Die Schrumpfkur - Spiegel
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Die Schrumpfkur Zukunft (Teil 3) Landlust? Von wegen. Die Städte boomen, aber viele Dörfer veröden. Sechs Ideen gegen die große Leere auf dem Land. D er Mann von der Sparkasse kommt zwischen Fulda und Gießen. Er hat erlebt, dass sich die Tendenz zur Leere fortsetzen, noch alle zwei Wochen, mittwoch- wie Schulen und Gaststätten schlossen. möglicherweise beschleunigen wird. morgens um 8.45 Uhr. Oliver Cas- Wie Häuser in den Ortskernen verfielen. Früher seien er und seine Kollegen mit par steuert seinen Bus nach Lautertal- Wie die älteren Bewohner zurückblieben, drei Bussen der Sparkasse Oberhessen Eichenrod und parkt vor dem Gebäude, als ihre Kinder und Enkel sich nicht mehr über die Dörfer gefahren und hätten gut in dem früher die Schule war. für Sparschweine zum Weltspartag interes- zu tun gehabt, sagt Caspar. Gerade für die Er schaltet die Standheizung ein, sie sierten, sondern für Studienplätze oder gut älteren Menschen sei der persönliche Kon- nimmt brummend ihren Kampf gegen den bezahlte Jobs in den Städten. takt zu einem Berater wichtig. Heute gebe kalten Wind auf dem hessischen Vogels- Der hessische Vogelsbergkreis zählt es nur noch diesen Wagen, in dem er jetzt berg auf. Für die nächste Stunde sind Cas- zu jenen Regionen, in denen die Bevölke- sitze. Aber auch der, sagt Caspar, „ist nach par, 59, und sein weiß-rot lackierter 7,5- rung in den vergangenen Jahren stark ge- 16 Dienstjahren langsam abgängig“. Tonner die Verbindung der Eichenroder schrumpft ist. Dieses Schicksal teilen Ge- Immerhin: Die Sparkasse will den alten zu den Finanzströmen der Welt. Oder we- biete im westlichen Rheinland-Pfalz, in Bus noch einmal durch ein neues Fahr- nigstens zum eigenen Konto. Südostniedersachsen, Nordhessen, Nord- zeug ersetzen, ein kleineres, sparsameres. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln bayern und weiten Teilen Ostdeutsch- Auf lange Sicht werde der Service aller- sitzt Caspar hinter einer Glasscheibe. lands. Und die Entwicklung wird – viel- dings kaum vertretbar bleiben, sagt ein „Komm rein, hier isses schön warm“, ruft leicht weniger heftig, aber genauso un- Sparkassensprecher. „Wenn nur noch ein, er seinem ersten Kunden zu. Robert Schä- ausweichlich – viele weitere ländliche zwei Leute zu den Terminen im Ort kom- fer, 75, steigt über zwei ausfahrbare Stufen Regionen der Bundesrepublik treffen. men, ist irgendwann Schluss.“ in den mobilen Kassenraum und stellt sei- Einige Dörfer in den Schrumpfgebie- Die, die zurückbleiben, müssen sich nen Regenschirm ab. Er greift sich ein ten haben innerhalb weniger Jahre fragen: wie an Bargeld kommen, wenn Überweisungsformular, blickt auf Caspar mehr als ein Fünftel ihrer Bevölkerung es weder Geldbus noch Geldautomaten und sagt: „Wenn der mal nicht mehr verloren, wie die Forscher des Berlin- gibt? Und wie sich versorgen, wenn kommt, kommt keiner mehr.“ Instituts schreiben, das die demogra- der Laden im Ort dichtmacht und kein Seit 37 Jahren tourt Caspar im Sparkas- fische Entwicklung in Deutschland Bus mehr in die Stadt fährt? Wer senbus durch die Dörfer des Mittelgebirges untersucht. Die Experten glauben, behandelt Krankheiten, wenn ein 97% der Feuerwehrmänner und -frauen in Deutschland sind Freiwillige. 5000 Einwohner Besonders in ländlichen Gebieten mit rückläufiger Bevölkerung könnte muss eine Gemeinde mindestens haben, damit sich ein Supermarkt rentiert. es schwer werden, Von 2006 bis 2013 ist die Zahl genügend Nachwuchs der kleinen Lebensmittelgeschäfte zu finden. um 44% zurückgegangen. Quellen: EHI, Feuerwehrverband, Bundesärztekammer, BBSR
