Die Schicksalswahl oder: Trumps Kampf gegen das Recht

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  Albrecht von Lucke

  Die Schicksalswahl oder:
  Trumps Kampf gegen das Recht
Es wäre vermessen, von der Wahl am         Denn mit einer zweiten Amtszeit Do-
3. November als der wichtigsten in der     nald Trumps würde dessen Politik der
US-Geschichte zu sprechen, denn das        rechtlichen Disruption fortgesetzt, und
würde die Rolle großer US-Präsiden-        zwar nicht zuletzt im Klimabereich –
ten, ohne die die amerikanische, aber      just zu einem Zeitpunkt, da die viel-
auch die Weltgeschichte anders ver-        leicht letzte Chance besteht, den He-
laufen wäre, zu Unrecht minimieren.        bel zu einer umweltfreundlichen, zu-
Doch eines steht fest: Der kommende        kunftsfähigen Politik noch umzulegen.
Urnengang ist der wichtigste dieses        Ohne kooperationsbereite Vereinigte
Jahrzehnts, ja vermutlich sogar dieses     Staaten, das haben die zurückliegen-
noch immer jungen Jahrhunderts.            den Jahre gezeigt, wird dies nicht ge-
   „Die Trump-Regierung gefährdet          lingen. Deshalb entscheidet der 3. No-
die amerikanische Demokratie wie           vember auch weltweit über die Zu-
keine andere in der modernen ame-          kunft der gegenwärtigen wie auch der
rikanischen Geschichte“, stellen die       kommenden Generationen.
US-Politikwissenschaftler Steven Le-          Natürlich steht Trump mit seiner
vitsky und Daniel Ziblatt in dieser Aus-   neoisolationistischen Politik in der Rie-
gabe zu Recht fest. Doch damit ist die     ge der bisherigen US-Präsidenten nicht
Bedeutung dieser Wahl noch nicht hin-      allein. Doch im Unterschied etwa zu
reichend beschrieben. Denn ein erneu-      seinem Vor-Vorgänger George W. Bush
ter Wahlerfolg Donald Trumps hätte         hat Trump nicht einmal versucht, den
Folgen, die weit über die Vereinigten      Anschein zu erwecken, dass er sich
Staaten hinausgingen.                      durch internationale Kodifikationen
   Um zu ermessen, was am 3. Novem-        binden lassen wolle. Und während
ber für die USA, aber auch für die Welt    Bush, getrieben von seiner neokonser-
auf dem Spiel steht, muss zu Beginn ei-    vativen Camarilla, das Projekt eines
ne Verlustanzeige stehen: In den ver-      globalen bellizistischen Menschen-
gangenen vier Jahren unter dem 45. US-     rechtsinterventionismus betrieb und
Präsidenten ist – mehr noch als die        dafür vor den Vereinten Nationen das
Idee der Demokratie – ein vielleicht       Lügengebilde der irakischen weapons
noch wichtigeres Prinzip geschliffen       of mass destruction errichten ließ, war
worden, nämlich die Herrschaft des         die Politik Trumps stets nur nach innen
Rechts, und zwar in nationaler wie         gerichtet. „America first“ und danach
auch in internationaler Hinsicht.          kommt nichts, lautete die Devise, koste
   Donald Trump steht im Kern für die      es auch den Rest der Welt, was es wolle.
Deregulierung des Rechts, für eine Po-        Trump steht damit für die funda-
litik der Entrechtlichung – und damit      mentale Absage an die universalisti-
für den prinzipiellen Bruch mit interna-   schen Traditionen der USA. Anstatt auf
tionalen und primär universalistischen     internationale Absprachen setzt er al-
Kodifikationen. Sollte er die Wahl ge-     lein auf das Prinzip des Deals. Interna-
winnen, stünden auf der globalen Büh-      tionale Verpflichtungen bedeuten ihm
ne vier weitere verlorene Jahre bevor.     nichts, an ihre Stelle tritt die radikale

                                               Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2020
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Freund-Feind-Ideologie nach außen                         den Vereinten Nationen gehalten hatte,
wie nach innen, als Diffamierung gan-                     woraufhin der US-Präsident die junge
zer Staaten („China-Virus“) und Bevöl-                    Schwedin per Twitter mit dem ganzen
kerungsgruppen (Linke und „Antifa“).                      Zynismus der ihm zur Verfügung ste-
   Indem Trump systematisch, in Wort                      henden Macht verspottete: „Sie scheint
wie Tat, seine Geringschätzung, ja                        ein sehr glückliches junges Mädchen
Verachtung der Vereinten Nationen                         zu sein, das sich auf eine glänzende
demonstrierte, zerstörte er ganz gezielt                  und wundervolle Zukunft freut. Das
den Multilateralismus und verzichte-                      ist so schön zu sehen.“ Trump versus
te damit auch auf das, was die interna-                   Thunberg – in diesen beiden Personen,
tionale Politik der USA in der Vergan-                    auch in ihrer gegensätzlichen Emotio-
genheit ausgemacht hatte, nämlich ei-                     nalität, leidenschaftliche Empörung
ne Mischung von Hard und Soft Pow-                        gegen rasendes Ressentiment, verkör-
er, von Machtpolitik mit Hilfe von Di-                    pern sich derzeit wohl am stärksten
plomatie und Recht. Seit dem Eintritt                     die beiden gegenläufigen Prinzipien:
der USA in den Ersten Weltkrieg war                       hier der Wunsch nach globaler Gerech-
deren stets auch interessengeleiteter                     tigkeit und Regulierung, dort der rein
Internationalismus auf eine verrecht-                     egoistische Nationalismus.
