DIE MIGRANTISIERUNG DER OSTDEUTSCHEN? - Erinnern Stören ...

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DIE MIGRANTISIERUNG DER OSTDEUTSCHEN?
Im Gespräch mit Naika Foroutan

Kathleen Heft

Im Frühjahr 2019 veröffentlichte das Deut-        ressant ist. Der früheste Text, den ich dazu
sche Zentrum für Integrations- und Migrati-       gelesen habe, ist 2003 von Toralf Staud in
onsforschung e.V. (DeZIM-Institut) die Studie     der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel
»Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz         »Ossis sind Türken« veröffentlicht worden. 2
um Anerkennung«.1 Die Studie widmet sich          Der Autor schaut darin in die Forschung, zum
Abwertungs- und Anerkennungsprozessen             Beispiel zu irischen Migrant*innen in den
in der postmigrantischen Gesellschaft und         USA und sowjetischen Juden*Jüdinnen, die
fragt dabei nach Parallelen und Unterschie-       nach Israel migriert sind, und sagt: Was die
den zwischen der symbolischen Abwer-              Ostdeutschen erleben, ist im Grunde ähn-
tung und Anerkennung von Muslim*innen             lich, allerdings migrierten Ostdeutsche, ohne
und Ostdeutschen. Wie blicken Ost- und            den Ort verlassen zu haben. Auch die Ost-
Westdeutsche auf die Gruppe der Ostdeut-          deutschen kommen als Minderheit in eine
schen und Muslim*innen? Welche Stereoty-          Mehrheitsgesellschaft. Wenn man deren Er-
pe schreiben sie diesen beiden Gruppen zu?        fahrungen verstehen will, ist es sinnvoll, sich
Finden sie, dass Muslim*innen und Ostdeut-        Migrationsstudien anzuschauen, weil wir da-
sche gleichermaßen benachteiligt werden?          raus lernen können.
Und empfinden sie den sozialen Aufstieg von       Das nächste, was ich gefunden habe, war
Ostdeutschen und Muslim*innen als bedroh-         Kübra Gümüşays Artikel »Ihr versteht mich«,
lich? Die Studie wurde mit kritischem Inter-      der 2013 ebenfalls in Die Zeit erschienen ist.3
esse diskutiert und hat neben Zuspruch auch       Sie hat das so aufgezogen: Im Osten gibt es
Kritik auf sich gezogen. Insbesondere der         viel Rassismus, den NSU, und Ostdeutsche
Vergleich wurde als Gleichsetzung von Mus-        kennen einfach nicht genügend Türk*in-
lim*innen und Ostdeutschen und somit als          nen. Sie habe aber auch die Erfahrung ge-
illegitim und Affront aufgenommen. Im Ge-         macht, dass Freunde aus Ostdeutschland sie
spräch mit Naika Foroutan finden wir heraus,      manchmal besser verstehen als Westdeut-
was es mit dieser Parallelisierung auf sich hat   sche. Gümüşay sagt, dass Ostdeutsche auch
und wo die Vorteile und Grenzen der sozial-       »den anderen Blick« hätten und stellt fest:
wissenschaftlichen Analogiebildung liegen.        »Wer einmal zum Fremden gemacht wird,
                                                  kann andere ›Fremde‹ verstehen. Und das
KATHLEEN HEFT: Ich habe überlegt, seit            ist eine Gabe, eine Besonderheit«.4 Dann war
wann es diese Analogie zwischen Ostdeut-          eine Weile Ruhe und dann fing das im Som-
schen und Migrant*innen gibt und wann es          mer und Herbst 2015 mit den Flüchtlings-Me-
mir das erste Mal begegnet ist, dass da eine      taphern an, in der großen ›Aufnahmekrise‹.
Verbindung hergestellt und gesagt wurde,          Ostdeutsche hieß es, seien irgendwie auch
aus dieser Analogie lässt sich etwas lernen,      Flüchtlinge gewesen.5 Die Metapher wur-
da lässt sich ein Vergleich ziehen, der inte-     de aber auch als Zurechtweisung genutzt:
Erinnert euch mal zurück, ihr wart ja selbst     werden, irgend- wann zu erkennen, dass das
Flüchtlinge, in Anführungszeichen, ihr wolltet   nicht nur ein Gefühl ist. Das ist etwas, was
ja selbst aus der DDR fliehen, jetzt besinnt     empirische Forschung sehr gut leisten kann
euch mal darauf und behandelt die neuen          beziehungsweise kann sie natürlich auch zu
Flüchtlinge entsprechend wohlwollend. Im         dem Ergebnis kommen: Das bildet ihr euch
Grunde war das eine Integrationsforderung,       alle nur ein. Das wäre in beiden Fällen ein
die den Spieß umdreht. Ihr wart selbst mal       gutes Ergebnis. Selbst wenn man empirisch
Flüchtlinge, und wenn ihr euch jetzt nicht       nachweisen würde, dass diese ganzen Ängs-
wohlverhaltet gegenüber den neuen Flücht-        te, Sorgen, Abwertungsgefühle etc. stark auf
lingen, dann »Seid endlich still!«.6 Den Ver-    Autoprojektion begründet sind oder auf an-
gleich von Ostdeutschen mit Migrant*innen        deren Verlust- oder Statusängsten, hätte die
gibt es also seit mindestens 16 Jahren.          empirische Forschung ihren Zweck erfüllt. Es
Die Studie zu den Ost-Migrantischen Analo-       geht ja nicht darum, mit der Empirie einfach
gien,7 die von dir, Frank Kalter, Coşkun Canan   nur die Gefühle der Menschen zu bestätigen.
und Mara Simon am DeZIM-Institut heraus-         Wenn die Empirie dazu Zahlen liefert, dass
gebracht wurde, schließt an diese Reihe von      man sich etwas nur einbildet, stößt das die
Analogiebildungen an und schlägt vor, sich       Menschen vielleicht in dem Moment vor den
anzugucken, wie Migrant*innen und Ost-           Kopf. Vielleicht hat das aber auch ein großes
deutsche zum Teil ähnliche Momente reflek-       Potenzial dafür, Konflikte anders zu betrach-
tieren, wie es ähnliche Wahrnehmungen gibt,      ten – für die, die sich immer in der Defensi-
wie ähnliche Stereotype produziert werden.       ve fühlen, könnte es ein Aufruf sein, aus ihrer
Warum bietet sich dieser Vergleich an?           Vorwurfshaltung herauszutreten.
                                                 Umgekehrt aber auch: Wenn gefühlte Dis-
NAIKA FOROUTAN: Es wurde tatsächlich in          kriminierung tatsächlich empirisch nach-
den vergangenen Jahren immer wieder ver-         gewiesen werden kann und somit aus dem
sucht, diese Analogie zu knüpfen8 und des-       Reich der Gefühle heraustritt und mit Fak-
wegen ist es natürlich grundsätzlich auch        ten untermauert wird, dann kann das zu ei-
eine zeitdiagnostische Frage, wieso unsere       ner psychologischen Erleichterung führen
Studie plötzlich so aufgefasst wurde, als hät-   – nämlich, dass man sich das nicht die gan-
te sie einen komplett neuen Vergleich eröff-     ze Zeit nur eingebildet hat – und das ebnet
net.                                             außerdem den Weg für eine öffentliche Dis-
Neu ist, dass wir untersuchen wollten, ob sich   kussion über Maßnahmen gegen Diskrimi-
qualitative, theoretische, literarische, per-    nierung. Die Erfahrung konnten wir schon
sönliche und journalistische Anekdoten und       mit diversen Studien machen, bei denen
Vergleiche, Gefühle und Beschreibungen tat-      dann die Rückmeldung war: Danke. Ich habe
sächlich empirisch nachweisen lassen. Das        das mein ganzes Leben gespürt. Jetzt habe
ist zum einen für uns als DeZIM-Institut in-     ich Zahlen dazu. Zum Beispiel haben die Kol-
teressant, weil wir ein empirisch forschendes    leg*innen Georg Lorenz und Sahra Gentrup
Institut sind. Es ist aber auch grundsätzlich    in einer Studie am Berliner Institut für empiri-
sehr wichtig – das weiß ich aus meiner For-      sche Integrations- und Migrationsforschung
schung zu Diskriminierung – für die sozialen     (BIM) nachgewiesen, dass türkeistämmige
Gruppen oder Personen, die diskriminiert         Kinder ab der ersten Klasse von Mechanis-
men der Abwertung betroffen sind.9 Dazu         lysemethode. Wenn man soziale Gruppen
haben sie Videomaterial ausgewertet und         miteinander vergleicht, die als vollkommen
erkannt: Lehrkräfte erwarten von Anfang an      unterschiedlich wahrgenommen werden,
weniger von ihren Schulkindern, wenn sie ei-    dann sind Ähnlichkeiten, die gefunden wer-
nen türkischen Namen haben. Sie rufen sie       den, zum Beispiel in der Abwertung dieser
dementsprechend weniger häufig auf und          Gruppen, in der Positionierung dieser Grup-
unterschätzen ihre kognitiven Lernleistun-      pen in der Gesellschaft oder in der Nicht-Re-
gen. Die Kolleg*innen haben das erforscht,      präsentation dieser Gruppen eben ein starker
indem sie die Kinder kognitive Vergleichs-      Hinweis darauf, dass es vielleicht gar nicht so
tests lösen ließen und dann die Lehrkräfte      sehr um gruppenspezifische Abweichungen
gefragt haben: »Glauben Sie, dass Kind xy,      geht, sondern eventuell um systemische Be-
diesen Test lösen kann?« Die Lehrkräfte ha-     nachteiligung oder andere Dinge. Und wenn
ben systematisch häufiger »nein« gesagt,        dem so ist, stellt sich die Frage, ob wir uns
wenn das Kind einen türkischen Namen hat-       mehr systemrelevanten Diagnosen hinwen-
te. Der Name reichte aus, um weniger zu er-     den sollten.
