Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
Die räumliche Relevanz
berufsbedingter Nebenwohnsitze

Empfehlungen für die Transformation
des ehemaligen Postareals in Karlsruhe
Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
Impressum                                                        Inhaltsverzeichnis

Ein Forschungsprojekt finanziert durch den KIT-Strategiefonds.   4		         1. 	     Vorwort

                                                                 8		         2. 	     Projekthintergrund
Projektleitung:
Prof. Kerstin Gothe                                              10			                2. 1.   Theoretischer Hintergrund
KIT, Institut Entwerfen für Stadt und Landschaft
Prof. Dr. Caroline Kramer                                        18			                2. 2.   Expertenworkshop
KIT, Institut für Geographie und Geoökologie
                                                                 22		        3. 	     10 Thesen und deren Diskussion

Verfasser:                                                       24			                3. 1.   Konkrete Zielsetzung
Dr. Markus Kaltenbach
                                                                 24			                3. 2.   Örtliche Relevanz
KIT, Institut Entwerfen für Stadt und Landschaft
                                                                 25			                3. 3.   Regionale Strategien
Kooperation:
VOLKSWOHNUNG GmbH                                                26			                3. 4.   Zielgruppe
Uta Hellich, Anja Kulik
                                                                 27			                3. 5.   Relevante Teilgruppe
Mario Rösner, Anne Thieß
                                                                 30			                3. 6.   Nachbarschaftliches Zusammenleben
Zeichnungen und Grafiken:
                                                                 31			                3. 7.    Chance des Digitalen
Dr. Markus Kaltenbach
                                                                 32			                3. 8.   Nachhaltigkeit
Gestaltung und Satz:
Dr. Markus Kaltenbach                                            34		        4. 	     Testplanung

                                                                 34			                4. 1.    Kontext und Lage
Mitarbeit im Expertenworkshop:
Daniel Haselberger                                               36			                4. 2.    Transformation des Areals
KIT, Institut Entwerfen für Stadt und Landschaft
                                                                 38			                4. 3.    Planungsprämissen der Testplanung
Hanna Jäger
KIT, Institut für Geographie und Geoökologie                     40			                4. 4.   Städtebauliche Grundstruktur

Lektorat:                                                        44			                4. 5.    Prämisse der Adressbildung
Anna Schork
                                                                 46			                4. 6.    Prämisse der Zugänglichkeit
KIT, Institut Entwerfen für Stadt und Landschaft
                                                                 48			                4. 7.    Prämisse der Durchmischung
Bild Cover:
                                                                 58			                4. 8.    Prämisse der Funktionsüberlagerung
Dr. Markus Kaltenbach
                                                                 62			                4. 9.    Prämisse der Zahlen und Kenngrößen

Karlsruher Institut für Technologie (KIT)                        64			                4. 10.   Prämisse intelligentes Mobilitätskonzept
Kaiserstraße 12
                                                                 66		        5. 	     Anhang
76131 Karlsruhe
                                                                 66			                5. 1.   Verwendete Abkürzungen

                                                                 67			                5. 2.   Literaturverweise
Feb. 2021
                                                                 69			                5. 3.   Expertengespräche

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
1. 	      Vorwort                                                                                     Das Projekt „Daheim Unterwegs: informiert und nachhaltig Leben und
                                                                                                      mobil Sein“ verbindet wesentliche Themen der KIT Dachstrategie,
Diese Broschüre ist entstanden im Rahmen eines gemeinsamen                                            indem es die spezifischen Kompetenzen im Bereich „Natürliche und
Projektes mit Prof. Dr. Caroline Kramer (Institut für Geographie und                                  gebaute Umfeld“ zu eben diesen Themen miteinander vernetzt. Die
Geoökologie / Lehrstuhl für Humangeographie am KIT).                                                  Expertise der Architektur, die sich mit der nachhaltigen Gestaltung und
Die Fragestellungen dieses gemeinsamen Projektes waren: Wie verän-                                    Nutzung der Gebäude beschäftigt, kann mit den Forschungsschwer-
dert sich das Leben des postmodernen, hoch mobilen Menschen, der                                      punkten der Geographie verknüpft werden, die ökologische, soziale
nahezu immer und überall auf Informationen zugreifen kann, um seinen                                  und räumliche Prozesse auf einer anderen Maßstabsebene im Blick
Lebensalltag, seine Mobilität, seine Erwerbstätigkeit und seine Teilha-                               hat. Damit verband sich die Erwartung, dass mit diesem Projekt zu-
be am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu gestalten. Welche                                   kunftsweisendes Wissen für Gesellschaft und Umwelt geschaffen wird,
Veränderungen ergeben sich dadurch für die technische, bauliche, in-       Prof. Kerstin Gothe        das sozial, ökologisch und ökonomisch nützlich ist und dass das Pro-
                                                                           Fotografie: Ralf Stieber
frastrukturelle und soziale Umwelt dieser Menschen? Was geschieht,                                    jekt die Stadtforschung am KIT nachhaltig stärkt und zur Bildung eines
wenn zu jeder Zeit und überall Informationen über Orte, Ereignisse                                    Kompetenznetzwerkes mit Impulsen in den Feldern Mobilität und In-
oder Verkehrsmittel verfügbar sind, wenn sich diese Informationen zu                                  formation beiträgt.
raumbezogenem Wissen vernetzen? Inwieweit verändern sie das Ver-
halten des Einzelnen? Wieweit verändert sich das Verhältnis zwischen                                  Beim ersten Querschnittsthema sollten die Ergebnisse der Disser-
öffentlichem und privatem Raum, wenn Menschen sich gleichzeitig                                       tation von Markus Kaltenbach, die im Sommer 2020 abgeschlossen
auch in digitalen Räumen aufhalten?                                                                   wurde, in konkrete Empfehlungen für ein Planungs- oder Bauvorha-
Dies spielt gerade für die räumlichen Angebote eine Rolle, denn diese                                 ben in Karlsruhe überführt werden. Die Testplanung soll spezifische
verändern sich infolge ihrer Langlebigkeit deutlich langsamer als etwa                                Wohnangebote für Multilokale in eine Arealsentwicklung integrieren
Veränderungen der Informations- und Kommunikationstechnologie.                                        und mit einem Dienstleistungsangebot ergänzen. Die enge Anbindung
Auf diese Entwicklungen auf unterschiedlichen Raum- und Zeithori-                                     der Stadtforschung an konkrete Entwicklungen in Karlsruhe sollte die
zonten sollte das Projekt eingehen und anhand zweier ausgewählter                                     Positionierung des KIT in der Stadtgesellschaft unterstützen.
Querschnittsthemen Potenziale sowohl für baulich-technologische als
auch räumlich-planerische Maßnahmen bzw. Innovationen identifizie-                                    Diese Erwartungen sind aus meiner Sicht in dem Projekt hervorragend
ren. Die beiden Themenschwerpunkte waren:                                                             erfüllt worden. Durch die Kooperation mit dem Stadtplanungsamt und
                                                                                                      der VOLKSWOHNUNG entstand ein fruchtbarer Diskurs für eine kon-
1. Die räumliche Dimension residenzieller Multilokalität (Archi-                                      krete Planungsaufgabe, nämlich die Überplanung des Postareals am
tektur / Stadtplanung): Immer mehr Menschen leben und arbeiten                                        Bahnhof in Karlsruhe. Markus Kaltenbach hat anlässlich dieser Aufga-
an mehreren Orten. Die Dissertation von Markus Kaltenbach, auf der                                    be nicht nur konkrete Planungsempfehlungen aus seiner Dissertation
das Architekturprojekt aufbaute, untersuchte, wie diese Orte der-                                     abgeleitet, sondern sie auch im Wege konkreter Entwurfsvorschläge
zeit beschaffen sind. Daran anknüpfend sollte gefragt werden, wie                                     überprüft und vorgestellt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Anregungen
Angebote für Wohnung und Quartier für diese hoch mobilen Men-                                         ihren Weg in die weitere Vorbereitung des Architekturwettbewerbs und
schen, die häufig auch als Pioniere der Postmoderne angesehen wer-                                    die konkrete Arbeit der VOLKSWOHNUNG finden.
den, beschaffen sein sollten, um ihren Lebensalltag zu erleichtern.                                   Wir danken dem Strategiefonds KIT für die großzügige Förderung die-
                                                                                                      ser Arbeit und allen, die an den Workshops beteiligt waren und freuen
2. Raumbezogene Informationen und ihre Nutzung für raumbe-                                            uns, die Dokumentation vorlegen zu können.
zogenes Handeln im öffentlichen Raum (Geographie): Im zweiten
Querschnittsthema geht es um Nutzungspotenziale neuer Räume, wie                                      Das Projekt ist im Übrigen auch eingebunden in Forschungs- bzw. Pro-
sie derzeit in Karlsruhe an vielen Stellen entstehen, etwa im Zuge der                                jektseminare, die im Rahmen von LehreForschung fachübergreifend durch-
U-Strab sowie durch die geplante Öffnung des KIT-Campus zur Stadt.                                    geführt und dokumentiert wurden. Über zwei Semester hinweg wur-
Es soll untersucht werden, wie sich Nutzer/innen über diese Räume                                     den diese durch das BMBF innerhalb der Architektur und Geographie
mit Hilfe digitaler Medien informieren und vernetzen, wie sie digitale                                gefördert. Auf diese Weise vereinten diese Projekte auf besondere Art
mit realen Räumen verbinden und wie die Abgrenzung zwischen Öf-                                       und Weise Forschung, Lehre und Innovation.
fentlichkeit und Privatheit geschieht.
Dieser Projektteil befindet sich derzeit in der empirischen Phase. Erste                              Prof. Kerstin Gothe
Ergebnisse werden Ende des Jahres vorliegen.

