Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
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Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise durch ein stilles Land, zu einem Bürgermeister namens Italia, einem Politiker, der knapp überlebte, und einer Schriftstellerin, die auf Europa hofft. Von Frank Hornig A m 19. April klingelte bei Frances- hängte. Die entsprechenden Dekrete wa- kale Falschmeldungen über einen angeb- co Italia gegen 17 Uhr das Tele- ren in Bürokratenitalienisch verfasst, also lich Covid-19-verseuchten Supermarkt das fon. »Das ist kein Scherz, hier kaum verständlich. Völlig verunsicherte Leben schwer. spricht Papst Franziskus«, sagte Anwohner bestürmten ihren Bürgermeis- Italia reagierte, so gut er konnte, aber die Stimme am anderen Ende der Leitung. ter mit Fragen. irgendwann fühlte er sich von den endlo- »Wie geht es Ihnen?« Mal fehlte im Krankenhaus Platz für sen Hilferufen wie erschlagen. »Wenn du Etwa drei Monate später sitzt Bürger- eine fiebrige Oma. Dann machten ihm lo- Probleme nicht lösen kannst, wird dein meister Italia in seinem Amtszimmer im Rathaus von Siracusa und erzählt von jenem Anruf, den er nie mehr vergessen wird. In der Antike war seine mehr als zwei- einhalbtausend Jahre alte Stadt im Osten Siziliens eine der wichtigsten griechischen Kolonien, ein Zentrum der hellenistischen Kultur. Platon, Archimedes, Aischylos – sie alle haben hier zeitweise gelebt. Aber heute? Warum sollte der Papst sich gerade für ihn interessieren? »Ich glaube, er wollte ein Signal an alle Bürgermeister im Land senden«, sagt Ita- lia. Und dafür habe er, typisch Franziskus, nicht die mächtigen Kollegen in Mailand oder Rom angerufen. Sondern ihn, den Bürgermeister dieses 120 000-Einwohner- Städtchens im armen Süden. »Er wollte sagen: Ich denke an euch, ich bin bei euch, ich bete für euch.« Es ist ein Julinachmittag, draußen auf der beinahe menschenleeren Piazza Duo- mo ist es fast unerträglich heiß, doch in Italias Amtszimmer mit den tiefgrünen, reich verzierten Tapeten ist es kühler. Das würdevolle Büro passt eigentlich nicht zu seinem Lockenschopf, dem Drei- tagebart, dem schnell umherspringenden Blick. Italia leitete in Mailand einen Fernseh- sender, nachdem er die sehr gemächlichen Verhältnisse in Siracusa nicht mehr hatte ertragen konnte. Aber dann kehrte er doch zurück und wurde Lokalpolitiker – wäh- rend sich seine Stadt auf einmal durch den Tourismusboom rasant veränderte. In diesen Tagen könnte der 47-Jährige endlich mal entspannen, der Sommer ist da, der schlimmste Teil der Coronakrise scheint überwunden. Aber der Schreck steckt ihm noch in den Gliedern. »Es war und ist wahnsinnig schwer. Ein riesiger Stresstest.« Es sprudelt nur so aus Italia heraus, wenn er sich daran erinnert, wie Minister- präsident Giuseppe Conte in nächtlichen Pressekonferenzen Ausgangssperren ver- Passanten vor Mailänder Dom:
Frust riesengroß.« Der Trost vom Papst tungen sind gewaltig, die Milliarden aus Kapelle wirkt nicht mehr wie ein Elektro- kam wie gerufen. Brüssel sollen mit harten Reformen ver- markt beim Schlussverkauf. Und nun? »Die Angst ist immer noch bunden werden, bislang nicht gerade eine Es ist zu schön, um wahr zu sein. groß, das ist das Problem.« Stärke der Politikerinnen und Politiker in »Corona ist wie eine Explosion, deren Wenn der Bürgermeister vors Rathaus Rom. Druckwelle noch gar nicht angekommen tritt, wird er normalerweise von Touris- Italien steht vor weitreichenden Ent- ist«, sagt Gabriel Zuchtriegel, der deutsche tengruppen umringt. Jetzt ist der Platz wie scheidungen: Nutzt es die Krise für einen Direktor der Tempelanlage von Paestum. ausgestorben. »Viele Unternehmer haben echten Wandel und schafft ein neues Wirt- »Die ökonomische Krise ist längst nicht schon das Handtuch geschmissen.