Die Selbstgerechten Über die bürgerliche Ablasspartei Déi Gréng - Forum.lu

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6   forum 416   Politik

                          Die Selbstgerechten
                          Über die bürgerliche Ablasspartei Déi Gréng

     Victor Weitzel       Im Herbst 2019 endete mit der Traversini-Affäre         wo es auch Posten zu verteilen gibt, von ca. 600
                          jäh die Erfolgssträhne der luxemburgischen Grü-         im Jahr 2013 auf um die 1.000 Mitglieder 2019
                          nen. Der populäre Differdinger Député-maire, der        gestiegen. Die Grünen sind mit neun Abgeordne-
                          zudem im Gespräch stand, wegen der schweren             ten, drei mehr als bei ihrer ersten Regierungsbetei-
                          Erkrankung des grünen Vizepremiers und Justizmi-        ligung, die vierte Partei im Parlament. Sie besetzen
                          nisters Félix Braz in die Regierung nachzurücken,       fünf Ministerposten, davon drei – Justiz, Verteidi-
                          fiel über die sogenannte Gartenhäuschen-Affäre. Das     gung und Innere Sicherheit –, die zu den hoheit-
                          erste Mal in ihrer Geschichte wurden Déi Gréng mit      lichen Kernaufgaben des Staates gehören, während
                          dem Vorwurf konfrontiert, dass einer ihrer wich-        die beiden größeren Koalitionspartner sich die bei-
                          tigsten politischen Vertreter ausgerechnet gegen das    den anderen teilen – die Finanzen für die DP, die
                          Naturschutzgesetz verstoßen und öffentliche Mittel      Außenpolitik für die LSAP. Damit tragen sie eine
                          für Privatzwecke missbraucht haben könnte. Das vor      besondere staatspolitische Verantwortung. Mit der
                          dem Hintergrund, dass die Partei innerhalb eines        Übernahme des Wohnungsbauministeriums 2018
                          Jahres zwei ihrer Spitzenpolitiker verloren hatte:      sind sie zudem zuständig für die Lösung der Woh-
                          Camille Gira durch seinen plötzlichen Tod, dann         nungsnot, die das größte Problem fast aller jungen
                          Félix Braz wegen der gesundheitlichen Folgen eines      Haushalte ist und das der Klein- und Mittelverdiener
                          Herzinfarkts. Zudem geriet die grüne Umweltminis-       aller Generationen.
                          terin Carole Dieschbourg ins Fahrwasser der Affäre,
                          weil ihre Verwaltung Roberto Traversini nachträg-       Nun aber gibt es schlechte Umfragewerte. Konnten
                          lich Genehmigungen erteilt hatte. Das hatte die         Déi Gréng im Dezember 2019 noch 15,9 % der
                          Opposition schnell als eine Gefälligkeit gegenüber      Wahlabsichten auf sich verbuchen und damit die
                          dem bedrängten Parteifreund ausgelegt. Die Grü-         LSAP überholen, sank diese Zahl im Juni 2020 auf
                          nen, selbst stets schnell zugegen, um dem Gegner        13,4 % und im Dezember 2020 sogar auf 11,5 %.