warten. Natürlich ist das eine deprimierende    Wir haben die letzten Jahre sehr stark damit
Erkenntnis, aber es ist für die Personen nach   verbracht, soziale Konflikte über die Minder-
Jahrzehnten der Beweis, dass sie sich das       heiten selbst zu erklären. Wir haben die Kon-
nicht immer nur einbilden. Ich glaube, dass     flikte im Falle der Ostdeutschen zum Beispiel
uns das mit der Studie zu Ost-Migrantischen     sehr stark mit einem spezifischen DDR-Be-
Analogien auch gelungen ist. Wir konnten        zug erklärt, damit, dass sie die DDR durch-
zeigen, dass die Ostdeutschen sich nicht        lebt haben, dass die Ostdeutschen deswegen
nur einbilden, dass es ihnen gegenüber Ste-     nicht demokratisch sein können, weil sie ja
reotype gibt. Dass sie sich als Bürger*innen    noch nie Demokratie gelernt haben etc. Da-
zweiter Klasse fühlen, ist nicht nur ein Pri-   mit wird nicht nur Rechtspopulismus erklärt,
vatgefühl – es gründet auf eindeutigen em-      sondern auch die Ungleichheit gleich irgend-
pirischen Ungleichheiten wie z. B. weniger      wie mitlegitimiert – also zum Beispiel, dass
Zugang zu relevanten Positionen in der Ge-      die Ostdeutschen weniger in Elitepositionen
sellschaft.                                     vertreten sind. Im Falle der Muslime wird es
                                                oft kulturell erklärt: Die sind so, weil ihre Kul-
KH Du hast vorhin gesagt, dass eure Studie      tur so ist, weil sie aus archaischen, paterna-
zu Ost-Migrantischen Analogien so aufge-        listischen Systemen kommen, weil sie noch
fasst wird, als würde sie eine gänzlich neue    nicht reif sind, Elitepositionen einzunehmen.
und zudem falsche Analogie aufstellen.          Weil sie angeblich noch nicht integriert sind
                                                oder es möglicherweise nie lernen, wie Thi-
                                                lo Sarrazin behauptet hat. Wir haben immer
NF Es wird immer gefragt, was so ein Ver-       sehr viel über die sozialen Gruppen selbst
gleich eigentlich bringt. Oder es kommt der     gesprochen und weniger über systemische
Vorwurf, dass wir durch den Vergleich die       Diskriminierungseffekte. Das führt natür-
Gruppen gleich- setzen würden. Das stimmt       lich dazu, dass Menschen in Entscheider*in-
aber nicht. Komparative Analysen sind in        nen-Positionen dieses Privileg auch dadurch
den Sozialwissenschaften eine gängige Ana-      begründen können, dass die abgewerteten
Gruppen gar nicht in der Lage seien, Elite-      dass Geflüchtete im kollektiven Gedächt-
positionen einzunehmen.                          nis wieder eine relevante Gruppe wurden,
Vor dem Hintergrund, dass diese Vergleiche       die nach Sichtbarkeit verlangte und danach,
schon seit über 15 Jahren im kollektiven Er-     dass man sich politisch mit ihrem Status und
zählraum existieren, so hast du das am An-       mit ihrer Entrechtung befasste. Dieser Stern-
fang unseres Gesprächs gerahmt, ist ja die       marsch wurde maßgeblich auch von irani-
Frage total spannend, wieso das Thema jetzt      schen Geflüchteten organisiert, die nach der
plötzlich so hochkommt. Liegt das vielleicht     grünen Bewegung aus Iran nach Europa ge-
an den Debatten rund um die Fluchtmigrati-       flohen sind. Sie kamen mit der Erfahrung,
on? Die ganze Frage von Flucht kam ja dann       dort gegen ein diktatorisches System ge-
noch ein- mal akut in den kollektiven Erfah-     kämpft zu haben, dem entkommen zu sein,
rungsraum hinein, das war ja vorher aus dem      einer Wahlmanipulation zum Opfer gefallen
kollektiven Erzählraum quasi gänzlich gestri-    zu sein, nur um dann erneut in entrechte-
chen. Viele hatten ja seit dem sogenannten       ten Verhältnissen zu landen, irgendwo in der
Asylkompromiss 1993 das Gefühl, dass es in       Provinz, in Residenz-Gefängnissen, die sie
Deutschland das Thema Flucht nicht mehr          nicht verlassen dürfen. Sie konnten die Welt
gibt und schon gar keine Geflüchteten. Die       nicht mehr verstehen, weil in ihrem Kopf na-
gab es natürlich die ganze Zeit: Noch bis        türlich Europa demokratisch, aufgeklärt und
1995 war die Zahl der Bürgerkriegsflücht-        offen war. Sie haben sich irgendwann dann
linge aus dem Jugoslawienkrieg sehr hoch,        einfach über die harsche Regulierung hin-
aber das Thema war politisch mit diesem          weggesetzt, sie haben einfach die Residenz-
Asylkompromiss eingehegt worden. 1993            pflicht durchbrochen und diese Märsche und
wurde im Nachgang der Pogrome in Mölln,          Besetzungen organisiert. Das hat dazu ge-
Solingen, Rostock-Lichtenhagen – im Grun-        führt, dass diese Gruppe wieder ins kollekti-
de genommen als Eingeständnis gegenüber          ve Bewusstsein gerückt ist. Es hat aber auch
der Rechten Terrorisierung –, das bis dahin      viele abwehrende Debatten in Gang gesetzt
schrankenlos gewährte Asylgrundrecht ge-         – bevor die große Fluchtmigration im Jahr
ändert. Die Anerkennungsquote ging dem-          2015/16 stattfand.