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
Thematische Vorbemerkung                                                                               Die grafische Darstellung und textliche Erläuterung der folgenden Test-
Lebensmodelle und Erwerbsbiografien folgen heute häufig nicht mehr                                     planung sind das Ergebnis eines intensiven Austauschs und Dialogs.
tradierten Mustern. Jenseits des Familienmodells der klassischen                                       Die vorliegende Dokumentation kann aufgrund der vielfältigen und mit-
Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind in einer Wohnung verändert sich die                                unter weitreichenden Anregungen der einbezogenen Expertinnen und
soziale und räumliche Praxis des Wohnens. Hintergrund sind u. a. eine                                  Experten kein vollständiges Abbild aller angesprochenen Diskussions-
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und steigende räumliche Mobilität.                                 punkte des durchgeführten Workshops leisten. Die mitlaufenden Zitate
Der Alltag vieler Menschen verteilt sich über mehrere Orte, um privaten                                neben den Fließtexten sollen diesen Diskurs und Wissensaustausch
und beruflichen Bedürfnissen gleichermaßen zu genügen.                                                 illustrieren und auf die vielschichtigen thematischen Querbezüge hin-
An den Lebenspraktiken von Menschen, die ihren Alltag aufgrund ihrer                                   weisen, ohne im Einzelnen darauf einzugehen.
beruflichen Tätigkeit über mehrere Orte hinweg organisieren (berufsbe-
dingte Multilokalität), werden die aktuellen gesellschaftlichen Verände-   Dr. Markus Kaltenbach       Aktuelles Geschehen
                                                                           Fotografie: Bernd Seeland
rungen in besonderem Maße deutlich.                                                                    Die aktuell andauernde Covid-19-Pandemie wirft grundsätzliche Fra-
                                                                                                       gen im Hinblick auf berufsbedingte multilokale Lebensentwürfe und
Wenn Menschen aus beruflichen Gründen einen Nebenwohnsitz in der                                       deren Relevanz auf. Mobilitätseinschränkungen und der erzwungene
Stadt ihrer beruflichen Tätigkeit unterhalten, dann geschieht dies aus                                 Rückzug ins Private führten in den vergangenen Monaten zu einer
einer gewissen Notwendigkeit heraus. Die Arbeitsstelle liegt in einer                                  Neubewertung von Lebensentwürfen und Wohnsituationen. Nicht zu-
entsprechend räumlichen und damit auch zeitlichen Distanz zum ei-                                      letzt das Arbeiten von zu Hause stellt dabei neue Möglichkeiten, aber
gentlichen Wohnsitz, dem (sozialen) Lebensmittelpunkt, was ein tägli-                                  auch neue räumliche Anforderungen an die Wohnsituationen und die
ches Pendeln ausschließt. Bindungen am Hauptwohnsitz oder bspw.                                        Arbeitsorte dar.
Befristungen im Arbeitsverhältnis stehen zugleich einer dauerhaften                                    Es ist derzeit ungewiss, zu welchen bleibenden Veränderungen die
Migration an den Ort der Arbeit im Wege.                                                               Pandemie in unserer Gesellschaft führen wird. Wir gehen jedoch da-
Die Notwendigkeit nach berufsbedingten Nebenwohnsitzen ist dabei                                       von aus, dass berufsbedingte Multilokalität als Denkfigur und die im
ein Phänomen, welches sich nicht auf Metropolen beschränkt und                                         Folgenden dargestellten Entwurfsprämissen unabhängig dieser Un-
auch eine Stadt wie Karlsruhe betrifft.                                                                wägbarkeiten Gültigkeit und Relevanz besitzen.

Was ist die räumliche Relevanz dieser gesellschaftlichen Verände-                                      Danksagung
rungen? Können Erkenntnisse aus einer theoretischen Untersuchung                                       Die vorliegende Dokumentation stellt einen wichtigen Meilenstein im
berufsbedingter Nebenwohnsitze für die Planungspraxis nutzbar ge-                                      Forschungsprojekt „Daheim-Unterwegs“ finanziert durch den KIT-Stra-
macht werden?                                                                                          tegiefonds dar. Allen Beteiligten und Förderern seitens des KITs sei an
Wie kann eine Anwendung der theoretischen Erkenntnisse ganz kon-                                       dieser Stelle herzlich gedankt.
kret auf dem ehemaligen Postareal in Karlsruhe aussehen und zur                                        Unser Dank gilt auch allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächs-
Schaffung eines nachhaltigen und resilienten Stadtbausteins beitra-                                    partnern im Rahmen des Expertenworkshops und den anschließenden
gen?                                                                                                   Videokonferenzen (Teilnehmerliste siehe Kapitel 5. 3).
                                                                                                       Nicht zuletzt gilt unser Dank den Vertreterinnen und Vertretern der
Methodische Vorbemerkung                                                                               VOLKSWOHNUNG GmbH. Mit großem Interesse und Begeisterung für
„Assessing and meeting the needs of clients and users, understanding                                   die Thematik wurde das Projekt inhaltlich als auch finanziell von ihnen
a building for reuse, or working with precedents in order to produce                                   unterstützt. Mit großem Vertrauen und Offenheit begegneten sie den
more engaging architectural spaces are all founded on good research.“                                  mitunter auch kritischen Fragestellungen und ermöglichten einen wert-
(Lucas, 2016, S. 184)                                                                                  vollen Erfahrungsaustausch.

Während der theoretische Hintergrund des Projektes (siehe Kapitel 2)                                   Für die Transformation und Entwicklung des Postareals wünsche ich
mittels einer Kombination von sozialwissenschaftlichen und räumlichen                                  der VOLKSWOHNUNG gutes Gelingen und hoffe einen konstruktiven
Analysemethoden erarbeitet wurde, kann die im Folgenden dargestell-                                    Beitrag und hilfreiche Anregungen für die zukünftige Gestaltung und
te Testplanung für das Postareal als „Research by Design“-Prozess                                      Konzeption des Postareals beisteuern zu können.
verstanden werden. Die entwerferische Tätigkeit ist dabei zentraler
methodischer Bestandteil und Teil des Erkenntnisgewinns, der auf eine                                  Dr. Markus Kaltenbach
intensive Forschung, wie von Ray Lucas gefordert, aufbaut.