                          politische, moralische und rechtliche Verfehlungen      Die letzte Meinungsumfrage ließ auf den Verlust
                          vorzuwerfen, hatten ihre institutionelle Unschuld       eines Sitzes schließen. Diese schlechten Werte sind
                          verloren. Sie reagierten allerdings schnell, entzogen   nicht nur der Traversini-Affäre zuzurechnen, auch
                          ihrem Député-maire die Unterstützung, legten ihm        nicht den ständigen wüsten Anfeindungen aus den
                          den Rücktritt von all seinen Ämtern nahe und leis-      Bauern- und Jägerverbänden und -kreisen, denen
                          teten genug Überzeugungsarbeit, sodass die Integri-     die Umweltministerin ausgesetzt ist, oder der Stim-
                          tät der angeschlagenen Ministerin Dieschbourg bald      mungsmache gegen die Justizministerin Sam Tanson
                          nicht mehr zur Debatte stand.                           in den sozialen Medien, die zuweilen strafrechtlich
                                                                                  relevante Züge annimmt. Sie hängen vielmehr mit
                          1000 Mitglieder und schlechte Umfragewerte              der Frage zusammen, ob Déi Gréng es in Zukunft
                                                                                  noch schaffen werden, Menschen aus den neuen
                          Parteipolitisch gesehen ist die Bilanz der Grünen       Milieus, die aus der Auflösung des traditionellen
                          jetzt, über ein Jahr später und nach mehr als sieben    Arbeitermilieus und des traditionellen katholischen
                          Jahren Regierungsbeteiligung, gemischt. Die Zahl        Milieus entstanden sind, darunter besonders jene
                          der Parteimitglieder ist, und das war wohl nicht        Teile des bürgerlichen Mittelstands, die bis in die
                          anders zu erwarten bei einer Regierungsbeteiligung,     1980er diesen sich auflösenden Milieus zur Seite
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                                                                  Josée Lorsché, Meris Sehovic und Djuna Bernard (v. l. n. r.) beim digitalen Kongress von Déi Gréng am 21. März 2021

                                               standen, weiterhin an sich zu binden. Denn das war                dem früheren katholischen Milieu, die aus Sorge um
                                               bis dahin das soziologische Erfolgsrezept der Grünen.             die Schöpfung, die historische Bausubstanz und die
                                                                                                                 steigende soziale Not nicht mehr schwarz, auf keinen
                                               Grüne Durchbrüche vor 2013                                        Fall blau, und daher eher grün als rot gestimmt hat-
                                                                                                                 ten. Auch hier waren es wieder Akademiker, Lehrer,
                                               Félix Braz war der erste, dem es nach den Gemein-                 Sozialarbeiter, Kulturschaffende und sozial engagierte
                                               dewahlen 1999 gelang, in einer großen Gemeinde,                   Kreise, die die Grünen stärkten, auch wenn deren
                                               Esch-sur-Alzette, über eine rot-grüne Koalition in                kulturelle Prägung in der Hauptstadt nicht so stark
                                               den Schöffenrat vorzudringen. Damals stand die Par-               von der politischen Linken bestimmt war wie in Esch.
                                               tei eher links und hatte viel Wählerzulauf aus Krei-
                                               sen von Akademikern, Lehrern, Kulturschaffenden,                  Ein anderer Faktor spielte eine Rolle. Das grüne
                                               Sozialarbeitern und sozial engagierten Menschen,                  Milieu im Bezirk Zentrum wird seit den 1980er Jah-
                                               denen die Sozialisten nicht genügend Akzente auf                  ren von der Umweltorganisation Mouvement éco-
                                               Stadtplanung und Umwelt legten. Indem die Grü-                    logique geprägt. Der Méco, obschon stark staatlich
                                               nen diese Koalition eingingen, ermöglichten sie es                über seine Stiftung subventioniert, lehnt jegliche
                                               zwar den angeschlagenen Sozialisten und der Escher                organische Verquickung mit politischen Parteien ab.
                                               Linken insgesamt, ihre Hegemonie bis ins Jahr 2017                Sein Ziel: als Pressuregroup auf die umweltpolitische
                                               zu bewahren, doch gelang es ihnen, auch ihr eigenes               Agenda von Staat, Gemeinden und Betrieben Ein-
                                               Profil zu schärfen, das zunehmend liberaler bis bür-              fluss nehmen, die dann Studienbüros mit weiteren
                                               gerlicher wurde.                                                  Untersuchungen beauftragen. Zur Galaxie der poli-
                                                                                                                 tischen grünen Mandatsträger im Zentrum gehören
                                               Die Gemeindewahlen von 2005 brachten dann ein                     daher seit der Jahrhundertwende zunehmend auch
                                               weiteres Novum. Den Grünen gelang der Sprung in                   die Berater- und Studienbüros, die – direkt oder
                                               den Schöffenrat der Hauptstadt, aber nicht mit einer              indirekt aus der Matrix Méco hervorgegangen –                          Den Grünen
                                               linksstehenden Partei, sondern mit der rechtslibera-              Staat, Gemeinden und Wirtschaft im Kontext unter-                      gelang der Sprung
                                               len DP, die mit nur ganz kurzen Unterbrechungen                   schiedlicher Umweltproblematiken ihre Dienste                          in den Schöffenrat
                                               die Hauptstadt seit Ende des Ersten Weltkriegs fest               anbieten und sich ihren Lebensunterhalt mit öffent-                    der Hauptstadt
                                               im Griff hielt. Auch hier hatten die Grünen es unter              lichen Aufträgen zur Entwicklung von Strategien,                       nicht mit einer
                                               François Bausch fertiggebracht, Stimmen aus Kreisen               die abwechselnd zwischen Protestkampagnen und
                                                                                                                                                                                        linksstehenden
                                               an sich zu ziehen, die weit über die traditionelle Wäh-           lang- bis mittelfristiger Lösungssuche anzusiedeln
                                               lerschaft der im Zentrum eher als Protestpartei wahr-             sind, verdienen. In anderen Worten: Im Zentrums-                       Partei, sondern mit
                                               genommenen Déi Gréng hinausreichten. Dass sie                     bezirk gibt es stärker als anderswo eine Art grünen                    der rechtsliberalen
                                               die Sozialisten einige Stimmen gekostet hatten, war               Wirtschaftszweig, der eng mit umweltpolitischen                        DP.