Serie 9% Landarzt nach dem anderen seine Praxis seinem früheren Berufsleben ausspielen aufgibt? Wo lernen die Kinder, wenn sich kann. eine eigene Schule nicht mehr lohnt? Stein kurbelt am Lenkrad, stößt ein we- Rheinland-Pfalz hat darauf reagiert und nig vor, ein wenig zurück, und irgendwie Um als erstes Bundesland ein Demografie- schafft er es, den VW-Bus kratzerfrei am ministerium geschaffen. Es liegt natürlich Lkw vorbeizumanövrieren. „Geht doch“, werden die Flächen in der Stadt, in Mainz, und ist für Arbeit, sagt er und schaut zufrieden hinüber zu für Siedlungen und Soziales, Gesundheit zuständig. Aber eben seinem Beifahrer Manfred Klink. Dann auch für Demografie. Man dürfe die Men- steigen die beiden aus, klingeln an einer Verkehr in Deutschland schen nicht aufgeben, die auf dem Land Haustür und bringen vorsichtig ihren bis 2030 im Vergleich verwurzelt seien und nicht fortziehen woll- nächsten Fahrgast zum Auto. zu 2010 zunehmen – ten, sagt die Ministerin Sabine Bätzing- Stein und Klink sind im „Stromer“ unter- Lichtenthäler (SPD). „Je später wir auf wegs. So nennen sie den Bus, der seit August und das bei rück- den demografischen Wandel reagieren, die Dörfer rund um die Gemeinde Strom- läufiger Bevölkerung. desto teurer und schwieriger wird es“, sagt berg im Hunsrück miteinander verbindet. Die Folgekosten sie, „aber wir können zeigen, dass es funk- Mehr als 20 Freiwillige haben sich gefunden, tioniert.“ um Fahrwünsche am Telefon entgegenzu- der Infrastruktur Es gibt viele Ideen, in diesem Ministe- nehmen, täglich neue Routen zu planen und werden kommende rium und in anderen Behörden, von den den Bus durch die hügelige Landschaft zu Generationen zu Forschern des Berlin-Instituts und vielen steuern. Viermal wöchentlich sind sie unter- weiteren Wissenschaftlern, von kommuna- wegs. Die Nachfrage sei groß, sagt Stein, tragen haben. len Politikern und engagierten, ehrenamt- „wir könnten auch rund um die Uhr fahren“. lich tätigen Bürgern. Und vieles passiert Stein, 65, war früher Busfahrer. Beifah- bereits in Deutschland. Der SPIEGEL hat rer Klink, 60, ehemaliger Projektleiter bei sechs Orte besucht, die für sechs Wege und einem Softwareanbieter, knobelt am liebs- Ansätze stehen: für ein Leben in den klei- ten an Einsatz- und Routenplänen. Und nen Orten, gegen die Leere auf dem Land. für Maria Thomanek, 88, die Stein und Klink in Dörrebach von ihrer Haustür ab- holen, ist der „Stromer“ an diesem trüben Die Chauffeure Winternachmittag die einzige Möglichkeit, In einer engen Gasse von günstig, trocken und bequem den Hausarzt Dörrebach scheint es nicht im Nachbarort zu erreichen. mehr weiterzugehen. Von „Ein normaler Bus hält hier ja nur noch vorn nähert sich ein Last- selten“, sagt Thomanek, als sie in der hin- STR OMB E R G wagen, an der Seite sind es teren Sitzreihe Platz genommen hat. Dann nur noch wenige Zentimeter plaudert sie von alten Zeiten, als es noch bis zur Hauswand. Es ist der Moment, Läden gab in Dörrebach und sie noch fit in dem Peter Stein die Routine aus genug war, zu Fuß in den Nachbarort zu laufen, um Bekannte zu treffen. Im „Stro- mer“, schwärmt Thomanek, führen nette Menschen. Einige Stammfahrgäste verab- reden sich zum Kaffeeklatsch – der Bus als Sozialstation. 53 Jahre 200 allgemeine betrug 2013 das Durchschnitts- Krankenhäuser alter der ambulant tätigen Ärzte. weniger seit 2003*: Schon heute sind Viele erreichen in den kommenden 177 Gemeinden mehr als eine halbe Jahren die Altersgrenze. Autostunde vom nächst- Der Ärztemangel, in ländlichen gelegenen Kranken- Regionen heute schon Realität, haus entfernt. wird sich in den kommenden * Stand: 2013 Jahren verschärfen. DER SPIEGEL 14 / 2015 55