entsprechend zurück. Sie lag bis 2002 unter      Vielleicht ist der Vergleich, den unsere Studie
zwei Prozent. Von 1993 bis 2013 – also zwei      aufgemacht hat, jetzt plötzlich so anschluss-
Jahrzehnte lang – war eigentlich die Frage       fähig, weil mit der neu in den Diskursraum
von Flucht kaum mehr in der Politik präsent.     eintretenden Gruppe plötzlich in Ostdeutsch-
Erst 2013 mit den dramatischen Bootsunglü-       land die Debatten um die eigene Unsichtbar-
cken vor Lampedusa rückte das Thema wie-         keit gerahmt wurden. Jetzt interessiert ihr
der ins kollektive Bewusstsein.                  euch nur noch für die Geflüchteten? Paral-
Allerdings muss man auch sagen, dass die         lel dazu ging es um die Frage, wie sich die
Fluchtmigration nicht erst durch die Mittel-     Menschen in Ostdeutschland gegenüber
meerflüchtenden akut wurde. Sie wurde be-        Geflüchteten verhalten. Vielleicht hatte man
reits mit dem Sternmarsch, dem »Refugee          die Erwartungshaltung, dass sich Ost- und
Protest March to Berlin« im Jahr 2012, und       Westdeutsche in derselben Weise gegen-
der anschließenden Besetzung des Oranien-        über Geflüchteten verhalten – das hast Du ja
platzes in Berlin virulent. Damit fing das an,   eingangs so zitiert – und daran knüpfte sich
dann subkutan die Frage: Habt ihr in den          ist aber auch in der Forschung zum Osten
letzten 30 Jahren eigentlich gelernt, wie man     Neues passiert. In den letzten Jahren haben
sich in Deutschland benimmt? So ein biss-         vermehrt junge Wissenschaftler*innen ge-
chen wurde die Frage »Wie hast Du es mit der      sagt: Wir brauchen andere Forschung zum
Migration?« zum Gradmesser für Zivilisation.      Osten. Transformationsforschung ist nicht
Das ist auch nachvollziehbar, denn Migration      alles. Wir wollen die Ostdeutschen nicht wei-
steht sinnbildlich nicht nur für eine humanis-    ter als Abweichung von der westdeutschen
tische Wertepositionierung, sondern auch          Norm beforschen, sondern versuchen, einen
für einen generellen Umgang mit Pluralität.       anderen Blick auf den Osten einzunehmen.10
Und somit wurde die Flucht- und Migrations-       Vielleicht sind da zwei relativ neue Stimmen
frage zu einem starken Abhebungsmoment            – Geflüchtete, die Sichtbarkeit und Teilhabe
zwischen Ost und West stilisiert. Und da war      einfordern, und Ostdeutsche, die sich anders
dann wahrscheinlich unsere Studie, die hier       in gesellschaftliche Debatten einschreiben –
eine Analogie zwischen Migrant*innen und          zusammengekommen?
Ostdeutschen prüfen wollte, eine große Ir-
ritation. Vielleicht ist diese Erklärung aber     NF Ja, vielleicht. Ich glaube, dass die Mi-
grade auch ein bisschen zu konstruiert. Ich       grationsforschung da viele gute und an-
muss da noch mehr drüber nachdenken.              schlussfähige Ansätze liefert. Unabhängig
                                                  vom politischen und gesellschaftspolitischen
KH Ich überlege, ob es nicht auch daran           Frame, finde ich das aus der forschungs-
liegt, dass Ostdeutsche in den letzten Jahren     theoretischen Perspektive spannend. Die
auf verschiedene – unter anderem reaktio-         ganzen Theorien, die aus der postkolonia-
näre – Arten lauter und sichtbarer geworden       len Forschung kommen, zu Assimilation und
sind – zum einen mit Pegida. Das fällt ja auch    Assimilationsabwehr, zu Hybridisierung, zu
in die Zeit. Wann haben die angefangen?           Passing, zu Mimikry, die gibt es ja schon seit
2015?                                             den 1970er Jahren. Und sie sind anschluss-
                                                  fähig, obwohl der Versuch, postkoloniale
NF Die sind schon im Oktober 2014 das             Theorie auf Ostdeutschland anzuwenden
erste Mal los und an Weihnachten 2014 hat-        auch kritisiert werden kann. Natürlich kann
ten sie in Dresden diese hohe Teilnehmen-         das Mimikry-Konzept, mit dem Homi Bhabha
denzahl, wo sie Weihnachtslieder gesungen         beschreibt, dass Menschen versuchen, die
haben und die Gegendemonstranten dann             übergeordnete Outgroup aus der Position
schon Spruchbänder hatten wie: »Seht ihr          der totalen Subalternität zu imitieren,11 nicht
nicht, wie doof sie sind? Jesus war ein Flücht-   so einfach auf Ostdeutschland übertragen
lingskind!« Das war weit vor der Entschei-        werden. Und selbstverständlich können die
dung Angela Merkels, im September 2015 die        rassistischen Erfahrungen, die die postkolo-
Grenzen nicht zu schließen.                       niale Theorie grundieren, nicht auf die Ost-
                                                  deutschlandfrage übertragen werden. Ich
KH Mit Pegida gibt es also zum einen die          glaube aber, dass die postkoloniale Theorie
konservativen, rechtspopulistischen, rassisti-    sehr gute psychoanalytische, emotionale und
schen ostdeutschen Stimmen, die sich laut-        auch, wenn man so will, Hypothesen für em-
stark zu Wort gemeldet haben. Zum anderen         pirische Zugänge geschaffen hat. Sie hat das
nicht so stark empirisch geprüft, aber die Zu-   sagt wird, dass diese Theorieansätze angeb-
gänge sind so gut beschrieben, dass ich fin-     lich nur für einen eng begrenzten Kontext
de, dass es legitim sein müsste, sie auch auf    funktionieren. Es ist eigentlicher Sinn einer
andere Ungleichheitsverhältnisse anzuwen-        Theorie, dass man sie adaptieren kann. Post-
den, die nicht die starken Unterdrückungs-       koloniale Perspektiven auf das Eigene und
mechanismen hatten, wie der europäische          das Andere sagen so viel über die Welt, in
Kolonialismus. Aber das ist immer heikel. Ich    der ich lebe und darüber, wie moderne Ge-
möchte im komparativen Zugang erkennen,          sellschaften funktionieren, dass sie natürlich
welche Phänomene sich ähneln und welche          auch dabei helfen, die vielfältigen Zusam-
nicht. Leider glauben viele ganz schnell, dass   menhänge von ostdeutsch-westdeutsch-
der Vergleich dieser Ansätze, zum Beispiel       postmigrantisch zu verstehen.
von Mimikry, von Subalternität oder von Ot-
hering-Prozessen, automatisch der Versuch        NF Weißt du, die Frage ist: Liest man post-
sei, die Ostdeutschen in einem ›Opfersta-        koloniale Theorie als Machtkritik bzw. Macht-
tus‹ ehemals versklavten Menschen in den         analyse oder liest man postkoloniale Kritik vor
Kolonien gleichzusetzen. Das ist natürlich       allen Dingen als Analyse von race relations?
nicht der Fall. Wenn diese Kritik im Raum        Wenn man sie als Analyse von race relations
ist, müssen wir aber überlegen, wie man an-      versteht, dann kann man sie nicht übertra-
dere Worte finden kann. Aber wenn etwas          gen. Aber wenn man sie als machttheoreti-
konzeptionell so klug durchdacht ist wie die     sche und machtkritische Perspektive liest,
postkoloniale Kritik, dann finde ich es schon    dann kann man sie übertragen. Macht und
schwer, etwas Anderes mit anderen Worten         Dominanz spielen sich auch im Geschlech-
zu benennen, wenn eigentlich diese Werk-         terverhältnis aus und natürlich im Klassen-
zeuge bereits da sind, um eine kritische Ge-     verhältnis. In der Klassenkritik gibt z. B. ein
sellschaftsanalyse zu betreiben, die den Blick   eigenes terminologisches Repertoire, das der
mehr auf hegemoniale Strukturen lenkt.           Marxismus geliefert hat. Das wäre vielleicht
                                                 die große Kunst, wenn wir sagen, dass die
KH Ich selbst habe in meiner Forschung           soziale Gruppe der Ostdeutschen durch die
zu Diskursen über Ostdeutschland mit An-         Kenntnis der marxistischen Kritik ein eigenes
sätzen aus der postkolonialen Theorie ge-        terminologisches Repertoire einbringen, das
arbeitet.12 Eine Sache, die ich immer sage,      sich mit der Machtkritik der postkolonialen
ist, dass postkoloniale Theorie nicht dazu da    Forschung verbinden lässt. Auch wenn das
ist zu entscheiden, wer Täter*in oder Opfer      bei vielen als »Zwangssozialisation« verpönt
in einer post-/kolonialen Welt war und ist.      ist, ist die Frage von Gesellschaftsanalyse
Stattdessen lehrt uns postkoloniale Theorie,     über Marxismus doch in Ostdeutschland
wie moderne, post-/koloniale Gesellschaften      stärker abrufbar und man könnte jetzt überle-
funktionieren. Dazu gehört auch, wie Weiß-       gen, ob man nicht vielleicht aus der postkolo-
sein und Rassismus funktionieren und wie         nialen Terminologie stärkere Verknüpfungen
Gesellschaften funktionieren, die im Kolonia-    zum Marxismus herstellt. Was natürlich in
lismus profitiert haben, die am Kolonialismus    der Theorie schon passiert – bei Gayatri Spi-
teilgehabt und ihn vorangetrieben haben.         vak und Homi Bhabha – aber in Deutschland
Gleichzeitig finde ich es schade, wenn ge-       sind die Forschungsstränge der empirischen
Ungleichheitsforschung und der postcolonial       migrantisch oder religiös/kulturell als an-
studies noch ziemlich weit voneinander ent-       ders markierte Personen – in dem Fall haben
fernt. Für die Analyse der sozialen Gruppe        wir ja Muslim*innen untersucht – Rassismus
der Ostdeutschen könnten wir vielleicht mit       unsichtbar machen würden. Das Argument
Haupt- und Nebenwidersprüchen arbeiten.           ist dabei, dass Ostdeutsche passen – vom
Wir könnten aber auch Formen des sozialen         englischen passing, also durchschlüpfen –
Aufstiegs analysieren oder mit der Habitus-       können, wenn sie als Weiße gesellschaftli-
theorie von Pierre Bourdieu argumentieren         che Räume betreten, während migrantisch
und bestimmte Anleihen aus der postkolo-          markierte Personen dieses Privileg natürlich
nialen Analyse nehmen. Postkoloniale Analy-       nicht haben. Selbstverständlich wissen wir,
sen haben Worte gefunden, die so klar sind,       dass das nicht das Gleiche ist, sich als wei-
dass es meiner Meinung nach kaum ande-            ße Person in diesem Land zu bewegen oder
re Worte gibt, um Strategien der Anpassung        als BPoC, und selbstverständlich haben wir
und subtile Formen der Unterdrückung zu           nicht die Intention, mit einem quantitativen
beschreiben. Sandra Matthäus hat das ziem-        Vergleich von Stereotypen zu sagen, dass es
lich gut ausgearbeitet und beschreibt, wie        in diesem Land das gleiche ist, Schwarz zu
postkoloniale Theorie dazu beiträgt Identi-       sein und ostdeutsch zu sein.