                                               nicht neu, aber diesmal gab es auch viele Wähler aus              Prozessen verbunden ist.
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Treffen zwischen Wohnungsbauminister Henri Kox und den Vertretern der Mieterschutz Lëtzebuerg ASBL

Bei den Lokalwahlen 2011 wurden die Koalitio-                       Sprung in die Regierung gelang, während die LSAP
nen, die die Grünen in Luxemburg und Esch ein-                      keinen Sitz verlor und die DP vier gewinnen konnte.
gegangen waren, bestätigt. Insgesamt gewannen sie                   Da sie aber auch über eine starke Verankerung in
72 Sitze, ein Plus von 31 Sitzen. Dieses Resultat                   allen vier Bezirken verfügten, eröffnete sich damit
legte einen neuen Trend zugunsten der Gréng als                     ein Gelegenheitsfenster für sie und all die Kräfte,
Hauptnutztragende der Auflösung der traditionellen                  die in DP und LSAP der Vorherrschaft der CSV ein
Milieus offen. Zudem war es ihnen im Südwesten                      Ende setzen wollten.
des Landes über die Jahre auch gelungen, Persön-
lichkeiten und Kreise anzuziehen, die weniger aus                   Im Norden dominierte ein „rurbaner“ Flügel um
dem Dunstkreis enttäuschter Sympathisanten linker                   den Député-maire von Beckerich Camille Gira, der
Parteien stammten, sondern linksliberal und öko-                    aus seiner Gemeinde ein vielbeachtetes Laborato-
logisch geprägt, dazu stark im Vereins- und Sport­                  rium für grüne Politik in einem ländlichen Raum
leben der dortigen Gemeinden engagiert, noch ohne                   im Wandel gemacht hatte. Diese Politik brachte
politische Heimat waren, was sich jetzt auszahlte.                  eine Reihe national und europäisch subventionier-
Dazu zählen z. B. der Differdinger Schöffe Paulo                    ter Initiativen im Bereich der nachhaltigen Entwick-
Aguiar, der Mitte der 1990er Jahre mit 16 Jahren                    lung und des Naturschutzes hervor. Das schuf neue
ins Großherzogtum zog, oder aber der Apotheker                      Arbeitsplätze, die wiederum z. T. von jungen Akade-
Marc Hansen aus Bascharage, der 2011 dort in den                    mikern aus der Region besetzt wurden.
Gemeinderat zog und 2019 für Roberto Traversini
ins Parlament nachrückte.                                           Im Osten waren zwei alteingesessene Familien ton-
                                                                    angebend: der Clan um den damaligen Député-maire
Die Grünen 2013                                                     Henri Kox, eine alteingesessene Winzergroßfamilie,
                                                                    die sich während der politischen Auseinandersetzun-
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass den Grü-                  gen um den Bau eines Atommeilers in Remerschen
nen bei den vorgezogenen Wahlen vom Oktober                         in den 1970er Jahren von der CSV gelöst hatte, und
2013 trotz des Verlustes eines Sitzes im Zentrum der                die in der Agrarindustrie tätige Dieschbourg-Familie.
