Sokrates und die Musiktheorie - Ulrich Kaiser

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Ulrich Kaiser

Sokrates und die Musiktheorie

Die Welt zieht an mir mit großer Geschwindigkeit vorbei. Ich sitze im Zug irgendwo zwischen
München und Berlin. Auf meinen Knien liegt aufgeschlagen das Buch eines Musiktheoretikers,
doch ich schaue nicht hinein. Es ist noch recht früh und ich bin müde, aber meine Gedanken
sind hellwach. Mit geschlossenen Augen denke ich nach, über ihn, über mich und über Musik-
theorie.
    Er ist so berühmt, wie man als Musiktheoretiker, Musikwissenschaftler oder Musikpädagoge
werden kann. Alle, die in Deutschland vom Fach sind, dürften seinen Namen kennen. Ich erin-
nere mich noch gut an ein erstes Ost-West-Gehörbildungstreffen in Weimar. Es war eines dieser
Treffen, wo die Mauer schon weg, aber die Trennung noch da war. Natürlich hatte man auch ihn
eingeladen und auf einem Flyer, der in den Fluren der Weimarer Musikhochschule hing, konnte
man seinen Namen lesen. Ich sah zwei Studenten davor stehen und einer raunte dem anderen
zu, ob er es sei. Ja, er sei es, flüsterte der andere und sie beschlossen hinzugehen. Ich weiß noch,
wie ich damals staunte und dachte: »Mensch, du kennst ihn sogar aus dem Unterricht«. Doch
wir hatten uns aus den Augen verloren, ihn hatte es nach München verschlagen und ich war
immer noch in Berlin. Zwischen uns lag eine lange Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten und
entsprechend neugierig war ich auf ihn. Und aufgeregt, denn ich durfte das erste Fachreferat
meines Lebens halten.
    In Berlin, wo man alles immer ein bisschen besser weiß als anderswo, hatte er es nicht leicht.
»Wir brauchen hier Mottenkugeln« soll einmal ein Kollege gesagt haben, der nicht gut auf die von
ihm und seinem Lehrer ausgehende Musiktheorie zu sprechen war. Ich musste damals lachen, als
ich von diesem Ausspruch hörte, obwohl er böse war und wohl aus Neid geboren, denn immerhin
standen Diether de la Mottes Bücher im Zentrum eines Paradigmenwechsels: Hier ›Opas Tonsatz‹,
dort eine selbstbewusste und historisch informierte Musiktheorie. Ich selbst habe ja noch vor
meiner Hochschulzeit den Grabner gebimst. Mein Vater, ein Schüler Ernst Peppings, stellte mir
Aufgaben (»moduliere von da nach dort über diese und jene Nebenstufe«) und ich kritzelte im
Urlaub in Restaurants, Ausflugslokalen und Cafés große Akkordgirlanden in kleine Notenhefte.
Doch mit den Büchern von Diether de la Motte wurde alles anders. Richtig und falsch versanken in
der Relativität historischer Hermeneutik, in der selbst eine Quintparallele nicht mehr das zu sein
schien, für was ich sie einmal gehalten hatte. Und diesem mit Harmonielehre und Kontrapunkt
gewiesenen Weg war er gefolgt: Zuerst mit seiner Musiklehre und dann mit dem kühnen Bären-
ritt aus Gehörbildung im Selbststudium, Formenlehre und Analyse lernen. Diese Bücher sind richtig
eingeschlagen. Handliches Format, sehr angenehm zu lesen und preiswert. Ich besitze sie alle.
    Bevor er Berlin verließ, hatte er sich für mich ordentlich ins Zeug gelegt (erste Weichenstel-
lung). Ich spürte schon damals, welchen Vorzug es für mich bedeutete, als Schulmusikstudent
im fünften Semester ein Tutorium geben zu dürfen, das normaler Weise den Studierenden des
Hauptfachs Musiktheorie vorbehalten war. Seine Förderung war für mich unwahrscheinlich auf-
bauend. Aber es gab auch schwierige Momente, weil er sehr stur sein konnte: Beispielsweise ist
in Berlin eine Subdominant-Dominant-Klangfolge eine Verbindung zweier Septakkorde (auch
wenn keine Septime da ist) und wer daran zweifelte, den hielten wir bestenfalls für uninformiert.
