Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia

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Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
Die Milliardenwette
   Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise
            durch ein stilles Land, zu einem Bürgermeister namens Italia, einem Politiker,
       der knapp überlebte, und einer Schriftstellerin, die auf Europa hofft. Von Frank Hornig

A
           m 19. April klingelte bei Frances-   hängte. Die entsprechenden Dekrete wa-        kale Falschmeldungen über einen angeb-
           co Italia gegen 17 Uhr das Tele-     ren in Bürokratenitalienisch verfasst, also   lich Covid-19-verseuchten Supermarkt das
           fon. »Das ist kein Scherz, hier      kaum verständlich. Völlig verunsicherte       Leben schwer.
           spricht Papst Franziskus«, sagte     Anwohner bestürmten ihren Bürgermeis-            Italia reagierte, so gut er konnte, aber
die Stimme am anderen Ende der Leitung.         ter mit Fragen.                               irgendwann fühlte er sich von den endlo-
»Wie geht es Ihnen?«                               Mal fehlte im Krankenhaus Platz für        sen Hilferufen wie erschlagen. »Wenn du
   Etwa drei Monate später sitzt Bürger-        eine fiebrige Oma. Dann machten ihm lo-       Probleme nicht lösen kannst, wird dein
meister Italia in seinem Amtszimmer im
Rathaus von Siracusa und erzählt von
jenem Anruf, den er nie mehr vergessen
wird.
   In der Antike war seine mehr als zwei-
einhalbtausend Jahre alte Stadt im Osten
Siziliens eine der wichtigsten griechischen
Kolonien, ein Zentrum der hellenistischen
Kultur. Platon, Archimedes, Aischylos –
sie alle haben hier zeitweise gelebt. Aber
heute? Warum sollte der Papst sich gerade
für ihn interessieren?
   »Ich glaube, er wollte ein Signal an alle
Bürgermeister im Land senden«, sagt Ita-
lia. Und dafür habe er, typisch Franziskus,
nicht die mächtigen Kollegen in Mailand
oder Rom angerufen. Sondern ihn, den
Bürgermeister dieses 120 000-Einwohner-
Städtchens im armen Süden. »Er wollte
sagen: Ich denke an euch, ich bin bei euch,
ich bete für euch.«
   Es ist ein Julinachmittag, draußen auf
der beinahe menschenleeren Piazza Duo-
mo ist es fast unerträglich heiß, doch in
Italias Amtszimmer mit den tiefgrünen,
reich verzierten Tapeten ist es kühler.
   Das würdevolle Büro passt eigentlich
nicht zu seinem Lockenschopf, dem Drei-
tagebart, dem schnell umherspringenden
Blick.
   Italia leitete in Mailand einen Fernseh-
sender, nachdem er die sehr gemächlichen
Verhältnisse in Siracusa nicht mehr hatte
ertragen konnte. Aber dann kehrte er doch
zurück und wurde Lokalpolitiker – wäh-
rend sich seine Stadt auf einmal durch den
Tourismusboom rasant veränderte.
   In diesen Tagen könnte der 47-Jährige
endlich mal entspannen, der Sommer ist
da, der schlimmste Teil der Coronakrise
scheint überwunden. Aber der Schreck
steckt ihm noch in den Gliedern. »Es war
und ist wahnsinnig schwer. Ein riesiger
Stresstest.«
   Es sprudelt nur so aus Italia heraus,
wenn er sich daran erinnert, wie Minister-
präsident Giuseppe Conte in nächtlichen
Pressekonferenzen Ausgangssperren ver-                                                                        Passanten vor Mailänder Dom:
Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
Frust riesengroß.« Der Trost vom Papst         tungen sind gewaltig, die Milliarden aus         Kapelle wirkt nicht mehr wie ein Elektro-
    kam wie gerufen.                               Brüssel sollen mit harten Reformen ver-          markt beim Schlussverkauf.