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
2. 	      Projekthintergrund                                                                                  Die im Folgenden dargestellte Testplanung (Kapitel 4. 3) entspricht
                                                                                                              weitestgehend dem im Workshop diskutierten Planungsstand un-
Forschungsprojekt „Daheim Unterwegs“                                                                          ter Berücksichtigung von insbesondere sprachlicher Anmerkungen
Die vorliegende Untersuchung ist Teil des Forschungsprojekts „Daheim                                          durch die Expertinnen und Experten. Wertvolle Impulse im Hinblick auf
Unterwegs: informiert und nachhaltig Leben und mobil Sein“ (Projekt-                                          Programm, Funktion, Organisation und Kenngrößen wurden aus den
leitung Prof. Kerstin Gothe und Prof. Dr. Caroline Kramer) finanziert                                         Gesprächen aufgegriffen und flossen in die textliche Ausarbeitung ein.
durch den KIT-Strategiefonds (Laufzeit 2019-2022).                                                            Punktuell wurde die Planung um zusätzliche erläuternde Grafiken zur
Als kooperatives Forschungsprojekt zwischen dem Institut Entwerfen                                            besseren Verständlichkeit ergänzt.
für Stadt und Landschaft und dem Institut für Geographie und Geoöko-
                                                                                                              Thesen
logie ist die Untersuchung zur räumlichen Relevanz berufsbedingter
                                                                                                              Die Brücke zwischen Theorie und Anwendung bildete ein Thesen-
Nebenwohnsitze Teil einer interdisziplinären Stadtforschung bestehend
                                                                                                              papier mit 10 Thesen (siehe Kapitel 3).
aus den Disziplinen Architektur, Städtebau und der Humangeographie.
                                                                                                              Die im Vorfeld des Workshops versandten Thesen boten den beteilig-
Das Forschungsprojekt nimmt das Leben des postmodernen, hoch
                                                                                                              ten Expertinnen und Experten einen schnellen Einstieg in die Thematik
mobilen Menschen in den Blick, der nahezu überall auf Informati-
                                                                                                              und dienten darüber hinaus als Leitfaden für die im Workshop geführte
onen zugreifen kann, um seinen Lebensalltag, seine Mobilität, seine
                                                                                                              Diskussion.
Erwerbstätigkeit und seine Teilhabe am gesellschaftlichen und kultu-
rellen Leben zu gestalten. Veränderungen der technischen, baulichen,
                                                                                                              Expertengespräche
infrastrukturellen, ökologischen und sozialen Umwelt dieser Menschen
                                                                                                              Die Testplanung und deren planerische Empfehlungen wurden im
stehen dabei im Zentrum des Forschungsinteresses.
                                                                                                              Rahmen von Expertengesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern
                                                                                                              aus Politik und Verwaltung der Stadt Karlsruhe, Vertreterinnen und
Dissertation zur räumlichen Dimension residenzieller Multilokalität
                                                                                                              Vertretern der Wohnungswirtschaft und Baubranche, der Internati-
Den theoretischen Ausgangspunkt bildet die Dissertation „Die räumli-
                                                                                                              onalen Bauausstellung Region Stuttgart 2027 sowie Verbänden der
che Dimension residenzieller Multilokalität - Eine Untersuchung beruf-
                                                                          1           M. Kaltenbach (2020).   Wohnungswirtschaft diskutiert (Liste aller beteiligten Expertinnen und
lich induzierter städtischer Nebenwohnsitze und ihrer städtebaulichen     Die räumliche Dimension resi-
                                                                          denzieller Multilokalität - Eine    Experten siehe Kapitel 5. 3).
Relevanz“.1                                                               Untersuchung beruflich indu-
                                                                          zierter städtischer Nebenwohn-      Hierzu wurde am 13. Okt. 2020 ein Workshop am KIT ausgerichtet (sie-
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die theoretischen Erkennt-     sitze und ihrer städtebaulichen
                                                                          Relevanz Dissertation am KIT.
                                                                                                              he Kapitel 2. 2) und zwei ergänzende Videokonferenzen im Nachgang
nisse der Dissertation (Kapitel 2. 1) anhand einer konkreten Planung      DOI: 10.5445/IR/1000122543          geführt2.                                                                2            Aufgrund der Co-
in Karlsruhe anzuwenden, ihre Gültigkeit und Praktikabilität zu testen    (Open Access)                                                                                                vid-19-Pandemie war es nicht allen
                                                                                                              Die Auswahl der hinzugezogenen Expertinnen und Experten geht             Teilnehmer/innen möglich phy-
und die Ergebnisse mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen                                                                                                                      sisch an der Veranstaltung vor Ort
                                                                                                              dabei weit über den akademischen Kontext hinaus und sucht ganz           am KIT teilzunehmen.
Arbeitsgebieten zu diskutieren.
                                                                                                              bewusst den Diskurs und Austausch mit der Politik und der Praxis.        Die Videokonferenzen wurden da-
                                                                                                                                                                                       her im Nachgang als alternatives
                                                                                                              Die Diskussionen und Gespräche wurden nicht im Einzelnen                 Beteiligungsformat ergänzend an-
Testplanung                                                                                                                                                                            geboten.
                                                                                                              dokumentiert. Neben den aufgegriffenen Zitaten der Expertinnen und
Die Testplanung ist methodisch als „Research by Design“-Ansatz zu
                                                                                                              Experten wird in Kapitel 3 der Versuch unternommen, die zentralen
verstehen. Theoretische Erkenntnisse werden auf eine konkrete Auf-
                                                                                                              Themenschwerpunkte der Gespräche zusammenzufassen und zu
gabenstellung und einen spezifischen Ort übertragen, angewandt und
                                                                                                              reflektieren.
weiterentwickelt.
Als Anwendungsbeispiel dient ein 1,6 ha großes Areal der VOLKS-
WOHNUNG GmbH, der städtischen Wohnungsbaugesellschaft in
Karlsruhe (siehe Kapitel 4). Die Testplanung wurde dabei von der
VOLKSWOHNUNG inhaltlich begleitet und im Rahmen des Workshops
ideell sowie beim Druck der Broschüre finanziell unterstützt. Der Bear-
beitungszeitraum der Testplanung war März bis Oktober 2020.
Die Testplanung konnte an eine erste städtebauliche Machbarkeitsstu-
die von sa_partners in Kooperation mit WSW & Partner GmbH (März
2019) anknüpfen und auf ein daraus resultierendes schematisches
Bebauungs- und Nutzungskonzept (Aug. 2019) aufbauen.

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
2. 1.   Theoretischer Hintergrund                                                                                  Ziel der Untersuchung
                                                                                                                   Hinsichtlich der sozialen Dimension, den mit der residenziellen Multi-
Die räumliche Dimension residenzieller Multilokalität - Eine Un-                                                   lokalität einhergehenden Herausforderungen für Individuen, Haushalte
tersuchung beruflich induzierter städtischer Nebenwohnsitze und                                                    und Familien liegen durch akteurszentrierten Studien bereits Erkennt-
ihrer städtebaulichen Relevanz                                                                                     nisse vor. Die räumliche Dimension hingegen ist noch wenig erforscht.
                                                                                                                   Zum einen hat die Untersuchung daher zum Ziel, die phänomenologi-
Das Entwerfen und Gestalten von gebautem Raum geht stets einher                                                    sche Bandbreite und damit eine Realitätserschließung des räumlichen
mit einer Antizipation der zukünftigen Nutzer/innen und einer gewissen                                             Spektrums der beruflich induzierten städtischen Nebenwohnsitze dar-
Annahme hinsichtlich der Nutzung der jeweiligen Räumlichkeit.                                                      zulegen (Forschungsziel A).
Nicht zuletzt im Wohnungsbau ist aber zu beobachten, dass die klas-                                                Des Weiteren wird die räumliche Relevanz der Thematik für die städte-
sische Kernfamilie sowie standardisierte Lebensmodelle häufig noch                                                 bauliche Planung untersucht und daraus abgeleitete Planungsparame-
immer den Planungshorizont bestimmen und damit die gesellschaftli-                                                 ter und Handlungsempfehlungen formuliert (Forschungsziel B).
che Realität nur unzulänglich abgebildet wird. Eine zunehmende Indivi-       Das Kapitel „Theoretischer Hinter-
                                                                                                                   Planungsparameter sind Aspekte im Themenkomplex der beruflich
dualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen sowie eine steigende        grund“ basiert auf der Dissertation   induzierten residenziellen Multilokalität, welche mit einer Varianz und
                                                                             von M. Kaltenbach (2020). Die
räumliche Mobilität führen zu neuen Raum-Nutzungsverhalten und zu            räumliche Dimension residenzi-        kontextueller Unterschiedlichkeit bestimmten identifizierten Mustern
                                                                             eller Multilokalität - Eine Unter-
veränderten Anforderungen an den gebauten Raum.                              suchung beruflich induzierter         oder Typen folgen. Diese Muster und Typen erlauben Rückschlüsse
                                                                             städtischer      Nebenwohnsitze
Am Beispiel von multilokalen Akteuren, Personen, die ihren Le-               und ihrer städtebaulichen Rele-       auf einen strategischen und planerischen Umgang mit der Thematik.
                                                                             vanz. Dissertation am KIT. DOI:
bensalltag über mehrere Orte hinweg organisieren,1 werden diese ge-          10.5445/IR/1000122543 (Open
sellschaftlichen Veränderungen in besonderem Maße deutlich. Multi-           Access - Volltext online frei ver-    Vorgehen
                                                                             fügbar)
lokale Wohnpraktiken werden als Extremform begriffen, anhand derer                                                 Das Ziel, sich verändernde Raumnutzungsverhalten und damit einher-
sich die gesellschaftlichen Veränderungen und die damit einhergehen-                                               gehende räumliche Anforderungen zu untersuchen, legt eine Kombi-
                                                                             1           Definition in Anleh-
den räumlichen Belange besonders gut untersuchen lassen.                     nung an Rolshoven, 2006
                                                                                                                   nation von räumlichen Analysen und sozialwissenschaftlichen Metho-
Durch die ergänzende Planungsperspektive des multilokalen Akteurs                                                  den nahe. Gerade das Zusammenspiel von Raum und Akteur liegt im
soll räumliche Planung und gesellschaftliche Realität wieder stärker in                                            Zentrum des Erkenntnisinteresses und stellt ein zentrales Merkmal und
Einklang gebracht werden.                                                                                          Alleinstellungskriterium der Untersuchung dar.
                                                                                                                   Das unter diesem Gesichtspunkt wenig erforschte Themenfeld und
                                                                                                                   eine mangelnde Datengrundlage3 legen einen explorativen und quali-        3          Zur     mangelnden
Thematische Eingrenzung                                                                                                                                                                      Datengrundlage siehe ausführli-
Residenzielle Multilokalität ist eine Form der räumlichen Mobilität und                                            tativen Forschungszugang nahe.                                            cher Weichhart & Rumpolt, 2015