« schaftswunder? Oder verpuffen die Mil- absehbar.« Es ist Zufall, dass er genauso heißt wie liarden wie schon so oft, und der schlei- Er kann das im Umfeld seiner Ruinen sein Vaterland. Aber Francesco Italia und chende Niedergang setzt sich fort? südlich von Neapel erkennen: Weniger Be- Italien haben zurzeit ziemlich ähnliche Das ist die Ausgangslage für einen Som- sucher heißt weniger Pizza heißt weniger Probleme. mer, wie es ihn zwischen Südtirol und Si- Mozzarella – ein harter Schlag für viele Erst kam die Pandemie, dann die Angst zilien noch nie gab. Alles ist leiser, verhal- Landwirte, die schon ihre Milch wegschüt- vor einem beispiellosen Absturz der Volks- tener, verstörter in diesem Jahr. ten mussten. Ähnliche Effekte gibt es im wirtschaft. Aber, paradoxerweise, auch entspann- ganzen Land. Nun immerhin hat die EU für ihre Mit- ter. Am Rialto lässt sich in Ruhe ein Ape- Auf einer aktuellen Europakarte der gliedstaaten ein historisches Hilfspro- ritivo trinken, es sind ja kaum Gäste aus EU-Kommission, die die wirtschaftlichen gramm auf den Weg gebracht. Die Erwar- dem Ausland da. Und die Sixtinische Aussichten für den Kontinent abbildet, gibt es zurzeit nur einen tiefroten Fleck: Italien. Alle anderen Länder sind in blas- seren Farben gezeichnet. Die Brüsseler Behörde erwartet, dass das italienische Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 11,2 Prozent einbricht, ein Minusrekord im europäischen Vergleich. Nicht einmal vor Ende nächsten Jahres werde Italien »das Niveau von 2019 errei- chen«, schreibt die EU-Kommission. »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern«, lautet einer der berühmtesten Sätze der italienischen Literatur; er stammt aus »Gattopardo« von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Für Italien 2020 erwartete Staatsverschuldung: 159 % des Bruttoinlandsprodukts Quelle: EU-Kommission Allerdings war der Änderungswille in Rom bisher nicht besonders groß, doch das war vor Corona. Die Mitte-links- Koalition von Giuseppe Conte war zer- stritten. Und der im Volk beliebte Lega- Chef Matteo Salvini lauerte nur darauf, eine rechtspopulistische Regierung zu in- stallieren. Mit dem Virus mutieren nun auch die Machtverhältnisse im Land. Die Gewich- te zwischen linken und rechten Popu- listen und der politischen Mitte verschie- ben sich. Meinungsumfragen zeichnen seit Wo- chen ein bemerkenswertes Bild: Matteo Salvini stürzt in den Zustimmungswerten ab. Der vorher angeschlagene Giuseppe »Es wird lange dauern, das Trauma aufzuarbeiten« Conte hingegen ist inzwischen beliebter
als jeder andere Ministerpräsident seit Die Lombardei ist das Stammland der 25 Jahren. Lega. Sie regiert seit vielen Jahren in der Aber reicht das schon, um eine stabile norditalienischen Region um Mailand und Mehrheit für Reformen zu bilden? Oder Bergamo und hat in dieser Zeit das regio- ist der Vorrat an Entschlossenheit vom nale Gesundheitswesen konsequent priva- mühsamen Kampf gegen Corona er- tisiert. Dieses System hat während der Pan- schöpft? demie offenkundig versagt. Die Italiener wurden so früh und so bru- In der Vergangenheit haben die Rechts- tal von Covid-19 getroffen wie kein ande- populisten nahezu alle Missstände im res Volk in Europa. Und sie haben die Pan- Land erfolgreich der sozialdemokratischen demie mit den europaweit wahrscheinlich PD in die Schuhe geschoben. Linkes Esta- härtesten Maßnahmen zurückgedrängt. blishment gegen volksnahe Lega – so in- Mehr als die meisten EU-Partner sind szenierten sie einen Kulturkampf, der Ita- sie nun gezwungen, sich mit sich selbst zu lien spaltet. »Aber diesmal«, sagt Melan- beschäftigen, ihre Identität zu überdenken, dri, »kann die Lega nicht behaupten: Die ihre Rolle im 21. Jahrhundert zu finden. anderen sind schuld.