Für die Bürgermeisterin der Verbands- dort Menschen, die wochenlang nieman- „Wir haben eine Win-win-Lösung ge- gemeinde ist das sogar eine seiner wich- den gesprochen hätten. Mit dem „Stro- funden“, freut sich Schulleiterin Lingel- tigsten Funktionen. Anke Denker ist zu- mer“ könnten sie wieder am sozialen Le- Moses. Und Bürgermeister Möcking nutzt ständig für Stromberg und neun kleine ben teilnehmen und sich zu Freunden, den neuen Gesamtschulableger in seiner Ortschaften drum herum. Manche Orts- zum Einkaufen oder zu Veranstaltungen Gemeinde als Chance, gegen den demo- teile seien schon vom Busverkehr abge- bringen lassen. grafischen Wandel zu kämpfen und neue schnitten, sagt sie. Manchmal treffe sie Etwa 30 Bürgerbusse fahren inzwischen Bürger anzulocken. Für Pendler aus dem in Rheinland-Pfalz. Die Anschaffung des Ruhrgebiet sei Kerken durchaus interes- Späte Rettung In rund 1700 Gemeinden Fahrzeugs wird dort von Landesbehörden sant. Eine Gemeinde auf dem Land mit dauert die Autofahrt zum nächstgelegenen mit 8500 Euro gefördert. In Stromberg ha- günstigen Grundstückspreisen – und nun Krankenhaus mindestens 20 Minuten (2013), ben sie es ohne Geld vom Land geschafft: auch einem guten Schulangebot. wenn keine weiteren Häuser geschlossen Den Bus stiftete ein Autohaus, den Sprit zahlt die Stadtverwaltung. „Aber eigent- werden. lich“, sagt Denker, „lebt das Ganze von Die mobile Ärztin den Ehrenamtlichen, denen die Damit Kerstin Finger ihren neu- Sache Spaß macht.“ en Patienten, Herrn Hoppe, fin- det, hat der die Nachbarin alar- Kiel miert. Sie soll vor der Abbie- Die Schul-Teiler TE M P LIN gung auf und ab gehen, da, wo Rostock Bevor Schul- sich Finger vor Weihnachten verfahren hat Hamburg leiterin Regina und deshalb nie ankam. Erkennungszeichen: Lingel-Moses schwarz-weißer Hund, grüne Pudelmütze. zur Arbeit Kerstin Finger, eine große, schlanke Frau fährt, muss sie mit dunklem Pagenschnitt, ist Zahnärztin Bremen in ihren in der Uckermark, seit 30 Jahren praktiziert Berlin KRE FE LD Terminplan sie in Templin. Jeden Dienstagmorgen steigt schauen. Denn ihre sie in ihren umgebauten weißen Lieferwa- Hannover Schule gibt es zweimal: gen und besucht Patienten zu Hause. Alte, in der Stadt Krefeld Kranke, Behinderte, all jene, die den Weg und in der Gemeinde in die Praxis nicht schaffen. „Ich sehe das Kerken, zehn Kilo- als Dienst an der Gesellschaft“, sagt Finger. meter voneinander „Ich habe als Ärztin eine Versorgungspflicht, Leipzig Dresden Köln Erfurt entfernt. und der muss ich nachkommen.“ In Krefeld waren An einem nasskalten Dienstag im Winter mehrere Schulen ge- warten sieben Patienten auf sie, in einem schlossen worden, in den ver- Umkreis von 30 Kilometern. Die ersten Frankfurt am Main gangenen zehn Jahren erwischte es drei Termine im Altenheim erledigt sie 9 von 68. „Eine Folge des demografi- schnell, dort gibt es ein Krankenzimmer, schen Wandels“, sagt der für Schulen das sie benutzen darf. Danach müssen ihre zuständige Fachbereichsleiter Jürgen beiden Mitarbeiterinnen improvisieren. Maas. In der Stadt am Nieder- Manche Patienten bleiben im Rollstuhl rhein gibt es weit mehr Men- sitzen, bei anderen dient der Sofasessel als schen über 60 als Kinder und Behandlungsstuhl. Die eine Mitarbeiterin Quelle: BBSR Jugendliche. Die Zahl der stützt dann den Kopf des Patienten, die Stuttgart Fünftklässler wird bis 2022 andere leuchtet mit einer einfachen Stirn- um voraussichtlich zehn Pro- lampe für Jogger in den Mund. zent sinken. Seit fünf Jahren arbeitet die Zahnärztin München Als es vor zwei Jahren so aus- so. Damals hat sie sich einen Behandlungs- sah, als müsse auch die Robert- apparat gekauft, der sonst in Lateinameri- Jungk-Gesamtschule geschlossen ka eingesetzt wird. Er steckt in einem trag- werden, machte sich Maas auf die baren Plastikkoffer und ist in fünf Minuten Suche nach einem Partner. Er stieß auf aufgebaut. Wenn vorn die drei Schläuche Lange Rettungswege den Bürgermeister der Nachbargemeinde Kerken. Dirk Möcking hatte gerade die festgedreht sind und unten die Wasserfla- sche angeschraubt ist, kann Finger all das Erreichbarkeit von Krankenhäusern Hauptschule in seiner Gemeinde dichtma- tun, was sie sonst in ihrer Praxis erledigt: mit dem Pkw chen müssen und überlegte, wie er das Zahnstein entfernen, Prothesen richten, Szenario: bei Schließung des schöne alte Schulgebäude noch nutzen Zähne ziehen, bohren, füllen, versiegeln. jeweils nächsten Krankenhauses könnte. Templin sei medizinisch nicht einmal Die Idee einer ungewöhnlichen Partner- unterversorgt, sagt Finger. „Aber niemand schaft wurde geboren: Die Krefelder Ge- kümmert sich um die, die nicht in die Q 0 bis unter 15 Minuten samtschule bekommt eine Außenstelle in Praxis kommen können.“ Die Anfahrtswe- Q 15 bis unter 20 Minuten Kerken, Stadt und Gemeinde teilen sich die ge sind weit, die Kilometerpauschale der Kosten. Einige Lehrer werden zu Pendlern, Krankenkassen sei verschwindend gering. Q 20 bis unter 25 Minuten Krankenhaus dafür müssen die Schüler nicht mit dem Ihr Engagement rechnet sich erst seit Kur- Q 25 bis unter 30 Minuten der Grund- Bus zur Schule gefahren werden. Im vori- zem. Denn erst 2013 wurden Extra-Hono- Q 30 und mehr Minuten versorgung gen Sommer wurden die ersten Fünftkläss- rare für Hausbesuche bei Menschen mit ler in Kerken eingeschult. Pflegestufe eingeführt. 56 DER SPIEGEL 14 / 2015
Serie Bis Finger vor dem Haus der Familie Hoppe steht, sitzt sie 35 Minuten lang entsorgung zu begrenzen. Lautertal wurde Beispielgemeinde. Stille Reserve im Auto, fährt über schnurgerade Inzwischen gibt es ein ausgeklügeltes „Engagieren Sie sich bereits ehrenamtlich, Straßen, gesäumt von kahlen Bäumen, Konzept für die Gemeinde. Es sieht klei- oder können Sie sich ein Engagement vorstellen?“* durch nebelbehangene Felder. Die Nach- nere, dezentrale Anlagen vor sowie offene barin mit dem schwarz-weißen Hund ist Gräben statt teurer unterirdischer Beton- Q Engagiere mich bereits schon weg, aber Frau Hoppe navigiert rohre, zumindest für das Regenwasser. Es Q Kann ich mir gut/vielleicht vorstellen die drei Frauen am Telefon bis vor ihre wird dadurch deutlich billiger für Lauter- QEher nicht Haustür. tal – aber ganz zufrieden ist Stock noch Umfrage vom IfD-Allensbach vom August 2014; * Elf Antworten zur In Brandenburg hat Finger bislang keine nicht. Immer wieder stoße er im Alltag auf Auswahl; Bevölkerung ab 16 Jahre; Angaben in Prozent; fehlende Nachahmer gefunden. Aber immer wieder komplizierte Regelungen und hohe Stan- an 100: unentschieden/keine Angabe rufen kleine Praxen irgendwo aus Deutsch- dards, die möglicherweise für wachsende land an und wollen Tipps. Und neulich hat die Bundeszahnärztekammer angefragt: Städte sinnvoll seien, aber nicht für kleine, schrumpfende Gemeinden. „Wir sind noch 14 59 ob