lichte Weltgemeinschaft gerichtet, an-
gefangen mit Wilsons Völkerbundidee
von 1917 über die Vereinten Nationen                        Die Abschaffung des Rechtsstaats
nach 1945 bis zur Idee einer „Neuen
Weltordnung“ unter George Bush se-                        Ausgerechnet im 75. Jahr der Grün-
nior nach 1989 (die dessen Sohn nach                      dung der Vereinten Nationen und
9/11 allerdings brutal konterkarierte).                   des Nürnberger Prozesses gegen die
   Trump dagegen kennt keine der-                         NS-Hauptkriegsverbrecher,        dessen
artige Variationsbreite, kein Zusam-                      Auftakt am 20. November 1945 auch
menspiel von Macht und Recht. Ob mit                      für den Beginn einer Internationali-
dem Ausstieg aus dem Pariser Klima-                       sierung des Strafrechts steht, ausge-
abkommen oder den Absagen an                              rechnet in diesem Monat könnte nun
WTO, WHO oder UNESCO: Trump                               jener Mann für weitere vier Jahre im
zieht den finalen Schlussstrich. Noch                     Amt bestätigt werden, der der glo-
in seiner bislang letzten internationa-                   balen Geltung des Rechts die wohl
len Rede hielt er ein wütendes Plädo-                     radikalste Absage erteilt hat. Damit
yer gegen die Globalisierung. „Die Zu-                    aber – und das ist das Tragische die-
kunft gehört nicht den Globalisten“,                      ser Wahl – agiert Trump letztlich nicht
so der US-Präsident am 24. Septem-                        nur zum Schaden Amerikas, sondern
ber per Videoschalte vor der fast men-                    auch zum Schaden der Vision von ei-
schenleeren      UN-Vollversammlung,                      ner friedlichen und gerechten Welt-
„die Zukunft gehört Patrioten“. Wei-                      gemeinschaft. Die Nutznießer der
se Regierungschefs stellten das Wohl-                     Trumpschen Politik sind dagegen all
ergehen ihres eigenen Landes und ih-                      jene, die von der Idee einer internatio-
rer eigenen Bevölkerung stets an erste                    nalen Rechts- und Wertegemeinschaft,
Stelle. Allein starke Nationen könnten                    getragen von der Bindung an univer-
die Welt verbessern.                                      sell gültige Menschenrechte, ohnehin
   Damit machte Trump noch einmal                         nichts halten, von Xi Jinping über Wla-
deutlich, dass er Politik immer nur für                   dimir Putin bis Jair Bolsonaro.
sein Land machen wird – America first                        Doch nicht nur auf internationalem
mit aller Brutalität. Zugleich gab er da-                 Parkett, sondern auch in der Innenpo-
mit auch seine verspätete Antwort auf                     litik war Trumps Politik in erster Linie
jene furiose Rede („How dare you“), die                   ein Kampf gegen das Recht. Vom ersten
Greta Thunberg just ein Jahr zuvor vor                    Tag an schliff er den Rechtsstaat, galt

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sein Kampf allen seine Macht kontrol-             Ernennung bis nach der Wahl gewar-
lierenden Gewalten – dem Repräsen-                tet und damit auf ihre eigene Chance
tantenhaus, sprich: den dort seit 2018            verzichtet hatten. Mit Barrett wäre da-
die Mehrheit stellenden Demokraten,               gegen die konservative Fraktion am
vor allem aber der unabhängigen Jus-              Supreme Court mit dann sogar sechs
tiz wie auch der freien Presse. Unab-             zu drei Stimmen vermutlich auf Jahr-
hängige, ihm nicht genehme Journa-                zehnte in der Mehrheit.
listen werden von Trump schlicht als
„Feinde des Volkes“ bezeichnet.