« Wenn sich nichts ändert, bleibt nichts, Während der Pandemie gab es aus ihrer wie es ist. Sicht zwei Italien. Den hart getroffenen Norden, der, wenn Francesca Melandri hat sich eine Europa- auch auf niedrigem Niveau, immer noch flagge gekauft. Die blaue Fahne weht jetzt Bürgermeister Italia die höchsten Infiziertenzahlen meldet. auf ihrer Terrasse über den Dächern von »Wir haben keine Zeit zu verlieren« »Dort gibt es ein tiefes Trauma«, sagt Rom. Es ist ihr Appell für eine weniger Melandri. »Es wird lange dauern, es auf- egoistische, gerechtere EU. »Es gibt keine zuarbeiten – seelisch, sozial, politisch und Alternative«, sagt die Schriftstellerin, juristisch.« Und den großen Rest des Lan- »sonst zerfällt Europa, wirtschaftlich, so- des, der Corona ziemlich erfolgreich ab- zial und geopolitisch.« gewehrt hat. Vor dem Gespräch in ihrer Wohnung Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte: bereitet sie erst mal einen Espresso, sie Ausgerechnet der arme, in Mailand oder erzählt von ihren Kindern, die beide in Bergamo belächelte Süden Italiens hat die Deutschland wohnen, vom Familienleben Pandemie besser bewältigt – und muss früher in Südtirol, wo Sätze oft auf Italie- jetzt wirtschaftlich für die Fehler des star- nisch begannen, dann ins Deutsche wech- ken Nordens büßen. selten und im Dialekt endeten. Und nun? Was sind die nächsten Kapi- Am 27. März, als ihr Land das globale tel? Melandri ist zurückhaltend mit ihren Zentrum der Pandemie war, hatte sie im Prognosen, aber sie glaubt, dass die Popu- SPIEGEL einen Brief veröffentlicht. »Ich listen eine wichtige Rolle in der italieni- schreibe euch aus Italien, also aus eurer schen Politik behalten. »Die Rezession be- Zukunft. Wir sind jetzt dort, wo ihr in we- ginnt, viele Italiener tun sich wirtschaftlich nigen Tagen sein werdet«, hieß es darin. schwer, wissen nicht, wie es nächste Wo- »Ihr werdet lachen, ihr werdet Angst be- che oder nächsten Monat weitergeht«, sagt kommen. Wenn alles vorbei ist, wird die die Autorin. Welt nicht mehr die sein, die sie davor Schriftstellerin Melandri »Populismus gedeiht, wenn die Mägen war.« »Der Lockdown war nur das erste Kapitel« leer sind. Verzweiflung ist eine Brutstätte Ihr Text hat nicht nur viele Deutsche für hässliche Dinge.« Deshalb sei die EU berührt, sondern Menschen in aller Welt. jetzt so entscheidend. »Wenn ein solidari- Der Brief reiste mit dem Virus um die sches Europa gestärkt wird, haben Popu- Kontinente, bislang wurde er in 32 Spra- listen weniger Chancen.« chen übersetzt. »Ich habe ganz einfache Italien ist manchmal kaum wiederzuer- menschliche Empfindungen aufgeschrie- kennen in diesen Tagen. Nur zwölf Monate ben«, sagt Melandri. Sie sei überwältigt ist es her, als Salvini, damals Vizepremier davon, wie ihre Gefühle auf dem ganzen und Innenminister, mit nacktem Oberkör- Planeten geteilt würden. per im Papeete-Beach-Klub die Politik be- Monate später denkt sie in ihrer römi- stimmte. Tagsüber beschimpfte er Migran- schen Wohnung über die Folgen der Pan- ten, abends legte er bei der Beachparty demie nach. »Der Lockdown war nur das Platten auf. Im Licht der untergehenden erste Kapitel in einem langen Roman«, Sonne bewegten sich freizügige Tänzerin- sagt Melandri. »Die Handlung ist noch lan- nen lasziv zur eigentlich traurigen National- ge nicht zu Ende.