Die Wahl der Qual Ira Strübel, Kathrin Passig - Leseprobe aus: Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

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Die Wahl der Qual Ira Strübel, Kathrin Passig - Leseprobe aus: Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.
Leseprobe aus:

      Ira Strübel, Kathrin Passig

        Die Wahl der Qual

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Inhalt

Einleitung                                  7
Ein kleiner, unterhaltsamer Defekt
1. Die zehn beliebtesten Irrtümer
über Sadomasochisten                        9
2. Es gibt nichts Schlöchtes,
außer man möcht es                         15
Die Grundlagen
3. Wo hast du dir das denn eingefangen?    33
Theorien zur Entstehung
sadomasochistischer Neigungen
4. The System of Doctor Tarr and
Professor Fether                           59
DSM-IV und ICD-10

5. Dürfen die das?                         65
Die Rechtslage
6. Nackte Fakten                           93
Statistik für Zahlenfetischisten
7. Die schnelle Sadomaso-Nummer           117
BDSM in den Medien
8. Was bisher geschah                     123
Eine kurze Geschichte der SM-Subkultur

9. Aus dem Nähkästchen                    143
Coming-out
Rainer, Cecile, Mela

                                                5
10. www.wo-geht’s-denn-hier-zu-
    den-perversen.de?                            149
    BDSM im Internet
    11. Fast wie im richtigen Leben –            167
    BDSM-Treffen
    12. Schatz, schlägst du mich noch?           175
    SM und Partnerschaft
    13. Aus dem Nähkästchen                      210
    Partnerschaft
    Johannes, Ursula
    14. Immer raus, was keine Miete zahlt        215
    Outing vor anderen
    15. Aus dem Nähkästchen                      229
    Outing
    Ingo, Birgit
    16. In schlechter Gesellschaft               241
    SM-Partys und andere Lustbarkeiten
    17. Bitte recht unfreundlich                 257
    Professioneller SM

    18. Aus dem Nähkästchen                      267
    Profis
    Laura, Dominik, Michael
    19. Gender, Sex und andere Kleinigkeiten     291
    Wie Rollenklischees das Leben komplizieren

    20. Wenn ich groß bin, werd ich harmlos      302
    Bedenken, die man sich schenken kann

    Glossar                                      312

    Danksagungen                                 320

6
Einleitung
     Ein kleiner,
unterhaltsamer Defekt

Laut Max Goldt, an dem man sich in weltanschaulichen Fragen
getrost orientieren darf, ist es «absolut Kokolores, aus einem klei-
nen, unterhaltsamen Defekt wie der Homosexualität einen gan-
zen Lebensstil zu destillieren, der sich schließlich doch nur in uni-
former Kleidung (geknöpfte Jeans!), patzigem und vorlautem
Reden und einer maßlosen Überschätzung von Sexualität äußert.
Die kultische Überhöhung einer unbedeutenden Norm-Abwei-
chung führt natürlich zwangsläufig dazu, dass alle individuellen
Eigenschaften gegenüber dem Schwulsein verblassen …»
   Wir brauchen nur für «Homosexualität» «Sadomasochismus»
einzusetzen und für «geknöpfte Jeans» «schwarze Sachen», dann
erkennen wir uns und unsere patzigen und vorlauten Reden wie-
der. Leider sind Eltern, Partner, Psychologen, Gesetzgeber, Sex-
buchautoren und Vermieter immer noch viel zu häufig der Mei-
nung, es handle sich statt um einen kleinen, unterhaltsamen
Defekt um einen großen Dachschaden.
   Wäre auf der Welt alles zufriedenstellend eingerichtet, dann
bräuchten wir dieses Buch nur wegen seiner Illustrationen. Wir
hätten schon im Sexualkundeunterricht der siebten Klasse erfah-
ren, dass es solche und solche gibt. In unseren Aufklärungsbü-
chern und bei Doktor Sommer wäre nicht nur von Mann und
Frau, die sich sehr, sehr lieb haben, die Rede gewesen, sondern
auch von Tennissockenfetischen, Genderbending und Analver-
kehr. Es wäre uns selbstverständlich, dass sexuelle Vorlieben so
unterschiedlich ausfallen wie musikalische, und wir würden uns
für die einen nicht mehr schämen als für die anderen. – (Frau Pas-
sig wirft an dieser Stelle ein, ihr Musikgeschmack sei ihr schon