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      Oder anders gesagt: Dank Rameau, Marpurg und Kirnberger glaubten wir es einfach besser zu
      wissen als anderswo. Und obwohl er unter uns weilte und die heiligen drei Könige der Funda-
      mentfortschreitung mit Sicherheit kannte, schleuderte er die Sixte ajoûtée auf den Acker unserer
      Weisheit, als ob es im Hochschultempel keine Verkündigung gäbe. Nun: heute kräht kein Hahn
      mehr danach, zumindest dieser Glaubensstreit hat angesichts von Zügen, Modellen und Tonfel-
      dern deutlich an Schärfe verloren.
          Auch in München blieb er sich treu: Unglaublich eigentlich, dass er bereits im ersten Monat
      nach seiner Ankunft einen Brief an alle Kollegen seines Fachs geschrieben haben soll, in dem
      stand, was es alles in der heimlichen Hauptstadt zu verbessern galt. Es stimmt zwar, dass man
      in München vieles verbessern könnte, wenn man nur wollte (eine vorlaute Zunge behauptet
      sogar, dass in dieser Musikhochschule mit ihrer Nähe zu Palermo heute noch der Geist einer
      der ältesten Klavierschulen Deutschlands regiert). Aber dass er das alles bereits nach ein paar
      Wochen wusste, zeichnet ihn als echten Berliner aus (auch wenn er ein gebürtiger Hamburger
      ist). Besserwissen kommt in Bayern allerdings gar nicht gut an, denn sie wissen dort selbst alles
      am besten (obwohl sie manchmal gar nicht wissen, was man anderswo besser weiß). Auf diese
      Weise hatte er von Anfang an die Erneuerer auf seiner Seite und eine nicht zu unterschätzende
      Gegnerschaft der Bewahrer. Da verwundert es wenig, dass er letztendlich den Zephyr-Rufen aus
      Dresden gefolgt ist. Im selben Jahr übrigens, in dem ich nach München kam. Er war kein stimm-
      berechtigtes Kommissionsmitglied, das hat er immer wieder betont, aber Fürsprache dürfte er
      für mich gehalten haben (zweite Weichenstellung). Und das – wie er mir in einem sehr persön-
      lichen Gespräch in Weimar sagte –, obwohl er mich als Student »nicht mochte«, weil ich ihm zu
      verbissen gewesen sei (was ich nicht einmal abstreiten will). Ob er sich für mich den Münchener
      Job gewünscht hat, oder aber nur den Bayern meine Person? Ich jedenfalls bin ihm sehr dankbar
      für diese zwei wichtigen Weichenstellungen in meinem Leben.
          Die Welt ruckelt und ich öffne die Augen. Der Blick fällt auf meine Knie und dort liegt immer
      noch aufgeschlagen das Buch des Musiktheoretikers. Es ist von ihm. Schön, dass es noch auf
      meine Knie passt. Nach der Kompositionsgeschichte in Beispielen war ja zu befürchten, dass es
      noch größer werden würde, womit es für den privaten Gebrauch ungeeignet gewesen wäre. Das
      Format hätte dann öffentliche Lesungen nahegelegt, gewissermaßen ein »super librum legere«,
      das Buch auf dem Ständer und die Willigen darum herum. Aber dem Verlag sei es gedankt:
      Handliches Format, sehr angenehm zu lesen und: Teuer! Aber dafür trägt er ja nicht die Schuld,
      die Verantwortlichen der Preisgestaltung sitzen woanders. Wie oft hat man mir gesagt, dass Bü-
      cher teurer als Kinokarten sein müssen, damit sie etwas wert sind. Also, enttäusche mich nicht:
      Sollte ich nach der Lektüre deines Buches nicht mindestens so vergnügt sein, wie ich es nach
      einer langen Nacht mit dem Fünften Element, Terminator und Wolverine wäre, dann …
          Musiktheorie unterrichten – Musik vermitteln: Erfahrungen – Ideen – Methoden: Das klingt we-
      der nach unbestimmter Zukunft noch nach kosmischer Empfindsamkeit. Es weckt bei mir eher
      Assoziationen an interessante Inhalte, die meine Studenten überlasten oder überlastete Studen-
      ten, die nicht so interessant sind. Aber ich möchte aufgeschlossen sein und probiere gerne etwas
      Neues aus. Ich habe das Buch zwar schon einmal studiert, werde es aber noch einmal tun. Ich
      fange an zu lesen.
          Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines Unterrichtseinstiegs. Das ist geschickt, keine
      Frage, er ist ein Profi, und man merkt sofort, dass er von persönlichen Erfahrungen berichtet. In
      der musikpädagogischen Forschung wird dem guten Unterrichtseinstieg ja seit längerem große
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Bedeutung beigemessen und einen Beginn mit dem Beginnen zu beginnen, zeigt ihn auf der
Höhe der Zeit. Er ist in den Unterricht gegangen, hat sich einfach hingesetzt, geschwiegen und
abgewartet, solange eine ›Pause‹ inszeniert, bis das verstehende Lächeln der Studentinnen und
Studenten Bereitschaft für dieses Thema signalisierte. Auch ich lächele, wenn ich an meine Stun-
de denke, in der ich seine Idee ausprobiert habe. Zugegeben, es war wahrscheinlich die falsche
Gruppe. Sie bestand nur aus drei Hauptfachstudenten, mit denen ich über Methodik sprechen
wollte. Auch ich bin also in den Unterrichtsraum gegangen, habe mich hingesetzt, freundlich
dreingeschaut und nichts gesagt. Daraufhin waren sie kurz verwirrt, haben dann aber gleich die
Initiative ergriffen und darüber geredet, was sie zu dieser Stunde alles gemacht hätten, was sie
sich für heute wünschen würden und so weiter und so fort. Ich hoffte, dass wenigstens eine an
mich gestellte Frage mir die ersehnte Pause bescheren würde (ich wäre sofort aus der Deckung
gekommen). Aber nichts dergleichen. Vielleicht aus Mitleid darüber, dass es mir heute nicht
so gut gehen könnte und ich deshalb so schweigsam sei, beantworteten sie sich ihre Fragen
kurzer Hand selbst. Nach ein paar Minuten habe ich dann ihr Gespräch für einen kleinen Mo-
ment unterbrochen, um die Katze aus dem Sack zu lassen, aber das hat den Unterrichtsverlauf
nicht wirklich gestört. Wir hatten prima Stimmung. Gott sei Dank hieß mein Thema Methodik
und nicht »Pause«. Später haben wir dann den Anfang aus seinem Buch gelesen, es folgte ein
ausgiebiges Gespräch darüber, warum der Unterrichtseinstieg bei uns so und nicht wie im Buch
beschrieben verlaufen war, welche Bedingungen gegeben sein müssten, damit es klappen könn-
te usw. In der nächsten Sitzung hat dann jeder von uns fünf interessante Literaturbeispiele zum
Thema Pause (mit Noten und Soundfiles) zusammengestellt, alles wurde auf eine CD gebrannt,
sie waren ausgestattet mit reichlich Material und inspiriert, diesen Einstieg einmal selbst zu
versuchen. Respekt, das war die erste Kinokarte.
   Ich blättere weiter in seinem Buch und bleibe – wie schon beim ersten Mal – am Sokrates-
Prinzip hängen. Er sagt, es sei für ihn die allerwichtigste pädagogische Idee, Schüler selbst
Dinge entdecken zu lassen. Meint er das wirklich so?
   Kennst du denn nicht das ›Kluge-Hans-Trauma‹, hast noch nie etwas von dem rechnenden
Pferd des pensionierten Gymnasiallehrers von Osten gehört? Paul Watzlawick hat darüber in
grandioser Weise berichtet: Im Jahre 1904 brandete eine Welle der Begeisterung durch Europa.
