DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE - FLORIAN TRAUSSNIG Österreicher als Kampfpropagandisten der US-Armee im Zweiten Weltkrieg - Vandenhoeck ...
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FLORIAN TRAUSSNIG DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Österreicher als Kampfpropagandisten der US-Armee im Zweiten Weltkrieg
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Florian Traussnig DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Österreicher als Kampfpropagandisten der US-Armee im Zweiten Weltkrieg Mit einem Gastbeitrag von Robert Lackner Böhlau Verlag Wien Köln Weimar © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Veröffentlicht mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich (P16-2329) sowie der Stadt Wien Kultur, Wissenschafts- und Forschungsförderung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Der Exilösterreicher und Lautsprecher-Ansager Paul Eisler (l.) und sein Fahrer Charles Leveille (r.) im Einsatz, März 1945. Quellenangabe: Foto von P. Eisler und C. Leveille. © US Signal Corps. NARA, RG 208, abgebildet in: www.psywar.org/photos/30 (letzter Zugriff 31.7.2018). Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21020-7 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Die Experimentalphase: Erste Propagandaeinsätze im Mittelmeer und Gründung eines innovativen „Psywar“-Camps in Gettysburg . . . . . . . . . . 18 1.1 Exzentrische „Confetti Soldiers“: Zur kritischen Lage der militärischen US-Propaganda zu Kriegsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2 Die Entstehung der Mobile Radio Broadcasting Companies und die Lehrzeit der US-Kampfpropagandisten in Nordafrika und Italien . 27 1.3 Hans Habes Journalistenakademie: Camp Sharpe und die Ausbildung von österreichischen Exilanten zu Medienhandwerkern . . . . . . . . . . . . 46 2 Die Sharpe Boys am Zenit: Kampfeinsatz in Westeuropa und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.1 Die Psychological Warfare Division des alliierten Hauptquartiers und die Rolle der Kampfpropagandakompanien rund um den „D-Day“ . . . 78 2.2 Ins Hirn des Feindes kriechen: Österreichische Sharpe Boys als Moralanalysten, Verhör- und Abhörspezialisten an der Westfront . . . . 91 2.2.1 „Nachrichten“ als zentrales Paradigma der US-Kriegsführung – die Psychological Warfare Intelligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.2.2 Hoch produktiver Nachrichtenoffizier und Informations- drehscheibe zu sämtlichen Fragen der „Feindmoral“: Jacob Tennenbaum vom Psychological Warfare Combat Team der First US Army . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.2.3 Exkurs: Ein ernüchternder Patrioten-Check: Die Moralverhöre von acht österreichischen Wehrmachtssoldaten . . . . . . . . . . . . . . 138 2.2.4 Mit dem Ohr am Äther: Die Rundfunk-Abhörspezialisten Erwin Benkoe und Herbert Lobl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.2.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 2.3 Vom kalifornischen Blechschlosser zum Chef-Flugblattschreiber der 3. US-Armee – Kurt Wittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2.3.1 „The Leaflet should be simple but striking“ – Spezialausbildung in Hans Habes Propagandaschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.3.2 Chef-Flugblattschreiber im Psychological Warfare Combat Team von Pattons dritter US-Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2.3.3 Die „Anständigen“ vom „Mordhaufen“ loslösen – Wittlers PWB-Flugblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2.3.4 Exkurs: Zahnlose Österreich-Ideologie trifft auf sperriges Textdesign: Das Flugblatt PWB 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2.3.5 Exkurs: Eine semiotisch gelungene Instrumentalisierung der „Russenangst“: Die Landkartenflugblätter PWB 42 und 49 . 240 2.3.6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2.4 „Ihr seid umzingelt!“: Emanuel Rapoport als Lautsprecher- Propagandist in Geilenkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2.5 Harte Fakten, garniert mit Psychotricks: Hans Habes „weiße“ Rundfunkspezialisten und ihr „schwarzer“ Kollege Fred Lorenz . . . . . 274 2.5.1 „… to establish strong credibility“ – Der Freie Sender Luxemburg als Informationsangebot an den Feind . . . . . . . . . . . 274 2.5.2 „Fuck your Enemy“ – Fred Lorenz’ subversive Rundfunkarbeit bei der OSS-Operation ANNIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3 Jenseits des Schlachtfelds: „Political Intelligence“, Konsolidierungs- und Umerziehungspropaganda im besetzten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 301 3.1 Die Propagandaaufklärung im Spannungsfeld von psychologischer Kriegsführung und Besatzungspolitik – Francis Seidler, Saul K. Padover und der „Aachen Scandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3.1.1 Kein leichter Job – Politische Aufklärung im befreiten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3.1.2 Konservativ, kirchennah, umstritten: Francis Seidler . . . . . . . . . . 307 3.1.3 Die Katholische Kirche als logische Verbündete? . . . . . . . . . . . . 315 3.1.4 Die „klerikale“ Fraktion setzt sich in Aachen durch . . . . . . . . . . 321 3.1.5 Sozialistisch, idealistisch, moralisierend: Saul K. Padover . . . . . . 324 3.1.6 Der Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 3.1.7 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 3.2 Zwischen Hollywood und Militärregierung, zwischen „Schönheit und Krieg“ – Walter Klinger als Kulturpropagandist und Filmoffizier . . . . . 352 3.2.1 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 4 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 5 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 5.1 Kurze Kriegsbiografien aller österreichstämmigen MRBC-Absolventen und Kampfpropagandisten aus Camp Sharpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 5.2 Die Deutschsprecher: Das Military Intelligence Training Center in Camp Ritchie und seine österreichischen Absolventen im Kurzüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 6 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 7 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 8 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Primärquellen in Archiven, Bibliotheken und privaten Sammlungen . . . . . 