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Politik         April 2021   9

Im Süden hatten die Grünen mit dem als moderat            in dem er, vielleicht unbeabsichtigt, wie ein von
geltenden Félix Braz ihre Basis über ihren histori-       der Wohnungsnot vollkommen unberührter Mana-
schen Kern hinaus erweitern können. Auch hatten           ger spricht: „Wenn hier nicht jeder eine Wohnung
sie mit Braz, dessen Eltern in den 1960er Jahren aus      finden kann, dann müssen wir ein Interesse daran
Portugal eingewandert waren, im luso-luxemburgi-          haben, dass das im nahen Ausland klappt, aber ohne
schen Umfeld punkten können, wo man traditionell          dass dies dort zu Verwerfungen führt.“
bisher eher in Richtung der Volksparteien CSV und
LSAP geschaut hatte.                                      Turmes, ein Gegner des CETA-Handelsvertrags mit
                                                          Kanada, musste mit ansehen, wie seine Listengefähr-
Im Zentrum blieben die Grünen trotz des Verlus-           tin und Nord-Abgeordnete Stéphanie Empain die
tes eines Restsitzes in diesem Bezirk stark verankert.    Zustimmung der Grünen zu ebendiesem CETA-
Zudem verfügten sie nun über eine breite Erfahrung        Vertrag im Parlament vortrug. Für den linken Flügel
in der Zusammenarbeit mit der LSAP und der DP. In         ein Sündenfall. „Le décrochage des écologistes de la
anderen Worten: Déi Gréng waren in den vier Wahl-         société civile est désormais acté. Les Verts luxem-
bezirken implantiert, koalitionserfahren, z. T. schon     bourgeois ont assumé leur Bad Godesberg“, schrieb
parlamentarische Veteranen und ausreichend fit, um        Luc Caregari im Mai 2020 in der woxx. Und Josée
2013 in eine Regierungskoalition einzutreten.             Lorsché meinte dazu, warnend auf Turmes gemünzt,
                                                          in ihrem Tageblatt-August-Interview: „Was CETA
Die Grünen nach 2018 und vor 2023                         anbelangt, haben wir ein Abkommen innerhalb
                                                          der Regierung, dass der jeweils zuständige Minister
Obschon sie konsolidiert aus den Gemeindewahlen           die Priorität hat, Entscheidungen für sein Ressort
von 2017 und gestärkt aus den Parlamentswahlen            vorschlagen zu können. Wenn wir uns permanent
von 2018 hervorgingen, sieht es im Jahre 2021 und         gegenseitig ein Bein stellen, können wir genauso
im Hinblick auf das Superwahljahr 2023 nicht mehr         gut aufhören.“ Während der Veteran Turmes Krö-
so glorreich für die Grünen aus.                          ten schlucken und sich belehren lassen muss, hat
                                                          Empain inzwischen ihre Karriere als Berufspolitike-
Im Norden des Landes konnte der 2018 nach dem             rin angeleiert. Sie ist Präsidentin des Luxemburgi-
Tod von Camille Gira in die Regierung berufene            schen Leichtathletikverbands (FLA) geworden, und
langjährige Europaparlamentarier Claude Turmes            ihr Mann wurde im Transportministerium auf einen
die schlechte Ausgangssituation seiner Partei im          leitenden Posten befördert, was von der normalisier-
Nordbezirk auffangen. Er blieb Minister, und mit der      ten Zielstrebigkeit des grünen Nachwuchses zeugt.