Der Grund war Hans, ein kluges Pferd (übrigens aus Berlin), dessen Bildung sich der pensionier-
te Mathematiklehrer von Osten als oberstes Ziel gesteckt hatte. In schier grenzenlosem Glauben
an seinen Lehrerberuf hatte er seinem Pferd das Lösen mathematischer Aufgaben beigebracht,
darüber hinaus konnte es buchstabieren (a = einmal mit dem Huf klopfen, b = zweimal usw.), die
Uhr lesen und sogar Fotos von Personen wiedererkennen. Natürlich hat diese Wundergeschich-
ten niemand glauben wollen, aber mit der Überzeugungskraft eines Gymnasiallehrers gelang es
von Osten, Zoologen und Psychologen, Veterinärmediziner und Neuropsychiater auf sein schlau-
es Pferd aufmerksam zu machen. Scharen pilgerten in den Berliner Norden, um das Wunder zu
schauen, wieder und wieder wurde das Tier von ganzen Expertenkommissionen getestet, doch
alle Tests ergaben immer nur ein Ergebnis: Das Pferd konnte rechnen! Im September des Jahres
veröffentlichte sogar eine Sachverständigenkommission, zu der auch Mitglieder der Preußischen
Akademie der Wissenschaften gehörten, ein Gutachten, das festhielt, dass sowohl absichtliche
Täuschung als auch unwillkürliche Zeichengebung ausgeschlossen werden können. Erst gegen
Ende des Jahres, als selbst Wissenschaftler an die Offenbarung zu glauben begannen, publizierte
Oskar Pfungst, ein Mitarbeiter des berühmten Carl Stumpfs, ein weiteres Gutachten, in dem er
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      nachwies, dass Pferde – selbst die von Gymnasiallehrern – ihre Rechenfähigkeit verlieren, wenn
      dem Dresseur die Lösung der Rechenaufgabe nicht bekannt ist. Ein Traum war geplatzt, aber
      die Sensation perfekt: Pferde können zwar nicht rechnen, haben aber ganz außergewöhnliche
      Fähigkeiten im Beobachten. Sie nehmen Mimik und Tonfall wahr, ein Weiten der Pupillen, hoch-
      gezogene Augenbrauen, eine Bewegung im Mundwinkel, einfach alles. Der starke Wunsch des
      Herrn von Osten, dass sein Pferd doch jetzt nicken oder mit dem Hufe schlagen möge, muss sei-
      nen Niederschlag in feinsten Regungen seines Körpers gefunden haben, so fein, dass sie weder
      ihm selbst noch der Expertenkommission aufgefallen sind. Doch dem Pferd haben sie genügt um
      zu wissen, was von Osten gerne hören wollte. Ich glaube, nein, behaupte sogar: Studenten und
      Pferde sind sich in dieser Hinsicht ähnlich.
          Diese hochsensible Fähigkeit besitzen Studentinnen und Studenten, weil sie in den allgemein
      bildenden Schulen jahrelang durch Spezialisten wie Herrn von Osten trainiert worden sind. In
      der Praxis sieht das in etwa so aus: Zu einem vom Lehrplan vorgegebenen Thema (Bildungsvor-
      gabe) macht man sich Gedanken, wie man Schülerinnen und Schüler die Dinge selbst entdecken
      lassen könnte (Unterrichtsvorbereitung). Wenn der Lehrer (Sokrates) fragt, damit jene Antwor-
      ten entdeckt werden können, die er selbst weiß (und die in der Regel für den weiteren Fortgang
      der Stunde benötigt werden), ist er – Oskar Pfungst sei die Erkenntnis gedankt – nicht gefeit vor
      jenen Mikrosignalen seines Körpers, die professionelle Beobachter zu deuten in der Lage sind.
      Ab jetzt wird es kompliziert, denn es gibt nun verschiedene Möglichkeiten:
         1. Ein Schüler liest das Ziel der Frage buchstäblich aus dem Gesicht und sei es aus Mitleid
            (mit dem Lehrer), sei es aus Kalkül (um der Zensur willen), ist er zum Geben der richtigen
            Antwort bereit.
         2. Eine Schülerin weiß um die richtige Antwort, verweigert diese aber aus Gründen der Kre-
            ativität oder auch Autonomie.
         3. Die Körpersignale des Lehrers sind undeutlich oder missverständlich oder
         4. die richtigen Antworten liegen außerhalb der Möglichkeiten der anwesenden Schülerinnen
            und Schüler.