tätskonstruktionen zu dechiffrieren.13 Der        Aber dort, wo es einen Erfahrungsraum gibt,
Weg der Homogenisierung, Essentialisie-           der sich untersuchen lässt, ist es auch legitim,
rung, Dichotomisierung und Hierarchisierung       ihn zu untersuchen – und dann eben auch
ist einer, der besonders in der rassismuskri-     auf qualitative Unterschiede hinzuweisen.
tischen Forschung auch von Stuart Hall und        Wir können Abwertungsmechanismen ver-
in Deutschland von Mark Terkessidis nach-         gleichen und dann zu dem Schluss kommen,
gezeichnet worden ist.14                          an welchen Stellen sie sich unterscheiden
                                                  und wo es Ähnlichkeiten gibt. Diese Gedan-
KH Hast du das Gefühl, dass sich Prota-           ken nicht zuzulassen, weil von Anfang an der
gonist*innen der kritischen Migrationsfor-        Vergleich als illegitim dargestellt wird, das ist
schung in Deutschland in gewisser Weise           glaube ich nicht sinnvoll. Aber ich erkläre mir
enteignet fühlen? In dem Sinne, dass kriti-       einen Teil der Empörung in der kritischen Mi-
sche und rassismuskritische Migrationsfor-        grationsforschung auch damit, dass vielleicht
schung immer noch so wenig gehört und             dort jetzt das Gefühl von, wie du sagst, Ent-
ernst genommen wird, und jetzt kommen             eignung entsteht. Als wollten wir mit dieser
diese weißen Ostdeutschen, die keine mig-         Studie die negativen Erfahrungen auf einer
rationsbezogenen Erfahrungen haben, und           Stufe verorten – was natürlich absurd wäre,
eignen sich diese Theorien und Analysen an        denn wir haben ja die Zahlen, die ganz klar
und werden obendrein damit gehört?                darauf hinweisen, dass migrantische und vor
                                                  allem muslimische Personen, deutlich stär-
NF Ja, ich habe den Eindruck, dass das so         ker benachteiligt sind, sowohl sozialstruk-
ist. Und ich erkläre mir auch vieles der Kritik   turell als auch symbolisch. Und wir wissen
an unserer Studie genau so. Die Kritik lautet     auch, dass die Kategorien nicht trennscharf
ja, dass wir durch den Vergleich zwischen         sind – denn die meisten Migrant*innen und
Ostdeutschen und Migrant*innen oder als           Muslim*innen in Deutschland sind ja auch
gleichzeitig westdeutsch. Es geht also nicht      dass man mir gesagt hat, ich würde jetzt
um eine ›Opferkonkurrenz‹.                        den Islamismus verharmlosen oder ihm in
Ich habe allerdings auch bei einigen mig-         meiner Rede gegen antimuslimischen Ras-
rantischen Kolleg*innen ein kurzes erleich-       sismus Tür und Tor öffnen oder ich würde
tertes Gefühl wahrgenommen. Nach dem              Muslim*innen immer nur als Opfer inszenie-
Motto: Jetzt sind wir mal eine Weile aus der      ren und mich davor drücken, dass sie auch
Schusslinie. Wenn jetzt mal nicht alle in der     Täter*innen sind, dass ich blind sei für das,
Forschung auf Muslim*innen fixiert sind, son-     was wirklich passiert. Es ist für mich ganz in-
dern sich der Trend in eine andere Richtung       teressant, diese Erfahrung bei Ostdeutschen
ausweitet, kann man auch mal aufatmen. Für        auf dem Panel nun wiederzufinden und aus
mich persönlich ist das eine sehr interessan-     dieser anderen Position plötzlich wiederge-
te Erfahrung. Ich bin jetzt schon so lange in     spiegelt zu bekommen, dass das, was wir
diesem Feld, arbeite aber immer aus der Per-      damals schon analysiert haben, richtig war.
spektive der empirischen Forschung mit Be-        Dass nämlich eine sehr einseitige Stigmati-
zug auf Islam und Muslim*innen. Ich habe mit      sierung unter dem wohligen Mantel der Kritik
sehr vielen Datenerhebungen, auch mit an-         auch sehr pauschal ganze Gruppen ins Ab-
deren Kolleg*innen, immer wieder versucht,        seits drücken kann.
auf wirkmächtige antimuslimische Stereoty-        Wir sind ja damit eingestiegen, dass wir ge-
pe hinzuweisen. Darauf, was Stereotype mit        sagt haben, dass dieser Ver- gleich von Mig-
den Menschen machen, was das mikro- so-           rant*innen und Ostdeutschen gar nicht neu
ziologisch macht, welche Gegen-Narrative          war. Das Einzige, was wir möglicherweise als
das erzeugt.                                      Erste so ausführlich gemacht haben, ist, den
Seitdem ich in diesem anderen Feld for-           Vergleich empirisch zu bearbeiten und zu
sche – auch wenn ich mich niemals als Ost-        quantifizieren.
deutschlandexpertin bezeichnen würde, ich
bin Migrationsforscherin – merke ich, wie ich     KH Ist das auch eine Generationenfrage
in wissenschaftlichen Debatten einfach we-        wie Leute mit der Studie zu den Ost-Mig-
sentlich entspannter bin. Ja, das ist eine ganz   rantischen Analogien umgehen? Ich habe
eigene Erfahrung, dass man in dem Moment,         das Gefühl, dass zum Beispiel Menschen, die
in dem man das Gefühl hat, man ist nicht          beim Mauerfall Anfang Zwanzig oder älter
selbst in der Schusslinie, und es wird einem      waren – ich selbst war in der Umbruchphase
nicht unterstellt, man wolle die eigene Peer      zehn Jahre alt –, mit ganz anderen Perspekti-
Group verteidigen, plötzlich als objektive,       ven auf die DDR und die Vereinigung in diese
sinnstiftende, analytische Empirikerin dasitzt.   Auseinandersetzung hineingehen. Die wa-
Ich erkenne auch, dass Ostdeutschen das           ren beim Mauerfall erwachsen, hatten mög-
passiert, was mir früher in Diskussionsrun-       licherweise erste Reibungen mit dem Staat,
den passiert ist. Dass sie entweder apologe-      waren vielleicht beim Militär oder durften
tisch reagieren oder dass sie sich, egal was      kein Abi machen. Die haben natürlich ganz
sie sagen, vor Unterstellungen nicht schüt-       andere Auseinandersetzungen und Kämpfe
zen können, zum Beispiel sie würden das           mit der DDR, den Strukturen und Personen,
Unrechtssystem der DDR verteidigen oder           die diesen Staat getragen haben. Ich frage
verharmlosen. Wie oft mir das passiert ist,       mich manchmal, ob es auch damit zusam-
menhängt, wie diese Analogiebildung wahr-        sonders neuartiger Moment im Menschsein.
