"Die Stadt ist explodiert." - Krause
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»Die Stadt ist explodiert.« STEFANO BOERI IST SO ETWAS WIE DIE SEELE DES MODERNEN MAILAND. MIT DEM „BOSCO VERTICALE“, EINEM DOPPELGEBÄUDE MIT DEM VIELEN GRÜN INNERHALB DER NEUEN SKYLINE, HAT ER ZUR EXPO 2015 DAS SYMBOL DES NEUEN MAILAND GESCHAFFEN; ALS INOFFIZIELLER KULTURMINISTER HAT ER AUS DEN RUMPELKAMMERN DER INDUSTRIEMETROPOLE ERSTAUNLICHES HERVORGEHOLT. AUSSERDEM IST ER DIREKTOR DER TRIENNALE, WO WIR DEN DAUERTELEFONIERER NACH SCHLAPPEN ZWEI STUNDEN WARTEZEIT AUF DEM DACH TREFFEN. inter view PATRICK KRAUSE, portrait MARTIN SCHOBERER photo: Martin Schoberer KEIN PLAKAT, ABER PLAKATIV: MAILANDS NEUE SKYLINE VOM TRIENNALE-DACH AUS. BOERIS »BOSCO VERTICALE«-ZWILLINGE (LINKS) SIND AUS MAILAND SO WENIG WEGZUDENKEN WIE DIE BRILLE VON DER STIRN. 136 / QVEST QVEST / 137
ES GRÜNT SO GRÜN: BOERI KANN IN SEINEM BOERI-BÜRO MIT GESCHICHTE: HIER TRAFEN SICH FÜR XXXXXXXXXX ZEITWEILIGEN HAUPTJOB ARCHITEKTUR VON »DOMUS« DESIGN-FACHLEUTE VON RANG UND NAMEN. ETTORE GRÜNEN GÄRTEN NICHT LASSEN. SOTTSASS' KREIDE-AUGE WURDE LIEBEVOLL BEWAHRT. V.L.N.R.: ETTORE SOTTSASS, ENZO MARI, ANDREA BRANZI, ALESSANDRO MENDINI UND VICO MAGISTRETTI QVEST: Stefano Boeri, Architekt, Triennale-Direktor, Stadtentwick- kein Dekor für Gebäude mit Menschen, sondern eher um- ler: Darf man Sie als Hans-Dampf-In-Allen-Mailänder-Gassen be- gekehrt: Ich plane Gebäude für Bäume – und auch für Men- zeichnen? schen! Boeri: Im Moment wohl ja, es passiert gerade viel zur glei- Das hat also vordergründig wenig mit dem berühmten Konzept des chen Zeit; neben dem Salone di Mobile, mit dem man im- „Green Building“ zu tun. mer irgendwie zu tun hat, auch die Vorbereitung der Trien- Da haben Sie recht, es handelt sich eher um ein Ökosystem, nale und der Ausstellung im hiesigen Design-Museum direkt eine Art Koexistenz. Es geht auch nicht um Bäume allein, unter uns, Italiens erstes Museum für Design überhaupt. Die sondern um Grün. Ich habe ein Faible für Natur allgemein, photo: Adam Mørk Triennale ist übrigens dreierlei: eine Institution seit 1923, deren Intelligenz dafür sorgt, sich organisch auszuweiten. ein Gebäude seit 1934 sowie eine Ausstellung, die alle drei Das sieht man schon daran, dass Pflanzen älter sind als wir Jahre stattfindet. 1994/5 habe ich schon einmal geholfen, die und alles überlebt haben. 19. Ausgabe der Triennale zu organisieren, und bin nun zu- Apropos Pflanzen in Mailand, es fällt auf, dass auf gefühlt allen Dä- rückgekehrt, um die Ausstellungen dauerhaft zu projektie- chern der Stadt Grün wächst. Haben Sie da eine alte Mailänder Tra- ren; haben Sie sie schon gesehen? dition übernommen? Nein ... Nein, der Trend ist erst in den letzten Jahren entstanden. Es ist großartig, kuratiert von Paola Antonelli, der Kurato- Aber Sie haben recht, da hat sich eine gewisse Obsession rin des New Yorker MoMa in der Abteilung Design. Es geht entwickelt. Zuvor war Mailand aber eine graue Stadt mit darum, wie Design Fehler beheben kann, die wir der Natur schlechter Luft. Nicht ganz Detroit, aber auch hart. In den angetan haben. letzten Jahren wurde sehr viel für die Umwelt getan. Sie sind schon familiär sehr in Mailand verwurzelt. Was hat sich seit »ZWISCHEN 2010 UND 2015 HAT DIE STADT SO VIELE VERÄNDERUNGEN der Expo getan? ERLEBT WIE SONST IN ZWANZIG JAHREN.