   Hieran zeigt sich: Was Trump un-                 Die Herrschaft der Lüge
ter law and order versteht, hat mit der
Herrschaft des Rechts nichts zu tun,              Das wohl wichtigste Mittel der Trump-
sondern bedeutet letztlich immer das              schen Politik im Kampf gegen das
Recht des Stärkeren. Was dagegen De-              Recht war und ist dessen ganz geziel-
mokratie und Rechtsstaat im Kern aus-             te Politik der Lüge – zwecks Relativie-
macht, die Selbstbindung, ja die Un-              rung, ja sogar radikaler Infragestel-
terwerfung des Einzelnen unter das                lung jedes Wahrheitsanspruchs in der
Recht, hat Trump von Anfang an für                Politik. Das entscheidende Instrument
sich abgelehnt.                                   dafür ist die bewusste Konstrukti-
   Seinen Kampf gegen das Recht führ-             on „alternativer Fakten“, wie es 2017
te er dabei durchaus auch mit Hilfe des           Trumps damalige persönliche Berate-
„Rechts“, indem er es strategisch ins-            rin Kellyanne Conway nannte. Seither
trumentalisierte: Auf weniges ist der             betreibt Trump aus dem Weißen Haus
US-Präsident so stolz, wie auf die Be-            eine Informationspolitik, die an Geor-
rufung von 200 konservativen, vorwie-             ge Orwells „1984“ erinnert. Das Oval
gend jüngeren weißen Männern an                   Office mutierte zum Wahrheitsmi-
die amerikanischen Bundesgerichte,                nisterium, das sich seine ganz eigene
die dort nun auf Lebenszeit im Trump-             Wahrheit schafft und dabei auch vor
schen Sinne Recht sprechen werden.1               hemmungsloser Leugnung der gerade
   Die Krönung dieser Strategie war               eben noch postulierten völlig anderen
zweifellos die Umkehrung der Macht-               „Fakten“ nicht zurückschreckt.
verhältnisse am Supreme Court, dem                   Die ganze Absurdität des permanen-
höchsten Gericht der USA. Schon die               ten Trumpschen Twittergewitters, sei-
Ernennung von Brett Kavanaugh und                 ne fast nicht mehr zählbaren Unwahr-
Neil Gorsuch hatte die konservative               heiten – das von der „Washington Post“
Mehrheit im neunköpfigen Gremium                  geführte Lügenbarometer steht inzwi-
auf Jahre zementiert. Ausgebaut wer-              schen bei mehr als 20 000 falschen oder
den soll sie nun noch auf den letzten             irreführenden Behauptungen wäh-
Metern, nach dem Tod der liberalen                rend seiner Amtszeit –, wie seine für
Richterlegende Ruth Bader Ginsburg,               einen normalen Betrachter nur noch
mit der Besetzung des vakanten Rich-              lächerlich anmutende Selbsthero-
terinnenpostens durch Amy Coney                   isierung hatten dabei immer auch und
Barrett, der reaktionären Kandida-                vor allem eine Funktion: Sie haben
tin von Trumps Gnaden – ein scham-                durch permanente Konfusion und Ab-
loser Schachzug, wenn man bedenkt,                lenkung vom Wesentlichen den harten
dass die Demokraten vier Jahre zuvor              Kern der Trumpschen Präsidentschaft
aus Achtung vor dem Recht mit einer               immer wieder verdrängt – die Be-
                                                  kämpfung der Herrschaft des Rechts
1 Mehr als jeder Fünfte der 890 Bundesrichter     zugunsten möglichst absoluter, unkon-
  wurde von Trump berufen, vgl. Julia Monn, Im    trollierbarer Macht.