genommen wird.                                   Aber in politischen Erzählstrukturen glauben
                                                 wir ganz oft, dass es entweder das Eine oder
NF Ja, das ist möglich. Wir haben die Gene-      das Andere gibt – die Sehnsucht nach Ein-
rationenfrage nicht untersucht – aber mög-       deutigkeit ist eben sehr hoch. Wenn man Tä-
licherweise reagiert die erste Generation        ter*innen-Analyse betreibt, das können wir in
nochmals aversiver, weil sie die Vorstellung,    jedem Gerichtsreport, in Filmen oder auch in
›Migrant*in‹ zu sein, als zusätzliche Abwer-     Dokumentarfilmen sehen, ist es ganz oft so,
tung betrachtet. »Wir sind doch aber Deut-       dass wir in Täter*innen-Profilen auch Opfer-
sche«, höre ich dann, »das kann man doch         strukturen wiedererkennen. Das ist ja auch
nicht vergleichen.« Es ist vielleicht auch ein   nichts Neues. Wenn wir uns zum Beispiel
Schutz der alten Identität? Als aktiver Akteur   Gewaltdelikte von Geflüchteten an- schauen,
gegen das System – das gibt einem mehr           kommen wir oft zu der Erkenntnis, dass diese
Autonomie in der Selbstbeschreibung. Aller-      traumatisiert sind. Das heißt aber nicht, dass
dings: Man kann aus einem diktatorischen         wir die Gewalt von Geflüchteten legitimieren,
System, das einem sehr viele Verletzungen        wenn wir diese mit traumatischen Erfahrun-
zugeführt hat, fliehen und alles zurücklassen,   gen zu erklären versuchen.
traumatische Erinnerungen und Angstzu-           Das ist vielleicht ein Vorwurf, den man uns
stände mitnehmen und sich trotzdem nach          im Moment macht, wenn wir sagen, dass
dieser Heimat zurücksehnen, wenn man in          wir versuchen, über Mittel der Empirie Em-
der Fremde ist. Und man kann trotzdem ge-        pathie für die Abwertungserfahrungen in
kränkt sein, wenn Menschen, die dort nie ge-     Ostdeutschland zu erzeugen. Uns wird der
lebt haben, einen in eine monothematische        Vorwurf gemacht, dass wir verleugnen, dass
Struktur und Geschichte einkapseln.              es in Ostdeutschland ein hohes rassistisches
Ich weiß gar nicht, warum das so wenig mit-      Wissen, Repertoire und Handlungspotenzial
reflektiert wird. Als gäbe es nur zwei Mög-      gibt. Das ist eine Unterstellung, die ich ent-
lichkeiten: Entweder man kritisiert die DDR,     schieden von mir weise.
weil man ja miterlebt hat, was dieses System
anrichten kann. Oder man leugnet das und         KH Ich habe letztes Jahr einen Diskussi-
redet das schön. Was die Menschen nicht          onsbeitrag zum Diskurs über den Braunen
wissen, ist, dass Hybridität genau darin be-     Osten geschrieben.15 Ich habe mich da sehr
steht, dass zwei sich ausschließende Gedan-      abgesichert. Ich habe deutlich gemacht, dass
kensysteme sich in einem selbst vereinen         rassistische und rechtsextreme Angriffe, die
können. Man kann flammend den Iran ver-          vermehrt im Osten Deutschlands vorkom-
teidigen und trotzdem nicht eine Sekunde         men, ein Problem sind, das ich ernst nehme,
den Gedanken haben, dass dieses System in        dass ich aber trotzdem das Reden über den
irgendeiner Weise legitim ist, und sich trotz-   Braunen Osten auch als Diskurs analysieren
dem wünschen, man würde umziehen und             möchte. Einer der ersten Kommentare von
dort seine Kinder zur Schule bringen, obwohl     einem befreundeten Wissenschaftler war die
man weiß, dass natürlich das Schulsystem         Befürchtung, dass ich das Problem rassisti-
hier viel besser ist. Sich widersprechende       scher und rechtspopulistischer Einstellun-
Gedanken in einem selbst sind ja kein be-        gen und Taten (unabsichtlich) verharmlose.
Er fand auch, dass im Grunde etwas dran           kommt immer als erstes der Vorwurf, wenn
wäre an der Beobachtung, dass das auch ein        wir von antimuslimischem Rassismus reden,
Diskurs ist, der das Problem auf den Osten        dann wollten wir unsichtbar machen, dass es
verschiebt. Ich dachte nur, ich habe es doch      Antisemitismus, Homophobie und Frauen-
reingeschrieben, dass Rechtsextremismus           feindlichkeit bei Muslim*innen gäbe, und wir
und Rassismus im Osten ernstzunehmen-             wollten den Menschen verbieten, darüber
de Probleme sind, dass meine Analyse nicht        zu sprechen und dazu würden wir die Ras-
zum Ziel hat, das zu leugnen. Naja, du kennst     sismuskeule nutzen. Die ganzen aktuellen
das Problem …                                     Angriffe gegen die »Islamophobia Studies«
                                                  zielen ja in diese Richtung.
NF Ja, das finde ich sehr spannend. Ich
sage auch immer klar: Antisemitismus, Se-         KH Diese pauschalen Distanzierungen hal-
xismus, Homophobie und andere manifeste           te ich auch nicht für die Lösung, das machen
Formen der Menschenfeindlichkeit, sind in         ja manche Ostdeutsche auch. Die Journa-
der sozialen Gruppe der Muslime deutlich          listin Jana Hensel hat nach dem antisemi-
verankert. Ich kenne die Zahlen und halte es      tischen Anschlag in Halle im Oktober 2019
für absolut begründbar, sich darüber Sorgen       einen Kommentar für Die Zeit geschrieben,16
zu machen und dies als klares Problem deut-       in dem sie unter anderem reflektiert, dass sie
lich zu benennen. Trotzdem habe ich keinen        als Journalistin immer wieder Kriminalität und
Zweifel, dass die Debatten um Islam und           Gewalt im Osten kommentiert hat und wie sie
Muslim*innen in Deutschland rassistisch mo-       das als Ostdeutsche bewegt. Sie sagt, dass
tiviert sind. Das wird häufig ins Feld geführt,   es ja meistens im Osten passiere. Ich war
dass man ja gar nicht mehr die vorhandenen        fast ein bisschen wütend, weil sie auch Din-
Probleme ansprechen könne. Das Gegenteil          ge aufgezählt hat, bei denen ich denke, dass
ist der Fall, die Probleme werden jeden Tag       sie sich einen Schuh anzieht, den sie sich gar
angesprochen. Die antimuslimischen Debat-         nicht anziehen muss. Ich kenne mich ja gut
ten sind auf einem Niveau angelangt, das im       mit dem Thema Kindstötungen aus, weil ich
Grunde genommen die gesamte demokrati-            zu Kindsmord- Diskursen geforscht habe.
sche Struktur in Gefahr bringen kann. Anti-       Hensel hat auch den Fall einer neunfachen
muslimische Feindseligkeiten setzen sich          Neugeborenentötung, der 2005 in Frankfurt
mittlerweile tagtäglich vom Wort in die Tat       (Oder) bekannt geworden ist, als ostdeut-
um. Vom Gedanken zum Wort, vom Wort zur           schen Fall, als etwas spezifisch Ostdeut-
Tat.                                              sches dargestellt. Ich habe mir nur gedacht:
Dem muss man in irgendeiner Form et-              Naja, den Fall einer achtfachen Neugebore-
was entgegnen können. Man muss dabei              nentötung, der 2015 in Bayern bekannt ge-
aus diesem apologetischen Moment her-             worden ist, den hat Hensel wahrscheinlich
auskommen. Man konnte das bei manchen             nicht kommentiert. Hat irgendein*e West-
Kolleg*innen auf Podien oder in politischen       deutsche*r diesen Fall als Westdeutsche*r
Diskussionen immer beobachten, dass sie in        kommentiert? Nein, natürlich nicht. Ich fand
wissenschaftlichen Debatten immer als ers-        das befremdlich, weil sie sich als Ostdeut-
tes gesagt haben: »Ich distanziere mich von       sche von vermeintlich ostdeutschen Taten
und von und von und von.« Und trotzdem            distanziert hat und nicht etwa, weil es ihrem
Engagement und politischem Standpunkt als          sollte unser Ziel als politische Menschen und
Bürgerin und Journalistin entspricht.              Wissenschaftler*innen sein.