35-jährigen Kleinunternehmerin Stéphanie Empain
rückte eine Exponentin der U-40-Generation ins            Im Osten des Landes ist die personenstarke Kox-
Parlament nach. Turmes, der als Europaparlamen-           Familie, beruflich sehr breit und hochqualifiziert auf-
tarier mit viel Charisma und gut dokumentiert die         gestellt, 2021 am präsentesten, der Dieschbourg-Clan
kompliziertesten Dossiers einem breiten Publikum          hingegen angeschlagen. Die Koxens verfügen über
nahezubringen vermochte, macht nun auf Landes-            weitverzweigte politische Zugänge in vielen Interes-
ebene eine eher triste, technokratisch verkrampfte        sensbereichen, und dies nicht nur im Osten des Lan-
Figur. In einem Interview, das im August 2020 im          des, sondern mit Jo Kox bis an die Verwaltungsspitze
Tageblatt erschien, gab Fraktionschefin Josée Lorsché     des Kulturministeriums. Henri Kox, der 2019 in die
folgendes über ihren Parteifreund zum Besten:             Regierung nachgerückt ist, erweist sich allerdings
„Claude Turmes kam von einer anderen politischen          immer mehr als ein enttäuschender Wohnungsbau-
Plattform nach Luxemburg zurück und ist nun auf           minister und ein schwacher Sicherheitsminister. Er
dem Boden der Tatsachen gelandet. Er hat erkannt,         ist unfähig, seiner zuweilen klaren Sprache zur Woh-
dass es komplexer ist, Teil der Luxemburger Regie-        nungsnot, zu den illegalen Machenschaften oder
rung als Mitglied des Europaparlaments zu sein.“          dem Sicherheitsproblem in Luxemburg-Stadt Taten
                                                          folgen zu lassen. Sein Bruder Martin Kox hat 2017
In der Tat bringt Turmes es nicht fertig, seine Landes-   die Escher Koalition mit CSV und DP eingefädelt,
planungspolitik und seine grenzübergreifende Regi-        aus der sich die piefige Schildatruppe zusammensetzt,
onalpolitik verständlich zu vermitteln. Obschon sein      die sich alle möglichen Pannen in Sachen Bebauungs-       Im Hinblick auf
Ministerium sie ausführlich bis detailversessen doku-     plan, Wohngemeinschaften, Esch2022 usw. erlaubt
                                                                                                                    das Superwahljahr
mentiert, ist es für betroffene Bürger kaum mög-          hat. Stramm bürgerlich orientiert hat Martin Kox
lich, sich diese Vorhaben anzueignen und in einen         den Abgang der historischen Escher linken Grünen
                                                                                                                    2023 sieht es nicht
politischen Erwartungshorizont einzuordnen. Und           um Muck Huss in Kauf genommen. Für Henri Kox              mehr so glorreich
sein fehlendes Gespür für das, was für die Menschen       ins Parlament nachgerückt ist dessen Nichte Chantal       für die Grünen
wirklich wichtig ist, zeigt sich in einem Gespräch        Gary, die vorher in dem vom Transportministerium          aus.
mit dem Lëtzebuerger Land am 26. Februar 2021,            abhängigen Verkéiersverbond tätig war. Obschon sehr
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                                                                                                                               © SIP / Emmanuel Claude
Energieminister Claude Turmes bei der Präsentation der Strategie zur Kreislaufwirtschaft für Luxemburg am 8. Februar 2021

gut vernetzt in der Sport- und Vereinswelt, hat sie                    Ihr Nachfolger an der Spitze der hauptstädtischen
politisch noch nicht viel von sich verlauten lassen.                   Gemeindefraktion, François Benoy, wurde eben-
                                                                       falls Abgeordneter und gilt als potenzieller Spitzen-
Im Zentrum wird die Situation für die Grünen                           kandidat für die Gemeindewahlen. Er war vorher
komplizierter. 2017 nutzte die leicht angeschlagene                    Pfadfinder, wie Sam Tanson Ex-RTL-Journalist
DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer die Gemeindewah-                       und Koordinator von natur&ëmwelt, eine der vie-
len, um eine konservativ-bürgerliche Koalition mit                     len subventionierten Brutstätten des grünen Nach-
der CSV einzugehen, die zwei Sitze zugelegt hatte.                     wuchses. Seine Art ist es, harte Fragen wie z. B. die
Sie war des Hangs der wahltechnisch stagnierenden                      nach Armut und Sicherheit mit einem bestimmten