  Schnellzugstempo verändert Donald Trump
  das Gesicht der amerikanischen Rechtspre-          Es ist insofern an Ironie kaum zu
  chung, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 25.8.2020.   überbieten, dass Trump im letzten Jahr

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seiner Amtszeit seinen Meister in ei-                     ungeheuerliche Frage im Raum steht:
nem Ereignis gefunden hat, dem auch                       Wird Trump das Ergebnis dieser Wahl
mit noch so dreisten Lügen nicht bei-                     überhaupt anerkennen – und damit die
zukommen ist: 220 000 am Coronavirus                      Herrschaft des Rechts in der Demokra-
Verstorbene, 20 Millionen arbeitslose                     tie? Schon vor vier Jahren hatte Trump
Amerikaner und ein massiver Nieder-                       angedroht, eine Niederlage nicht zu
gang der US-Ökonomie strafen jeden                        akzeptieren und damit das Hochamt
Versuch der Verharmlosung der Pan-                        einer jeden Demokratie frontal atta-
demie durch den Präsidenten Lügen.                        ckiert, nämlich den Akt und Ausgang
   Aber auch dadurch gibt sich Trump                      der Wahl selbst. Insofern gilt für die-
nicht geschlagen, im Gegenteil: In ei-                    sen Wahlabend ausnahmsweise nicht
nem wahren finale furioso bietet er                       „Tertium non datur“, entweder Trump
noch einmal seine wohl schärfste Waf-                     oder Biden. Denn diesmal ist ein Drit-
fe auf, nämlich sein ganzes Ressenti-                     tes möglich, wenn nicht sogar wahr-
ment, ja seinen Hass auf jenes Estab-                     scheinlich – dass es nämlich in der
lishment, dem er doch selbst originär                     Wahlnacht selbst und an den folgen-
angehört. Mit dem gezielten Schüren                       den Tagen und Wochen, zu keinem Er-
der Wut bei seinen Anhängern nimmt                        gebnis kommen wird, weil Trump eine
Trump ganz bewusst die finale Ab-                         mögliche Niederlage nicht anerkennt.
schaffung des Rechtsstaats in Kauf –                         Trumps Ziel ist es ganz offenbar, un-
wenn er nicht sogar genau darauf ab-                      bedingt und mit allen Mitteln an der
zielt –, und zwar durch die Entfesse-                     Macht zu bleiben. Der eigentliche,
lung eines Bürgerkriegs.                                  letzte Grund dafür könnte ein ziemlich
   Trumps Bitte im ersten TV-Duell mit                    banaler sein: Laut den Ermittlungen
Joe Biden an die rassistischen Proud                      der „New York Times“ hat Trump hun-
Boys, „Haltet euch zurück und haltet                      derte Millionen Dollar Schulden – und
euch bereit“ („Stand back and stand                       die nächsten Kredite sind schon in Kür-
by“), dürften die rechtsradikalen Ad-                     ze fällig.2 Hinzu kommt der dringende
ressaten der Botschaft jedenfalls als                     Verdacht der Steuerhinterziehung und
Aufforderung zur Gewalt verstehen.                        Veruntreuung von Geldern. Die Staats-
Dass ein Teil von Trumps Anhängern                        anwaltschaft Manhattan bereitet des-
längst zu allem entschlossen ist, belegt                  halb offenbar ein Strafverfahren gegen
die Tatsache, dass die demokratische                      den US-Präsidenten wegen dubioser
Gouverneurin von Michigan, Gretchen                       Geldgeschäfte seines Firmen-Impe-
Whitmer, eines der größten Feindbil-                      riums vor. Die Angst vor dem da-
der der white supremacists, von einer                     mit einhergehenden Gesichtsverlust
ultrarechten Miliz entführt werden                        könnte der eigentliche Grund seines
sollte. Auch das konnte Trump aller-                      Kampfes um die Macht sein. Denn mit
dings nicht davon abhalten, bei einem                     dem kläglichen Ende des Präsidenten
Wahlkampfauftritt gegen die Gouver-                       Trump endete auch die Illusion des er-
neurin zu hetzen. Mit „Sperrt sie ein“                    folgreichen Geschäftsmannes; mit dem
benutzt er dabei exakt dieselbe Parole,                   Machtverlust fiele sein Lügengebäude
mit der er im Wahlkampf 2016 gegen                        wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Hillary Clinton Front gemacht hatte.                      Gegenwärtig ist es also nicht seine an-
   Damit spielt Trump ganz offen mit                      gebliche Immunität gegenüber dem
der Gewalt gegen das Recht und mit                        Virus, sondern immer noch die – wenn
der Möglichkeit eines Rückfalls in den                    auch nicht absolute – politische Immu-
Bürgerkrieg. Insofern ist es kein Zu-                     nität des Präsidenten, die Trump selbst
fall, sondern vielmehr Ausdruck seines                    vor der Härte des Rechtsstaats schützt.
absoluten Rechtsnihilismus, dass am
                                                          2 Russ Buettner, Susanne Craig und Mike McIn-
Anfang wie am Ende seiner Legisla-                          tire, The President’s Taxes, in: „The New York
turperiode, 2016 wie 2020, die gleiche                      Times”, 27.9.2020.