       Und nun? »Die Angst ist immer noch          bunden werden, bislang nicht gerade eine            Es ist zu schön, um wahr zu sein.
    groß, das ist das Problem.«                    Stärke der Politikerinnen und Politiker in          »Corona ist wie eine Explosion, deren
       Wenn der Bürgermeister vors Rathaus         Rom.                                             Druckwelle noch gar nicht angekommen
    tritt, wird er normalerweise von Touris-          Italien steht vor weitreichenden Ent-         ist«, sagt Gabriel Zuchtriegel, der deutsche
    tengruppen umringt. Jetzt ist der Platz wie    scheidungen: Nutzt es die Krise für einen        Direktor der Tempelanlage von Paestum.
    ausgestorben. »Viele Unternehmer haben         echten Wandel und schafft ein neues Wirt-        »Die ökonomische Krise ist längst nicht
    schon das Handtuch geschmissen.«               schaftswunder? Oder verpuffen die Mil-           absehbar.«
       Es ist Zufall, dass er genauso heißt wie    liarden wie schon so oft, und der schlei-           Er kann das im Umfeld seiner Ruinen
    sein Vaterland. Aber Francesco Italia und      chende Niedergang setzt sich fort?               südlich von Neapel erkennen: Weniger Be-
    Italien haben zurzeit ziemlich ähnliche           Das ist die Ausgangslage für einen Som-       sucher heißt weniger Pizza heißt weniger
    Probleme.                                      mer, wie es ihn zwischen Südtirol und Si-        Mozzarella – ein harter Schlag für viele
       Erst kam die Pandemie, dann die Angst       zilien noch nie gab. Alles ist leiser, verhal-   Landwirte, die schon ihre Milch wegschüt-
    vor einem beispiellosen Absturz der Volks-     tener, verstörter in diesem Jahr.                ten mussten. Ähnliche Effekte gibt es im
    wirtschaft.                                       Aber, paradoxerweise, auch entspann-          ganzen Land.
       Nun immerhin hat die EU für ihre Mit-       ter. Am Rialto lässt sich in Ruhe ein Ape-          Auf einer aktuellen Europakarte der
    gliedstaaten ein historisches Hilfspro-        ritivo trinken, es sind ja kaum Gäste aus        EU-Kommission, die die wirtschaftlichen
    gramm auf den Weg gebracht. Die Erwar-         dem Ausland da. Und die Sixtinische              Aussichten für den Kontinent abbildet,
                                                                                                    gibt es zurzeit nur einen tiefroten Fleck:
                                                                                                    Italien. Alle anderen Länder sind in blas-
                                                                                                    seren Farben gezeichnet.
                                                                                                       Die Brüsseler Behörde erwartet, dass
                                                                                                    das italienische Bruttoinlandsprodukt in
                                                                                                    diesem Jahr um 11,2 Prozent einbricht, ein
                                                                                                    Minusrekord im europäischen Vergleich.
                                                                                                    Nicht einmal vor Ende nächsten Jahres
                                                                                                    werde Italien »das Niveau von 2019 errei-
                                                                                                    chen«, schreibt die EU-Kommission.
                                                                                                       »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie
                                                                                                    es ist, muss sich alles ändern«, lautet einer
                                                                                                    der berühmtesten Sätze der italienischen
                                                                                                    Literatur; er stammt aus »Gattopardo«
                                                                                                    von Giuseppe Tomasi di Lampedusa.

                                                                                                       Für Italien 2020 erwartete
                                                                                                       Staatsverschuldung:

                                                                                                        159 %
                                                                                                       des Bruttoinlandsprodukts
                                                                                                       Quelle: EU-Kommission

                                                                                                       Allerdings war der Änderungswille in
                                                                                                    Rom bisher nicht besonders groß, doch
                                                                                                    das war vor Corona. Die Mitte-links-
                                                                                                    Koalition von Giuseppe Conte war zer-
                                                                                                    stritten. Und der im Volk beliebte Lega-
                                                                                                    Chef Matteo Salvini lauerte nur darauf,
                                                                                                    eine rechtspopulistische Regierung zu in-
                                                                                                    stallieren.
                                                                                                       Mit dem Virus mutieren nun auch die
                                                                                                    Machtverhältnisse im Land. Die Gewich-
                                                                                                    te zwischen linken und rechten Popu-
                                                                                                    listen und der politischen Mitte verschie-
                                                                                                    ben sich.