Grünen müde geworden, fast alle Angelegenheiten                        Neusprech-Brei zu zerreden. Da ist von „Multikau-
zu problematisieren und sie daran zu hindern, (fast)                   salität“ die Rede, von „transversalen“ Lösungen, die
alles selbst zu bestimmen.                                             nur durch ein agierendes Aufgebot von Experten,
                                                                       NGOs und Sozialarbeitern, also den Déi Gréng
Sam Tanson, frühere RTL-Journalistin und Anwäl-                        nahestehende Berufsgruppen – wenn möglich „par-
tin, die nach François Bausch die Grünen in der                        tizipativ“ – herbeigeführt werden können. Am Ende
Hauptstadt anführte, wechselte 2018 in die Regie-                      gibt es keine Sicherheitsprobleme im Garer Viertel,
rung. Als Justizministerin muss sie die Reform                         sondern nur Opfer auf Seiten der Drogenabhängi-
der Verfassung bis zum Ende der Legislative mit                        gen und Dealer. Von seiner Partei zum parlamenta-
dem Parlament, aber ohne das versprochene Refe-                        rischen Budgetberichterstatter für 2021 nach vorne
rendum durchbringen. Der konsensfähige Verfas-                         gepusht, ist Benoy ein weiterer typischer Exponent
sungsentwurf ist dabei in Sachen Unabhängigkeit                        der neuen Generation der Grünen: hohes soziales
der Justiz immer konservativer und trotz Beschnei-                     Kapital, höflich, moderat, kundenfreundlich gegen-
dung einiger Kompetenzen des Großherzogs immer                         über den grün-affinen Strukturen, nie daran zwei-
monarchischer ausgefallen. Als Kulturministerin                        felnd, dass er zu den Guten gehört, und mit seinem
und vor der Pandemie auch als Hoffnungsträgerin                        Auftreten als idealer Schwiegersohn ein ausgesuchter
der Kulturschaffenden hat sie nun den Schwarzen                        Blickfang für die Bürgerlichen, die so doch noch der
Peter gezogen, weil sie alle Mühe hat, dem wirt-                       grünen Versuchung erliegen könnten.
schaftlich gebeutelten Kulturmilieu, das für ihre
Partei wichtig ist, konsequentere Unterstützung                        Die andere Aufsteigerin des Bezirks Zentrum und
zukommen zu lassen.                                                    jüngstes Mitglied der Chamber ist Djuna Bernard,
Politik         April 2021   11

ebenfalls Pfadfinderin, gut vernetzt, zudem Partei-      konzentrieren soll, sowie die Überlegung, die NATO
Ko-Präsidentin. Sie verfügt nur über eine sehr kurze     solle die Entwicklungsarbeit bei der Berechnung von
berufliche Erfahrung im Sozialarbeitermilieu. Sie        Luxemburgs Beitrag zur Lastenteilung in Sachen
will 2023, so hat es zumindest François Bausch           transatlantischer Sicherheit miteinbeziehen, machen
schon im Oktober 2019 dem Tageblatt-Chefredak-           es nicht besser.
teur Dhiraj Sabharwal in Wuhan und Chengdu
erzählt, mit ihrem Ko-Präsidenten Meris Sehovic,         Die politisch in eine schwierige Situation geratene
Turmes’ früherem Assistenten im EU-Parlament, die        Tanson als Spitzenkandidatin im Oktober 2023,
Liste im Süden anleiten. Der Wortlaut des Mentors        Benoy in der Reserve für die Stadt bei den Kom-
dieser Nachwuchsgeneration offenbart zudem einen         munalwahlen vom Juni 2023, und sollte er dann in
durchaus eigenen Ton, in dem die Grünen überei-          den Schöffenrat gelangen, nicht mehr ministrabel
nander wie über Familienmitglieder plaudern: „Sie        bei einem Erfolg der Gréng bei den Parlamentswah-
(Bernard) hat mir aber gesagt, dass sie sich jetzt       len, Bausch als erschöpfter Mentor am Ende seiner
eine Wohnung im Südbezirk gekauft hat. Sie will          Karriere angelangt, ähnlich wie die Abgeordneten
bei den nächsten Wahlen im Südbezirk kandidie-           Back und Margue, die im Wahljahr 71 respektive
ren. Ich finde das eine sehr gute Sache und werde        67 Jahre alt sein werden und vielleicht nicht einmal
das voll unterstützen.“ Umgekehrt hat Bernard in         mehr dabei sein werden, der putative Jugendmag-
dem legendären Paperjam-Interview vom 3. April           net Djuna Bernard in den wahlpolitisch schwieri-
2019, in dem sie unaufgefordert erklärt, sie könne       gen Süden abgewandert: Die Grünen werden es im
sich durchaus vorstellen, einmal Premierministe-         Oktober 2023 im Zentrumsbezirk schwer haben,
rin zu werden, erzählt, wie Bausch sie für die Liste     ihre Klientel bei der Stange zu halten.