« Die Mailänder Expo war großartig in ihrer Funktion als Ka- talysator für Veränderung. Mailand ist eine kleine Metropo- Natur ist ein spezielles Thema für Sie. Woher kommt das? le, aber sehr dicht an Institutionen. Wir haben acht Univer- Natur ist eine sehr ambigue Angelegenheit, sehr populär na- sitäten und vieles mehr, eine der besten Architektenschulen, türlich; aber in meinem Beruf versuche ich, lebende Natur in die Brera Akademie – aber seit der Expo sind wir auch besser die Architektur einzubringen und nicht nur natürliche Mate- vernetzt. Die Expo war ein Schock, denn plötzlich hatten rialien. Natur hat keine Dekorative oder ornamentale Funk- wir alle ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Aufgabe. tion, sondern ist substanziell für Architektur. Unser Projekt Viele Dinge, die seit bis zu zwanzig Jahren liegen geblieben „Bosco Verticale“ (it. „vertikaler Wald“, Anm. d. Red.) ist ein sind, mussten sich plötzlich einem straffen Zeitstrahl unter- Prototyp lebendiger Architektur. Wir sind in unseren Büros werfen. Zwischen 2010 und 2015 hat die Stadt so viele Ver- in Shanghai wie auch hier in einem Prozess, die Laufbahn änderungen erlebt wie sonst in zwanzig Jahren. Und jetzt von Natur in Gebäuden abzubilden. Wir haben untersucht, haben wir Porta Nova, die CityLife-Gegend, oder auch die photo: Adam Mørk wie Bäume wachsen, und sie entsprechend auf den Balko- Fondazione Prada und auch Armani, viele weitere Kostbar- nen und Loggias platziert – mit der höchstmöglichen Aus- keiten. Die Stadt ist explodiert. dehnung. Unsere Gebäude sind in aller Welt daher auch ver- Wie hat sich die Morphologie der Stadt entwickelt? schieden, weil überall andere Bäume wachsen. Das ist also Sehen Sie da drüben? Gebäude wie der „Pirellone“ von Giò 138 / QVEST QVEST / 139
XXXXXXXX XXXXXX STEFANO BOERIS TERAZZA TRIENNALE VIALE EMILIO ALEMAGNA 6 LIEBLINGS- METRO: CAIROLI LOCATIONS RATANÀ PORTA NUOVA, VIA GAETANO DE CASTILLIA 28 METRO: GIOIA, ISOLA photo (Ratana): Brambilla Serrani photo: Dimitar Harizanov Ponti und Pier Luigi Nervi haben lange Zeit das Stadtbild Welches ist denn jetzt das Hauptcenter von Mailand? geprägt. Dieser Teil der Stadt musste zwangsweise das neue Wir wollen den Duomo und die Achse zum Castello Sfor- „Downtown“ werden. Die Expo hat den gesamten Stadtkern zesco nicht ganz unterschlagen, vor allem, weil sie die Struk- verschoben, dort drüben nach CityLife oder auch der Porta tur vorgibt. Die Triennale, das Castello, der Duomo, die Nuova. Jetzt haben wir Gebäude von Cesar Pelli, I.M. Pei Scala, die Pinacoteca di Brera werden als historische Institu- und natürlich die Fondazione Prada von Rem Kolhaas (oder tionen immer die Zentren von Mailand bleiben, auch wegen auch, wenn wir ergänzen dürfen, Arata Isozaki, Zaha M. ihrer Interieurs. Diese Institutionen haben immer die Seele Hadid, David Chipperfield, Herzog/de Meuron, d. Red.). Es von Mailand repräsentiert. Die Skyline ist relativ neu hinzu- war großartig, nach dem Boom der Fünfziger- und Sechziger- gekommen, wie auch viele Parks. „Ein wunderschönes Restaurant in einer ehemaligen jahre zu erleben, wie Mailand nach 2010 aus seinem Dorn- Ihre persönlichen Lieblingsorte? Bahnstation im Park, in der Nähe des Bosco Verticale; röschenschlaf erwacht. Ich mag natürlich die Triennale sehr gerne, die Scala, die Gal- dort gehe ich oft hin.