sie nicht Interesse daran habe, eine Fort- viel zu wenig darauf vorbereitet, dass In- Unterstützung von bildung zum Thema „Mobile Praxis“ an- frastruktur wegen der demografischen Ent- älteren Menschen, bei- zubieten. „Ich denke bei der ganzen Sache wicklung auch mal zurückgebaut werden auch an mich“, erklärt Finger. „Ich möchte muss“, sagt der Bürgermeister. spielsweise beim Ein- auf dem Land wohnen bleiben, wenn ich Ohne diesen Rückbau werde der Unter- kaufen, bei Arztbesuchen alt bin. Und hoffe, dass mich dann auch halt der Kanäle, Straßen oder Kläranlagen jemand versorgt.“ für die verbliebenen Landbewohner so teu- er, dass noch mehr von ihnen vertrieben Der Rückbau-Experte würden. Die Abwanderung, fürchtet Stock, beschleunige sich dann noch. 11 40 Heiko Stock war gerade erst Engagement bei im Amt, als er die Zahl zum Organisationen wie der ersten Mal las: Zwölf Millio- Der Tele-Patient freiwilligen Feuerwehr, nen Euro, so stand es in einer Für die tägliche Kontroll- dem Roten Kreuz usw. V O G E L SB E R G Akte, werde die Sanierung untersuchung muss Heini der maroden Abwasserkanäle Rumpf sein Schlafzimmer in Lautertal kosten. Zwölf Millionen Euro nicht verlassen. Er legt sich für weniger als 2500 Einwohner, die noch in der hessischen Vogelsberg-Gemeinde AS CHB ACH eine Blutdruckmanschette um den Arm, stellt sich auf eine 10 30 wohnen, auf sieben Ortsteile verteilt. „Mir Waage, das war’s. Sekunden später schickt Trainer bzw. Betreuer war sofort klar: Das geht nicht.“ ein Mobiltelefon die Daten automatisch im Sportverein Stock, 45, ist dort seit 2006 Bürgermeis- aus dem pfälzischen Aschbach an einen ter und ein pragmatischer Mann. Weil Rechner im gut 30 Kilometer entfernten die Einwohnerzahl seit vielen Jahren Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern. schrumpft, lässt er Spielplätze zu Mehrge- Wenn Puls und Blutdruck in Ordnung nerationen-Parks umbauen, in denen sich sind und keine Gewichtszunahme auch Rentner treffen können. Und damit auf eine plötzliche Wassereinlage- Brände noch gelöscht werden, obwohl im- rung im Gewebe hinweist, wird es mer weniger Helfer da sind, fasst er die ein ruhiger Tag für Rumpf. Wenn freiwilligen Feuerwehren zu größeren Ein- nicht, klingelt gleich sein Telefon. heiten zusammen, die gleichzeitig zum Ein- Rumpf, 77, liebt es, in Strick- satz gerufen werden. Außerdem stellt er jacke am Esstisch zu sitzen und nur noch Leute in der Gemeindeverwal- über die Wiesen des dünn be- tung ein, die sich zum Brandschützer aus- siedelten Nordpfälzer Berglands bilden lassen – so wie auch er es getan hat. zu schauen. Ein Idyll – solange „Wenn es brennt, rücke auch ich mit aus“, man nicht ernsthaft krank sagt der Bürgermeister. wird. Die Kanalsache war komplizierter. We- Im vorigen Juni aber niger Menschen produzieren weniger Ab- passierte es. Rumpf fiel wasser. Wozu also noch so große und teure in der Nacht das Atmen Kanäle und Klärwerke? Früher gab es ja schwer, das Herz pumpte auch Speicherbecken und Sickergruben an viel zu schnell. Die Praxis den Häusern. Doch die übergeordneten seines Hausarztes, etwa Wasserbehörden hielten nicht viel davon und verwiesen auf eine Vielzahl von Ver- Willige Helfer Jeder Dritte ordnungen und Gesetzen zur Abwasser- behandlung. Kaum durchschaubar für die in Deutschland engagiert sich sechsköpfige Gemeindeverwaltung. ehrenamtlich, beispielsweise Dann hatte Stock Glück. Eine hessische in Caritas oder Diakonie, in Jugend- Hochschule startete mit Geld des Landes- organisationen, im Natur- und Umwelt- umweltministeriums ein Modellprojekt, schutz, in der Telefonseelsorge u.a. um in Gebieten mit sinkenden Bevölke- Quelle: Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ rungszahlen den Aufwand zur Abwasser-