angeworben hatte und ihn als einen der Menschen
erwähnt, die seit ihrem 16. Lebensjahr den größten       Im Süden, dem größten Wahlbezirk, werden die
Einfluss auf sie ausgeübt haben.2                        Grünen es ähnlich schwer haben. Sie müssen zumin-
                                                         dest ihre drei Sitze verteidigen, und dies ohne das
Bausch selbst will 2023 nicht mehr auf die Regie-        Zugpferd Félix Braz, ohne weitere größere Affinitä-
rungsbank, aber trotzdem noch einmal ins Parla-          ten mit linker politischer Sensibilität, die in Esch und
ment. Er ist der grüne Politiker, dessen Arbeit die      Differdingen verspielt wurden, und das mit den im
größte Sichtbarkeit erlangt hat – insbesondere durch     Süden völlig unbekannten, lokal nicht implantier-
die Neuaufstellung des öffentlichen Personennahver-      ten und bis dato nicht so richtig gebrieften Bernard
kehrs: höhere Frequenzen der Linien, neue Verbin-        und Sehovic als Spitzenkandidaten. Davon zeugt ein
dungen, Gratistransport, die Tram in der Hauptstadt      Interview, das beide im Oktober 2020 mit Paperjam
und weitere Großprojekte in spe. Die Pandemie hat        über die industrielle Zukunft Luxemburgs geführt
verhindert, dass diese ÖPNV-Maßnahmen ihre volle         haben, die für den Süden von besonderer Bedeutung
Wirkung auf die Entlastung der Straßen und die           ist. Völlig unbedacht wird in seelenlosem Manager­
CO₂-Bilanz des Landes entfalten konnten. Als eine        slang drauf losgeredet: „En tant que Déi Gréng,
Entlastung der unter wachsendem Druck stehenden          notre vision de la politique industrielle est claire: faire
Normalverdiener wurden seine Maßnahmen auf               avancer l’économie verte vers la neutralité climatique
jeden Fall von den sozial Schwächeren akzeptiert.        à l’horizon 2050.“ Oder: „Avec la stratégie Rifkin,
Nur waren sie nicht nur so gedacht.                      nous avons mis la digitalisation et la durabilité au
                                                         centre du développement économique du pays, et
Die Affären um die geheimen Polizeidatenbanken           donc aussi au centre de la politique industrielle, avec
und den militärischen Regierungssatelliten LUXEO-        l’ambition de faire du Luxembourg un centre indus-
Sys mach(t)en Bausch als Verteidigungs- und Minis-       triel durable et digital d’excellence.“ 4 Da wird nicht
ter für innere Sicherheit ordentlich zu schaffen.        hinterfragt, was für gesellschaftliche Auswirkungen
Beide Affären hatte er von seinem Vorgänger Etienne      diese auf Wasserstoff und Durchdigitalisierung des
Schneider (LSAP) geerbt. Er selbst und Henri Kox,        Alltags basierte Strategie haben könnte, u. a. auf die
seit Juli 2020 Minister für innere Sicherheit, versu-    Umwelt, die wachsenden Ungleichheiten und die
chen, Ordnung in diese Dossiers zu bringen, haben        Teilhabe an diesem Modell. Uberisierung der Wirt-             Die Grünen
aber mangels Affinität eine strukturelle Schwierigkeit   schaft, Arbeitnehmerrechte, Instrumentalisierung              werden es im
mit den Milieus der Streit- und Sicherheitskräfte. Es    und Verdinglichung der Personen, Beschleunigung,              Oktober 2023 im
gibt zudem Leute aus diesem Umfeld, die systema-         sind auch kein Thema. Bürgerlicher könnte die Ori-
                                                                                                                       Zentrumsbezirk
tisch darauf hinarbeiten, die Fähigkeit der Grünen,      entierung der Grünen im Südbezirk nicht ausfallen.