511 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Zeitungen und nichtwissenschaftliche Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 9 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 10 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Einleitung „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz 30. März 1945. Rund um Jesberg, eine kleine, von dichten Wäldern und sanften Hügeln umgebene Gemeinde in Nordhessen, tobt der Krieg. Das Combat Com- mando B, eine aus verschiedenen Waffengattungen zusammengesetzte Einheit der 9. US-Panzerdivision,1 kämpft sich gegen die klar unterlegenen deutschen Ver- teidiger Richtung Norden vor.2 Die Amerikaner werden noch am selben Tag die Städte Bad Wildungen und Fritzlar erreichen und in nur fünf Wochen wird der Krieg in Mitteleuropa ein – für alle Beteiligten voraussehbares – Ende nehmen. Es wäre verständlich, wenn die amerikanischen „GIs“ so kurz vor dem Zusam- menbruch des Feinds danach trachten würden, jegliche Risiken zu vermeiden. Irgendwann werden ihre materielle Überlegenheit und die alliierte Hoheit über den deutschen Luftraum den Gegner schon zermürben! Dies gilt umso mehr für jene US-Militärs, die nicht als Infanteristen oder Panzersoldaten, sondern als „Paragraphtroopers“3 kämpfen. Also als Propagandaspezialisten, die sich mit Worten, Klängen und Bildern4 an die Wehrmacht und die deutsche Bevölkerung richten. Sie haben nicht die Aufgabe, feindliche Kämpfer zu töten, sie sind nicht gezwungen, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Vielmehr sollen sie auf den Gegner mit Appellen und Argumenten via Flugblatt und Lautsprecher einwirken und mit ihm über dessen kampflose Aufgabe „verhandeln“. Dies hilft nicht nur der US Army, sondern bewahrt letztlich so manchen Landser vor dem sinnlosen Heldentod für das tausendjährige Reich. Dennoch wagt sich an diesem Tag einer dieser psychologischen Krieger, näm- lich der „Technician 5th Grade Paul Eisler, 39129139, 2nd MRBC, 12th Army Group“, aus freien Stücken in einem offenen Geländewagen bis an die Spitze einer Panzer kolonne des Combat Commando B vor. Von dort versucht er, mithilfe mobiler Lautsprecheranlagen feindliche Kämpfer der 166. deutschen Infanteriedivision zum Strecken der Waffen zu bewegen. Eisler, Kommandeur eines kleinen „Pub- lic Address“-Propagandateams, gelingt dies ganz gut, denn hie und da leistet ein Häuflein von Wehrmachtskämpfern seinen Aufrufen Folge und ergibt sich. Als eine zirka zwanzig Mann starke deutsche Soldatengruppe mit erhobenen Händen auf die amerikanische Fahrzeugkolonne zukommt, taucht hinter ihnen plötzlich ein deutscher Offizier auf und erteilt ihnen offensichtlich den Befehl, sich unter © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 10 Einleitung keinen Umständen zu ergeben. Die Angesprochenen drehen sich ruckartig um und beginnen, von amerikanischen Schützen sofort unter Beschuss genommen, in das umliegende Waldgelände zu flüchten. Um die Fliehenden im Blickfeld zu behalten, lässt der US-Lautsprecheransager Eisler seinen Kraftfahrer ins freie Gelände vor- fahren. Während sein Kamerad in kompletter Missachtung ihrer beider Sicherheit ohne jegliche Deckung auf das offene Feld hinausfährt, redet der unter feindlichem Feuer stehende Eisler ununterbrochen auf die davonlaufenden Soldaten ein: Sie sollen doch den Befehl ihres Vorgesetzten ignorieren und sich ergeben! Sie wer- den in US-Gefangenschaft ordentlich behandelt werden! Vier der Angesproche- nen leisten der Aufforderung schließlich Folge, der Großteil der zwanzigköpfigen Gruppe, so berichtet ein US-Panzeroffizier später nüchtern, „was being killed.“ Im Ort Jesberg selbst lieferten Eisler und sein Kraftfahrer kurz darauf eine ähnlich haarsträubende Performance ab.5 Ein für die Armeezeitung Stars and Stripes tätiger US-Frontjournalist, der Eisler als sarkastischen und stolzen Soldaten beschreibt, gibt einen Wortwechsel wieder, den er Ende 1944 an der „Siegfried-Linie“ nach einem ähnlichen Lautsprechereinsatz Eislers notiert hatte: „It was a very successful broadcast“, Eisler said later. „How do you know?“, a soldier asked. „If they hadn’t heard me they wouldn’t have shot at me. If they don’t shoot, I am very disappointed.“ The soldier said he knew a lot of actors. But Eisler is the first one who ever demanded that his audience shoot at him.6 Auch wenn der postheroische Historiker solchen reißerischen „Schlachtgesängen“ und übertriebenen Propagandawirkungsberichten von amerikanischen Militärs mit Skepsis gegenübersteht, kann man festhalten: Paul Eisler war kein verkopfter und risikoscheuer Schreibtischmensch, der nur am „publizistischen Scharmützel“7 teil- nahm, sondern ein forscher Kampfpropagandist. Ein Mann mit Show-Attitüde. Die Offiziere der 9th Armored Division waren vom Mut Eislers, der ihrer Meinung nach mit seinen intuitiven Handlungen und seiner rhetorischen Verve nicht nur feindliche Kämpfer zur Aufgabe überredet, sondern vermutlich auch menschliche Verluste innerhalb der Truppe verhindert hatte, derart beeindruckt, dass er den Bronze Star erhielt.8 Später wurde ihm noch das Purple Heart verliehen. Die Taten Eislers und seines Fahrers Charles Leveille, der am Tag nach dem Einsatz bei Jesberg von einer feindlichen Panzerfaust tödlich verwundet wurde,9 sind nicht nur militärisch gesehen spektakulär, sondern auch von hohem symbo- lischen Wert für ihn und sein „Volk“: Denn Paul Eisler war kein gewöhnlicher US-Soldat. Er war ein 1938 aus Wien geflüchteter Jude, der in der Uniform der amerikanischen Siegermacht auf seinen Heimatkontinent zurückgekehrt war. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz 11 1 Der Exilösterreicher und Lautsprecher-Ansager Paul Eisler (l. mit bizarrer Sprechvorrichtung im Ge- sicht) und sein Fahrer Charles Leveille (r.) im Einsatz, März 1945 Im Bauch eines heillos überfüllten Truppenschiffs hatte er den Atlantik über- quert, um hier, im Städtchen Jesberg, wo am Beginn der NS-Herrschaft rund 70 Juden unter etwa 1.000 Einwohnern gelebt hatten, aber zum Zeitpunkt der „Reichskristallnacht“ nur mehr vier jüdische Familien übriggeblieben waren,10 als Befreier einzuziehen. So hatten die Braunhemden und ihre Mitläufer und Hel- fer im „Bösartigkeitsfurioso“ jener Zeit11 nicht nur die örtliche Synagoge zerstört, sondern mannigfaltige Repressalien gegen die Mitbürger mosaischen Glaubens ausgeübt. Jüdische Familien, wie etwa jene des Teenagers Manfred Katz, wurden nach Amerika vertrieben.12 Auch Eisler, der zur Vernichtung durch Erschießen, Erschlagen, Erkranken, Überarbeiten, Verhungern oder Vergasen vorgesehene österreichische Jude, hatte sich über den Ozean gerettet; nun sollte er als Laut- sprecher-Propagandist sein Leben dafür riskieren, deutsche Orte wie Jesberg von den Nationalsozialisten zu befreien. Der Flüchtlingssoldat Paul Eisler, ein Schicksalsgenosse des Manfred Katz aus Jesberg, gehörte zu den sogenannten „Ritchie Boys“ bzw. „Sharpe Boys“ des Zwei- ten Weltkriegs: intellektuell wendige, großteils junge Männer, die scharenweise aus dem „Dritten Reich“ geflohen waren und als Neo-Amerikaner aufgrund ihrer Kenntnisse über den deutschen Feind, seine Mentalität, seine Kultur und seine © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 12 Einleitung Sprache als nachrichtendienstliche und propagandistische Schlüsselkräfte des US-Militärs eingesetzt wurden. Ausgebildet in einem geheimen Armee-Komplex namens Camp Ritchie und nunmehr Mitglied von auf Kampfpropaganda speziali- sierten Mobile Radio Broadcasting Companies (MRBCs), hatten Menschen wie Paul Eisler die Möglichkeit, der Shoah und der ihnen vom NS-Regime zugewiesenen Opferrolle zu entfliehen. Sie konnten aktiv am Kampf gegen Hitlerdeutschland mitwirken. Durch ihre persönliche Teilnahme am Krieg gegen das Deutsche Reich wurden sie gewissermaßen vom victim zum victor, vom Verfemten, Verfolgten und Vogelfreien13 zum siegreichen Befreier, der – wie Eisler – oft mit einigem Selbst- bewusstsein auftrat. Als Zeitgenosse des frühen 21. Jahrhunderts mag man hier gar an Quentin Tarantinos jüdischen Rächertrupp der Inglourious Basterds den- ken.14 Jene Exilösterreicher, deren Kriegsbiografien in diesem Buch wissenschaftlich nachgespürt wird, hatten durch ihr Wirken als US-Armeepropagandisten auch die Möglichkeit, einer prekären Flüchtlingsexistenz zu entgehen und auf eine bessere Position innerhalb der amerikanischen Einwanderergesellschaft vorzurücken. Und wie folgendes Zitat eines Sohnes eines berühmten Schriftstellers augenzwinkernd darlegt, ist die Geschichte der im Military Intelligence Training Center Camp Rit- chie ausgebildeten Propagandakrieger nicht nur als solche faszinierend, sondern auch mentalitäts-, sozial- und kulturgeschichtlich interessant. „In der Baracke [in Camp Ritchie], in der ich untergebracht war“, so der Zeitzeuge, „gab es mehrere deutsche Intellektuelle, die nach der Beendigung des Kurses zu Propagandaein- heiten zusammengefaßt werden sollten. Vor dem Zusammenbruch der deutschen Armee sollten von ihnen verfaßte Flugzettel hinter den deutschen Linien abge- worfen und von ihnen geleitete Radiostationen – die sogenannten Soldatensen- der – Sendungen in die besetzten Gebiete und nach Deutschland ausstrahlen; nach der Besetzung Deutschlands sollten sie das geistige Leben in Deutschland reorganisieren, deutsche Zeitungen redigieren und Unterricht und Unterhaltung wieder in Gang bringen – im demokratischen Sinn. Die bekanntesten Männer, die für diese Aufgaben ausersehen waren, waren Stefan Heym, Oskar Seidlin und Klaus Mann. Klaus Mann hatte auf seinen Spind eine Karikatur geklebt, die ihn im Gespräch mit seinem Vater Thomas zeigte: ‚Hier steht deutlich, daß Kinder eines Genies keine Genies sind, Vater: Folglich bist Du kein Genie!‘“15 Diese autobiografische Erinnerung des Wiener Sozialisten Joseph Simon an den einzigartigen Raum namens Camp Ritchie16 gibt nicht nur einen plastischen Einblick in das Thema dieser Studie; Simons Aussage über dieses spezielle US- Militärlager mit ebenso speziellen „Insassen“ ist auch ein geistiger Link zu einem gleichzeitig erschienenen Buch, das ebenfalls Teil eines Forschungsprojekts zu den österreichischen Ritchie Boys im Zweiten Weltkrieg ist.17 Simons Zeilen und © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz 13 die Aktivitäten des Lautsprecherpropagandisten Eisler veranschaulichen daher, dass die US Army (prominente) Soldaten mit europäischem Migrationshinter- grund zusammentrommelte, um sie später zu einem besonderen Kriegseinsatz in ihre ehemalige Heimat zurückzuschicken. In diesem Werk rücke ich eine Rand- erscheinung des nachrichtendienstlichen Komplexes von Camp Ritchie ins Zen- trum der Erzählung: So erhielten Paul Eisler und seine Kameraden ihre – in der damaligen Zeit als Pionierleistung zu wertende – Ausbildung in psychologischer Kriegsführung nicht im schön gelegenen und komfortablen Hauptlager Camp Ritchie in den Blue Ridge Mountains von Maryland. Hier bildetete der Militär- nachrichtendienst tausende deutschsprachige Exilanten vor allem in der Kunst des Kriegsgefangenenverhörs, der „Interrogation of Prisoners of War“ (IPW), aus. Eis- ler besuchte seinen Propagandakurs vielmehr in einer bescheidenen Dependance von Camp Ritchie, einem verdreckten Barackenlager nahe der geschichtsträchtigen Stadt Gettysburg in Pennsylvania, das sich Camp Sharpe nannte. Daher sind alle nach dieser Einrichtung benannten „Sharpe Boys“, die in diesem Buch erwähnt werden, eine Unterkategorie bzw. Spezialform der „Ritchie Boys“. Über die klas sischen Ritchie Boys und Militärverhörer wird Robert Lackner im Anhang genauer berichten, hier konzentrieren wir uns auf die Propagandaspezialisten aus Camp Sharpe. Die von schätzungsweise rund 800 Sharpe Boys,18 darunter mindestens 41 Österreicher,19 durchlaufene Propagandaschule in Camp Sharpe war nur ein