      Im ersten Fall hat der Schüler etwas Wichtiges für sein Leben gelernt, nämlich sich wie eine
      triviale Maschine verhalten zu können. Diese Fähigkeit ist enorm wichtig und wird üblicher
      Weise in Zensuren und einem Zeugnis dokumentiert, das wiederum späteren Arbeitgebern die
      Gewissheit verschafft, ein Absolvent werde die ihm gestellten Aufgaben erwartungsgemäß bear-
      beiten (und nicht etwa kreativ verändern, mitdenkend verweigern usw.). Im zweiten Fall dürfte
      nach zahlreichen Wiederholungen der Selektionsmechanismus des Systems aktiviert werden,
      denn Arbeitsverweigerer (aus welchem Grunde auch immer) sind in einer Arbeitswelt zu nichts
      nutze. Da ist es nur folgerichtig, sie schon früh auszusortieren, späteren Arbeitgebern ihr indi-
      viduelles Scheitern und der Firma den Konkurs zu ersparen. Der dritte Fall zeigt den Prototyp
      des schlechten Lehrers, der nicht in der Lage ist, eine Unterrichtsplanung in einen gelungenen
      Unterricht zu überführen. Zum einen kann hierfür psychische Unsicherheit verantwortlich sein,
      die ungewollte und somit nicht deutbare Körpersignale verursacht, zum anderen physische Ge-
      hemmtheit, die es professionellen Beobachtern erschweren und sogar unmöglich machen kann,
      die richtigen Antworten auf Fragen zu lesen. Der vierte und letzte Fall steht für eine schlechte
      Unterrichtsplanung, weil die Codewerte des Erziehungssystems (vermittelbar-unvermittelbar)
      den geplanten Unterrichtsinhalten falsch zugeordnet worden sind.
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   Solche Gedanken drängen sich mir auf, wenn ich an die Mäeutik der griechischen Intellektu-
ellen denke. Den Randbemerkungen in deinem Buch entnehme ich, dass du um die Problematik
des ›Frontalunterrichts‹ weißt. Aber was antwortest du dem Reformpädagogen Hugo Gaudig, der
Lehrerfragen, die für die ›Hebammenkunst‹ ja unerlässlich sind, das fragwürdigste Mittel der
Geistesbildung nannte? Oder was entgegnest du Ronald Bodenheimer, der im Hinblick auf den
Unterricht von einer »Obszönität des Fragens« gesprochen hat? Hilbert Meyer schreibt, dass die
Frage-Antwort-Technik einer Einbahnstraße gleicht und verweist auf Untersuchungen, nach de-
nen der Lehreranteil eines solchen Gesprächs um die 68 Prozent, der Schüleranteil dagegen nur
20 Prozent beträgt (d. h. auf einen Schüler einer durchschnittlichen Schulmusikgruppe kommen
gerade einmal drei Prozent, der Rest setzt sich zusammen aus Schweigen und störendem Durch-
einander). Wenn du das Sokrates-Prinzip rühmst – und du rühmst es ja aufgrund deiner positi-
ven Erfahrungen –, stürzen dich solche Überlegungen dann nicht in einen Konflikt? Mich haben
sie schon total frustriert. Ich habe eine Zeit lang versucht, im Unterricht nur noch Dinge zu
fragen, die ich selber nicht weiß. Das Ergebnis war eine wichtige Erfahrung und ein grandioser
Reinfall. Dann habe ich versucht, meine Mikrosignale durch Vereinbarung präziser Handlungs-
ziele, Freiarbeit und Schriftlichkeit zu terminieren. Das hat im Falle meines Arrangierseminars
sogar bestens geklappt (es kommt gerade in der Studienreform unter die Räder), in meinem
normalen Gruppenunterricht führte es jedoch zu einem Niveau, das wir nicht lange ausgehalten
haben. Heute rede ich mit meinen Studierenden über Hilbert Meyer, Niklas Luhmann und was
mich sonst noch so bewegt. Ob ich das noch in ein paar Jahren so machen werde, kann ich nicht
sagen. Im Moment jedenfalls kommt es ganz gut an, vielleicht weil ich die Studierenden als
gleichberechtigte Personen behandele, vielleicht aber auch nur, weil ich bei diesem Thema ganz
authentisch bin (soll man ja sein, habe ich gehört).