                                                                                                       Meinungsumfragen zeichnen seit Wo-
                                                                                                    chen ein bemerkenswertes Bild: Matteo
                                                                                                    Salvini stürzt in den Zustimmungswerten
                                                                                                    ab. Der vorher angeschlagene Giuseppe
»Es wird lange dauern, das Trauma aufzuarbeiten«                                                    Conte hingegen ist inzwischen beliebter
Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
als jeder andere Ministerpräsident seit                                                      Die Lombardei ist das Stammland der
25 Jahren.                                                                                Lega. Sie regiert seit vielen Jahren in der
   Aber reicht das schon, um eine stabile                                                 norditalienischen Region um Mailand und
Mehrheit für Reformen zu bilden? Oder                                                     Bergamo und hat in dieser Zeit das regio-
ist der Vorrat an Entschlossenheit vom                                                    nale Gesundheitswesen konsequent priva-
mühsamen Kampf gegen Corona er-                                                           tisiert. Dieses System hat während der Pan-
schöpft?                                                                                  demie offenkundig versagt.
   Die Italiener wurden so früh und so bru-                                                  In der Vergangenheit haben die Rechts-
tal von Covid-19 getroffen wie kein ande-                                                 populisten nahezu alle Missstände im
res Volk in Europa. Und sie haben die Pan-                                                Land erfolgreich der sozialdemokratischen
demie mit den europaweit wahrscheinlich                                                   PD in die Schuhe geschoben. Linkes Esta-
härtesten Maßnahmen zurückgedrängt.                                                       blishment gegen volksnahe Lega – so in-
   Mehr als die meisten EU-Partner sind                                                   szenierten sie einen Kulturkampf, der Ita-
sie nun gezwungen, sich mit sich selbst zu                                                lien spaltet. »Aber diesmal«, sagt Melan-
beschäftigen, ihre Identität zu überdenken,                                               dri, »kann die Lega nicht behaupten: Die
ihre Rolle im 21. Jahrhundert zu finden.                                                  anderen sind schuld.«
   Wenn sich nichts ändert, bleibt nichts,                                                   Während der Pandemie gab es aus ihrer
wie es ist.                                                                               Sicht zwei Italien.
                                                                                             Den hart getroffenen Norden, der, wenn
Francesca Melandri hat sich eine Europa-                                                  auch auf niedrigem Niveau, immer noch
flagge gekauft. Die blaue Fahne weht jetzt              Bürgermeister Italia              die höchsten Infiziertenzahlen meldet.
auf ihrer Terrasse über den Dächern von           »Wir haben keine Zeit zu verlieren«     »Dort gibt es ein tiefes Trauma«, sagt
Rom. Es ist ihr Appell für eine weniger                                                   Melandri. »Es wird lange dauern, es auf-
egoistische, gerechtere EU. »Es gibt keine                                                zuarbeiten – seelisch, sozial, politisch und
Alternative«, sagt die Schriftstellerin,                                                  juristisch.« Und den großen Rest des Lan-
»sonst zerfällt Europa, wirtschaftlich, so-                                               des, der Corona ziemlich erfolgreich ab-
zial und geopolitisch.«                                                                   gewehrt hat.
   Vor dem Gespräch in ihrer Wohnung                                                         Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte:
bereitet sie erst mal einen Espresso, sie                                                 Ausgerechnet der arme, in Mailand oder
erzählt von ihren Kindern, die beide in                                                   Bergamo belächelte Süden Italiens hat die
Deutschland wohnen, vom Familienleben                                                     Pandemie besser bewältigt – und muss
früher in Südtirol, wo Sätze oft auf Italie-                                              jetzt wirtschaftlich für die Fehler des star-
nisch begannen, dann ins Deutsche wech-                                                   ken Nordens büßen.
selten und im Dialekt endeten.                                                               Und nun? Was sind die nächsten Kapi-
   Am 27. März, als ihr Land das globale                                                  tel? Melandri ist zurückhaltend mit ihren
Zentrum der Pandemie war, hatte sie im                                                    Prognosen, aber sie glaubt, dass die Popu-
SPIEGEL einen Brief veröffentlicht. »Ich                                                  listen eine wichtige Rolle in der italieni-
schreibe euch aus Italien, also aus eurer                                                 schen Politik behalten. »Die Rezession be-
Zukunft. Wir sind jetzt dort, wo ihr in we-                                               ginnt, viele Italiener tun sich wirtschaftlich
nigen Tagen sein werdet«, hieß es darin.                                                  schwer, wissen nicht, wie es nächste Wo-
»Ihr werdet lachen, ihr werdet Angst be-                                                  che oder nächsten Monat weitergeht«, sagt
kommen. Wenn alles vorbei ist, wird die                                                   die Autorin.