Nebenschauplatz des Kriegsgeschehens und eine kleine Nische im Mikrokosmos von Camp Ritchie, das sich mehr mit der Nachrichtengewinnung über den Feind (militärische Intelligence) als mit Nachrichtenproduktion für den Feind (Militär- propaganda) befasste.20 Die oben erwähnten Erinnerungen des Zeitzeugen Joseph Simon und dieses Buch als Ganzes zeigen allerdings auch: Der geistesgeschicht- liche Impact der kleinen Propagandatruppe war groß. Simons Text arbeitet zudem heraus, wie sehr sich die aus Europa geflohenen und sich in Camp Ritchie und Camp Sharpe wiederfindenden Dichter und Denker21 im Spannungsfeld zwischen den Polen Militär und Journalismus/Literatur/Kunst bewegten. Der in der zuvor zitierten US-Armeezeitung mit einem Schauspieler gleichgesetzte „Psycho Boy“22 und Lautsprecheransager Paul Eisler agierte also in einem Umfeld, in dem fein- fühlige Bücher- und Bühnenmenschen mit bodenständigen Kriegshandwerkern zusammenprallten. Bei aller Dramatik jener Zeit sollte dieses ungewöhnliche gesellschaftliche Setting auch für so manch Schmunzeln im harten Kriegsalltag sorgen. So sind Robert Lackner und ich bei unserem Ritchie-Boys-Projekt auf Militärakten und Propagandareports gestoßen, in denen von „Flohdompteuren“ namens Hoosenbottom23 oder von „Hotzenplotz“-Garnisonen die Rede ist. Lange weile kam bei der Quellenlektüre selten auf. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 14 Einleitung Das schmucklose Propagandalager Camp Sharpe und seine alles andere als farb- losen Soldaten bzw. „Psychokrieger“ stellten eine völlig neuartige Ausbildungs- sparte des US-Militärs dar, die erst nach einigen Geburtswehen – und unter tat- kräftiger Mitwirkung der deutschsprachigen Exilintelligenz – geschaffen werden konnte. War die geistige Tätigkeit der dort publizistisch geschulten Österreicher später am Schlachtfeld nicht kriegsentscheidend, so haben diese nicht gerade mundfaulen und humoristisch begabten Menschen viele Spuren in Archiven, Büchern und Medien hinterlassen: Weil ihre wichtigste Waffe das geschliffene Wort war, haben die Sharpe Boys im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht viele kulturelle Artefakte wie Radiomanuskripte, Flugblatttexte und „Moralana- lysen“ in die Welt gesetzt. Nach dem Krieg haben sie eifrig ihre Memoiren und „Tatsachenberichte“24 über ihre Ausbildung in Camp Ritchie und Camp Sharpe und den Einsatz in verschiedenen Propagandakompanien in Europa veröffent- licht. Als geübte Kommunikationspraktiker und fantasievolle Wortkünstler eta- blierten sie dadurch einen breiten, bis heute nachwirkenden Referenzdiskurs in Bezug auf ihre Propagandatätigkeit für die US-Armee. Neben der Möglichkeit, der Verfolgung durch das NS-Regime zu entgehen und als österreichische Exil- widerstandskämpfer für die amerikanische „Anlehnungsmacht“ von außen gegen eben jenes Regime zu kämpfen,25 konnten diese vielfach pazifistisch gesinnten und dem soldatischen Habitus wenig zugeneigten Flüchtlinge auch ein Identi- tätskonstrukt errichten, das ihnen half, ihren Kriegsdienst als Propagandasolda- ten und Meister der „Buchstaberei“26 mit Sinn zu erfüllen. Natürlich bogen sie sich in ihren Memoiren und Kriegsberichten auch die eine oder andere histori- sche Begebenheit zurecht. Anstatt den deutschen Feind, also Männer, mit denen sie wenige Jahre zuvor in Wien oder Innsbruck vielleicht die Schulbank gedrückt hatten, mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen, sollten die österreichischen Psychokrieger aus Camp Sharpe ihn mit gewitzter Rhetorik und griffigen Argumenten in einen Diskus sions- und Aushandlungsprozess verwickeln. Dieser war weitgehend gewaltfrei. So schreibt der scharfsichtige und sich im Krieg an der Seite mehrerer Haupt- figuren dieses Buchs wiederfindende US-Propagandasoldat Leon Edel, dass er diese Form der Kriegsführung gegenüber dem von sadistischen Drill Sergeants27 eingebläuten Job des Kämpfens und Tötens eindeutig bevorzugt habe. Während andere Soldaten, darunter tausende exilösterreichische Neo-Amerikaner, in regu- lären Kampfeinheiten „auf Menschen schießen, Menschen totschießen“ mussten,28 hatten die Propagandakrieger dieses Buchs das Privileg, auf dem Feld der Sprache zu kämpfen – mit ihrem Intellekt, ihrer Kreativität und ihrem Einfühlungsvermö- gen. Nicht nur im körperlichen Sinne, sondern auch aufgrund ihres Gemüts waren © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz 15 viele dieser Männer nicht wehrdiensttauglich im Sinne von kampftauglich. Doch vermögen Geistesmenschen und Künstler mit Geschriebenem oder Gesproche- nem ohnehin mehr zu erreichen als mit der Waffe in der Hand.29 Edel, Mitglied der in Camp Sharpe ausgebildeten Third Mobile Radio Broadcasting Company, legt in seiner Autobiografie ein idealistisches Mission Statement der Sharpe Boys dar: In its stripped down form, then, our mission was to inform, comfort, and convince. In certain situations in limited battle, we would be using vocal persuasion – a human, rather than bestial behavior. We would be substituting words for gestures. We would employ our vocal cords, aided by microphones and loudspeakers and various kinds of print, to send messages rather than death-dealing missiles. It invoked the principle of inquiry and negotation, a tremendous step from the training given to us […] during bayonet drill. As I prepared to be convoyed to battlefields, then, I could at least rationalize my presence in the Army. I was now a „media soldier“.30 „Informieren, beruhigen und aufklären“: Wer sind nun die exilösterreichischen Pro- tagonisten dieses Buchs, die diesem Auftrag nachkamen? Es sind Leute wie der umtriebige Journalist und exzentrische Medienorganisator Hans Habe, der nicht nur Chefausbilder der Propagandasparte in Camp Ritchie bzw. Camp Sharpe war, sondern die redaktionelle Oberhoheit bei großangelegten deutschsprachigen US- Propagandaunternehmungen an der europäischen Süd- und Westfront innehatte, Flugblätter konzipierte und persönlich im Radio sprach; Leute wie Jacob Ten- nenbaum, ein junger, jüdischer