sich in diesen hoheitlichen Bereichen zu behaupten,
                                                                                                                       schwer haben, ihre
zu behindern. Unbedarfte Äußerungen einer Josée          Partei-Ko-Vorsitzende Djuna Bernard hat diese                 Klientel bei der
Lorsché3, die unverdaute Idee einer „parlamenta-         Art zu funktionieren einmal im Paperjam aus ihrer             Stange zu halten.
rischen Armee“, die sich auf humanitäre Einsätze         persönlichen Perspektive ganz unbefangen und
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© SIP/Julien Warnand

                       Carole Dieschbourg, Ministerin für Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung, bei der Pressekonferenz zu „Gréng
                       Relance fir Lëtzebuerg – E Plus fir d’Klima, d’Handwierk an d’Bierger“ am 29. Mai 2020

                       authentisch beschrieben.5 Sie erklärt dort dem Jour-                   1   Fünf von neun Mitgliedern der Grünen-Fraktion sind inzwischen
                                                                                                  jünger als 40 Jahre, während die anderen, mit 53, 60, 65 und 69
                       nalisten, dass weite Reisen ihr péché mignon sind. Sie                     Jahren deutlich älter sind, und die mittlere und unterbesetzte
                       wisse zwar, dass das nicht sehr ökologisch sei. Und                        Generation der vierzigjährigen Ministerinnen mit Dieschbourg
                       dann kommt es, wie es von jedem Luxemburger Mit-                           und Tanson sitzt neben den Veteranen Bausch, Turmes und
                                                                                                  Kox in der Regierung, was 2023 zu einer Art Generationsbruch
                       telständler, SUV-Fahrer, Globetrotter und Vielflie-                        führen könnte.
                       ger mit residualem schlechtem Gewissen kommen
                                                                                              2   https://paperjam.lu/article/jai-senti-que-je-devais-y-alle
                       könnte: „Mais il y a différentes manières de voyager,                      (letzter Aufruf: 23. März 2021).
                       il faut le faire à bon escient. Je pense aussi que nous                3   Wie unbedarft sich Josée Lorsché äußern kann, zeigt ihr
                       pouvons agir pour l’environnement chacun à notre                           Interview mit dem Tageblatt vom 10. August 2020 mit Luc
                       échelle, par des voies différentes. Personnellement, je                    Laboulle: „François Bausch hat in den vergangenen Jahren
                                                                                                  unheimlich viel im Bereich der Mobilität geleistet. Wenn wir in
                       vais chez Naturata plutôt que dans d’autres magasins                       dieser Koalition das Verteidigungsressort übernommen haben,
                       quand cela est possible, je prône les circuits courts                      zeigt das vor allem, dass François Bausch ein Realpolitiker ist,
                       [...]. Cela compense un peu les voyages.“                                  der die Verantwortung nicht scheut. Sein Ziel ist es ja nicht,
                                                                                                  Krieg zu führen, sondern ethische Kriterien einzuführen, um zu
                                                                                                  zeigen, dass Polizei und Armee demokratische Werte vertreten
                       Im Land, das einen der größten ökologischen Fuß-                           und unsere Grundrechte schützen.“
                       abdrücke der Welt hat und schon Mitte Februar                          4   https://paperjam.lu/article/politique-et-industrie-dei-gre
                       den Overshoot Day erreicht, sind die Grünen im                             (letzter Aufruf: 23. März 2021).
                       Jahre 2021 keine ökologische Protestpartei mehr,                       5    https://paperjam.lu/article/jai-senti-que-je-devais-y-alle
                       aber doch mehr als eine banale Regierungspartei. Sie                       (letzter Aufruf: 23. März 2021).

                       sind eine bürgerliche Ablasspartei, und Naturata ist
                       ihre Kirche, und jeder von ihnen ein kleiner Tetzel,
                       bei dem sich die Wähler von ihrer Schuld freikaufen
                       können. In dem Sinne ist im Marienland der Apfel
                       direkt unter den Baum gefallen. Ob die Gréng gegen
                       Schismen gefeit sind, ist demnach sehr unwahr-
                       scheinlich.
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