“ leria und der Duomo sind großartig, vor allem in ihrer land- ratana.it »WIR HABEN SOWOHL DEN PIRELLI-TURM UND DEN schaftlichen Sequenz. Und ehrlich gesagt, der von uns gestal- photo (Bar Basso): Bar Basso TORRE VELASCA ALS MONUMENTE DER FÜNFZIGER UND SECHZIGER, tete nagelneue Raum in der Pinacoteca Ambrosiana, wo wir DIE CLUBS AC UND INTER MAILAND, DIE VERLAGE RIZZOLI UND die Vorlage von Raffaels Werk der „Schule von Athen“ von MONTADORI, ALLES IMMER DOPPELT.« 1510 präsentieren, die ich im Archiv gefunden habe. Als ich BAR BASSO VIA PLINIO 39 2010/11 als Berater der Mailänder Kulturabteilung arbeitete, METRO: LIMA, PIOLA Es gibt den alten Begriff vom „Wunder von Mailand“, ähnlich dem habe ich die letzte und unvollendete Skulptur Michelangelos, deutschen Wirtschaftswunder, wie würden Sie ihn füllen? die Pietà Rondanini im Castello Sforzesco entdeckt, die voll- Mailand war immer super-intensiv, was die Energien und Sy- kommen in Vergessenheit geraten war. Diese Schätze sind es, nergien betrifft. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die das Erbe Mailands bereichern. „Das Triennale-Restaurant auf dem Dach ist entstand eine Art Schlachtplan, wie man die Stadt auf- und natürlich ein sehr schöner Ort, schon wegen des umbaut, und die Energie dazu war immer schon da. Bei uns Ausblicks auf die ganze Stadt.“ ist bezeichnenderweise alles doppelt vorhanden: Wir haben osteriaconvista.it sowohl den Pirellone und den Torre Velasca als Monumente photo (osteriaconvista): Martin Schoberer Stefano Boeri (* 1956) der Fünfziger und Sechziger, die Clubs AC und Inter Mai- Der Sohn eines Neurologen und der Möbeldesignerin Cini Boeri TRATTORIA MASUELI SAN MARCO land, die Verlage Rizzoli und Montadori, immer alles doppelt. erwarb sich durch die Zugehörigkeit des Forscher-Netzwerks PORTA ROMANA, VIALE UMBRIA 80 Und Sie sind entsprechend sowohl in Politik und in Architektur tätig? „Multiplicity“, das 2002 auf der Documenta 11 präsent war, METRO: LODI Das geht nur hintereinander. Wenn Sie Politik betreiben, dann neben seinem Beruf als Architekt früh den Ruf als politischer Unglaublich traditionelle wie prunkvolle Trattoria aus dem photo: Martin Schoberer geht nur Politik. Ich habe die Bürgermeisterwahl 2010 gewon- Künstler. Von 2004-2007 war Boeri Chefredakteur des Archi- Jahr 1921 („ein Retro-Traum“, schwärmte die SZ), wo angeb- nen, das war eine sehr entscheidende, intensive Zeit, aber für tekturmagazins „domus“. Der Gründer der Stefano Boeri Archi- lich auch die berühmte „Slow Food“-Bewegung entstanden diese Jahre war ich vollkommen absorbiert in die Politik. Dann tetti mit einer Dépendance in Shanghai lehrt außerdem als Pro- „Ein ‚Happy Center’ für Designer und Kreative, vor allem sein soll. Schon ab mittags ein Tipp, wenn auch kein gehei- habe ich mich mit dem damaligen Bürgermeister verkracht fessor an den Universitäten in Mailand (Politecnico di Milano), während der Messen.“ mer. Zeit mitbringen; es lohnt sich. und bin zurückgekehrt zur Architektur – glücklicherweise. Genua und Venedig. barbasso.com masuellitrattoria.com 140 / QVEST QVEST / 141
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