Nähmaschinenhändler aus Wien, der während des Kriegs zum Chef-Nachrichtenoffizier der Kampfpropagandaabteilung der 1. US- Armee und zu einem der führenden „Moralanalysten“ in Bezug auf die feindliche Wehrmacht aufstieg; Leute wie Emanuel Rapoport, ein studierter Ingenieur, der auf Lautsprecheransagen und „Moralverhöre“ von deutschen Landsern spezialisiert war; Leute wie Francis Seidler, ein dem Ständestaat-Regime nahestehender Jour- nalist und Verhörsoldat, der auch in kontroverse besatzungspolitische Aktivitäten involviert war; oder Leute wie Kurt Wittler, ein gelernter Blechschlosser, der als führender Redakteur und Texter der Propagandatruppe von George Pattons 3. US- Armee in der Königsdisziplin der psychologischen Kriegsführung, dem taktischen Flugblatt, reüssierte. Die vielseitige und einfallsreiche Tätigkeit dieser und anderer dramatis personae und ihre Propagandawerke werden hier nicht nur beschrieben, sondern mit diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Methoden und Ansätzen vertieft. Und auch wenn die Kampfpropaganda von geflohenen Öster- reichern in US-Uniform militärisch gesehen eine unbedeutende Nebenfront des Kriegs, eine Art virtual reality, darstellte, die nur eine kleine Minderheit von feind- © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 16 Einleitung lichen Kämpfern psychologisch umgedreht hat: In symbolischer, ideengeschicht- licher und kultureller Hinsicht ist dieser „Widerstand von außen“ bemerkenswert. Die prägenden Akteure dieses Buchs sind Stimmen des „anderen Österreich“, jüdische Stimmen vor allem. Stimmen des Widerstands, die trotz der eng gesteck- ten Grenzen der Propagandawirksamkeit zwischen 1943 und 1945 von tausenden, ja zehntausenden deutschen und österreichischen Wehrmachtssoldaten und Zivi- listen gehört wurden. Diese Stimmen erinnerten die deutsche „Volksgemeinschaft“ eindringlich daran, dass dort draußen auch andere Kräfte und andere „Wahrheiten“ am Werk waren als jene, die ihre Heimat und halb Europa in den Abgrund geführt hatten. Doch Achtung! Als Historiker darf man nicht der Versuchung erliegen, diesen transnationalen (Exil-)Widerstand31 zu sehr durch die österreichpatriotische Brille zu betrachten sowie „Ambivalenzen zu harmonisieren oder sich nur das her- auszupicken, was politisch genehm“ ist.32 So kämpfte nicht jeder exilösterreichische Propagandasoldat mit dem Herzen für Österreich – viele kämpften mehr gegen Hitler oder für ihr amerikanisches Gastland. An ihr Herkunftsland hatten die aus Österreich stammenden (und zum Großteil jüdischen) Sharpe Boys ja nicht nur positive Erinnerungen. Dies wirkte sich natürlich auf die Motive für den Propa- gandakampf in US-Uniform aus. Treffend bezeichnet Christian Staas den Wider- stand gegen Hitler als buntes, mitunter auch kognitive Dissonanzen erzeugendes Wimmelbild.33 Bei der auf und gegen Deutschland gerichteten Exilpropaganda auf westalliierter Seite kamen zudem viele Stimmen zu Wort und der eine oder andere Wortführer war nach heutigen Maßstäben alles andere als ein lupenreiner Demokrat oder prinzipientreuer Antifaschist. Bei all meinen persönlichen Sym- pathien für den kreativ und feurig geführten geistigen Kampf von klugen Exilan- ten gegen die Barbarei des Nationalsozialismus will dieses Buch nicht der naiven Idealisierung der austro-amerikanischen Mediensoldaten der US-Armee das Wort reden. In Hinblick auf diese bunte Personengruppe stelle ich mir daher vor allem die Frage „nach den Handlungsspielräumen eines jeden Einzelnen, ob Kommunist oder Christ, Zivilist oder Offizier, Demokrat oder nicht“.34 Dieser jeweilige persön- liche Spiel- und Manövrierraum wurde von den historischen Akteuren mitunter sehr unterschiedlich ausgenutzt und ausgestaltet. So werde ich auf den folgenden Seiten so manche persönliche Heldensaga relativieren und so manchen Propagan- datriumph in einem anderen, neuen Licht erscheinen lassen. Dieses Werk stellt wie erwähnt nicht nur eine von zwei Buchpublikationen des umfangreichen Ritchie-Boys-Projekts dar. Es knüpft auch an meine biografischen Überblicksarbeiten zum Wirken von Exilösterreichern in US-Kriegsinstitutionen des Zweiten Weltkriegs an35 und verbindet ausgewählte Fallstudien über die Pro- pagandaartisten aus Camp Ritchie und Camp Sharpe mit der Ereignisgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE „Schüsse sind mein Applaus“ – Paul Eisler im Einsatz 17 und der Propagandaforschung. Wie bereits im auf nachrichtendienstliche Akteure fokussierenden Band von Robert Lackner wurden darüber hinaus sämtliche bio- grafischen Informationen über den schulischen, beruflichen und militärischen Wer- degang aller im Feld der psychologischen Kriegsführung eingesetzten Österreicher in einer Datenbank erfasst. Während bei Lackner insgesamt 494 österreichstäm- mige Ritchie Boys, also vor allem klassische Kriegsgefangenenverhörer, aufgelistet sind,36 habe ich aus seinem Gesamtsample 41 Sharpe Boys, also Kampfpropagan- disten, herausgefiltert. Unter Letzteren befanden sich 24 Juden, acht Protestan- ten (im weiteren Sinne) und vier Katholiken sowie ein Soldat ohne Bekenntnis.37 Die auf den folgenden Seiten dargestellten Fallstudien zu dieser Personengruppe werden am Ende durch Kurzbiografien zu allen 41 Akteuren ergänzt. Aus dem „Heer von Gestalten im Hintergrund“ (Daniel Kehlmann)38 können hier aber nur einige wenige Menschen herausgegriffen und in Form einer detail- lierten Kriegsbiografie vorgestellt werden. Viele Schicksale, Dramen, Anekdoten und Erfolgsgeschichten verbergen sich nach wie vor hinter hunderten Datenbank- einträgen und einem riesigen Wust aus digital fotografierten Akten. Nicht alle exil- österreichischen Ritchie&Sharpe Boys haben zudem Memoiren oder nachhaltige Spuren in Dokumenten hinterlassen. Sie bleiben als historischer Akteur sowie als erlebendes Wesen fast völlig im Dunkeln. Wie Millionen anderer Soldaten des Zweiten Weltkriegs liefen und laufen diese Männer Gefahr, nur als „Flecken flat- ternden Lebens, aus denen ein Vogelschwarm bestand“, wahrgenommen zu