« hymne (»Wir wurden seit Jahrhunderten Und sie hat in ihren Augen eine Vorge- getreten und ausgelacht«), die in fröhlichen schichte. Um zu verstehen, warum ausge- Beats aus den Boxen schallte. rechnet die reiche, stolze Lombardei zum Die Menge am Strand liebte es. Der italienischen Wuhan wurde, zum Katastro- Innenminister als Influencer, als DJ mit phengebiet mit den meisten Toten, müsse Badehose, Genießerbauch und Mojito? man weit zurückblicken. Melandri findet Fantastico! das wichtig, weil es Auswirkungen auf die Regionalpolitiker Mattinzoli Heute ist es stiller am Papeete Beach. Politik von heute hat. »Ein tiefes Trauma« Salvini ist zwischenzeitlich an seinen Ur-
laubsort zurückgekehrt. Aber kaum je- mand interessiert sich noch dafür. Ihm feh- len die Fans, die ihm im vorigen Sommer an den Stränden und Plätzen zujubelten. Man könnte erwarten, dass Giuseppe Conte die Gelegenheit nutzt, dass er von der eigenen Beliebtheit und Salvinis rela- tiver Schwäche profitiert und das Land so entschieden aus der Wirtschaftskrise führt wie zuvor aus der Pandemie. Doch so einfach ist es nicht. Die italienische Politik bleibt zerrissen, allerdings nehmen die Trennlinien neuer- dings einen überraschenden Verlauf. Was Salvini in der Opposition verliert, gewinnt die populäre Vorsitzende der post- faschistischen Fratelli d’Italia, Giorgia Me- loni, hinzu. Unterm Strich bleibt das Lager am rechten Rand deshalb unverändert stark. Aber es dominiert nicht mehr, denn die dritte Oppositionspartei, Silvio Berlus- conis Forza Italia, setzt sich im Zentrum fest – und pflegt sogar vorsichtig Kontakte Strand auf Sizilien: Alles ist leiser, verhaltener, verstörter in diesem Jahr zur Regierung. Es ist das komplexe Verhältnis zur EU, das die italienische Politik durcheinander- er neun Jahre lang Bürgermeister war. Er gedeckten Tisch in seinem Restaurant bringt. Zu Beginn der Pandemie fühlten will zeigen, wie Corona gerade Italien ver- sitzt und von den Forellen im Gardasee sich viele ohnehin europamüde Bürger ändert. Seine Stimme ist immer noch rau schwärmt, ist er froh, dass der Betrieb zu- von den Partnerländern im Stich gelassen, von der langen Krankheit. mindest wieder geöffnet ist, auch wenn es eine Mehrheit wollte die Union sogar ver- Sirmione liegt auf einer Halbinsel am an diesem Mittag nur wenige Gäste gibt. lassen. Südufer des Gardasees, früher lebte hier Die Jahre vor der Pandemie waren für Nun werden sie mit Milliardenhilfen be- Maria Callas, heute ist der Ort vor allem Norditalien eine Erfolgsgeschichte, die Re- dacht, und das verändert das politische bei deutschen Urlaubern beliebt. gion stieg zu einer der reichsten und mo- Geschäft. Alte Konfliktmuster passen nicht 22 Millionen Übernachtungen pro Jahr dernsten Europas auf. Sorgenvoll blickten mehr zur neuen Lage, Positionen werden gab es in den Zeiten vor Corona am Gar- viele Unternehmer höchstens auf den überprüft, Allianzen neu bewertet. dasee. Die Pandemie hat diesen Boom ge- schwachen Staat, die ineffiziente Bürokra- Die Frage lautet nur, ob daraus am Ende stoppt. tie, die quälend langsame Justiz. Aber wirklich eine Art nationaler Konsens für Und was ist mit den anderen Branchen nichts konnte ihren Boom stoppen. eine wirtschaftliche Trendwende entsteht. in der Lombardei, die über dichte Liefer- Jetzt wird Italien quasi über Nacht vom ketten eng mit Deutschland verbunden ist? Nettobeitragszahler zum wohl größten Alessandro Mattinzoli hat Covid-19 über- Wie viele Menschen