NF Naja, da bin ich mir nicht so sicher, weil      KH Meinst du, eine sollte sich als Ostdeut-
wir da natürlich auch am- bivalent sind. Auf       sche von einer vermeintlich ostdeutschen Tat
der einen Seite bekennen wir uns aktiv zu ei-      distanzieren oder als Muslimin von einer ver-
ner sozialen Gruppe und auf der anderen Sei-       meintlich muslimischen Tat? Wäre es nicht
te sagen wir: Ich will aber nicht, dass diese      auch möglich, unterschiedliche Taten als
soziale Gruppe zu sich selbst Stellung bezie-      politisch positionierte Person zu verurteilen,
hen muss. Das ist vielleicht ein unpolitischer,    anstatt sich auf Identität zu berufen und eine
dekonstruktivistischer,     wissenschaftlicher     Identifikation mit der Tat vorauszusetzen?
Moment. Man kann das natürlich analysieren
und betrachtet das Ganze, ohne involviert          NF Ich sage nicht, dass man das muss.
zu sein. Das ist ja eigentlich die Vorstellung     Wenn irgendwo ein Terroranschlag passiert
von objektiver Wissenschaft. Aber wenn man         und man davon hört – und ich glaube, ich bin
sich entschieden hat, dass man sich auch po-       da nicht al- leine –, dann sitzt wahrschein-
sitioniert – für mich steht die Entscheidung,      lich der größte Teil der muslimischen Com-
mich als politische Person zu positionieren,       munity da und denkt sich: Oh Gott, bitte lass
nicht in Konkurrenz zu meiner Wissenschaft-        es keinen islamistischen Terroranschlag sein.
lichkeit – dann muss uns auch bewusst sein,        Auch wenn wir natürlich sagen können: Was
dass ein bestimmtes konsequentes Handeln           geht mich das an, was habe ich mit Terroris-
in Gesellschaften auch erwartbar ist. Des-         ten zu tun? Für mich sind die Opfer wichtig
wegen heißt es immer: Warum distanziert ihr        und auch meine Kinder könnten zu den Op-
Muslime euch nicht offensichtlicher von At-        fern gehören. Nicht zu den Terroristen! Aber
tacken, die von Muslimen durchgeführt wur-         trotzdem sitzt man da und denkt: Bitte lass
den? Allerdings gibt es sehr viele, sehr aktive    es das nicht sein. Also ist da etwas …
Distanzierungen. Der Zentralrat der Muslime
positioniert sich immer eindeutig und sehr         KH Das stimmt, das geht mir auch so. Ich
schnell und versendet auch immer Presse-           habe von dem Anschlag in Halle gehört und
meldungen zum Beispiel zu antisemitischen          gedacht: Oh nein, Halle, Osten … Oder man
Attacken. Das geht jedoch in der allgemei-         schaut nach Thüringen auf die Landtagswahl
nen Medienberichterstattung unter.                 und denkt: Wen haben ›die Thüringer‹ denn
Also insofern könnte ich jetzt nicht sagen,        jetzt in den Landtag gewählt? Wie hoch ist
was richtig ist oder nicht, sich aktiv nicht be-   der Anteil an AfD-Wähler*innen? Ich schaue
fangen zu fühlen oder sich zu positionieren.       mir dann die einzelnen Wahlkreise an und
Ich glaube, wir sollten es schaffen, das nicht     weiß, dass ich Familie in einem Wahlkreis
als Ambivalenz zu lesen, dass man selbst-          habe, in dem die AfD gewonnen hat.
verständlich Abscheu vor diesen Haltungen
hat und trotzdem analytisch in der Lage ist,       NF Ja, das ist bei Erdoğan-Wahlen genau-
einen Erklärungsversuch zu machen, Daten           so. Man schaut da drauf und denkt sich: Wie
zu sammeln, Theorien aufzustellen und sich         kann das passieren, dass da plötzlich die-
dem Forschungsgegenstand zu nähern. Das            ser Zuspruch ist? Gleichwohl sehen wir in
der medialen Berichterstattung, dass dann           So reproduziert sich ein System von Un-
auch transportiert wird, dass sechzig Pro-          gleichheit und hält sich dadurch stabil, dass
zent der Türkeistämmigen in Deutschland             man die Personen, die nicht in der gleichen
Erdoğan gewählt hätten. Das stimmt natür-           Position sind, mit Stereotypen ausdeutet und
lich auch nicht. Es haben überhaupt nur 46          damit dann rechtfertigt, warum sie unten
Prozent der türkischen Staatsbürger*innen in        sind. Dadurch perpetuiert sich die Ungleich-
Deutschland an dieser Wahl teilgenommen             heit weiter und legitimiert sich irgendwie, ob-
und von diesen 46 Prozent haben 63 Pro-             wohl man ja kognitiv gegen Ungleichheit ist.
zent für Erdoğan gestimmt.17 Das relativiert        Das war eigentlich das Hauptziel dieser Stu-
die Zahlen zwar, aber das macht den Hahn            die. Sie hat eine systemkritische Komponen-
am Ende des Tages auch nicht fett. Die Fra-         te und ist weniger eine Minoritätenanalyse.
ge ist doch: Wie kann man willentlich so ei-
nen Trump-Typen, so einen offen- sichtlichen        KH Ich möchte noch einmal nach den Alli-
Diktator wählen? Und das ist dann also die          anzen und Bündnissen fragen, die aus einer
Gruppe, die man seit Jahren die ganze Zeit          Analogiebildung zwischen Ostdeutschen
nicht nur versucht, empirisch zu beschrei-          und Migrant*innen erwachsen können. Wer
ben, sondern irgendwie auch empathisch zu           lässt sich, außerhalb der Wissenschaft, mit
verankern und gegenüber der man so starke           dieser Studie erreichen? Wahrscheinlich ist
Diskriminierungen erkennt und misst? Dann           es nicht so einfach, eine Person zu erreichen,
ist man auch beschämt im ersten Moment              die die AfD wählt. Wen kann diese Analogie-
und denkt: Warum fallt ihr mir jetzt in den         bildung an- sprechen? Meinst du, dass über
Rücken mit diesem Wahlverhalten, ich vertei-        die zum Teil analogen Abwertungserfahrun-
dige euch doch die ganze Zeit? Dabei ist das        gen ein gegenseitiges Erkennen von Ost-
natürlich irrational, weil es überhaupt nicht       deutschen und Migrant*innen möglich ist,
um Verteidigung geht! Es geht einfach um            aus dem folgt, dass man sich gemeinsam
die Analyse und Erklärung von bestimmten            gegen Diskriminierung einsetzt?
Phänomenen, die konflikthaft in diese Ge-
sellschaft eingreifen.                              NF Das kann wahrscheinlich ein*e Sozi-
Das ist das, wo wir eigentlich mit der Studie       alpsycholog*in besser beantworten als ich,
zu den Ost-Migrantischen Analogien vor al-          aber ich bin der Überzeugung, dass Analo-
len Dingen hinwollten. Wir haben versucht,          gien eine extreme Überzeugungskraft ha-
aus diesem Cui-Bono-Prinzip – wem bringt            ben. Viel mehr als pädagogische, mahnende
das eigentlich was, wenn soziale Gruppen            Herangehensweisen ermöglichen Analogien
untereinander ausgespielt werden – her-             regelrechte Aha-Momente. Sie erzeugen
auszukommen. Das ist ja kein aktives, ziel-         Empathie, indem sie eine als vollkommen
gerichtetes Phänomen, dass da irgendein             fremd erscheinende Situation mit der eige-
Marionettenspieler ist und jetzt teile und          nen in Zusammenhang setzen, nicht nur in
herrsche spielt und die Ostdeutschen und            Zusammenhang, sondern in einen Vergleich.
die Muslim*innen gegeneinander ausspielt,           Ich glaube, dass die Analogie den Moment
natürlich ist das nicht so. Ich bin ja keine Ver-   der Empfindsamkeit und den intellektuellen
schwörungstheoretikerin – das ist einfach           Übertrag stärkt. Die Analogie ermöglicht,
reine Systemtheorie.                                plötzlich Dinge anders sehen zu können.