Welt nicht mehr die sein, die sie davor               Schriftstellerin Melandri              »Populismus gedeiht, wenn die Mägen
war.«                                          »Der Lockdown war nur das erste Kapitel«   leer sind. Verzweiflung ist eine Brutstätte
   Ihr Text hat nicht nur viele Deutsche                                                  für hässliche Dinge.« Deshalb sei die EU
berührt, sondern Menschen in aller Welt.                                                  jetzt so entscheidend. »Wenn ein solidari-
Der Brief reiste mit dem Virus um die                                                     sches Europa gestärkt wird, haben Popu-
Kontinente, bislang wurde er in 32 Spra-                                                  listen weniger Chancen.«
chen übersetzt. »Ich habe ganz einfache                                                      Italien ist manchmal kaum wiederzuer-
menschliche Empfindungen aufgeschrie-                                                     kennen in diesen Tagen. Nur zwölf Monate
ben«, sagt Melandri. Sie sei überwältigt                                                  ist es her, als Salvini, damals Vizepremier
davon, wie ihre Gefühle auf dem ganzen                                                    und Innenminister, mit nacktem Oberkör-
Planeten geteilt würden.                                                                  per im Papeete-Beach-Klub die Politik be-
   Monate später denkt sie in ihrer römi-                                                 stimmte. Tagsüber beschimpfte er Migran-
schen Wohnung über die Folgen der Pan-                                                    ten, abends legte er bei der Beachparty
demie nach. »Der Lockdown war nur das                                                     Platten auf. Im Licht der untergehenden
erste Kapitel in einem langen Roman«,                                                     Sonne bewegten sich freizügige Tänzerin-
sagt Melandri. »Die Handlung ist noch lan-                                                nen lasziv zur eigentlich traurigen National-
ge nicht zu Ende.«                                                                        hymne (»Wir wurden seit Jahrhunderten
   Und sie hat in ihren Augen eine Vorge-                                                 getreten und ausgelacht«), die in fröhlichen
schichte. Um zu verstehen, warum ausge-                                                   Beats aus den Boxen schallte.
rechnet die reiche, stolze Lombardei zum                                                     Die Menge am Strand liebte es. Der
italienischen Wuhan wurde, zum Katastro-                                                  Innenminister als Influencer, als DJ mit
phengebiet mit den meisten Toten, müsse                                                   Badehose, Genießerbauch und Mojito?
man weit zurückblicken. Melandri findet                                                   Fantastico!
das wichtig, weil es Auswirkungen auf die           Regionalpolitiker Mattinzoli             Heute ist es stiller am Papeete Beach.
Politik von heute hat.                                  »Ein tiefes Trauma«               Salvini ist zwischenzeitlich an seinen Ur-
Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
laubsort zurückgekehrt. Aber kaum je-
mand interessiert sich noch dafür. Ihm feh-
len die Fans, die ihm im vorigen Sommer
an den Stränden und Plätzen zujubelten.
   Man könnte erwarten, dass Giuseppe
Conte die Gelegenheit nutzt, dass er von
der eigenen Beliebtheit und Salvinis rela-
tiver Schwäche profitiert und das Land so
entschieden aus der Wirtschaftskrise führt
wie zuvor aus der Pandemie.
   Doch so einfach ist es nicht.
   Die italienische Politik bleibt zerrissen,
allerdings nehmen die Trennlinien neuer-
dings einen überraschenden Verlauf.
   Was Salvini in der Opposition verliert,
gewinnt die populäre Vorsitzende der post-
faschistischen Fratelli d’Italia, Giorgia Me-
loni, hinzu. Unterm Strich bleibt das Lager
am rechten Rand deshalb unverändert
stark.