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Mit einer Klage würde dagegen of-                 der US-Amerikaner – und zugleich das
fensichtlich, wie Trump sich den Staat            Lehrbeispiel dafür, wie rasend schnell
zur Beute gemacht hat – zur Beute sei-            eine gestandene Demokratie in Rich-
nes Rackets, des fast schon mafiotisch            tung Autokratie kippen kann.
agierenden Trump-Clans. „Noch nie                    Sollte Joe Biden die Wahl tatsächlich
hat ein US-Staatschef seine Präsident-            verlieren, wäre dies auch deshalb so
schaft so sehr mit seinen privaten fi-            katastrophal, weil ein Land von mehr
nanziellen Interessen verquickt wie               als 300 Millionen Einwohnern damit
der aktuelle Amtsinhaber“, stellt der             den Nachweis erbracht hätte, dass es
Journalist und US-Experte Claus Hul-              nicht in der Lage ist, einen geeigneten
verscheidt fest. „Nach Berechnungen               Kandidaten gegen einen, bisher nur
der Bürger für Verantwortung und                  durch die Reste eines funktionieren-
Ethik (CREW), einer Nichtregierungs-              den Rechtsstaats verhinderten Diktator
organisation in Washington, ist der Prä-          aufzubieten. Nach der Nominierung
sident Trump in 1341 Amtstagen genau              von Hillary Clinton 2016 wäre dies das
3403 Mal in einen Interessenkonflikt              zweite, noch weit größere historische
mit dem Geschäftsmann Trump gera-                 Versagen der US-Demokraten. Vor vier
ten.“3 Damit hat der US-Präsident die             Jahren war Trump in realpolitischer
maßgebliche zivilisatorische Grund-               Hinsicht noch eine black box. Dies-
unterscheidung, die Trennung von pri-             mal aber wissen die Wählerinnen und
vat und öffentlich, aufgehoben und die            Wähler ganz genau, was auf dem Spiel
Privatisierung des Staates betrieben.             steht – denn klarer als in den vergan-
Die Staatsgeschäfte waren für Trump               genen Monaten hätte das Scheitern
stets Deals zu seinen Gunsten. Ame-               des Präsidenten nicht sein können.
rica First bedeutete in seinen Augen              Eine Wiederwahl wäre daher unver-
letztlich immer Trump First.                      zeihlich.
                                                     Sollte Biden dagegen gewinnen –
                                                  und Trump das Ergebnis tatsächlich
  Charaktertest für die Demokratie                anerkennen –, wäre dieser Wahlsieg
                                                  des Demokraten natürlich kein All-
Weil er nun den Zusammenbruch des                 heilmittel der nationalen wie interna-
eigenen Lügengebäudes – als angeb-                tionalen Probleme. Auch ein Joe Biden
lich erfolgreicher Immobilientycoon               wird nicht urplötzlich von „America
und bester Präsident aller Zeiten –               first“ auf „The world first“ umschal-
fürchtet, will sich Trump mit der erbit-          ten, sondern die Europäer, und speziell
terten Verteidigung seiner Macht ge-              Deutschland, stärker in die Pflicht neh-
gen eine Anklage immunisieren. Doch               men. Doch immerhin gäbe es mit Bi-
wie auch immer die Wahl letztlich                 den, auch aufgrund dessen starker Prä-
ausgeht, eines steht schon jetzt fest:            gung als langjähriger Außenpolitiker,
Eine Abwahl Donald Trumps – voraus-               eine reelle Chance dafür, dass die Ver-
gesetzt es folgt auch dessen Abgang –             einigten Staaten an der Seite der Euro-
beseitigt zwar den Trumpismus an der              päer zum Projekt des Westens und zur
Macht, aber nicht den Typus Trump.                Vision einer universalistisch orientier-
   Trump, „The Donald“, ist nur des-              ten Wertegemeinschaft zurückkehren.
halb der Held vieler Corona-Leugner,              Angesichts der ungeheuren globalen
weil er der Inbegriff eines völlig ent-           Probleme von Hunger, Flucht und Kli-
fesselten, regellosen Individualismus             mawandel wäre das die wohl einzige
ist. Trump ist und bleibt der Charak-             Chance für die so dringend gebotene
tertest auf die Demokratiefestigkeit              Weltordnungspolitik im Rahmen der
                                                  Vereinten Nationen – und gegen die
3 Claus Hulverscheidt, Er nimmt, was er kriegen   aufziehende Korona der rein nationa-
  kann, in: „Süddeutschen Zeitung“, 18.10.2020.   listisch agierenden Autokraten.

                                                      Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2020
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