                                                                7
jetzt wesentlich peinlicher als ihre sexuellen Vorlieben. Als Nächs-
tes möchte sie das Coming-out-Handbuch «Dylan-Fan – na
und?» schreiben.)
    Vermutlich wird in zwanzig Jahren alles gut oder zumindest
sehr viel besser sein, und dann werden wir in «Die Wahl der Qual»
so gerührt und belustigt blättern wie heute im 1982 erschienenen
Schwulenhandbuch «MännerLiebe», dessen Untertitel wir für
dieses Buch entliehen haben. Bis dahin gibt es aber leider noch ein
erhebliches Defizit an Informationen darüber, was denn diese Sa-
domasochisten eigentlich für welche sind. An dem Tag, an dem
SM genauso seltsam oder normal ist wie die zehn beliebtesten Ko-
pulationsstellungen, können wir getrost die Hände in den Schoß
legen und dort sinnvoller beschäftigen als mit Öffentlichkeits-
arbeit. Vorher gibt es aber noch einiges zu tun.

Und weil das so ist, liegt nun die zweite Überarbeitung des Buches
vor. An den Grundlagen hat sich nicht viel geändert, das wäre ja
auch noch schöner. Aber ein paar Dinge sind doch anders: So ha-
ben wir uns die bisher aufgeführten Internetdienste einmal zur
Brust genommen – und diejenigen, die inzwischen alt und runz-
lig geworden sind, durch neue, glänzende ersetzt. Und damit ab-
gedruckte Links zu bestimmten Themen künftig nicht allzu
schnell wieder ins Leere führen, berufen wir uns statt auf SM-spe-
zifische Seiten jetzt überwiegend auf die Wikipedia, in der Hoff-
nung, dass deren weiterführende Links noch ein paar Jahre lang
so zuverlässig gepflegt und aktualisiert werden.

November 2008
Kathrin Passig
Ira Strübel

   8
1    Die zehn beliebtesten
   Irrtümer über Sadomasochisten
1. Sadomasochisten sind krank.
   Nur, wenn sie sich eine Grippe einfangen. Es gibt keine Anzei-
   chen dafür, dass sich Sadomasochisten, außer in ihren sexuel-
   len Vorlieben, von anderen Menschen unterscheiden.
2. Sadomasochisten genießen Schmerzen.
   Viele Sadomasochisten können Schmerzen nichts abgewin-
   nen. Ihre Spiele drehen sich um Macht, Unterwerfung und
   Demütigung. Und auch auf der anderen Seite gibt es nur we-
   nige, die es nicht nur als Vorstellung oder Machtdemonstra-
   tion, sondern unmittelbar erotisch finden, wenn man ihnen
   Schmerzen zufügt. Außerdem funktioniert das alles natürlich
   nur in einem sexuellen Kontext und nicht beim Zahnarzt.
3. Sadomasochismus ist Gewalt.
   Der Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltdarstellung ist
   Sadomasochisten klarer als den meisten Filmkritikern. Sado-
   masochismus hat mit realer Gewalt ungefähr so viel zu tun wie
   Quake-Spielen gegen die Kollegen mit einem blutigen Massa-
   ker im Büro.
4. Es gibt Sadisten und Masochisten, und eines ist häufiger als
   das andere.
   Je nach untersuchter Subkultur wird mal die eine, mal die an-
   dere Rolle als die beliebtere beschrieben. Ein großer Teil der
   Sadomasochisten fühlt sich auf beiden Seiten wohl.
5. Die Ursache des Sadomasochismus liegt in …
   Über die Ursachen sadomasochistischer Interessen hat man
   bisher nicht sehr viel herausgefunden. Man kann aber wohl
   mit Sicherheit sagen, dass es die eine, alles erklärende Ur-
   sache nicht gibt. Zum einen fallen die individuellen Ausprä-