   Aber es dominiert nicht mehr, denn die
dritte Oppositionspartei, Silvio Berlus-
conis Forza Italia, setzt sich im Zentrum
fest – und pflegt sogar vorsichtig Kontakte                  Strand auf Sizilien: Alles ist leiser, verhaltener, verstörter in diesem Jahr
zur Regierung.
   Es ist das komplexe Verhältnis zur EU,
das die italienische Politik durcheinander-     er neun Jahre lang Bürgermeister war. Er              gedeckten Tisch in seinem Restaurant
bringt. Zu Beginn der Pandemie fühlten          will zeigen, wie Corona gerade Italien ver-           sitzt und von den Forellen im Gardasee
sich viele ohnehin europamüde Bürger            ändert. Seine Stimme ist immer noch rau               schwärmt, ist er froh, dass der Betrieb zu-
von den Partnerländern im Stich gelassen,       von der langen Krankheit.                             mindest wieder geöffnet ist, auch wenn es
eine Mehrheit wollte die Union sogar ver-          Sirmione liegt auf einer Halbinsel am              an diesem Mittag nur wenige Gäste gibt.
lassen.                                         Südufer des Gardasees, früher lebte hier                 Die Jahre vor der Pandemie waren für
   Nun werden sie mit Milliardenhilfen be-      Maria Callas, heute ist der Ort vor allem             Norditalien eine Erfolgsgeschichte, die Re-
dacht, und das verändert das politische         bei deutschen Urlaubern beliebt.                      gion stieg zu einer der reichsten und mo-
Geschäft. Alte Konfliktmuster passen nicht         22 Millionen Übernachtungen pro Jahr               dernsten Europas auf. Sorgenvoll blickten
mehr zur neuen Lage, Positionen werden          gab es in den Zeiten vor Corona am Gar-               viele Unternehmer höchstens auf den
überprüft, Allianzen neu bewertet.              dasee. Die Pandemie hat diesen Boom ge-               schwachen Staat, die ineffiziente Bürokra-
   Die Frage lautet nur, ob daraus am Ende      stoppt.                                               tie, die quälend langsame Justiz. Aber
wirklich eine Art nationaler Konsens für           Und was ist mit den anderen Branchen               nichts konnte ihren Boom stoppen.
eine wirtschaftliche Trendwende entsteht.       in der Lombardei, die über dichte Liefer-                Jetzt wird Italien quasi über Nacht vom
                                                ketten eng mit Deutschland verbunden ist?             Nettobeitragszahler zum wohl größten
Alessandro Mattinzoli hat Covid-19 über-        Wie viele Menschen werden ihren Job ver-              Hilfsempfänger der EU.
lebt. Aber es war knapp.                        lieren? Werden soziale Spannungen bald                   Die Produktion ist eingebrochen, und
   Ende Februar wollte er in der Klinik nur     das ganze Land erschüttern?                           die Arbeitslosigkeit dürfte bis Jahresende
kurz seinen Husten kontrollieren lassen,           Es waren solche Sorgen, die Alessan-               bei 12,4 Prozent landen, analysiert die
die Ärzte behielten ihn gleich dort. Zehn       dro Mattinzoli immer wieder durch den                 OECD. Auf dem Arbeitsmarkt würden
Tage lang lag er im Koma, erst nach sieben      Kopf gingen, als er sich im Krankenhaus               alle Verbesserungen der vergangenen vier
Wochen durfte er nach Hause. »Mehr als          erholte.                                              Jahre »ausgelöscht«.
einmal habe ich mich gefragt, ob ich meine         Während er ständig die Sirenen der                    Entsprechend groß ist die Verunsiche-
Kinder wiedersehe«, sagte Mattinzoli, der       Krankenwagen hörte, die neue Covid-19-                rung, zum Beispiel in Vittorio Veneto.
Mitglied der von der Lega geführten lom-        Patienten in die Notaufnahme brachten,                Schafe grasen auf einer Wiese an einem
bardischen Landesregierung ist, damals          musste er auch an seine Osteria Alla Tor-             reißenden Bergbach, in Hallen nebenan
dem SPIEGEL.                                    re denken, die auf einem Hügel über dem               stapeln sich Wollballen bis unters Dach.