zwischen der dauerhaften Migration und der Zirkulation, bspw. dem                                                  Mit dem Ziel, ein breites räumliches Spektrum abzubilden (Forschungs-
Tagespendeln, zu verorten.2 Der Alltag des multilokalen Akteurs er-                                                ziel A), wurden Fallstudien möglichst unterschiedlicher Nebenwohnsit-
streckt sich dabei über mehrere Orte, an denen ihm jeweils eine Form         2           Definition       nach     ze untersucht. Nach vorbereitenden räumlichen Analysen hinsichtlich
                                                                             Weichhart, 2009
von Behausung zur Verfügung steht. Behausungen können dabei auch                                                   Lage und räumlichem Kontext des jeweiligen Nebenwohnsitzes wur-
atypische Wohnformen annehmen.                                                                                     den mit den Probanden leitfadengestützte Interviews durchgeführt.
Zur Untersuchung der städtebaulichen Relevanz sind insbesondere                                                    Durch das Durchführen der Interviews am jeweiligen Nebenwohnsitz
die beruflich induzierten Nebenwohnsitze geeignet. Sie bedingen zum                                                stellten diese zugleich den Zugang zur privaten Behausung dar und er-
einen eine kritische räumliche Distanz zwischen den Behausungen,                                                   möglichten die räumliche Analyse des Nebenwohnsitzes auf Gebäude-
da beruflich induzierte Nebenwohnsitze immer als Reaktion auf eine                                                 ebene und der individuellen Wohneinheit.
räumliche Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort zu verstehen                                                    Die darauffolgende grafische Dokumentation und Auswertung der
sind. Zum anderen erfasst die beruflich induzierte residenzielle Multilo-                                          räumlichen Situation auf unterschiedlichen Maßstabsebenen wurde mit
kalität, entgegen bspw. freizeitbedingter residenzieller Multilokalität in                                         einer qualitativen Inhaltsanalyse des durch die Interviews gewonnenen
Form von Ferienhäusern, sämtliche gesellschaftlichen Schichten.                                                    Textmaterials kombiniert und durch Experteninterviews ergänzt. Der
Durch die Untersuchung von explizit städtischen Nebenwohnsitzen                                                    Erhebungsraum des Samples umfasst die Bundesländer Baden-Würt-
können unmittelbar Rückschlüsse auf eben diesen Stadtraum gezo-                                                    temberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, um einen möglichst ver-
gen werden. Mit Nebenwohnsitzen sind im Folgenden daher immer                                                      gleichbaren kulturellen und wirtschaftlichen Kontext zu gewährleisten.
beruflich induzierte städtische Nebenwohnsitze gemeint.
Mit Multilokalität ist immer die beruflich induzierte residenzielle Multi-
                                                                             Abb. 1     Thematische
lokalität gemeint.                                                           Eingrenzung (Kaltenbach, 2020)

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
Erkenntnisse                                                                                              So kann bspw. das alleinige Vorhandenseins von gewerblichen Wohn-
Die Untersuchung bringt erste Erkenntnisse hinsichtlich (a) des Wohn-                                     angeboten wie Hotels und Serviced Apartments kein Garant dafür
raumes, (b) des Arbeitsplatzumfeldes, (c) der zentralen Mobilitätsorte                                    sein, dass eine Kommune tatsächlich genügend adäquate Wohnrau-
sowie (d) des Wettbewerbs zwischen Städten.                                                               mangebote für beruflich bedingte Multilokale bereit hält.

a) Wohnraum                                                                                                                                   Raumtyp A
Auf Ebene des Wohnraumes illustriert das erhobene Sample auf plaka-       4         Zur Begrifflichkeit                                Übernachtungsmöglichkeit
                                                                          der Behausungsstrategie siehe
tive Weise das breite räumliche Spektrum an ‚Behausungsstrategien’.4      Sturm & Meyer, 2009
Das Spektrum ist dabei wesentlich vielschichtiger als häufig angenom-
men und geht weit über klassische gewerbliche Angebote wie bspw.
dem Serviced Apartment hinaus. Es umfasst das informelle Übernach-
ten am Arbeitsplatz sowie die repräsentative Stadtwohnung gleicher-
maßen.
Dabei können drei Typen von Nebenwohnsitzen differenziert werden.
Raumtyp A „Übernachtungsmöglichkeit“ bietet neben der Übernach-
tungsfunktion wenig bis keinen Spielraum für weitere Aktivitäten (z. B.
wenn informell am Arbeitsplatz übernachtet wird). Raumtyp B „funkti-                                        - Übernachten am           -Übernachten bei             - Hostel
onale Behausung“ ist durch seine Funktionalität gekennzeichnet. Der                                          Arbeitsplatz                Freunden / Bekannten       - Monteursunterkunft
Nebenwohnsitz stellt hier eine pragmatische, wenngleich auch häufig                                                                    - Untermiete*                - Baucontainer
                                                                                                                                       - Airbnb*                    - Wohnwagen
eine Kompromisslösung dar (z. B. das relativ kostspielige Übernachten
in einem möblierten Apartment). Raumtyp C entspricht weitestgehend
                                                                                                                                              Raumtyp B
der Wunschsituation des Probanden und ist als „Ort des Wohnens und
                                                                                                                                        Funktionale Behausung
Wohlfühlens“ auf eine gewisse Beständigkeit ausgelegt. Die räumli-
chen Situationen werden dabei anhand vier Unterscheidungsdimen-
sionen differenziert. Dies ist zum einen (1) der Grad der Informalität
und rechtlichen Sicherheit der jeweiligen Wohnsituation, welcher von
informell bis formell variieren kann.
Zum anderen (2) gibt es die Unterscheidungsdimension der Dauerhaf-
tigkeit einer Behausung. Der Nebenwohnsitz kann von temporär bis hin
zu einer konstanten und auf Dauer ausgelegten Situation variieren. Ein
Indikator sind bspw. die Zeiträume etwaiger vertraglicher Bindungen.
Ein weiteres zentrales Unterscheidungsmerkmal (3) ist das Verfügen
                                                                                                            - Hotel                    - WG-Zimmer                  - Serviced Apartment*
über privaten Rückzugsraum. Von keinerlei privatem Raum bis hin zu
                                                                                                            - Pension                  - Untermiete*                - Furnished Apartment
viel Privatsphäre unterscheiden sich hier die Nebenwohnsitze elemen-                                        - Serviced                 - Airbnb*                    - Mikro-Apartment
tar. Hinsichtlich Ausstattung und Einrichtung (4) können die Neben-                                          Apartment*                                             - Studio*
wohnsitze von provisorisch bis permanent unterschieden werden.                                                                                Raumtyp C
                                                                                                                                Privater Ort zum Wohnen und Wohlfühlen
Die Abgrenzung der Typen ist dabei nicht trennscharf und kann je nach
individueller Auslegung und Abwägung der Dimensionen unterschied-
lich ausgelegt werden. Eine Berufstätigen-Wohngemeinschaft bspw.
mag für den einen eine Übergangslösung sein; für jemand anderen
kann es die präferierte und auf Dauer ausgelegte Wohnsituation dar-
stellen. Die Unterscheidungsdimensionen zeigen aber auf, wie un-
wahrscheinlich es ist, dass ein Bautypus bzw. ein spezifisches Wohn-
angebot für Personen, die aus beruflichen Gründen multilokal leben,
die Bandbreite an Bedürfnissen alleine befriedigen kann.                                                                                                                                   Abb. 2    Identifizierte
                                                                                                                                                                                           Raumtypen, (Kaltenbach, 2020)
                                                                                                                                     - (vollwertige) Wohnung                               * Mehrfachnennung
                                                                                                                                     - Studio*