                                                            9
gungen ganz unterschiedlich aus, zum anderen können auch
     äußerlich ähnliche Verhaltensweisen ganz verschiedene Hin-
     tergründe haben. Die Biographien und Erfahrungen von
     Sadomasochisten weisen keine Elemente auf, die allen ge-
     meinsam wären.
6.   Sadomasochisten finden nur sehr schwer einen Partner.
     Sadomasochisten, die ihre Interessen geheim halten und mit
     niemandem darüber sprechen, haben es in der Tat nicht leicht.
     In der sadomasochistischen Subkultur dagegen findet so gut
     wie jeder Topf seinen Deckel. (Extreme Schüchternheit und
     haarige Warzen auf der Nase sind hier natürlich genauso hin-
     derlich wie im Rest der Welt.) Man sollte nicht aus den Augen
     verlieren, dass die Partnersuche auch für Menschen mit den
     gebräuchlichsten sexuellen Vorlieben nicht einfach ist.
7.   Es gibt nur wenige Sadomasochistinnen. Frauen spielen
     meist nur wegen des Geldes oder dem Freund zuliebe mit.
     Der Frauenanteil in der heterosexuellen SM-Subkultur liegt je
     nach Gruppe und Veranstaltung im Allgemeinen bei etwa ei-
     nem Drittel. Und wer sich im eigenen alltäglichen Umfeld um-
     sieht, wird feststellen, dass das der Verteilung bei den meisten
     sozialen Anlässen entspricht.
8.   Sadomasochismus wird von abgestumpften Leuten prakti-
     ziert, die alles andere schon ausprobiert haben.
     Viele Sadomasochisten wissen sehr früh, oft schon vor der Pu-
     bertät, sehr genau, was sie wollen. Das hohe Durchschnitts-
     alter mancher SM-Gruppen liegt zum Teil daran, dass das
     Coming-out noch vor wenigen Jahren wesentlich schwieriger
     war als heute und erst nach entsprechend langem Zögern
     stattfand. Der übersättigte alte Lustmolch, der mit SM-Prakti-
     ken seine Impotenz zu beheben versucht, scheint eine Legen-
     de zu sein.
9.   Sadomasochismus stellt einen Ausgleich zu den Anforde-
     rungen des Alltags dar: Erfolgreiche Manager lassen sich
     nach Feierabend von der Domina erniedrigen, und frus-

     10
trierte kleine Männer geben zu Hause vor der Ehefrau den
    großen Meister.
    Sadomasochistische Praktiken können diese angenehme
    Funktion unter anderem haben, müssen es aber keineswegs.
    Dominantes Auftreten im Alltag weist weder darauf hin, dass
    der oder die Betreffende auch im Bett dominant ist, noch
    kann man das Gegenteil daraus ablesen. Man sieht den mei-
    sten Leuten einfach nicht an, welche Seite sie bevorzugen.
10. Im Laufe der Zeit werden die Praktiken immer extremer und
    gefährlicher.
    Unausgelebte SM-Phantasien neigen wie alle sexuell stimu-
    lierenden Vorstellungen zu Abnutzungserscheinungen und
    müssen dann weiter ausgebaut werden. In der Praxis entdeckt
    man in SM-Beziehungen hin und wieder neue Spiele, die
    Spaß machen, aber von einer Sucht nach immer extremeren
    Spielweisen kann nicht die Rede sein.

                                                         11
Wolfgang Herrndorf
Nach vierstündigem Verhör gestand der Warenhausdetektiv
Edgar P. (37) aus F., als Kind seine Geschwister nicht selten
ungerecht behandelt zu haben.

   Beschwerden, die uns da treffen, wo es ganz unerotisch wehtut,
haben wir hier schon mal vorweggenommen. Alle weiteren Kom-
mentare hören wir uns unter ira@die-wahl-der-qual.de oder
kathrin@die-wahl-der-qual.de geduldig an.

Ich will gar nicht «normal» sein. Für mich ist SM düster, wild,
anarchisch und amoralisch, und wenn wir ihn domestizieren,
bleibt nur eine seelenlose, dem Massengeschmack angepasste

   12
Hülle zurück. Ich stehe am äußersten Rand der Gesellschaft, und
dort will ich auch bleiben.
   Dann solltest du besser nicht weiterlesen. Der Leidensdruck
der Leute, die sich für unaussprechlich unnormal halten, ist uns
wichtiger als der berechtigte Wunsch nach Distanzierung von der
Banalität des Normalen. Wenn es dereinst ganz schlimm kommen
sollte und man seine Eltern mit SM nicht mehr erschrecken kann,
findest du sicher ein gemütliches neues Zuhause in irgendeiner
anderen Underground-Bewegung, die sterben ja nicht aus.