wer- den.39 Daher habe ich versucht, dem Bild, das Lucien Fevbre von einem mitfühlen- den Historiker zeichnet, gerecht zu werden und die Geschichte der hier ins Licht geholten Menschen stellvertretend für alle anderen mit Leidenschaft zu erzählen: Wer immer behauptet Historiker zu sein, und sich nicht bemüßigt fühlt den Menschen aufzuspüren, wo dieser auch verborgen sein mag, den lebenden, fühlenden Menschen voller Leidenschaft, Feuer und Temperament – der ist ein stumpfer Geist.40 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 1 Die Experimentalphase: Erste Propagandaeinsätze im Mittelmeer und Gründung eines innovativen „Psywar“-Camps in Gettysburg 1.1 Exzentrische „Confetti Soldiers“: Zur kritischen Lage der militärischen US- Propaganda zu Kriegsbeginn [T]he precipitous entry of the United States into total war and the consequent rapidity with which matters had to be organized, allowed little opportunity to train men in the skills appropriate to sykewar [i. e. psycho logical warfare], most of which are normally acquired by sustained work over a long period. Here, as elsewhere, improvisation was the normal procedure. Daniel Lerner 1 [They are] aggressively imaginative and administratively irresponsible symbol-manipulators, representing the war’s disorganized „characters“. Derselbe über bestimmte Kampfpropagandisten der US-Armee 2 Beschäftigt man sich heute mit der schier unüberblickbaren Menge an Flugblät- tern, Rundfunkmanuskripten, Lautsprecheransagen und anderen Propaganda- appellen, welche die US-Armee während des Zweiten Weltkriegs an die gegen sie kämpfenden Streitkräfte gerichtet hat, so ist es erstaunlich, dass in den Rei- hen des Generalstabs des War Department im Jahr 1941 nur ein einziger Offizier mit nennenswerter Propaganda-Erfahrung anzutreffen war.3 Von einer bereits im (Vor-)Kriegsmodus operierenden Abteilung für Psychologische Kriegsführung und Kampfpropaganda waren die amerikanischen Streitkräfte zu dieser Zeit noch weit entfernt. Dass die Entscheidungsträger im Kriegsministerium und im Heer lange Zeit zögerlich mit der Waffe namens Propaganda umgingen, ist ein bemerkens- werter Befund, wenn man bedenkt, dass die Armee der Vereinigten Staaten die mit Abstand traditionsreichste Propagandainstitution des Landes ist. Obwohl man in diesem Fall noch kaum von den Taten einer institutionalisierten US-Streitmacht sprechen kann, hat man auf amerikanischer Seite bereits in den Revolutionskriegen Versuche unternommen, deutsche Soldaten, die für die Briten kämpften, mittels Überzeugungsarbeit zur Desertion zu bewegen.4 Im Ersten Weltkrieg wiederum betrieb der Nachrichtendienst der US-Armee (Military Intelligence Division, MID bzw. G-2)5 unter Federführung von umtriebigen Offizieren wie Heber Blanken- horn aktiv Kampfpropaganda gegen die Mittelmächte. Blankenhorn, ein Gewerk- schaftsjournalist und findiger Kopf, der im Zweiten Weltkrieg ein bemerkenswertes Comeback als Meinungsmacher feiern sollte, war damals Leiter der „Psychologic © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Exzentrische „Confetti Soldiers“ 19 Subsection under MI-2, Military Intelligence Branch, Executive Division, War Department General Staff“6 und kommandierte ab Sommer 1918 die Propaganda- abteilung G-2D beim Stab der amerikanischen Expeditionsstreitkräfte in Euro- pa.7 Diese aus nur zwei Dutzend Mann (darunter befand sich übrigens der später zu Berühmtheit gekommene Walter Lippmann) bestehende „Press and Censor ship“-Einheit schuf das erste US-Kampfpropagandaflugblatt des Kriegs. Mit einer Auflage von 2.000 Stück richtete es sich an österreichisch-ungarische Soldaten, die in der Nähe des französischen Orts Richecourt gegen die Alliierten kämpften und angeblich mit großem Interesse das Flugblatt studierten.8 In Folge wurden binnen weniger Wochen drei Millionen Flugblätter mit einfallsreichen Mitteln an den feindlichen Mann gebracht.9 Die Psychological Subsection des US-Mili- tärnachrichtendiensts analysierte und evaluierte wiederum die Wirkungen sol- cher Texte auf die feindlichen Truppen und Zivilisten10 – diese gegen Ende des ersten Weltkriegs begonnene und ab 1943 wieder aufgenommene Arbeit solcher „Moralanalysten“ im Dienst der US-Armee wird auch in diesem Buch intensiv behandelt werden. Da jedoch zwischen 1918 und 1941 kein „psychological warfare office“ innerhalb der Armeestrukturen existierte, ging dieses Wissen aus dem Ers- ten Weltkrieg weitgehend wieder verloren und musste quasi neu erlernt werden.11 Trotz der gesammelten Erfahrungen und Teilerfolge in Bezug auf psycholo- gische Kriegsführung im Feld hatte Propaganda als Kommunikationstechnik in Folge also einen schweren Stand in den USA. Im militärischen Bereich gab es dafür materielle und strukturelle Gründe: Da die in der Zwischenkriegszeit chro- nisch unterfinanzierte und schlecht ausgerüstete US-Armee12 in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs sich mehr mit der existenziellen Frage der Wiederauf- rüstung und Massenmobilisierung als mit der scheinbar unwichtigen Frage der Propaganda befasste, überließ sie das Feld der psychologischen Kriegsführung zunächst weitgehend den zivilen Institutionen: nämlich dem Office of War Infor- mation (OWI) und dem Kriegsgeheimdienst Office of Strategic Services (OSS) mit seiner Abteilung für psychologische Kriegsführung.13 Während das vom Journa- listen Elmer Davis geführte und der Roosevelt-Regierung ideologisch naheste- hende OWI als staatliche PR-Agentur offizielle Kriegsinformationen – sogenannte „weiße Propaganda“ – produzierte, trat die Propagandasparte des vom hochdeko- rierten Kriegshelden und unorthodoxen Republikaner William Donovan geleite- ten OSS subversiv und aggressiv auf und schreckte auch vor Desinformation und Fake News – der „schwarzen Propaganda“ also – nicht zurück.14 Doch wirkten sich hier nicht nur die wirtschaftlichen und militärstrategischen Zwänge der Armee sowie die Vorherrschaft ziviler Kräfte ungünstig aus. Vielmehr gab es auch star- ken gesellschaftlichen Widerstand gegen jeglichen staatlich