Das ist mir schon jetzt ganz oft passiert.       kann, wenn man im nächsten Moment be-
Seit wir im April 2019 die Studie veröffent-     reit ist, die blödesten Ossi-Witze zu machen,
licht haben – es hat ja schon vorher Debat-      während die Ostdeutschen im Raum sich zu
ten dazu gegeben; die ist nicht im luftleeren    den Witzen mitlachend verhalten müssen,
Raum erschienen –, passiert mir das ganz         weil sie sich nicht trauen zu sagen, dass sie
oft, dass mir Menschen aus Ostdeutsch-           das gerade überhaupt nicht lustig finden.
land sehr private Geschichten erzählen und       Das hat so viele Jahre seinen Platz in dieser
sich quasi als Ostdeutsche ›outen‹. Um die       Kollektiverzählung vom gesamtdeutschen
zu erzählen, muss man auch Vertrauen ge-         Wunder gehabt, dass natürlich für manche,
fasst haben, weil diese Geschichten teilweise    die in dieser Erzählung aufgegangen sind,
sehr persönlich sind und auch sehr verletz-      jetzt ein ganz großer Bruch geschieht. Daher
lich machen. Neulich hat mir eine Person         lässt sich meiner Meinung nach auch ein Teil
erzählt, dass er nach der Wende mit seiner       der Wut über diese Studie erklären.
Familie nach Westdeutschland gezogen ist
und die Eltern ihm gesagt haben, dass er in      KH Du meinst daher, sich wieder mit der
der Schule auf keinen Fall sagen soll, dass      Abwertungserfahrung konfrontiert zu sehen,
sie aus Ostdeutschland kommen. Er hat das        wenn man eigentlich glaubt, das erfolgreich
ganz lange aufrechterhalten und seinen Dia-      hinter sich gelassen zu haben?
lekt aktiv kaschiert. Irgendwann, im Abitur,
hat er das dann für eine Schülerzeitung auf-     NF Ja, das kann ich auch aus meiner For-
geschrieben, dass er und ein anderes Mäd-        schungserfahrung sagen. Meine Kollegin
chen an der Schule aus dem Osten kommen.         Riem Spielhaus hat mal ein ganz tolles Buch
Die beiden wussten all die Jahre voneinan-       geschrieben, das heißt »Wer ist hier Mus-
der, ihre Familien kannten sich, aber es war     lim?«.18 Sie hat die Muslimwerdung der Mi-
wie so eine stille Übereinkunft, dass keiner     grant*innen untersucht: Von der Kategorie
darüber spricht. Als er sie als Ostdeutsche      Gastarbeiter zum Ausländer, zum auslän-
›geoutet‹ hatte, ist dieses Mädchen zusam-       dischen Mitbürger und dann plötzlich zum
mengebrochen. Ihre ganze Identität, die sie      Muslim. Auf dem Weg zum Aufstieg ins kol-
sich aufgebaut hatte und dass sie sich in die-   lektive Wir kam plötzlich die totale Auswei-
ser Westerzählung so eingenistet hatte – was     sung ins Andere. Spielhaus hat beschrieben,
ja auch ein legitimes Recht ist, jeder Mensch    wie sehr viele Menschen, die sich vorher
hat auch das Recht, seine Identität neu zu er-   gar nicht positioniert haben, sich sehr kri-
finden – und wie stark das mit einem Stigma      tisch distanziert haben, sich überhaupt nicht
behaftet war, das wurde in dieser Erzählung      als Muslime gesehen haben, sich in diesem
deutlich.                                        Zuge quasi selbst muslimisiert haben. Als so-
Das ist für mich eine große Faszination, dass    lidarische Form oder in Abscheu gegenüber
Menschen im tiefen Westen Deutschlands           dem antimuslimischen Diskurs. Sie schreibt,
mich immer kopfschüttelnd ansehen und            wie plötzlich diese ganze Identität sehr, sehr
mir sagen: »Aber Frau Foroutan, gibt es das      greifbar wurde und sich in allen Facetten neu
überhaupt noch Osten und Westen?« Das            aufgestellt hat.
ist für mich wahnsinnig interessant, wie man     So etwas Ähnliches sehe ich auch in diesem
sich so als vermeintlich color-blind fühlen      Ost-Awakening. Außerhalb dieses Ossi-Kli-
schees entstehen jetzt ganz viele Gruppen         ich sehr gut verstehen kann und vollkommen
und Initiativen, die ich so ein bisschen mit      legitim finde – sagen viele: »Das spielt doch
Kanak Attak vergleiche. Es gibt viele Um-         keine Rolle, das finde ich jetzt komisch. Da
gangsstrategien: »Wir zeigen euch, wie de-        habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie-
mokratisch wir sind«; »Wir sind viel stärker      so ist das jetzt wichtig?« Während die jungen
als ihr«; »Ich mache jetzt Ost-Pride, aber        Ostdeutschen mehr oder weniger reflektiert
nicht auf rechts«; »Ich zeig’ mal, was hier al-   bei Ossi stehen – bei aller Kritik –, finden die
les drinsteckt im Osten«. Man hat das Ge-         jungen Westdeutschen, dass sie einfach nur
fühl, das war so eine Verklumpung wie ein         Deutsche sind oder Europäer*innen oder
Eisblock. Der schmilzt nicht weg, der wird        Menschen.
sozusagen gerade gesprengt. Und ganz vie-
le Partikel an Identitäten, Identitätsmustern     NF Das hat der Historiker Ilko-Sascha Ko-
werden sichtbar. Ich meine, es entstehen ge-      walczuk vor Kurzem auf einer Veranstaltung
rade Identitätsformationen als neue soziale       ganz gut gesagt: »Die Ostdeutschen sind
Gruppen. Das fängt an bei dem extrem Rech-        überall Ostdeutsche und die Westdeutschen
ten: »Wir sind aber die wahren Deutschen,         sind nur in Ostdeutschland Westdeutsche.«
weil wir nicht so dekadent, verwestlicht oder
multikulturalisiert sind wie der Westen« und
das geht bis hin zu Ost-Rap und Ost-Cool-         KH Ich möchte zum Ende noch einmal an
ness als Popkultur. Das ist extrem spannend,      die Stelle zurückkommen, als du gesagt hast,
was da passiert.                                  dass sich der antimuslimische Rassismus
                                                  tagtäglich in körperliche Angriffe umsetzt.
KH Du hast vorhin darauf hingewiesen,             Das ist ja auch ein Kritikpunkt an der Ana-
dass manche die Differenz- und Abwertungs-        logie zwischen Ostdeutschen und rassistisch
erfahrungen von Ostdeutschen nicht wahr-          oder antimuslimisch rassistisch diskriminier-
haben wollen. Das kenne ich auch. Wenn ich        ten Menschen, dass bei den Ostdeutschen
an der Uni Seminare anbiete, die sich mit dem     in aller Regel eben nicht Leib und Leben ge-
Ostdeutsch-Westdeutsch-Thema beschäfti-           fährdet sind, weil sie Ostdeutsche sind.
gen, frage ich meine Studierenden, die in der
Regel in den 1990ern geboren sind und die         NF Es geht ja nicht darum zu sagen, dass
DDR und die Teilung Deutschlands gar nicht        antimuslimischer Rassismus das Gleiche ist,
mehr miterlebt haben, ob sie sich als Ossi        wie die Stigmatisierung von Ostdeutschen.
oder Wessi, als irgendetwas dazwischen            Das zu behaupten, wäre ja Unsinn. Abgese-
oder als weder-noch verstehen? Die meis-          hen davon, dass wir es seit 2015 jeden Tag
ten, die irgendwie biografisch mit dem Osten      mit drei Angriffen auf Geflüchtete und ihre
zu tun haben, die wissen ganz genau, wo sie       Unterkünfte zu tun haben, wie die Amadeu
stehen, nämlich bei Ossi. Die kommentieren        Antonio Stiftung festhält,19 ist klar, dass die
das auch häufig kritisch: »Das ist jetzt egal,    Erfahrung, sichtbar muslimisch zu sein und z.