Leidensdruck, ich hör immer Leidensdruck. Was stellt ihr euch
eigentlich alle so an? Mein eigenes Coming-out hat schließlich
auch ohne sozialpädagogisches Wattebauschwerfen stattgefun-
den.
   Schön für dich. Nur funktionieren nicht alle anderen Men-
schen genauso wie du. Manche Leute gehen ihren SM-Interessen
von Anfang an nach, ohne sich deshalb schlecht oder unsicher zu
fühlen – oft ist das einfach Glückssache. Aber solange du nicht be-
haupten willst, Steuerberater seien überflüssig, nur weil du selbst
keinen nötig hast, lass uns ruhig Wattebäuschchen werfen.

Was ist, wenn meine Mutter dieses Buch bei mir findet?
   Da haben wir vorgesorgt: Den ursprünglichen Titel «Hilfe,
Mama, ich bin pervers» haben wir ebenso verworfen wie den
schwarzen Einband mit blutroter Frakturschrift. Und wenn sie
doch vor der Zeit draufkommt … dieses Buch lässt sich auch pri-
ma verschenken.

Und wo sind die Sicherheitshinweise?
   Dieses Buch ist kein Technikratgeber – was hier nicht steht,
steht in Matthias Grimmes «SM-Handbuch». Wir haben uns in
einigen Bereichen, die das «SM-Handbuch» bereits abdeckt, sehr
kurz gefasst. Man muss das Rädern ja kein zweites Mal erfinden.

                                                             13
Ich bin eine Frau / ein Mann – ihr nehmt in vielen Formulierun-
gen gar keine Rücksicht auf mein Geschlecht!
Wir haben einen Lesbarinnenkeitsfetisch. Und deshalb haben wir
uns auf jeweils ein grammatisches Geschlecht beschränkt. Wo uns
das geschlechtsneutrale Formulieren zu umständlich war, haben
wir aus naheliegenden Gründen eine weibliche, heterosexuelle
Perspektive gewählt. Wenn du denkst, dass aufgrund der verein-
fachten Sprache unser Buch die Druckerinnenschwärze nicht wert
ist, hast du leider € 8,95 für die schlechte Sache ausgegeben.

Zu den Interviews
Die meisten für dieses Buch interviewten Personen waren zwi-
schen 19 und 35 Jahre alt. Manche Beiträge stammen ursprüng-
lich aus Mailinglisten und Chats; die Autoren und Autorinnen
sind uns aber persönlich bekannt, es handelt sich also nicht um
bärtige Fünfzigjährige, die sich als blutjunge Blondinen ausgeben.
Nicht alle Beiträge, die mit dem gleichen Namen gezeichnet sind,
stammen von der gleichen Person – zum Beispiel haben wir meh-
rere Birgits, Sonjas und Andreas interviewt. Die unterschiedlichen
SM-Ausdrücke in den Interviews haben wir nicht an eine einheit-
liche Sprachregelung angepasst, sondern unverändert gelassen;
was sie bedeuten, kann man im Zweifelsfall im Glossar nachlesen.

   Lieblingsreaktionen unserer Umgebung auf die Bekannt-
   gabe des Buchthemas:

   1.   Nein, ernsthaft – worüber schreibst du?
   2.   Nimmt dich das sehr mit?
   3.   Echt? Kennst du solche Leute?
   4.   Echt? Ist ja pervers.
   5.   SM. Cool. (Pause.) Und was heißt das?

   14
2  Es gibt nichts Schlöchtes,
   außer man möcht es
       Die Grundlagen

       «Nicht im Wörterbuch: Sadomasochist.
       Ersetzen durch: Sachverständiger?»
       MICROSOFT WORD

Im Folgenden werden ein paar Begriffe und Sachverhalte erklärt,
die allen Dingen, von denen dieses Buch berichtet, zugrunde lie-
gen. Eine solche Begriffsklärung ist vor allem deshalb notwendig,
weil das Thema Sadomasochismus mit einer Fülle an seltsamen
Vorurteilen besetzt ist. Keine Angst – das hier ist kein Schulbuch,
und es gibt auch keinen Vokabeltest. Wem die Grundbegriffe be-
reits vertraut sind, der darf einfach weiterblättern.