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
Der zeitliche Rahmen einer beruflich bedingten Multilokalität kann da-                                         Hier wäre insbesondere das Studio wie auch die Kleinstwohnung zu
             bei sehr variieren und beeinflusst die Wahl der Behausung maßgeblich                                           nennen. Ausgestattet mit Nasszelle und Einbauküche (ggf. auch wei-
             mit. Es liegt nahe, dass im Falle eines begrenzten Zeitraumes andere                                           teren Einbauschränken), erlaubt sie einen relativ einfachen und un-
             Kriterien an die Behausung gestellt werden als bei einem unbefristeten                                         komplizierten Start am Nebenwohnsitz. Sie kann dabei sukzessive
             Arbeitsverhältnis am Ort des Nebenwohnsitzes.                                                                  eingerichtet und angeeignet werden und dadurch auch für die weite-
             Besonders aufschlussreich für die multilokalen Bedürfnisse sind die                                            ren Phasen der Multilokalität Wohn- und Lebensraum ohne weiteren
             länger andauernden multilokalen Situationen. Hier können typische                                              Umzug bieten.
             Wohnkarrieren identifiziert werden, anhand derer wiederum drei Pha-
             sen der beruflich induzierten residenziellen Multilokalität deutlich wer-                                      Neben unterschiedlichen (Wohn-)Raumtypen und unterschiedlichen
             den. Es besteht dabei ein Zusammenhang zwischen den Phasen der                                                 Phasen der berufsbedingten residenziellen Multilokalität kommt ins-
             Multilokalität und den zuvor beschriebenen Raumtypen an Neben-                                                 besondere der Verortung der Wohnangebote in der Stadt besondere
             wohnsitzen.                                                                                                    Relevanz zu. Hierbei können drei zentrale Muster bzw. Verortungsstra-
                                                                                                                            tegien identifiziert werden. Da die Multilokalität häufig ohnehin hohe
             Die Multilokalität ist häufig geprägt durch eine spezifische Anfangs-                                          Mobilitätsanforderungen stellt, wird der Standort des Nebenwohnsit-
             phase. Zu Beginn ist insbesondere die schnelle Verfügbarkeit einer Be-                                         zes i. d. R. sehr strategisch gewählt. In Muster A wird der Nebenwohn-
             hausung häufig ausschlaggebend, sodass hier auf temporäre, mitunter                                            sitz entlang der Wegekette zwischen Mobilitätsort (Verbindungsort
             gewerbliche Wohnangebote zurückgegriffen wird.                                                                 zum Hauptwohnsitz) und Arbeitsplatz verortet. In Muster B wird der
             Die Anfangsphase ist gefolgt von einer Übergangsphase, die häufig mit                                          Nebenwohnsitz in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz gesucht. In
             einem Wechsel der Behausung einhergeht. Daran schließt die Phase                                               Muster C ist die Nähe zum Mobilitätsort ausschlaggebendes Lagekri-
             der Verstetigung an, in welcher der Nebenwohnsitz auf unbestimmte                                              terium für den Nebenwohnsitz.
             Zeit aufrecht erhalten werden soll.                                                                            Dabei impliziert insbesondere das Muster B, der Verortung des Neben-
                                                                                                                            wohnsitzes in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Arbeitsplatz neue
                                                                                                                            räumliche Anforderungen an das Arbeitsplatzumfeld.

                                                                                                                            b) Arbeitsplatzumfeld
                 temporär               provisorisch              permanent                                                 Beruflich induzierte Multilokalität geht stets einher mit Bindungen des
                                                                                                                            Akteurs am Hauptwohnsitz. Diese häufig sozialen Bindungen halten
                                                                                                                            ihn von einer dauerhaften Migration ab und haben zur Folge, dass die
                                                                                          Abb. 3       Die drei Phasen
                 Anfangsphase         Übergangsphase        Phase der Verstetigung        berufsbedingter Multilokalität,   Akteure die Zeit am Nebenwohnsitz möglichst effizient und kompakt
                                                                                          (Kaltenbach, 2020)
                                                                                                                            gestalten möchten.
                                                                                                                            Wenn Arbeitstage am Zweitwohnsitz nicht mehr dem Muster einer klas-
Fall M:      Nicht jeder multilokale Akteur wird diese Phasen durchlaufen und ge-                                           sischen 40 Stunden Woche folgen und die Zeiträume am Arbeitsplatz
             rade  die im Vorfeld zeitlich
               Boardinghaus                 klar begrenzten beruflichen
                                       Minihaus                            Arrangements
                                                                 Maisonettewohnung                                          mitunter deutlich länger ausfallen, entstehen neue Anforderungen an
             werden   unter
               4 Wochen     Umständen     keine
                                       1 Jahr    Phase  der Verstetigung
                                                                  zeitlich erlauben.                                        das Arbeitsumfeld. Dabei kann das Arbeitsplatzumfeld sogar wichtiger
             Dennoch legt das untersuchte Sample nahe, dass       unbegrenzt
                                                                    der Aufenthalt häu-                                     als das unmittelbare Wohnumfeld am beruflichen Nebenwohnsitz sein
              „Wohnen auf Zeit“
             fig länger dauert als zu Beginn von den Probanden angenommen und                                               (sofern Arbeitsplatzumfeld und Wohnumfeld, dem Verortungsmuster B
             ggf. sogar eine dauerhafte Migration und damit die Beendigung der                                              folgend, nicht ohnehin deckungsgleich sind).
               Arbeitsplatznähe        attraktives Stadtquartier
             Multilokalität darauf folgt. Das lokale Angebot von adäquatem Wohn-                                            Durch die Arbeitszentriertheit am Arbeitsort kommt es zum einen zu
             raum für die jeweilige Phase scheint dabei mitentscheidend für den                                             längeren Arbeitsphasen am Arbeitsplatz. Die Nachfrage nach Pausen-
             Übergang in eine nächste Phase zu sein. Ein entspannter und differen-                                          und Erholungsangeboten beschränkt sich dadurch nicht nur auf die
Fall H:      zierter Wohnungsmarkt ist insofern auch für beruflich induzierte resi-                                         gewöhnliche Mittagspause. Angeboten kleinräumiger Naherholung,
             denzielle
               FurnishedMultilokalität
                         Apartment äußerst relevant.             Studio                                                     die auch für kurze Arbeitspausen erreichbar sind, kommt dabei eine
             Die Wohnkarrieren beschreiben dabei auch ein spezifisches Raum-Nut-                                            besondere Bedeutung zu. Zum anderen konzentrieren sich auch die
               1 Jahr                  mehrere Jahr               zeitlich
             zerverhalten,  dessen Berücksichtigung
               über Arbeitgeber                          für die strategische
                                       private Weitermiete        unbegrenzt Stadtpla-                                      sozialen Kontakte von Multilokalen am Arbeitsort häufig auf das kolle-
             nung als sehr fruchtbar eingeschätzt wird.                                                                     giale Umfeld.
              „Wohnen auf Zeit“
             Besonders interessant scheinen auch Wohnraum-Typen zu sein, wel-                                               Öffentliche unkommerzielle Räume mit niederschwelligen Verweilan-
             che die Kapazität haben, für alle drei Phasen Relevanz zu besitzen.                                            geboten und hoher Aufenthaltsqualität können hier die soziale Interak-
               Arbeitsplatznähe                                   ruhigeres Quartier

             Seite 14                                                                                                       Seite 15
Experte I:
Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
tion zwischen Arbeitskollegen fördern, was in besonderem Maße den                                               zur Multilokalität eine zentrale Rolle. Im Kontext von residenzieller Mul-
multilokal lebenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu Gute                                                 tilokalität kommt jedoch neben der anfänglichen Entscheidung der
kommt. Für monofunktionale Bürostandorte stellen Nebenwohnsitze                                                 kontinuierliche Vergleich zwischen Haupt- und Nebenwohnsitz hinzu.                            7           S t a n d o r t o ff e r t e n
                                                                                                                                                                                                              sind: „Attribute von Orten, die
zugleich eine Chance der Belebung und Aktivierung dar.                                                          Die Standortofferten7 der Wohnsitze ergänzen sich im Falle einer Mul-                         geeignet erscheinen, bestimmte
                                                                                                                                                                                                              Nutzungsansprüche von Men-
Hier kann auf zuvor identifizierte Muster zurückgegriffen werden. Eine                                          tilokalität gegenseitig, stehen aber auch im unmittelbaren und andau-                         schen zu realisieren.“ (Weich-
                                                                                                                                                                                                              hart, 2009, S. 2)
Verortung von Nebenwohnsitzen in unmittelbarer Nähe zu Bürostand-                                               ernden Vergleich zueinander, da sie von den multilokalen Akteuren in
orten würde dem Verortungsmuster B folgen. Aufgrund der pragmati-                                               ihrem Alltag wechselseitig benutzt, bewohnt, beurteilt und wertge-
schen Standortentscheidung wäre insbesondere die funktionale Be-                                                schätzt werden. Dies stellt eine Vergleichsdimension zwischen Städten
hausung (Typ B) naheliegend, wobei in erster Linie die Anfangsphase                                             dar, welche in Form und Ausmaß nur im Kontext einer andauernden
und/oder Phase des Übergangs der beruflichen residenziellen Multilo-                                            residenziellen Multilokalität gegeben ist. Für Städte ist es insofern be-
kalität adressiert würden.                                                                                      sonders wichtig, auf eine eigene Identität, ein klares Profil und spezi-
Gerade in der Anfangsphase sind die multilokalen Akteure zu weit-                                               fische Standortqualitäten zu setzen und sich diesem Ausgesetztsein
reichenden Kompromissen bereit, wobei die einfache Verfügbarkeit                                                des kontinuierlichen und andauernden Vergleichs bewusst zu werden.
von Wohnangebot und die funktionale Nähe zur Arbeitsstelle gewisse
Standortmängel hinsichtlich Aufenthaltsqualität und Urbanität über-
wiegen können.
Arbeitsstandorte erfahren durch die Anreicherung mit Nebenwohnsit-
zen eine Aufwertung. Die multilokalen Akteure fungieren als Pioniere                                                 Stadt des berufsbedingten      Mobilitätsort
zur Belebung des zuvor monofunktionalen Standorts und können zur                                                     Nebenwohnsitzes