Serie sieben Kilometer entfernt, war erst am nächsten Tag erreichbar. Und sie wird es In Westdeutschland schrumpften 41 Pro- Land im Wandel wohl nicht mehr lange sein, denn voraus- zent der Städte und Gemeinden im Zeit- Relatives Wachsen/Schrumpfen* von Städten sichtlich im Sommer werde der Mediziner raum von 2007 bis 2012. In Ostdeutsch- und Gemeinden im Vergleich zum Bundestrend die Praxis aus Altersgründen schließen, land waren es sogar fast 84 Prozent. ebenso wie der zweite Arzt in diesem Ort. „Dann wird es eng hier mit der Versor- gung“, sagt Rumpf. Für den Rentner war es ein Glücksfall, Kiel dass sein Arzt ihn am Tag nach der Herz- Die Vorausschauenden attacke in die Klinik nach Kaiserslautern Der Auerberg schickte. Dort testen Ärzte zusammen im östlichen Hamburg Schwerin mit der Deutschen Stiftung für chronisch Allgäu ist kei- Kranke und einem Fraunhofer-Institut ein ne imposante Er- Bremen Telemedizin-Projekt für Herzpatienten in AU ER B ER G hebung, vergli- strukturschwachen Regionen. Rund hun- chen mit der dert Patienten im Umkreis von 90 Kilo- felsigen Alpenkulisse im Berlin Hannover metern nehmen daran teil. Es sei eine der Süden. Doch wer hinauf- Gegenden, in der viele Ärzte ihre Praxen steigt auf die 1055 Me- Potsdam aufgäben, während die Bevölkerung älter ter hohe Kuppel und Magdeburg und behandlungsbedürftiger werde, sagt dann noch ein Stück der Kardiologe Burghard Schumacher, der höher auf die Aus- Düsseldorf ärztliche Leiter des Projekts. Deshalb sei sichtsplattform der Dresden Tele-Medizin dort unverzichtbar. Dabei St. Georgs Kirche, Erfurt werden die Daten, die der Patient schickt, hat einen schönen vom Computer in der Klinik automatisch Blick über die Berge, ausgewertet. Bei ungewöhnlichen Werten vom Wendelstein im blinkt der Name des Patienten sofort auf Osten bis zum Bre- Wiesbaden dem Bildschirm eines Arztes oder einer genzer Wald. Krankenschwester auf. Die Gemeinden Mainz Rumpf erzählt, dass seine Pulsfrequenz rund um den Auerberg vor einigen Monaten einmal auf 125 Schlä- haben einen ungewöhn- Saarbrücken ge pro Minute gestiegen sei. Eine halbe lichen Schritt gewagt. Minute nach der Messung habe sich die 14 Kommunen mit rund Klinik gemeldet und gefragt, ob sie einen 30 000 Menschen haben sich zu ei- Notarztwagen schicken solle. Das sei nicht ner Gemeinde-Allianz zusammen- Stuttgart nötig gewesen, sein Kreislauf habe sich getan, dem Auerbergland. Rein- München bald auf Normalmaß eingependelt. „Es be- hard Walk, Geschäftsführer des Quelle: BBSR ruhigt sehr, wenn man weiß, dass man so Vereins Auerbergland, sagt: „Bei überwacht wird“, sagt Rumpf. Auch wenn uns darf jeder an seinem Kirch- seine Werte über längere Zeit unauffällig turm polieren, aber er muss auch seien, melde sich hin und wieder jemand über ihn hinausschauen.“ Q stark schrumpfend aus der Klinik und erkundige sich nach Dieses Motto prägten, zusammen mit Q schrumpfend seiner Gesundheit. ihm, vor allem zwei Männer: die ehema- Q stabil Dieses System entlaste auch die Medi- ligen Bürgermeister Heimo Schmid aus Q wachsend ziner, die auf dem Land noch die Bernbeuren und Rudolf Zündt aus Roß- Stellung halten, meint Pro- haupten. Sie begannen 1992 damit, ihre Q stark wachsend jektleiter Schumacher: Dörfer vor dem langsamen Ausbluten zu Viele Routinetermine, bewahren. Damals gaben Landwirte auf, 1975: etwa die Blutdruckkon- in den Ortskernen standen Wohngebäude 15,1 Mio. trolle in den Praxen, und Stallungen leer, Flächen lagen brach. 