    Sadomasochismus – wo der Begriff herkommt
und was daraus geworden ist

Der Begriff Sadomasochismus ist eine Zusammensetzung aus den
Begriffen Sadismus (nach dem Philosophen Marquis de Sade)
und Masochismus (nach dem Autor Leopold von Sacher-Ma-
soch). Beide Begriffe hat Richard von Krafft-Ebing in seiner «Psy-
chopathia sexualis» geprägt – ein Umstand, der für Herrn Sacher-
Masoch, der zu diesem Zeitpunkt noch lebte, eher unangenehm
war, denn eigentlich wäre er lieber als erfolgreicher Autor und
nicht als Namensgeber einer Krankheit in die Geschichte einge-
gangen. Sacher-Masochs Sohn soll häufig gescherzt haben, seinem
Vater verdankten wir den Sacherismus und die Masoch-Torte.
   Krafft-Ebing beschrieb die Neigungskonstellationen der von

                                                             15
ihm untersuchten Patienten wie folgt: Sadisten sind Menschen,
denen das Zufügen von Schmerz Lust bereitet, während Maso-
chisten Lust dadurch empfinden, dass ihnen Schmerz zugefügt
wird. Bis heute ist diese erste Beschreibung der Kern aller Kli-
schees und Mythen, die sich um den Sadomasochismus ranken.
Wie das bei den meisten Mythen so ist, ist dieser Kern nicht gänz-
lich unsinnig – aber leider eben nur ein Teil der wesentlich kom-
plexeren Wahrheit. Denn die Vorlieben der verschiedenen Sado-
masochisten sind keineswegs auf die Lust am Zufügen und
Empfangen von Schmerzen reduziert. Fesseln, Rollenspiele und
unzählige andere Spielarten gehören ebenso in diesen Bereich wie
vielfältige Varianten und Kombinationen von Vorlieben. Manche
Sadomasochisten können dem Spiel mit dem Schmerz überhaupt
nichts abgewinnen, andere finden leichte Schmerzen stimulie-
rend, wieder andere ziehen Lust aus Praktiken, die für Außenste-
hende lächerlich, unangenehm oder ganz und gar unverständlich
aussehen. Einige mögen Kuscheln mit Festbinden, wieder andere
bevorzugen Spiele, deren Schauplatz eher der Kopf als das Schlaf-
zimmer ist. Auch wenn es häufigere und weniger häufigere Vorlie-
ben gibt, ist doch kein Sadomasochist wie der andere, und Spiele,
die von außen ähnlich aussehen, können für die Beteiligten ganz
und gar unterschiedliche Hintergründe haben.
    Allgemein könnte man sagen, dass bei Sadomasochisten Emp-
findungen, die im Alltag eher unerwünscht sind, in einem sexuel-
len Kontext zur Erregung beitragen. Das können körperliche
Schmerzen sein, aber auch Scham, das Gefühl, ausgeliefert oder
machtlos zu sein, Unterwürfigkeit, Ekel oder Aggressivität. Im All-
tag versucht wohl fast jeder Mensch, Sadomasochist oder nicht,
diese Situationen und Gefühle zu meiden, denn die meisten da-
von haben beim Kneipenabend mit Freunden oder beim Essen
mit dem Chef eher nichts zu suchen. In den sexuellen Phantasien
und Praktiken von Sadomasochisten aber spielen sie eine große
Rolle.
    Das in den Medien kolportierte Klischee von der peitschen-