werden ihren Job ver- Hilfsempfänger der EU. lebt. Aber es war knapp. lieren? Werden soziale Spannungen bald Die Produktion ist eingebrochen, und Ende Februar wollte er in der Klinik nur das ganze Land erschüttern? die Arbeitslosigkeit dürfte bis Jahresende kurz seinen Husten kontrollieren lassen, Es waren solche Sorgen, die Alessan- bei 12,4 Prozent landen, analysiert die die Ärzte behielten ihn gleich dort. Zehn dro Mattinzoli immer wieder durch den OECD. Auf dem Arbeitsmarkt würden Tage lang lag er im Koma, erst nach sieben Kopf gingen, als er sich im Krankenhaus alle Verbesserungen der vergangenen vier Wochen durfte er nach Hause. »Mehr als erholte. Jahre »ausgelöscht«. einmal habe ich mich gefragt, ob ich meine Während er ständig die Sirenen der Entsprechend groß ist die Verunsiche- Kinder wiedersehe«, sagte Mattinzoli, der Krankenwagen hörte, die neue Covid-19- rung, zum Beispiel in Vittorio Veneto. Mitglied der von der Lega geführten lom- Patienten in die Notaufnahme brachten, Schafe grasen auf einer Wiese an einem bardischen Landesregierung ist, damals musste er auch an seine Osteria Alla Tor- reißenden Bergbach, in Hallen nebenan dem SPIEGEL. re denken, die auf einem Hügel über dem stapeln sich Wollballen bis unters Dach. Noch im Krankenbett verschickte der Gardasee liegt. An die unsichere Zukunft Hier, am Südrand der Alpen, steht die Parteifreund von Berlusconi an Freunde seines Familienbetriebs, das Schicksal Firma Lanificio Bottoli, die wohl älteste eine Audionachricht. Es war ein schimpf- der Angestellten. Wenn er jetzt am weiß noch operierende Wollspinnerei Italiens. wortstarker Wortschwall über Regierungs- Alle anderen Spinnereien im Ort haben chef Conte, der hinter seinem Schreibtisch schon vor Langem aufgegeben. sitze und die Bürger in der Scheiße ste- Prognostizierter Einbruch cken lasse. Roberto Bottoli, 73, stellt die verschieden- In Windeseile verbreitete sich der Wut- des italienischen BIP* 2020: farbigen Garne selbst zusammen, bevor ausbruch per WhatsApp im ganzen Land. sie über den Webstuhl laufen. Mit Textil- »Ich stand noch unter dem Einfluss von Medikamenten«, entschuldigte Mattinzoli seine Wortwahl kurz darauf. Einige Monate später führt der 60-Jäh- rige durch seinen Heimatort Sirmione, wo – 11,2 % *Bruttoinlandsprodukt; Quelle: EU-Kommission kreide malt der Inhaber seine Korrekturen auf die ersten Meter Anzugstoff, so hält er es seit mehr als 50 Jahren. Er ist ein stiller Typ mit angegrauter Peter-Handke-Frisur, und natürlich trägt
Unterstützung besteht vor allem aus Wor- ten, in der Praxis kommt wenig an.« Es ist ein Freitagnachmittag, kurz vor Feierabend. Ettore Bottoli führt durch den Betrieb, er greift in die derbe Schurwolle, nimmt feine Garne in die Hand, streichelt fertige Anzugstoffe. Wie es jetzt weitergeht? »Für nächsten Sommer«, habe der Papa ihm gerade gesagt, »brauchen wir helle, lebhafte Far- ben, die Leute wollen dann wieder etwas wagen.« Aber was wäre, fragt sich Ettore, wenn stattdessen alle Schwarz tragen wollten? Die kommenden Monate würden ein großes Wagnis, trotzdem steht er jeden Morgen voller Zuversicht in seiner Mühle am rauschenden Bach. »Ich bin hier die fünfte Generation«, sagt er, »mit mir soll die Firmengeschichte nicht enden.« Bis Oktober muss Italien, wie alle ande- Restaurant am Gardasee: Wie viele Menschen werden ihren Job verlieren? ren Empfänger des Wiederaufbaufonds, in Brüssel konkrete Reformpläne vorlegen. Vage Absichtserklärungen wie bisher rei- er ein Jackett aus selbst gewebtem Stoff. ganze Branche steht vor einem Produk- chen dann nicht mehr. Wenn er Zeit hat, fährt Bottoli ins nur eine tionsloch.