1970: würden verzichtbar. „Wir mussten fürchten, dass es bald rund- 13,9 Mio. herum nur noch Wald gibt“, sagt Walk. Die Probleme waren vielfältig, der Aus- * Betrachtete Entwicklungs- tausch unter den Gemeinden aber gut. indikatoren: Hunderte Bürger wurden in Arbeits- ‣ Bevölkerungsentwicklung 2007 bis 2012 Quellen: MPIDR; Destatis; kreisen eingebunden, Häuser und ‣ Durchschnittlicher Wanderungs- Prof. Dr. Eckart Bomsdorf, 1998: Grundstücke in einer Datei er- saldo der Jahre 2008 bis 2012 Universität Köln fasst. Die Kommunen nutz- ‣ Entwicklung der Erwerbsfähigen 11,1 Mio. 2007 bis 2012 ten Fördermittel, um 1990: ‣ Beschäftigtenentwicklung 2007 bis 2012 10,0 Mio. ‣ Entwicklung der Arbeitslosen- quote 2006/07 bis 2011/12 ‣ Entwicklung der Gewerbesteuer 2030: 2006/07 bis 2011/12 8,5 Mio. Schulen ohne Schüler? Zahl der 6- bis 17-Jährigen, 1970 bis 2030 58 DER SPIEGEL 14 / 2015
leere Höfe zu kaufen. Es entstanden Hof- läden; die heimische Gastronomie verwen- dete, was die Bauern aus der Region er- zeugten. Das Auerbergland entwickelte ein gemeinsames Tourismuskonzept. Zugleich wurden neue Bürger angelockt. „Sobald ein Bauplatz im Ort zu haben war, hat ihn die Gemeinde gekauft“, sagt Ru- dolf Zündt. Der Platz wurde nicht an rei- che Pensionäre vergeben, die sich im All- gäu einen Ruhesitz oder ein Ferienhaus bauen wollten. Sondern an Käufer, die ent- weder einen Betrieb oder eine Praxis an- melden oder sich in den Vereinen einbrin- gen – und natürlich an junge Familien. Wellertstraße in Elte Auch Mehrgenerationenhäuser ent- standen damals. Drei davon gibt es heute Herzflimmern im Auerbergland, eines davon für die 2200 Einwohner von Roßhaupten. Kurz vor zwölf Uhr füllt es sich mit Leben. Rund zwei Dutzend Grundschüler toben in der Spielecke des großen Raums. Ehrenamt- Demografie SPIEGEL-Redakteur Markus Deggerich, 45, liche Helferinnen decken den Tisch, die Gastwirte in Roßhaupten liefern abwech- über den schwierigen Kampf seines selnd das Mittagessen, frisch gekocht, ange- Heimatdorfs Elte im Münsterland gegen den schleichenden Tod boten wird es für 4,50 bis 5,50 Euro pro Mahlzeit. Ältere Damen gesellen sich dazu, A llein aus dem Haus mit der Num- de aufgeschoben, durch eine Fusion mit die selbst nicht kochen wollen oder schlicht mer 5 liefen jeden Tag drei Mäd- der Nachbargemeinde. Die drohende Geselligkeit suchen. Die Senioren helfen chen und zwei Jungen auf die Stra- Schließung der Ludgerus-Grundschule war den Kleinen, man spielt und ratscht, die Kin- ße. Dort fanden sie jederzeit Kinder, die der Weckruf für die 2200 Menschen hier. der haben Aufsicht, die Alten Unterhaltung. mit ihnen spielten, Fangen oder Verste- Jeder ahnte: Stirbt die Schule, dann 15 Ehrenamtliche engagieren sich hier, cken, Murmeln oder Fußball. In der Straße stirbt das Dorf. Neubürger würden sich rund 40 Haushalte der Gemeinde spendie- lebten rund 30 Jungen und Mädchen: mehr kaum noch anwerben lassen ohne Schule, ren Kuchen. Im Büro arbeiten drei Teilzeit- Kinder als Autos. die zuständige Gemeinde Rheine weist kräfte auf 450-Euro-Basis. Sie vermitteln Die Wellertstraße in Elte. Keine wirklich schon lange keine Baugebiete mehr aus Fahrdienste, Einkaufshilfen, Tagesmütter. schöne Ecke, eine Neubausiedlung aus Ein- für das ihr anvertraute Fleckchen, an dem Wer nicht mehr aus dem Haus gehen kann, familienhäusern, die alle gleich aussehen. die gemütliche Ems vorbeigurgelt. erhält sein Essen geliefert. „Auf diesem In einem Dorf im tiefsten und flachen Seitdem geht ein Ruck durch Elte. Aber Weg sieht man die alten Leute, die allein Münsterland, die Menschen gläubig, was auch ein Riss. Menschen kleben an ihrer leben, regelmäßig“, sagt Zündt. „Und wer hier katholisch hieß, und auch gutgläubig. Scholle, an ihrer Gewohnheit. Westfälische Hilfe braucht, bekommt sie.