sanktionierten Einsatz © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 20 Die Experimentalphase von Propaganda. In den Augen vieler Amerikaner pervertierten die teils offen ras- sistischen antideutschen Hetzkampagnen des für Inlandspropaganda zuständigen Committee of Public Information während des Ersten Weltkriegs die idealistischen und moralisch hochtrabenden Grundsätze der Präsidentschaft Woodrow Wil- sons. Das Wort Propaganda war seitdem „beschädigt“ und im gesellschaftspoliti- schen Diskurs der Nach- und Zwischenkriegszeit zum Reizwort geworden. Als die Nationalsozialisten in den 30er-Jahren den Propagandabegriff offensiv für sich in Anspruch nahmen und sogar ein ganzes NS-Ministerium danach benannten, wuchs dieses Misstrauen umso mehr. Im historischen Bericht der Abteilung für psychologische Kriegsführung der 12. Armeegruppe wird mit klagendem Unter- ton darüber berichtet, dass Propaganda in der amerikanischen Gesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg generell als „outlaw“ und „malignant factor in life, whet- her during peace or war“ betrachtet wurde.15 Das breite Misstrauen gegenüber die- sem wenig erprobten Instrument der Kriegsführung kam dem tief verwurzelten Konservativismus vieler Militärs und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber jeg- licher Neuerung natürlich entgegen. Warum sich die Finger verbrennen mit einer Kriegswaffe, die kaum bekannt, kaum erprobt und noch dazu allgemein unbeliebt ist? Oder wie Allan Winkler es ausdrückt: At the start of World War II the possibility of a role for military propaganda seemed remote indeed. American military officials, understandably skeptical of any unproven tech- niques, had to be persuaded of the ultimate utility before they would make any moves.16 Es gehörte damals zum inhaltlichen Mainstream der US-Streitkräfte, Propaganda nicht als geistige und sozialkommunikative Waffe zu betrachten, welche die kon- ventionelle militärische Kriegsführung unterstützte – oder in manchen Fällen sogar ersetzte –, sondern in ihr mehr eine lästige, zeitgeistige Grille oder mora- lisch verwerfliche Erscheinung zu sehen, die den Erfolg im Krieg eher verhindert als beschleunigt. Letztlich interessierten sich die meisten Offiziere für prakti- schere, unmittelbarere und greifbarere Dinge als den Krieg der Worte.17 Und selbst dann, wenn die psychologische Kriegsführung sich im Einsatz bewährte, zog dies nicht automatisch Anerkennung nach sich. So zitiert ein 1942/43 in Nordafrika als Frontpropagandist eingesetzter OWI-Mitarbeiter die schroffen Worte eines ranghohen US-Kommandeurs, der sich an eine vor Ort tätige Kampfpropagan- daeinheit gewandt hatte: Look, you confetti soldiers! I’ve had this division for 20 months teaching them how to kill the enemy with rifles, machine guns, hand grenades and mortars. You’ll ruin their © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Exzentrische „Confetti Soldiers“ 21 morale if you show them how prisoners can be taken with little pieces of paper. Why don’t you go and cut your paper dolls back in Algiers?18 Neben der allgemeinen Skepsis gegenüber dem Einsatz von Propaganda waren auch zwischenmenschliche Gründe und soziologische Faktoren im Spiel: Viele Offiziere der westalliierten Invasionsstreitkräfte in Europa, darunter etwa Gene- ral Eisenhowers knorriger und scharfsichtiger Stabschef Walter Bedell Smith,19 stuften die Propagandaleute als „exzentrische Primadonnen“ und „verrückte Rand- gruppe“ ein20 (oft taten sie das nicht ganz zu Unrecht). Als „Konfettisoldat“ hatte man es innerhalb der US-Armee in der Frühphase des Kriegs also nicht leicht. Dennoch gab es vereinzelte Initiativen, die vorausschauend auf die Einrichtung einer militärischen Propagandaabteilung abzielten. So hatte das War Department bereits Ende 1940, also ein Jahr vor Kriegseintritt, eine Studie über Propaganda als „little understood weapon in war“ ausarbeiten lassen. Neben anderen grundlegen- den Überlegungen zu Funktion, Aufgaben und Struktur von möglichen Kriegspro- pagandaeinheiten unter militärischer Führung machte sich deren Verfasser, Major Robinett, auch Gedanken über das künftige Personal von „Publicity“-Truppen: There are certain basic qualifications which must be possessed by all publicity personnel if the work is to be successfully accomplished. Each individual must have natural apti- tude for the work in addition to basic training and technical proficiency in the medium through which he works. In addition to these qualifications, these personnel must have a thorough knowledge of the group to whom they are to appeal. If the product is intended for allied, neutral, or enemy countries, they should have a thorough knowledge of the language, habits, customs, geography, history, and the ethnological, social, political, eco- nomic, labor, religious, psychological, and military conditions of the countries concerned.21 Auf die künftige Einbettung soldatisch ausgebildeter Psychokrieger und PR-Spe- zialisten in die Kampfhandlungen regulärer Truppen wird im Propaganda-Grund- satzpapier ebenfalls eingegangen: „Military personnel engaged in publicity work with the troops“, so Robinett, „will be thouroughly trained in the arm to which they pertain. They will be selected from among those who have had appropriate training in one or more of the mediums of publicity [and] who have demonstrated by actual performance an aptitude in the arm or service they are to cover. They will live and work and fight with the unit to which assigned.