einer sehr niedrigen Inflation könnte alsbald zu Ende gehen. Zum einen sind die Löhne in
China und anderen asiatischen Ländern spürbar gestiegen. Weitere Preissenkungen sind daher nicht
zu erwarten. Zudem ist - wie die Industrie gerade schmerzlich erlebt - Europa bei strategischen
Vorprodukten wie Halbleitern von Lieferungen aus Fernost abhängig.

Solche Abhängigkeiten schaffen Spielraum für dauerhafte Preiserhöhungen. Zum anderen wird die
alternde Bevölkerung in Deutschland und Europa den Fachkräftemangel verstärken und damit zu
steigenden Löhnen führen. Verschuldete Staaten profitieren also keineswegs nur von höheren
Inflationsraten. Die Wirkungsmechanismen sind wesentlich komplexer.

Die nächste Bundesregierung täte daher gut daran, ihre Finanzplanung daraufhin zu prüfen, wie
widerstandsfähig diese gegenüber Teuerungsschüben ist. Dies gilt für die Ausgaben- wie für die
Einnahmenseite. Sich nur darauf zu verlassen, dass die Notenbanken Inflationsgefahren im Keim
ersticken, könnte sich als fahrlässig herausstellen. Denn gegen viele Formen von
Preisniveauerhöhungen sind selbst die Notenbanken machtlos.

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