   Ich schließe meine Augen wieder. Der Zug fährt jetzt sehr schnell und mich direkt in die
Vergangenheit. Ich bin 24 Jahre alt und habe mir den Studienplatz in der Schulmusik wirklich
hart erarbeitet, weil ich mit den Instrumenten so spät angefangen hatte (ernsthaft Geige erst
mit 16 Jahren, Klavier beim Vater sogar erst mit 18). Weil ich alles nachholen will, bin ich – ja,
du hast es richtig gesagt – wirklich sehr verbissen. Stolz darauf, ein Student zu sein, versuche
ich hochmotiviert, meine Defizite auszugleichen. Um zum Beispiel meine Literaturkenntnisse zu
erweitern, studiere ich so viele klassische Werke wie möglich (hierfür bin ich selbstverständlich
die Liste in deiner Gehörbildung ganz systematisch durchgegangen). Und an einem dieser Tage
meiner ernsthaftesten Studien komme ich also zu dir in den Unterricht, wie immer bereit, alle
Theorie und die ganze hehre Kunst in mich aufzunehmen. Als du dann für die heutige Stunde
sogar noch etwas ganz Besonderes ankündigst, erwarte ich mindestens Beethoven, besser noch
Brahms oder etwas richtig Hartes: Schönberg oder so. Und weißt du noch, was dann kam? –
Yesterday. Du hast Yesterday gespielt. Ich war schockiert. Du, den ich maßlos bewunderte, hast
mir zugemutet, mich mit Yesterday zu beschäftigen, einem Popsong, den ein paar Halbwüchsige
aus Liverpool ohne Theoriekenntnisse bekifft zusammengefummelt haben. Ich weiß nicht, ob
Dir meine Enttäuschung aufgefallen ist, denn – verbissen wie ich war – habe ich natürlich alles
entdeckt, was du wusstest. Auch den kleinen Moll-Septakkord als zweite Stufe einer Kadenz-
wendung in Moll (!), ich erinnere mich noch genau, an dieser Stelle warst du völlig aus dem
Häuschen. Doch damit nicht genug: Am Ende des Unterrichts hast du uns glaubhaft versichert,
dass du italienische Schlager (!!) liebst (!!!) und dass wir uns zum nächsten Mal unbedingt welche
anhören müssten. II-V-I-Kadenzen hin oder her: Das war zu viel, nach dieser Stunde bin ich mit
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      einer Kommilitonin essen gegangen – die fand das alles übrigens ganz in Ordnung –, und ich
      war sauer, stinksauer, habe die ganze Zeit auf dich geschimpft.
         Doch weißt du, was dann passiert ist? In den nächsten Tagen habe ich vor und nach dem Üben
      heimlich Yesterday am Klavier probiert, ich weiß bis heute nicht warum. Zwei Jahre später, in dem
      von Dir vermittelten Tutorium, stand dann Yesterday bei mir selbst auf dem Unterrichtsplan. Mei-
      ne Studentinnen und Studenten fanden diese Stunde übrigens gelungen (da bin ich zum ersten
      Mal auf die Idee gekommen, dass es auch sein könnte, dass es nur bei mir nicht so ganz stimmt).
      Als ich später dann im Lehrauftrag unterrichtete, gehörte in meinen Schulmusikkursen ABBA
      bereits zum festen Repertoire. Na, und heute thematisiere ich Rock- und Popmusik mindestens
      ein Semester lang, bei ausreichendem Interesse auch schon mal über ein ganzes Studienjahr.
      Meine Kenntnisse reichen zwar noch nicht in die zeitgenössische Musik hinein (Hip Hop), aber
      das dürfte für Musiktheoretiker mit klassischem Hintergrund normal sein. Die Erkenntnis, dass
      man Beatles und Beethoven – bzw. alle Musik vor 1990 – in der Schule wahrscheinlich nur beim
      Thema historische Aufführungspraxis ohne Diskussionen unterbringen kann, ist jedenfalls da
      (was hoffen lässt). Rückblickend muss ich also sagen, dass du damals eine Stunde gehalten
      hast, in der ich wirklich etwas für mein Leben gelernt habe, etwas, das mein Handeln bis heute
      bestimmt. Aus theoretischer Sicht (Sokrates) kann man deine Stunde fragwürdig nennen, aus
      praktischer Perspektive (Lernerfolg) aber war sie großartig! Tja, Theorie und Praxis.
         Der Zug bremst und ich öffne wieder die Augen. Wir werden gleich halten. Aus dem Fenster
      schauend versuche ich heraus zu bekommen, wo wir gerade sind, aber weder Bahnhof noch
      Schilder sind zu sehen. Für den Moment ist es ja auch nicht so wichtig, wo ich angekommen bin,
      die Hauptsache ist doch, dass man ankommt, oder?

      Lieber Clemens, ich muss jetzt raus, schön, dass wir uns einmal so lange und ungestört miteinan-
      der unterhalten konnten. Ach, und ehe ich’s vergesse: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
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