“22 Wer konnte dem Desiderat eines „gründlichen Wissens“ über die Propagandaempfänger besser gerecht werden als jene intellektuell oder sprachlich oft hervorragend aufgestellten NS-Flüchtlinge, die kurz zuvor noch im Herzen der (zu erwartenden) Feindnation, dem Deutschen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE 22 Die Experimentalphase Reich, lebten und sich nun in den USA aufhielten, wo sie teilweise bereits den amerikanischen Waffenrock23 trugen? Robinetts Studie wurde jedoch nicht – wie ursprünglich geplant – als Grundlage oder „field manual“ für die Durchführung erster kriegsvorbereitender Maßnahmen in psychologischer Kriegsführung verwen- det, sondern wegen der damals vorherrschenden militärischen Prioritäten und der für Propaganda ungünstigen Meinungslage in der Bevölkerung für „zukünftige“ Aktivitäten auf die lange Bank geschoben24 – der Reformdruck war offensichtlich noch nicht hoch genug und von der Ausbildung und Aufstellung erster Kampf- propagandatruppen war man noch weit entfernt. Mitte 1941 – zeitgleich zur Gründung des zivilen Coordinator of Information (COI, Vorläufer des OSS) als ersten zentralen, auch Auslandspropaganda betrei- benden Geheimdienst – kam es auf Armeeseite dann doch zu konkreten Schritten auf dem Terrain der psychologischen Kriegsführung. So gelang es dem Assistant Secretary of War, John McCloy, einem der wenigen sich Gehör verschaffenden Propaganda-Befürworter, dem Generalstabschef George C. Marshall das Plazet zur Errichtung einer geheimen Special Studies Group (SSG) für psychologische Kriegsführung abzuringen.25 Diese Begriffe wie „Propaganda“ und „control of opi- nion“ in ihrem Namen tunlichst vermeidende Gruppe26 sollte nachrichtendienst- liche Koordinationsaufgaben übernehmen und dafür sorgen, dass Planungen zur psychologischen Kriegsführung bei Aktivitäten und „Policy“-Maßnahmen des War Department berücksichtigt werden. Die vom Offizier Percy G. Black gelei- tete SSG sollte in Propagandaangelegenheiten der Armee zuarbeiten, als Binde- glied zu zivilen Propagandaämtern (dazu gehörte auch das auf Mittel- und Süd- amerika ausgerichtete Office of the Coordinator of Inter-American Affairs) fungieren und unter anderem Ausgaben der Newsweek- und der Life-Magazine nach Europa schicken,27 um der NS-Bildpropaganda publizistisch und psychoästhetisch ent- gegenzutreten.28 Da diese eher akademische, in einer verwaisten Unterrichtsstube der George Washington University ihren „Stützpunkt“ habende, Studiengruppe keinen Draht zu militärischen und journalistischen Schlüsselfiguren fand und weder über gestalterisches Pouvoir noch Strukturen bzw. Räumlichkeiten verfügte, erwies sie sich letztlich als wenig einflussreich. Nur lose mit dem COI kooperie- rend, spielte sie angesichts des Wildwuchses von mindestens neun kaum aufeinan- der abgestimmten Institutionen, die in Washington In- oder Auslandspropaganda betrieben, keine wichtige Rolle.29 Die US-Armee, so resümiert Clayton D. Laurie, „failed to establish early control of propaganda and let it slip to the COI, OWI and OSS, all of whom were unwilling to cooperate with the military services“.30 Nach dem Kriegseintritt der USA begann sich der oberste Generalstab ( Joint Chiefs of Staff ) aus purer Notwendigkeit heraus mehr für militärische Propaganda © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
Florian Traussnig: DIE PSYCHOKRIEGER AUS CAMP SHARPE Exzentrische „Confetti Soldiers“ 23 zu interessieren, und im Frühjahr 1942 knüpfte das Joint Psychological Warfare Committee mit der Gründung der Psychological Warfare Branch des Militärnachrich- tendiensts G-2 (PWB/G-2) an die erfolglose SSG an.31 Das hier verwendete Kürzel PWB/G-2 ist übrigens nicht gleichzusetzen mit den letztlich viel bedeutenderen „PWB“-Kampfpropagandaeinheiten im Feld, bei denen die Protagonisten dieses Buchs schließlich scharenweise zum Einsatz kamen. Nicht zuletzt weil Militär- bzw. Kampfpropaganda seit dem Ersten Weltkrieg zum Zuständigkeitsbereich des Armeenachrichtendiensts gehörte,32 wurde PWB/G-2 der ebenfalls Anfang 1942 neu aufgestellten und verschlankten Military Intelligence Division zugeteilt, die mit dem Military Intelligence Service (MIS) einen eigenen operativen Arm bekom- men hatte.33 Der MIS zeichnete auch für die Ausbildung der Aufklärungs- und Propagandasoldaten in Camp Ritchie und später in Camp Sharpe – der „Helden“ dieses Buchs – verantwortlich. Die unter dem Kommando des kosmopolitischen West-Point-Absolventen und Geschäftsmanns Oscar Solbert stehende PWB/G- 2-Abteilung arbeitete ein paar Pläne und Papiere für die US-Armee aus, lieferte täglich eine brauchbare Analyse der Propaganda der Achsenmächte und legte auf Grundlage der bisherigen „lessons learned“ ein Combat Propaganda Bulletin vor.34 Letztlich erwies sich diese PWB/G-2-Stelle ebenfalls als kurzlebig und zahnlos und wurde von MID/MIS Ende 1942, also mitten im Krieg, aufgelöst. Solbert war es als politisch ungeschicktem „messenger boy“35 nicht gelungen, den Informationsfluss zwischen dem zivilen OWI und der Armee zu sichern, geschweige denn konkrete Propagandaoperationen vorzubereiten. Während etwa die ersten US-Kampftrup- pen und eine Vorhut von (vornehmlich zivilen) US-Propagandisten in Nordafrika anlandeten36 und das OWI mit „full-scale U. S. propaganda operations“ im Bereich des Rundfunks die Invasion begleitete,37 bestaunte der darüber nicht informierte Propaganda-Colonel herausgeputzte Huftiere in New York.38 Ende Dezember 1942 gelang es dem mit dem OWI rivalisierenden OSS dank der berühmten General- stabsdirektive „JCS/155/4/D“, kurzzeitig mit der alleinigen Durchführung der mili- tärbezogenen psychologischen Kriegsführung gegen den Feind betraut zu werden. Dies bedeutete den Todesstoß für die PWB/G-2-Abteilung Solberts – just zu jenem Zeitpunkt, als die Amerikaner im Mittelmeerraum Fuß zu fassen began- nen, schienen die US-Armee bzw. ihre G-2-Sparte nun zu einem unbedeutenden Akteur der psychologischen Kriegsführung degradiert worden zu sein.39 „Prior to the Torch operation“ (i. e. der angloamerikanischen Landung in Nordafrika), so liest man in den Akten, „the Army had prepared no psychological warfare plan for that campaign; it had made little, if any provision for personnel with proper training and background for propaganda or political intelligence functions; it provided no equipment table for psychological warfare needs.“40 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien ISBN Print: 9783205210191 — ISBN E-Book: 9783205210207
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