weiteren Funktionsmischung anregen bzw. Folgenutzungen nach sich
                                                                            5           Vgl. z. B. die Trans-
ziehen und so zu einer dauerhaften Belebung des Standortes führen.5         formation des Lyoner Quartiers                             Standortqualitäten
                                                                            in Frankfurt a. M. (ehemals Bü-                                  Lage                                        Ort des Hauptwohnsitzes
                                                                                                                                                                       Ergänzen von
                                                                            rostadt)
                                                                                                                                                                      Standortofferten
                                                                                                                    Arbeitsplatz
c) Mobilitätsorte                                                                                                     Umfeld
                                                                                                                                                                     Kontinuierlicher
Aufgrund der hohen Mobilitätsanforderung, welche mit der Multilokali-                                                                                               Vergleich der Orte
tät einhergeht, kommt des Weiteren den zentralen Mobilitätsorten eine
besondere Bedeutung zu. Als zentrale Mobilitätsorte fungieren je nach                                                                             Nebenwohnsitz                               Hauptwohnsitz
                                                                                                                                                   Wohnumfeld                                  Wohnumfeld
Verkehrsmittel insbesondere Bahnhöfe, Flughäfen, Busbahnhöfe und
zentrale Umsteigepunkte des ÖPNVs.
Die Mobilitätsorte sind zum einen Ort des Ankommens in der Stadt des
                                                                                                                                                                                                              Abb. 4        Wechselwirkung
Nebenwohnsitzes und zum anderen das Bindeglied zum Hauptwohn-                                                   Fazit                                                                                         und/oder Abhängigkeiten
sitz. Als immer wiederkehrender Ort des Ankommens im Alltag eines                                                                                                                                             verschiedener Standortfaktoren
                                                                                                                Es ist nicht das Ziel, Städte einzig und allein auf multilokale Lebenssti-                    bei berufsbedingter
Multilokalen prägt er signifikant das Bild einer Stadt mit.                                                     le auszurichten.     Städte sind Schauplatz    einer großen  Bandbreite ver-                  Multilokalität (Kaltenbach, 2020)
                                                                                                                        Muster A                 Muster B                Muster C
Da die Erschließungsgunst des Nebenwohnsitzes bei berufsbeding-                                                 schiedenster Lebensentwürfe, was es zu bewahren und zu fördern gilt.
ten Multilokalen einen besonderen Stellenwert hat, liegt es nahe, ent-                                          Dem Appell, beruflich bedingte Multilokale als relevante Akteursgrup-
sprechende Wohnangebote in räumlicher Nähe zu Mobilitätsorten an-                                               pe in der Planungspraxis zu berücksichtigen, liegt vielmehr die Annah-
                                                                                                                       Mobilitätsort             Mobilitätsort           Mobilitätsort
zubieten (Verortungsmuster C). Bei Bauvorhaben im näheren Umfeld                                                me zugrunde, dass eine planerische Berücksichtigung          einen Mehrwert
von Mobilitätsorten sollten Kommunen folglich einen Wohnungsmix                                                 weit über diese Gruppe hinaus darstellt.                          Nebenwohnsitz
fordern, der neben dem klassischen Wohnraum auch multilokalitäts-                                               Die geforderten Aufenthaltsqualitäten an Gewerbe- und Bürostandor- Wohnumfeld
gerechten Wohnraum vorsieht.                                                                                    ten kommen allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute; den
                                                                                                                Multilokalen lediglich in besonderem Maße. Neue multilokalitätsge-
d) Wettbewerb der Städte                                                                                        rechteNebenwohnsitz
                                                                                                                        Wohnformen werden auch für          andere Lebensmodelle von hoher
                                                                                                                                                       Nebenwohnsitz
Der Wettbewerb zwischen Städten wurde bislang stark auf attrakti-                                                      Wohnumfeld                        Wohnumfeld
                                                                                                                Attraktivität sein.
ve Arbeitsplätze und den Zuzug von hoch qualifizierten Arbeitnehmer/                                            Insofern ist die multilokalitätsgerechte Planung als Planungswerkzeug
                                                                            6          Vgl. z. B. Florida,                                      Arbeitsplatz              Arbeitsplatz
innen reduziert.6 Für Firmen wurden dabei auch zunehmend weiche             2008                                zu verstehen, um den sich stetig     wandelnden gesellschaftlichen
                                                                                                                                                  Umfeld                    Umfeld       Verän-
Standortfaktoren wichtig, um die bestqualifizierten Arbeitskräfte für ih-                                       derungen räumlich Rechnung zu tragen und auf diese Weise zu nach-
ren Standort zu begeistern.                                                                                     haltigeren und zukunftsträchtigeren Lösungsansätzen zu kommen.
Stadtimage und Standortqualitäten spielen auch bei der Entscheidung                                                     Arbeitsplatz
                                                                                                                          Umfeld

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Die räumliche Relevanz berufsbedingter Nebenwohnsitze - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe - KIT
2. 2.   Expertenworkshop                                                                                                   Fotos: KIT Studienwerkstatt /
                                                                                                                           Seeland, Maisch

Im Rahmen des Expertenworkshops wurden die theoretischen Befun-
de sowie deren konkrete Anwendung in Form der Testplanung zur Dis-
kussion gestellt.
Zielsetzung des Workshops war die Einbindung der teilnehmenden Ex-
pertinnen und Experten als wertvolle Wissens- und Erfahrungsressour-
ce für die Weiterentwicklung der Thematik.

Formate
Um den unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen gerecht zu
werden, wurden verschiedene Workshopformate variiert.
Ein thematischer Einstieg wurde mittels Impulsvorträgen durch die
Professorinnen Kerstin Gothe und Dr. Caroline Kramer in ihrer Rolle als
Projektleiter des Forschungsprojektes sowie als Moderatorinnen des
Workshops geleistet.
Die Impulsvorträge waren gefolgt von einem Fachvortrag von Dr. Mar-
kus Kaltenbach, der sowohl die theoretischen Hintergründe als auch
deren konkrete Anwendung in Form der Testplanung umfasste.

Im Vorfeld des Workshops wurde ein zehn Thesen umfassendes Papier
an die Teilnehmer/innen verschickt. In Form von 5-10-minütigen Kurz-
statements wurde zu individuell ausgewählten Thesen von den einge-
ladenen Expertinnen und Experten Stellung bezogen.
Die Kurzstatements bildeten den Einstieg in eine moderierte Plenums-
diskussion, welche in Form einer Blitzlichtrunde1 abgeschlossen wur-      1           Blitzlicht ist eine Me-
                                                                          thode, bei der sich die sämtlichen
de.                                                                       Teilnehmer/innen in ein bis zwei
                                                                          Sätzen zu einer vom Moderator
                                                                          oder einer Moderatorin gestellten
                                                                          Frage äußern.

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Wissens- und Erfahrungsaustausch                                                                               Fotos: KIT Studienwerkstatt /
                                                                                                               Seeland, Maisch
Der Expertenworkshop stellte einen wertvollen Wissens- und Erfah-
rungsaustausch dar, der die Thematik aus unterschiedlichen Blickwin-
keln und Perspektiven beleuchtete.

Die Rede- und Diskussionsbeiträge wurden zunächst protokolliert und
mittels Audioaufnahme aufgezeichnet. Im Nachgang des Workshops
wurde dieses Material ausgewertet.                                               Neben       der
Insbesondere die im Workshop noch verwendeten z. T. unklaren For-       fachlichen      Expertise
mulierungen und Begrifflichkeiten wurden reflektiert und entsprechend   verfügten 100 % der
                                                                        Teilnehmer/innen über
überarbeitet.
                                                                        persönliche Erfahrun-
                                                                        gen mit berufsbedingter
                                                                        Multilokalität.
Ergänzende Videokonferenzen
Aufgrund der COVID19-Pandemie gab es für eine Reihe an Expertin-
nen und Experten erhebliche Einschränkungen, die mitunter einer phy-
sischen Teilnahme am Workshop entgegen standen.
Im Nachgang des Workshops wurden daher zusätzlich ergänzende Vi-
deokonferenzen angeboten. Dieses Angebot wurde von drei weiteren
Expertinnen und Experten wahrgenommen.

Die Videogespräche wurden von Prof. Kerstin Gothe, Prof. Dr. Caroline
Kramer und Dr. Markus Kaltenbach gemeinsam durchgeführt.
Den Einstieg der Gespräche bildete hier ein Kurzvortrag von Dr. Mar-
kus Kaltenbach, welcher die theoretischen Befunde, die Testplanung
sowie die zentralen Diskussionspunkte des Workshops umriss und in
einem gemeinsamen moderierten Gespräch mündete.

Die Gespräche wurden ebenfalls aufgezeichnet und flossen in die hier
vorliegende Auswertung mit ein.