« In Rom gibt es eine beeindruckende Tra- Stunde entfernte Venedig, um die Stadt Im April hatte er deshalb einen Wut- dition verpasster Chancen. Vor gut 30 Jah- im Abendlicht zu fotografieren. Auch nach brief an Regierungschef Conte geschickt. ren brach das alte italienische Parteiensys- Jahrzehnten ist ihm das nicht langweilig Der Modebranche von Venetien drohe tem zusammen. Aber der Neustart wurde geworden, die Farben inspirieren ihn zu »ein Blutbad«, schrieb Bottoli, der die nicht für Reformen genutzt, stattdessen seinen Entwürfen. »Spinnen, färben, we- Branche mit 100 000 Beschäftigten im kam Silvio Berlusconi. Auch die schweren ben, wir machen alles aus einer Hand«, regionalen Arbeitgeberverband vertritt. Rezessionen nach den Terroranschlägen sagt er. Modedesigner wie Junya Wata- Man habe die Globalisierung und unfaire vom 11. September, dem Lehman-Crash nabe reisen sogar aus Japan an, um Stoffe Wettbewerbsbedingungen überlebt, nun und der Eurokrise brachten die Italiener auszuwählen. dürfe die Branche nicht am Produktions- nicht dazu, ihr Land zu erneuern. Bis Februar liefen die Geschäfte gut, stopp sterben. »Schlagt uns nicht k. o.«, Kann es diesmal klappen? auch wenn es nicht einfach war. »Es gibt flehte er. In Siracusa erinnert Francesco Italia immer weniger Schafe in Italien«, sagt Bot- Eine Antwort hat er nie bekommen. beim Gespräch in seinem Rathaus an diese tolis Sohn Ettore. Und damit weniger Von der Politik erwartet er nicht viel. »Die lange Geschichte verschobener Reformen. Schurwolle für die Textilmühle. Der Bürgermeister ärgert sich, wenn er Der 33-Jährige hat zehn Jahre lang für an die vielen Versäumnisse denkt. An ver- Modefirmen in London und New York lotterte Schulen, den maroden sozialen gearbeitet. Als er vor einiger Zeit nach Vit- Wohnungsbau, das vernachlässigte Ge- torio Veneto zurückkehrte, haben ihn alle sundheitswesen – alles Probleme, die auch für verrückt erklärt. seine Stadt in der Nähe des Ätna plagen. Ihm gefällt es, auch wenn er jetzt Pro- »Wenn es in meine Sozialwohnung rein- bleme lösen muss, von denen seine Freun- regnet, wenn meine krebskranke Mutter de in Manhattan wohl noch nie gehört ha- stirbt, weil ich 13 Monate lang keinen Ter- ben. »Viele Hirten haben keine Lust mehr, min für sie bekomme, dann habe ich eine um drei Uhr früh den Stall auszumisten. ziemlich klare Vorstellung vom Staat: Er Sie machen lieber eine Trattoria auf.« Und kümmert sich nicht um mich und schließt Mitarbeiter seien ebenfalls schwer zu fin- mich aus«, sagt Italia. den. »Die Leute wollen ins Webdesign, »Es gibt eine riesengroße Wut im Land. nicht an den Webstuhl.« Und sie wächst gerade, weil durch Corona Aber das sind kleine Sorgen, verglichen viele ärmer werden.« mit den Folgen der Coronakrise. Der er- Für Francesco Italia gibt es nur einen zwungene Produktionsstopp während des Weg, um das Vertrauen der Menschen zu- Lockdowns habe die Saison ruiniert, sagt rückzugewinnen: Der Staat müsse jetzt Roberto Bottoli. Weniger Reisende, weni- in Bereiche wie Bildung, Medizin, Woh- ger Kunden in den Luxusboutiquen an den nungsbau investieren und beweisen, dass Flughäfen und in den Zentren von Mai- er sich um seine Bürger kümmert. land bis New York. »Es muss schnell geschehen«, sagt der »Wenn die Läden kaum etwas ver- Bürgermeister, »wir haben keine Zeit kaufen, gibt es bei uns weniger Bestellun- Stofffabrikant Bottoli mehr zu verlieren.« gen fürs nächste Jahr«, sagt Bottoli. »Die »Die Unterstützung besteht aus Worten«
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