   Noch im Krankenbett verschickte der          Gardasee liegt. An die unsichere Zukunft                 Hier, am Südrand der Alpen, steht die
Parteifreund von Berlusconi an Freunde          seines Familienbetriebs, das Schicksal                Firma Lanificio Bottoli, die wohl älteste
eine Audionachricht. Es war ein schimpf-        der Angestellten. Wenn er jetzt am weiß               noch operierende Wollspinnerei Italiens.
wortstarker Wortschwall über Regierungs-                                                              Alle anderen Spinnereien im Ort haben
chef Conte, der hinter seinem Schreibtisch                                                            schon vor Langem aufgegeben.
sitze und die Bürger in der Scheiße ste-          Prognostizierter Einbruch
cken lasse.                                                                                           Roberto Bottoli, 73, stellt die verschieden-
   In Windeseile verbreitete sich der Wut-        des italienischen BIP* 2020:                        farbigen Garne selbst zusammen, bevor
ausbruch per WhatsApp im ganzen Land.                                                                 sie über den Webstuhl laufen. Mit Textil-
»Ich stand noch unter dem Einfluss von
Medikamenten«, entschuldigte Mattinzoli
seine Wortwahl kurz darauf.
   Einige Monate später führt der 60-Jäh-
rige durch seinen Heimatort Sirmione, wo
                                                   – 11,2 %
                                                  *Bruttoinlandsprodukt; Quelle: EU-Kommission
                                                                                                      kreide malt der Inhaber seine Korrekturen
                                                                                                      auf die ersten Meter Anzugstoff, so hält
                                                                                                      er es seit mehr als 50 Jahren.
                                                                                                         Er ist ein stiller Typ mit angegrauter
                                                                                                      Peter-Handke-Frisur, und natürlich trägt
Die Milliardenwette Italien Gelingt nach Corona jetzt der Neustart, oder kommt die Rezession? Eine Sommerreise - Francesco Italia
Unterstützung besteht vor allem aus Wor-
                                                                                               ten, in der Praxis kommt wenig an.«
                                                                                                  Es ist ein Freitagnachmittag, kurz vor
                                                                                               Feierabend. Ettore Bottoli führt durch den
                                                                                               Betrieb, er greift in die derbe Schurwolle,
                                                                                               nimmt feine Garne in die Hand, streichelt
                                                                                               fertige Anzugstoffe.
                                                                                                  Wie es jetzt weitergeht? »Für nächsten
                                                                                               Sommer«, habe der Papa ihm gerade
                                                                                               gesagt, »brauchen wir helle, lebhafte Far-
                                                                                               ben, die Leute wollen dann wieder etwas
                                                                                               wagen.« Aber was wäre, fragt sich Ettore,
                                                                                               wenn stattdessen alle Schwarz tragen
                                                                                               wollten?
                                                                                                  Die kommenden Monate würden ein
                                                                                               großes Wagnis, trotzdem steht er jeden
                                                                                               Morgen voller Zuversicht in seiner Mühle
                                                                                               am rauschenden Bach.
                                                                                                 »Ich bin hier die fünfte Generation«,
                                                                                               sagt er, »mit mir soll die Firmengeschichte
                                                                                               nicht enden.«

                                                                                               Bis Oktober muss Italien, wie alle ande-
         Restaurant am Gardasee: Wie viele Menschen werden ihren Job verlieren?                ren Empfänger des Wiederaufbaufonds, in
                                                                                               Brüssel konkrete Reformpläne vorlegen.
                                                                                               Vage Absichtserklärungen wie bisher rei-
er ein Jackett aus selbst gewebtem Stoff.       ganze Branche steht vor einem Produk-          chen dann nicht mehr.