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3. 	       10 Thesen und deren Diskussion

Die zehn Thesen zur Relevanz von berufsbedingten Nebenwohnsitzen
                                                                                                                   10 Thesen                                                                                  1
wurden den Teilnehmer/innen des Workshops im Vorfeld als themati-                                                                                                                                             Berufsbedingte multilokale
scher Einstieg zugeschickt.                                                                                                                                                                                   Akteure - eine planungsrelevante
Im Workshop dienten die Thesen als Ausgangspunkt und als Anreiz,                                                   Zur Relevanz von berufsbedingten                                                           Gruppe!

                                                                                                                   städtischen Nebenwohnsitzen
                                                                                                                                                                                                              Für die einzelne Person ist Multilokalität,
Multilokalität und ihre Anforderungen an Stadt und Wohnungsversor-                                                                                                                                            ein Leben an mehreren Orten, vielleicht
                                                                                                                                                                                                              nur eine biografische Durchgangssituation
gung gemeinsam zu diskutieren.                                                                                                                                                                                (z. B. im Studium, in der beruflichen
                                                                                                                                                                                                              Etablierung oder in einer post-familiären
                                                                                                                                                                                                              Phase). In der Summe bleiben die
Die Teilnehmer/innen hatten darüber hinaus die Möglichkeit, über Kle-                                                                                                                                         multilokalen Akteure jedoch für die
                                                                                                                                                                                                              Stadt eine konstante und damit
bepunkte ihre Zustimmung oder Vorbehalte gegenüber den formulier-                                                                                                                                             planungsrelevante Bevölkerungsgruppe.
                                                                          1            Nicht alle Teilnehmer/
ten Thesen auf einem Plakat zum Ausdruck zu bringen (Abb. 6).1            innen machten von den Klebe-
                                                                          punkten Gebrauch und / oder nut-
Dabei ließ sich eine große Zustimmung der Expertinnen und Experten        zen diese in vollem Umfang.
zu den Thesen feststellen. Während Thesen 1, 2 und 5-10 überwiegend                                                2                                             3                                            4
Zustimmung erfuhren, gab es bei These 3 und 4 gewisse Vorbehalte.                                                  Aktuell wird das Thema                        Multilokalität kann als hilfreiche           Multilokalität ist nicht
                                                                                                                   „Multilokalität“ bedeutender!                 Denkfigur für die räumlichen                 gleichzusetzen mit Befristung!
                                                                                                                                                                 Konsequenzen gesellschaftlichen
                                                                                                                   Pluralisierung und Individualisierung von                                                  Multilokale Arrangements können zeitlich
Es ist wenig verwunderlich, dass die Teilnehmer/innen, welche der Ein-                                             Lebensstilen führen zu einer Auflösung
                                                                                                                                                                 Wandels dienen.*                             befristet sein (Studium / Ausbildung,
                                                                                                                   tradierter Lebensmuster. Das betrifft                                                      Projektarbeit, Saisonarbeit).
ladung des Workshops gefolgt sind, die Relevanz (These 1) und zuneh-                                               nicht nur Einpersonenhaushalte. Gerade
                                                                                                                                                                 Das Leben an mehreren Orten stellt eine
                                                                                                                                                                                                              Viele multilokale Arrangements sind
                                                                                                                                                                 Extremform heutiger Lebenspraktiken dar,
mende Wichtigkeit der Thematik (These 2) zustimmten.                                                               auch Doppelverdienerhaushalte können                                                       jedoch nicht per se auf einen bestimmten
                                                                                                                                                                 anhand derer der gesellschaftliche Wandel
                                                                                                                   häufig nicht mehr alle Anforderungen                                                       Zeitraum begrenzt, sondern werden auf
                                                                                                                                                                 besonders deutlich wird.
Bei These 3 gab der Begriff des ‚Prototypen‘ Anlass für Diskussion.2      2            Ursprüngliche Formu-        eines Haushaltes an einem Ort realisieren.
                                                                                                                                                                 Durch eine ‚multilokalitätsgerechte
                                                                                                                                                                                                              unbestimmte Zeit aufrechterhalten.
                                                                          lierung der These 3: „Multilokalität     Zudem führt die Flexibilisierung des                                                       Multilokale Behausungen sollten
Er wurde so verstanden, dass zukünftig sämtliche Lebensformen von                                                                                                Planung‘ können Bedürfnisse adressiert
                                                                          kann als Prototyp gesellschaftli-        Arbeitsmarktes und zunehmende                                                              daher ein Mindestmaß an räumlicher
                                                                                                                                                                 werden, die einen Mehrwert weit über die
                                                                          chen Wandels verstanden wer-             Globalisierung zu einer steigenden                                                         Aufenthaltsqualität aufweisen, um auch auf
Multilokalität geprägt sein werden. Wir haben die These daher umfor-      den!“                                    Mobilität der Arbeitnehmer/innen.
                                                                                                                                                                 Gruppe der Multilokalen generieren.
                                                                                                                                                                                                              Dauer adäquaten Wohnraum zu bieten.
muliert.

Die These 4 hinsichtlich dauerhafter multilokaler Lebensarrangements
                                                                                                                   5                                             6                                            7
                                                                                                                   Fehlende Wohnangebote für                     Die gezielte räumliche Verortung             Ermöglichen von Wohnkarrieren!
steht in gewissem Widerspruch zu den persönlichen Erfahrungen der                                                  Multilokale bedeuten einen                    von passendem Wohnraum kann
                                                                                                                                                                                                              Berufsbedingte Multilokalität lässt sich
Teilnehmer/innen des Workshops. Sie alle verfügen über eigene mul-                                                 Standortnachteil für eine Stadt!              ein strategischer Baustein der               in verschiedene Phasen differenzieren,
                                                                                                                                                                 Stadtentwicklung sein!                       welche mit verschiedenen Anforderungen
tilokale Erfahrungen in ihrer Vergangenheit, wobei sie diese selbst als                                            Es gibt verschiedene Phasen einer
                                                                                                                                                                                                              an die Behausung einhergehen. Es braucht
                                                                                                                   berufsbedingten Multilokalität, welche        Unter Berücksichtigung der Verortungs-       daher mehr als nur Boardinghäuser,
zeitlich befristete biografische Durchgangssituation erlebt haben. Die-                                            jeweils entsprechende Wohnangebote            muster können Multilokale als Pioniere zur   um „Wohnkarrieren“ zu ermöglichen.
                                                                                                                   benötigen. Das Nichtvorhandensein             Aktivierung von Stadtquartieren genutzt
se persönlichen Erfahrungen sind an dieser Stelle jedoch wenig reprä-                                              von adäquatem Wohnraum und ein                werden. Sie fördern eine weltoffene
                                                                                                                                                                                                              Robusten und flexiblen Räumlichkeiten,
                                                                                                                                                                                                              die mehreren Phasen der Multilokalität
                                                                                                                   angespannter Wohnungsmarkt sind
sentativ und können nicht die gesellschaftliche Bandbreite multilokaler                                            für Multilokale hinderlich und können
                                                                                                                                                                 Atmosphäre, bevorzugen öffentliche           gerecht werden können, gilt dabei ein
                                                                                                                                                                 gesamtstädtische Räume und können ein        besonderes Augenmerk. Dabei ist eine
Akteure widerspiegeln.                                                                                             einer Multilokalität entgegenwirken und       Quartier bereichern. Negativen Aspekten      Mischung von sesshaften und mobilen
                                                                                                                   insbesondere die Suche nach qualifizierten    wie Gentrifizierung und Anonymität gilt es   Bewohnern/innen auf verschiedenen
                                                                                                                   Arbeitskräften für Arbeitgeber erschweren.    bei Wohnquartieren entgegenzuwirken.         Maßstabsebenen erstrebenswert.
Die Diskussion der Thesen führte im weiteren Verlauf des Experten-
workshops zu einer zu intensiven Auseinandersetzung mit dem kon-                                                   8                                             9                                            10
kreten Anwendungsbeispiel (Testplanung in Kapitel 4) im Hinblick auf                                               Neue Anforderungen für das                    Stadtimage und klares Profil werden          Von der Multilokalität zum
                                                                                                                   Arbeitsumfeld!                                wichtiger!                                   Erstwohnsitz!
dessen Funktion, Gestalt und Organisation.
                                                                                                                                                                 Multilokalität führt zu einem andauernden
Darüber hinaus wurden grundsätzlichere Fragen von den Expertinnen                                                  Berufsbedingte Multilokalität führt häufig
                                                                                                                                                                 Wettbewerb zwischen den verschiedenen
                                                                                                                                                                                                              Auf eine zunächst berufsbedingte
                                                                                                                   zu einer Konzentration von Arbeitszeit.                                                    residenzielle Multilokalität kann
und Experten aufgeworfen. Diese über die Testplanung hinausgehen-                                                  Arbeitstage folgen nicht mehr klassischen     Orten, wobei weichen Standortfaktoren        eine dauerhafte Migration und
                                                                                                                   Zeitmustern. Das räumliche Arbeitsumfeld      sowie Mobilitätsorten eine zentrale Rolle    langfristige Entscheidung für die
den Diskussionsschwerpunkte sind im Folgenden zusammenfassend                                                      von Arbeitsstätten wird für soziale           zukommt. Multilokale können gewisser         Stadt als Erstwohnsitz folgen.
                                                                                                                   Begegnungen wichtiger. Für Büro- und          Maßen als Botschafter lokaler Qualitäten     Durch planerische Berücksichtigung
dargestellt.                                                                                                       Gewerbestandorte entstehen neue               einer Stadt verstanden werden.               multilokaler Anforderungen kann dieser
                                                                                                                   Anforderungen an Naherholung und an           Erstkontakte mit einer Stadt (z. B.          Entscheidungsprozess begünstigt werden.
                                                                                                                   den öffentlichen Raum. Gemischt genutzte      Tagungen, Messen, touristische               Auf diese Weise können qualifizierte
                                                                                                                   Gebiete mit sozialen und kulturellen          Aufenthalte) können darüber hinaus           Arbeitskräfte gebunden werden und
                                                                                                                   Angeboten sind für Multilokale vorteilhaft.   die Entstehung von berufsbedingter           bewusste Standortentscheidungen für die
                                                                                                                                                                 Multilokalität begünstigen.                  Stadt können forciert werden.