ob ich mich damit großartig identifiziere, ich    B. ein Kopftuch zu tragen, mit Demütigungen
weiß, dass ich Ossi bin.« Von denen, die sich     einhergeht, dass die Menschen die Beleidi-
widerwillig als Westdeutsche positionieren        gung ihrer Mütter, Schwestern, Partnerinnen
oder sich gar nicht einordnen wollen – was        mit Kopftuch jeden Tag hautnah erleben. Das
Ganze verselbstständigt sich auch noch in         schen und Westdeutschen sprechen und es
einem nicht nur gehässigen, sondern gefähr-       legitim ist, auf diese große Diskrepanz hinzu-
lichen medialen und öffentlichen Diskurs, so      weisen, so ist doch, wenn man auf Muslim*in-
dass jeder Mensch eine Selbstgewissheit           nen in Deutschland schaut, die Ungleichheit
und Sicherheit haben kann, dass diese Ab-         eklatant höher.
wertungen auch gar nicht mehr als Abwer-          Es geht also nicht darum, das zu nivellieren.
tungen gesehen werden, sondern es als das         Das Interessante ist doch vielmehr, dass die
Selbstverständlichste überhaupt aufgefasst        Ostdeutschen sich auf der gleichen Ebene
wird, so sprechen zu dürfen – bis hin zu der      mit jener Gruppe verorten, die im kollektiven
Einsicht, dass viele Menschen darin sogar         Narrativ als die Anderen gelten. Wieso sieht
eine Legitimation sehen, Menschen, die aus-       sich eine Gruppe, die nach allen unseren
sehen wie man sich hierzulande Muslim*in-         Erkenntnissen nicht auf dieser Ebene ver-
nen vorstellt, töten zu dürfen – wie Hanau uns    ortet ist, sondern signifikant bessergestellt
sehr deutlich gezeigt hat. Hier wurden neun       ist, trotzdem so weit unten? Welche Einstel-
Menschen getötet, von denen die Hälfte gar        lungen und welche politischen Erwartungen
nicht muslimisch war. Aber der antimuslimi-       lassen sich mit diesem Wissen möglicher-
sche Diskurs ist eben einer, der sehr wirk-       weise voraussagen und erklären, wenn eine
mächtig ist und sich mit antimigrantischen        soziale Gruppe ihre eigene soziale Position
und antigeflüchteten Diskursen verwebt.           im Feld in einem kompetitiven Moment mit
Das kann nicht mit den Erfahrungen von            der Gruppe gleichsetzt, die man selbst als
Ostdeutschen gleichgesetzt werden. Das,           die am stärksten ausgegrenzte Gruppe wahr-
was wir in der Studie vor allen Dingen un-        nimmt? Wie verhält man sich dann eigentlich
tersuchen, sind ja die eigenen Wahrneh-           gegenüber dieser Gruppe? Solidarisch oder
mungsstrukturen. Wie nehmen Menschen              kompetitiv? Diese Fragen zu stellen, kann
Abwertungen wahr? Wir haben im Hinblick           möglicherweise einen Teil der starken anti-
auf Stereotypisierungen zum einen festge-         muslimischen Einstellung der Ostdeutschen
stellt, dass drei zentrale Vorwürfe sich äh-      erklären – aber es ist dann auch nur ein Puz-
neln: 1) Ostdeutsche und Muslime sehen sich       zleteil von vielen anderen Erklärungen. Das
ständig als Opfer 2) Ostdeutsche und Musli-       zeigen wir in unserer Studie deutlich. Wobei
me distanzieren sich nicht genug vom Ext-         rassistische Positionen gegen Muslim*innen
remismus und 3) Ostdeutsche und Muslime           in Gesamtdeutschland und Gesamteuropa
sind noch nicht richtig im heutigen Deutsch-      und eigentlich im ganzen globalen Norden
land angekommen. Diese stereotypen Vor-           leider auf einem sehr hohen Niveau vertreten
stellungen werden in einer relativ gleichen       sind, wie z. B. Frankreich zeigt. Wir müssten
Gruppenstärke von Westdeutschen geäu-             also die Analogien noch aus- weiten – solan-
ßert. 20 Wir haben auch festgestellt, dass Ost-   ge wir das immer nur als spezifisch betrach-
deutsche sich in dieser Gesellschaft selbst       ten und mit Singularitäten erklären, kommen
auf der gleichen Ebene verorten wie Mus-          wir in der Systemkritik nicht weiter. Wenn wir
lime. Was selbstverständlich empirisch so         also das Phänomen (antimuslimischer) Ras-
nicht stimmt. Selbst wenn wir über die Dis-       sismus in Ostdeutschland erklären wollen
krepanz von Vermögen, von Arbeitslosigkeit        und in den Debatten vorrangig die DDR-Er-
oder von Elitenpositionen zwischen Ostdeut-       fahrung als Erklärung anbieten – es gab keine
Demokratieerfahrung, es gab keine Zivilge-        Anmerkungen
sellschaft, es gab keine Opposition, es gab
keine Aufarbeitung der Nazi-Diktatur, es gab
keine Migranten etc. – dann verschließen wir     1        Foroutan, Naika / Kalter, Frank /
die Augen davor, dass es die gleichen Ras-       Canan, Coşkun / Simon, Mara, Ost-Mig-
sismen und Stereotype in Frankreich, Italien,    rantische Analogien I. Konkurrenz um Aner-
Österreich oder der Schweiz gibt. Und die        kennung. Unter Mitarbeit von Daniel Kubiak
hatten alle keine DDR. Ich würde also gerne      und Sabrina Zajak, Berlin 2019. Online ab-
dieses Gespräch beenden, indem ich noch          rufbar unter: https://www.dezim-insti tut.
mal auf das systemkritische und dekonst-         de/das-dezim-institut/abteilung-konsens-
ruktive Potential von Analogien hinweise.        konf lik t/projek t-pos tmigrantische - ge
Das heißt natürlich nicht, dass alle diese Er-   sellschaften/ost-migrantische-analogien-i-
klärungen zur Singularität nicht zutreffen. Im   konkurrenz-um anerkennung/ [letzter Zu-
Gegenteil: Das stimmt alles. Es ist nur nicht    griff: 27.11.2019].
alles …                                          2 Staud, Toralf, »Ossis sind Türken«, in: Die
                                                 Zeit, Nr. 41/2003, 02.10.2003. Online abrufbar
                                                 unter: http://www.zeit.de/2003/41/Einwan-
                                                 derer [letzter Zugriff: 23.09.2016].
                                                 3        Gümüşay, Kübra, »Ihr versteht mich!«,
                                                 in: Die Zeit, Nr. 26/2013, 20.06.2013. Online
                                                 abrufbar unter: http://www.zeit.de/2013/26/
                                                 deutschtuerken-ostdeutsche-gemeinsam-
                                                 keiten [letzter Zugriff: 22.03.2016].
                                                 4 Ebd.
                                                 5        Vgl. Berg, Stefan, »Seid endlich still«,
                                                 in: Der Spiegel, Nr. 30/2015, 26.08.2015, S.
                                                 50. Online abrufbar unter: https://www.spie-
                                                 gel.de/spiegel/print/d-136751587.html [letz-
                                                 ter Zugriff: 06.09.2015]. Pilz, Michael, »Alle
                                                 Sachsen zwischen 25 und 66 sind Migran-
                                                 ten«, in: Welt Online, 30.07.2015. Online ab-
                                                 rufbar unter: http://www.welt. de/kultur/
                                                 article144619314/Alle-Sachsen-zwischen-
                                                 25-und-66-sind-Migranten.html [letzter Zu-
                                                 griff: 06.09.2015].
                                                 6        Berg, Seid endlich still.
                                                 7        Foroutan/Kalter/Canan/Simon, Ost-
                                                 Migrantische Analogien.
                                                 8        Vgl. z. B. Bax, Daniel, »Geteil-
                                                 te Erinnerung«, in: taz, 08.11.2014. Online
                                                 abrufbar unter: https://taz.de/Debatte-Mau-
                                                 erfall-und-Migranten/!5029206/ [letzter Zu-
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