“ Die Häuser hatten sie in den Sechziger- Dickschädel, die Strukturwandel für eine jahren gebaut, mit Garten und Garage; er- Krankheit halten, die sich wegbeten lässt, ◆ richtet, um zwei bis fünf Kinder großzu- treffen auf Einwohner, die ihr Dorf nicht Sechs Beispiele, sechs Regionen. Die ziehen und auch als Alterssicherung, im seinem Schicksal überlassen wollen. schlechte Nachricht: All diese Ideen kön- Idealfall Alterssitz. Sie hofften, dann von Die Schnittmenge zwischen den beiden nen die Entwicklung nicht stoppen. Der den eigenen Kindern umsorgt zu werden, Fraktionen, deren Kampf das Dorf elektri- demografische Wandel, groß und gewaltig, die eine Straße weiter bauen sollten oder siert, verkörpert Schuster Bodo Schnellen- wird die ländlichen Regionen treffen und eben das Haus übernehmen, mit Eltern. berg. Er hat das Handwerk noch von sei- etliche von ihnen zu Problemzonen der Der Plan war simpel und unschuldig, ge- nem Vater gelernt. Und weiß, dass es mit Republik machen. Es geht deshalb nicht gründet auf dem Wirtschafts- und Jobwun- ihm aussterben wird. ums Verhindern, sondern ums Lindern: das der der Fünfzigerjahre. Ein Leben wie eine Schnellenberg kennt sie gut, die Angst Beste aus der Situation zu machen, da- Endlosschleife: werktags arbeiten, sams- hinter den Fenstern, wo die Älteren sitzen mit nicht Regionen veröden und Dörfer tags morgens Auto waschen, abends „Sport- und sich fragen: Wer kommt, wenn ich Hil- sterben. schau“, sonntags Kirche. Zwischen Schüt- fe brauche? Wie will ich hier Familien mit Das ist eine Aufgabe für den Staat; für zen- und Erntedankfest die Jahre ins Land Kindern halten oder anlocken, wenn es die Behörden vor Ort und, wo es auf ziehen lassen, in denen die Kinder groß keine Schule mehr gibt und nur noch einen Planung und Prioritätensetzung für den werden und selbst Kinder bekommen. Bäcker, der die Aufbackbrötchen einer gro- ländlichen Raum ankommt, in den Minis- So war’s doch immer. So Gott will. Man ßen Kette verkauft? Schnellenberg kennt terien. Und es ist eine Aufgabe für die nannte das Generationenvertrag. Ein Ver- natürlich auch die Wellertstraße. Heute Menschen, die dort leben. Auch das sollten sprechen von Zukunft. Und Sicherheit. gibt es dort mehr Hunde als Kinder. die sechs Beispiele zeigen. Wenn der Staat Aber Gott scheint es nicht zu Zuletzt traf es in der Wellertstraße nicht mehr alles leisten kann, springen die stören, dass er inzwischen selbst in ein Rentnerpaar. Er: Parkinson. Sie: Bürger ein; sie können bewegen, verbin- seinem Haus in Elte immer weniger Alzheimer. Alle fünf Kinder waren FOTOS: OLIVER KRATO den, einander helfen. Und vielerorts tun Besuch bekommt. Die Kirchenge- vor vielen Jahren weggezogen, leb- sie es bereits. Das ist die gute Nachricht. meinde? Fusioniert mit Nachbardör- ten mit Job und eigener Familie quer Laura Backes, Matthias Bartsch, fern. Das Pfarrhaus? Verkauft. Der übers Land verteilt. Zwei Jahre lang Conny Neumann, Barbara Schmid Tod der Grundschule immerhin wur- E LTE behalfen sich die Alten mit einer 60 DER SPIEGEL 14 / 2015
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