                                                                          Abb. 5       Fotografie des
                                                                          Thesenplakats - Klebepunkte                                                                                                                       Abb. 6     Thesenpapier
                                                                          der Teilnehmer/innen                                                                                                                              * Umformulierung der These
                                                                          signalisieren überwiegend                                                                                                                         aufgrund des Feedbacks im
                                                                          Zustimmung                                                                                                                                        Expertenworkshop

Seite 22                                                                                                         Seite 23
3. 1.   Konkrete Zielsetzung                                                                                     Berufsbedingte Multilokalität kann als Teil einer urbanen Realität ver-
                                                                                                                 standen werden, die losgelöst von spezifischen Berufsgruppen und
Welche konkrete Zielsetzung soll die planerische Berücksichtigung be-                                            Einkommensschichten und bestimmten Orten praktiziert wird (siehe          Multilokalität ist „Teil
rufsbedingter Multilokalität verfolgen?                                                                          Kapitel 3. 4). Daher kann berufsbedingte Multilokalität auch unab-        der sozialen Wirklich-
                                                                                                                 hängig von der spezifischen lokalen Nachfrage einen lohnenswerten         keit“.
Aus Sicht der Expertinnen und Experten wurde diese Frage anhand
der zehn Thesen noch nicht beantwortet und soll daher im Folgenden                                               Planungsansatz darstellen und erst in einem zweiten Schritt ggf. mit      Gerd Kuhn

dargelegt werden.                                                                                                speziellen örtlichen Nachfragen abgeglichen werden.

Inhaltlich verfolgt die planerische Berücksichtigung berufsbedingter                                             Berufsbedingte Multilokalität kann als elementarer Be-
Multilokalität im Rahmen der Testplanung das Ziel einer sozialen Woh-                                            standteil heutiger Lebenspraktiken verstanden werden,
nungspolitik, die das Zusammenleben einer diversen und pluralisti-                                               die unabhängig von der spezifischen Örtlichkeit Rele-
schen Stadtbevölkerung fördert.                                                                                  vanz besitzt.
Neben dem gesellschaftlich stark verankerten Ideal der Kernfamilie
und der Idealvorstellung von Wohnen und Arbeiten in unmittelbarer
räumlicher Nähe scheint es uns lohnenswert, die andere Seite der ge-                                             3. 3.   Regionale Strategien
lebten Praktiken mit in die räumliche Betrachtung einzubeziehen.
                                                                                                                 Im Kontext der Fragen nach der örtlichen Relevanz der Thematik wur-
Darüber hinaus hat die Testplanung das Ziel der Schaffung von robus-                                             den auch Forderungen nach regionalen Strategien und Leitbildern for-
                                                                           1            Nachhaltigkeit    um-
ten und nachhaltigen1 Stadtstrukturen, die flexibel auf die sich stetig    fasst dabei stets sowohl die sozia-   muliert.
                                                                           le, ökonomische als auch ökologi-
verändernde Gesellschaft reagieren können.                                 sche Dimension gleichermaßen.
                                                                                                                 Analog zur lokalen Relevanz steht außer Frage, dass es in Maß und
                                                                                                                                                                                           1             Im Workshop wurde
Die Testplanung verfolgt dabei nicht das Ziel einer deterministischen                                            Form zu regionalen Unterschieden kommt.                                   hier auch die Formulierung des
                                                                                                                                                                                           Multilokalen als ‚Prototypen ge-
Wohnstruktur, die exklusiv für berufsbedingte Nebenwohnsitze konzi-                                              Wir verstehen berufsbedingte Multilokalität jedoch in einem allge-        sellschaftlicher Veränderungen‘ (in
                                                                                                                                                                                           Anlehnung an Dittrich-Wesbuer
piert ist, sondern sucht nach Formen der Integration und des Mitein-                                             meineren Sinne als Extremform1 heutiger Lebenspraktiken, in der die       et al. (2015)) gebraucht. Es stellte
                                                                                                                                                                                           sich jedoch disziplinübergreifend
anders.                                                                                                          Folgen einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, einer steigenden        heraus, dass diese Formulierung
                                                                                                                 Mobilität sowie Folgen der Digitalisierung und Individualisierung bzw.    missverständlich ist.
                                                                                                                                                                                           Es ist davon auszugehen, dass die
Ziel der Planung sollte eine Angebotsvielfalt mit größt-                                                         Auflösung tradierter Lebensmuster besonders deutlich werden.              multilokale Lebensführung auch
                                                                                                                                                                                           zukünftig nicht zum Normalfall wer-
möglicher Offenheit, Nutzungsneutralität und individuel-                                                         Nicht jeder wird aufgrund der genannten gesellschaftlichen Verände-       den wird. Dennoch ist und bleibt
                                                                                                                                                                                           Multilokalität als gelebte Praxis
lem Aneignungspotenzial sein.                                                                                    rungen zum Multilokalen, ist jedoch in unterschiedlicher Intensität und   eine relevante Dimension und Teil
                                                                                                                                                                                           einer pluralistischen (Stadt-)Gesell-
                                                                                                                 Ausprägung ebenfalls von diesen Veränderungen betroffen.                  schaft.
                                                                                                                 Insofern gilt auch hier unsere Empfehlung aus Kapitel 3. 2, dass be-      (Siehe Anmerkung zu These 3)

3. 2.   Örtliche Relevanz                                                                                        rufsbedingte Multilokalität als Denkmuster unabhängig von lokalen
                                                                                                                 Strategien betrachtet werden kann, da es um grundsätzliche gesell-
Einzelne Gesprächsteilnehmer/innen stellen die Frage, inwiefern der                                              schaftliche Veränderungen geht, die allerorts für eine diverse und plu-
spezifische Ort die grundsätzliche Relevanz der Thematik beeinflusst.                                            ralistische Stadtgesellschaft Geltung haben.

Es ist natürlich vollkommen richtig, dass der regionale Kontext sowie                                            Für die Stadt Karlsruhe, als Teil einer Technologieregion mit Arbeits-    “Wo geht die Arbeits-
der jeweilige Ort die Formen und das Maß berufsbedingter Multiloka-                                              plätzen von überregionaler Bedeutung, als Hochschulstandort und           welt hin?“
lität erheblich beeinflussen. Hierbei spielt insbesondere das Profil des                                         Standort von wichtigen Bundesorganen bietet die Stadt zugleich ein        Anita Breitbach

lokalen Arbeitsmarktes eine zentrale Rolle.1                               1            Klassische Beispiele     breit gefächertes sowie stellenweise hoch spezialisiertes Arbeitsange-
                                                                           besonderer Ausprägung von be-
                                                                           rufsbedingter Multilokalität sind     bot mit einer Nachfrage nach Arbeitnehmer/innen weit über die eigene
                                                                           bspw. Städte wie Wolfsburg oder
Versteht man berufsbedingte Multilokalität dagegen vielmehr als Denk-      Frankfurt am Main mit Firmensitzen    Stadtgrenze hinaus. Um nicht zuletzt auch für eine innovative Grün-
                                                                           von überregional operierenden Fir-    derszene und als Innovationsstandort interessant zu sein, braucht es
modell für eine sich stetig wandelnde Gesellschaft mit dem Ziel einer      men mit besonders vielen multilo-
Angebotsvielfalt (3. 1), dann können regionale Ausprägungen zunächst       kalen Arbeitnehmer/innen.             passende Wohnangebote. Projektarbeit, Befristungen oder spezifische
in den Hintergrund treten, da eine Ausdifferenzierung und Pluralisie-                                            Firmenlaufbahnen fordern räumliche Flexibilität der Arbeitnehmer/in-
rung von Lebensstilen allerorts zu beobachten ist.                                                               nen und verlangen nach neuen Wohnformen abseits der klassischen
                                                                                                                 2-3-Zimmer-Wohnung.

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