   16
schwingenden Lederfrau wird der Vielfalt sadomasochistischer
Spielarten jedenfalls nicht gerecht. Aber gerade diese Vielfalt
macht es schwierig, eine Definition zu finden, die alle Varianten
berücksichtigt. Natürlich könnten wir hier bei der Schilderung sa-
domasochistischer Verhaltensweisen jedes Mal schreiben: «Dies
gilt für Bondage-Fans ebenso wie für Flagellanten und Rollenspie-
ler, dabei insbesondere Pet-Player, für Masochisten, Devote und
Switcher …» Weil das dann aber doch ein wenig umständlich ist,
bleiben wir bei den allgemeinen Themen bei der Bezeichnung
«Sadomasochisten» oder, etwas legerer, «SMler». Wo es sich ohne
Verrenkungen einrichten lässt, verwenden wir den an sich sinn-
volleren Überbegriff «BDSM» für «Bondage, Discipline, Domi-
nance, Submission, Sadomasochism», also Fesseln, Erziehungs-
spiele, Machtspiele und Sadomasochismus.

     Sadomasochisten haben ihre Regel:
Safe, Sane and Consensual

Die Formulierung Safe, Sane and Consensual – «sicher, mit gesun-
dem Menschenverstand und einvernehmlich» – wurde Anfang
der achtziger Jahre in den USA geprägt und hat sich seither ziem-
lich flächendeckend durchgesetzt, um eine Art kleinsten gemein-
samen Nenner aller SM-Aktivitäten zu beschreiben. SSC ist so
etwas wie ein minimaler Satz an Regeln, dem alle sadomasochisti-
schen Interaktionen folgen, so unterschiedlich sie auch sonst aus-
sehen mögen. Dabei gibt es natürlich durchaus Grauzonen und
individuelle Unterschiede in der Auslegung.
    «Safe» kann den Verzicht auf alle Praktiken bedeuten, die ein
größeres Gesundheitsrisiko mit sich bringen als Sex ohne SM.
Andere legen den Begriff weiter aus – so ist auch Sportklettern
zum Beispiel riskanter als der Alltag, geht aber mit so hohem Lust-
gewinn einher, dass Kletterer dieses höhere Risiko bereitwillig in
Kauf nehmen. Wem die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten feh-

                                                             17
len, das Risiko einzuschätzen und so gering wie möglich zu hal-
ten, der sollte sowohl vom Klettern als auch vom SM die Finger
lassen, bis er jemanden gefunden hat, der ihm diese Grundlagen
beibringt.
    Mit «sane» ist meist «gesunder Menschenverstand» gemeint,
Zurechnungsfähigkeit und die Fähigkeit, Phantasien von der Rea-
lität zu unterscheiden. In der Praxis führt das beispielsweise dazu,
dass es Partys gibt, auf denen sämtliche Drogen einschließlich Al-
kohol tabu sind, weil schon eine leichte Vernebelung des Urteils-
vermögens die Abschätzung der möglichen Folgen erschweren
kann. Wer schon einmal beschwipst in dunklen Ecken mit dem
besten Freund des Geliebten geknutscht hat, kann sich in etwa
vorstellen, wovon die Rede ist.
    «Consensual» bedeutet, dass die Einwilligung des Bottoms in
das, was geschehen soll, unabdingbar ist und der Top seine Wün-
sche und Grenzen zuverlässig respektieren wird. Die Beteiligten
stecken vor dem Spiel den Rahmen ab, innerhalb dessen gespielt
werden soll.
    Bevor man zur Untat schreitet, vereinbaren Top und Bottom
meist ein Safeword oder Codewort. Das Safeword ermöglicht es
dem Bottom, dem Top in Notfällen das Signal zum sofortigen
Aufhören zu geben, ansonsten aber nach Herzenslust «Nein!»,
«Gnade!» und «Aufhören!» zu schreien, wenn das zu seiner Erre-
gung beiträgt (und die Nachbarn nicht protestieren). Auch wenn
man auf einer Party miteinander spielt und einander zu wenig
kennt, um subtilere Anzeichen richtig zu deuten, ist ein Safeword
in jedem Fall von Vorteil. Gebräuchlich ist «Mayday», es bleibt
aber jedem überlassen, stattdessen «Schneckenschere» oder den
Mädchennamen der Großmutter zu wählen. Hauptsache, das
Wort ist ungewöhnlich genug, um im Spiel aufzufallen. Ob das
Safeword jemals gebraucht wird oder nicht, hängt nicht davon ab,
wie erfahren die Beteiligten sind oder wie viel Zeit vorher ins Ge-
spräch investiert wurde.

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