Wenn er Zeit hat, fährt Bottoli ins nur eine    tionsloch.«                                       In Rom gibt es eine beeindruckende Tra-
Stunde entfernte Venedig, um die Stadt             Im April hatte er deshalb einen Wut-        dition verpasster Chancen. Vor gut 30 Jah-
im Abendlicht zu fotografieren. Auch nach       brief an Regierungschef Conte geschickt.       ren brach das alte italienische Parteiensys-
Jahrzehnten ist ihm das nicht langweilig        Der Modebranche von Venetien drohe             tem zusammen. Aber der Neustart wurde
geworden, die Farben inspirieren ihn zu         »ein Blutbad«, schrieb Bottoli, der die        nicht für Reformen genutzt, stattdessen
seinen Entwürfen. »Spinnen, färben, we-         Branche mit 100 000 Beschäftigten im           kam Silvio Berlusconi. Auch die schweren
ben, wir machen alles aus einer Hand«,          regionalen Arbeitgeberverband vertritt.        Rezessionen nach den Terroranschlägen
sagt er. Modedesigner wie Junya Wata-           Man habe die Globalisierung und unfaire        vom 11. September, dem Lehman-Crash
nabe reisen sogar aus Japan an, um Stoffe       Wettbewerbsbedingungen überlebt, nun           und der Eurokrise brachten die Italiener
auszuwählen.                                    dürfe die Branche nicht am Produktions-        nicht dazu, ihr Land zu erneuern.
   Bis Februar liefen die Geschäfte gut,        stopp sterben. »Schlagt uns nicht k. o.«,         Kann es diesmal klappen?
auch wenn es nicht einfach war. »Es gibt        flehte er.                                        In Siracusa erinnert Francesco Italia
immer weniger Schafe in Italien«, sagt Bot-        Eine Antwort hat er nie bekommen.           beim Gespräch in seinem Rathaus an diese
tolis Sohn Ettore. Und damit weniger            Von der Politik erwartet er nicht viel. »Die   lange Geschichte verschobener Reformen.
Schurwolle für die Textilmühle.                                                                   Der Bürgermeister ärgert sich, wenn er
   Der 33-Jährige hat zehn Jahre lang für                                                      an die vielen Versäumnisse denkt. An ver-
Modefirmen in London und New York                                                              lotterte Schulen, den maroden sozialen
gearbeitet. Als er vor einiger Zeit nach Vit-                                                  Wohnungsbau, das vernachlässigte Ge-
torio Veneto zurückkehrte, haben ihn alle                                                      sundheitswesen – alles Probleme, die auch
für verrückt erklärt.                                                                          seine Stadt in der Nähe des Ätna plagen.
   Ihm gefällt es, auch wenn er jetzt Pro-                                                        »Wenn es in meine Sozialwohnung rein-
bleme lösen muss, von denen seine Freun-                                                       regnet, wenn meine krebskranke Mutter
de in Manhattan wohl noch nie gehört ha-                                                       stirbt, weil ich 13 Monate lang keinen Ter-
ben. »Viele Hirten haben keine Lust mehr,                                                      min für sie bekomme, dann habe ich eine
um drei Uhr früh den Stall auszumisten.                                                        ziemlich klare Vorstellung vom Staat: Er
Sie machen lieber eine Trattoria auf.« Und                                                     kümmert sich nicht um mich und schließt
Mitarbeiter seien ebenfalls schwer zu fin-                                                     mich aus«, sagt Italia.
den. »Die Leute wollen ins Webdesign,                                                             »Es gibt eine riesengroße Wut im Land.
nicht an den Webstuhl.«                                                                        Und sie wächst gerade, weil durch Corona
   Aber das sind kleine Sorgen, verglichen                                                     viele ärmer werden.«
mit den Folgen der Coronakrise. Der er-                                                           Für Francesco Italia gibt es nur einen
zwungene Produktionsstopp während des                                                          Weg, um das Vertrauen der Menschen zu-
Lockdowns habe die Saison ruiniert, sagt                                                       rückzugewinnen: Der Staat müsse jetzt
Roberto Bottoli. Weniger Reisende, weni-                                                       in Bereiche wie Bildung, Medizin, Woh-
ger Kunden in den Luxusboutiquen an den                                                        nungsbau investieren und beweisen, dass
Flughäfen und in den Zentren von Mai-                                                          er sich um seine Bürger kümmert.
land bis New York.                                                                                »Es muss schnell geschehen«, sagt der
  »Wenn die Läden kaum etwas ver-                                                              Bürgermeister, »wir haben keine Zeit
kaufen, gibt es bei uns weniger Bestellun-                 Stofffabrikant Bottoli              mehr zu verlieren.«
gen fürs nächste Jahr«, sagt Bottoli. »Die        »Die Unterstützung besteht aus Worten«
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